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Ein gestresster Stadtmensch erfüllt sich den Wunsch, für einige Zeit in die Einöde auf eine Alm zu gehen um dort zu erfahren, wie ein Leben ohne Strom, ohne Fernsehen zu bewerkstelligen sei. Aus einem Aufenthalt wurden zehn Aufenthalte, in zehn aufeinander folgenden Jahren. Was die Almzeiten, neben der Bewältigung der täglichen Arbeiten, für einen seelischen Prozess in Gang setzten und welche Erfahrungen und Erkenntnisse daraus erwuchsen, darüber erzählt der Autor. Für alle, die nach mehr Sinn und Zuversicht im Leben suchen, ist dieses Buch geschrieben.
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Seitenzahl: 122
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Vorwort
Herunterkommen
Erkundigen
Anlauf nehmen
Mein eigener Almauftrieb
Angekommen
Nun bin ich der Hirte
Der Atem meiner Hütte
Im Zauberwald
Alltag auf der Alm
Wettersturz
Aufbruch und Abschied
Und wieder auf der Alm
Ein ungewöhnlicher Besucher
Böse Überraschung
Rhythmus statt Zeit
Ein Gewittergast
Mein mystisches Dreieck
Das Tier, des Menschen Freund
Resümee
Nachwort
Wir schreiben das Jahr 2020, zehn Jahre ist es her, dass ich das erste Mal auf meine „Sehnsuchtsalm“ gehen durfte, und so kann ich im „Coronajahr“ mein zehnjähriges Jubiläum feiern. Ein Glas Rotwein, ein starkes Gefühl des Dankes an Gott und an bestimmte Menschen sollten als Feier genügen.
In meine Tagebücher hatte ich in all den Jahren viel notiert, besonders Erfahrungen und Begebenheiten aufgeschrieben, und jedes Mal, wenn ich wieder ins Tal abstieg, nahm ich mir vor, eine Almgeschichte zu schreiben, doch es blieb beim Vorsatz.
Jetzt aber scheint mir die Zeit reif dafür, und so versuche ich das Wesentliche, was ich erlebt habe, in Worte zu kleiden. Aber nicht nur über Tagesabläufe auf der Alm möchte ich erzählen, das würde aufgrund der sich immer wiederholenden Arbeiten auch langweilig klingen. Vielmehr habe ich den Veränderungen nachgespürt, die das Almleben, in der Abgeschiedenheit des Berges, bei mir bewirkt hat.
Mein Sohn hat mich einmal auf der Alm besucht und meinte: „Vater, du lebst hier ja am Ende der Welt“, und ich antwortete ihm: „Glaub mir, hier ist der Mittelpunkt der Welt.“ Und genau über diesen Prozess, den Mittelpunkt der Welt zu finden, meinen eigenen Mittelpunkt, versuche ich, zu schreiben. Besonders für jene Leser, die auf der Suche sind, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und vor allem auf der Suche nach ihrem eigenen Sein.
Viele Menschen haben ein großes, umfassendes Wissen, doch oft nur aus Büchern oder Studium erworben, also ein übernommenes Wissen. Das ist wichtig und notwendig, um in einer vernetzten und komplexen Gesellschaft leben zu können. Doch ich glaube, dass das einzige, was wir wirklich wissen, das ist, was wir im Leben erfahren haben. Und so will ich über meine Erfahrungen schreiben, jene Erfahrungen in der Einöde auf der Alm.
Die in den Text eingefügten Sprüche und kurzen Gedichte sind auf der Alm entstanden, so auch die Bilder.
Helmut A. Haffner
Halb elf Uhr am Abend zeigte die Flughafenuhr bei der Gepäckausgabe. Eine Stunde Verspätung hatte die Maschine, obwohl wir in Stockholm fast pünktlich abgeflogen waren. Umwege und Gegenwind hatten den Flug verlängert. Ich sehnte mich nach meinem Bett am Ende einer Woche voller Termine, doch noch stand ich am Gepäckband und wartete auf meinen Koffer. In solchen Situationen fühlen sich Minuten wie Stunden an. Dann endlich tauchte mein Gepäck in der schwarzen Luke auf, die Augen aller Wartenden waren auf diesen Punkt gerichtet, und ein Hauch von Freude zeigte sich im Gesicht, wenn ein Besitzer seinen Koffer erkannte.
Der meine fuhr schon auf mich zu, und mit kräftigem Ruck zog ich ihn vom Band. Eilig verließ ich die Ankunftshalle in Richtung Parkgaragen, siebzig Euro wollte der Parkautomat, doch dann drehte ich schon den Zündschlüssel um und fuhr dem Ausgang zu. Endlich draußen, es war ein schwüler Sommertag, ließ ich die Autoscheiben hinunter. Frische Münchner Autobahnluft blies mir um die Ohren, ich atmete sie tief ein und freute mich, bald daheim zu sein. Auf dem Mittleren Ring war unfallbedingt ein Stau, so wählte ich den Weg durch die Stadt. Als ich durch Schwabing fuhr, sah ich erstaunt, wie viele Menschen draußen saßen, in Straßencafés, in Restaurants, bei einem Weißbier oder einem Glas Wein. Ich fuhr die Isar entlang, das gleiche Bild fröhlicher Menschen. Eine Stimme in mir sagte: „Du machst etwas falsch“, doch ich verdrängte den Gedanken. Der Eingang der Parkgarage tauchte vor mir auf. Hineinfahren, Gepäck aus dem Kofferraum nehmen, geschafft. Ich schaute auf die Uhr, es war eine halbe Stunde vor Mitternacht.
Eine Halbe Bier noch vor dem Schlafengehen, zum Duschen hatte ich keine Lust mehr, nur noch die Kurznachrichten im Fernsehen anschauen, dann ein Sprung ins Bett und sofort Tiefschlaf bis in den Morgen.
So oder ähnlich ging fast jede Arbeitswoche zu Ende. Das Lesen der Post und der Zeitung füllte den Samstagvormittag aus, und am späteren Nachmittag ging ich in den Wald und lief ein oder zwei Stunden, bis ich das Gefühl hatte, der Stress der Woche sei verflogen.
Doch ab Sonntagnachmittag begannen wieder die Vorbereitungen für die neue Woche. Unterlagen zusammenstellen, Koffer packen und am Montag früh mit dem ersten Flieger Richtung Norden oder sonst wohin, und alles begann von vorn.
Auch wenn ich eine Woche nur in Deutschland zu tun hatte und auf der Autobahn von München nach Nürnberg oder Frankfurt unterwegs war, meldete sich in mir die leise Stimme: „Du machst etwas falsch.“ Ich fuhr mal wieder in aller Frühe auf der Autobahn in Richtung Erlangen, als ich in der Höhe des Altmühltals einen Schäfer mit seiner Herde am grünen Hang ausmachen konnte. Beim Vorüberfahren dachte ich: „Mit dir würde ich jetzt gern tauschen.“ Ich erschrak über den Gedanken und gab Gas, um den schönen Anblick hinter mir zu lassen.
Oftmals fuhr ich samstags früh von München in die Berge, nein, meistens auf denselben Berg, meinen Hausberg, den Rabenkopf. Gute zwei Stunden zum Gipfel und eineinhalb Stunden zurück ins Tal. So hatte ich noch den ganzen Tag vor mir, wenn da nicht eine besondere Stelle am Berg gewesen wäre. Unter dem Kreuz stehend, auf der Schneid, schaute ich nach Süden, und meine Augen blieben immer wieder an einem grünen Fleck hängen, eingebettet in den Bergwald und in der Mitte von sattem Grün eine kleine Hütte. Nie sah ich einen Menschen da drüben, nicht einmal mit dem Fernglas, nur eine Herde Kühe.
Schon immer hatte ich den Wunsch, einmal allein mit Kühen auf der Alm zu leben, ohne allen Luxus und in großer Abgeschiedenheit. Jedes Mal, wenn ich wieder an dieser Stelle unter dem Kreuz stand, warf ich Sehnsuchtsblicke hinüber. Das wäre der richtige Ort, um ganz zu mir zu kommen, losgelöst von all den multimedialen Einflüssen, die unser Leben in eine ganz bestimmte Richtung drängen wollen. So ging das einige Jahre, und mein Wunsch wurde immer stärker, für eine bestimmte Zeit ein Einsiedlerleben auf der Alm führen zu können. Mir fiel ein Satz ein, den ich den Teilnehmern in meinen Schreibseminaren immer wieder ans Herz lege: „Wenn ihr euch euer Ziel nicht vorstellen könnt, werdet ihr es auch nicht erreichen.“ Der Umkehrschluss ist, dass man seinem Ziel näherkommt, je öfter man sich vorstellt, wie die konkrete Zielerreichung aussieht.
Meine eigenen Worte zeigten mir den Weg, und so fragte ich in einer benachbarten Alm die Sennerin nach den Besitzern meines Sehnsuchtsortes. Und wie ein Wunder kannte sie sogar die Bäuerin und gab mir deren Telefonnummer.
„Bevor ich anrufe, möchte ich mich vor Ort umschauen, um zu wissen, worauf ich mich da einlasse“, war mein Gedanke. Am darauffolgenden Wochenende stieg ich aus dem südlich gelegenen Tal hinauf, auf der Wanderkarte war kein Weg zur Alm verzeichnet. Und so ging ich auf Forstwegen und einigen verschlungenen Pfaden Richtung Latschenkopf und stand, plötzlich aus dem Wald tretend, vor einem Almhaus, das ich nicht kannte.
Die Tür stand offen, niemand war zu sehen, doch von drinnen drangen Schnarchlaute heraus, es war nachmittags um zwei. Ich ging zur Tür, machte einen Schritt hinein und sah einen älteren Mann schlafend im Sessel sitzen, den Kopf nach hinten gebeugt und mit offenem Mund schnarchend. Ich ging wieder hinaus vor die Tür und rief hinein: „Grüß Gott“! Der Alte wurde sofort wach und sagte: „Komm rein“, was wie ein Befehl klang. Ich ging hinein, und ehe ich mich vorstellen konnte, sagte er: „Magst eine Halbe Bier?“ Es war ein heißer Tag, und die Vorstellung auf ein kaltes Bier ließ mich mein Anliegen zunächst vergessen. Er sei der Bauer der Alm, sagte mein Gegenüber und weiter: „Ich bin der Kaspar.“ Er erzählte, dass er vor einem Jahr einen Schlaganfall erlitten hatte und gelähmt in der Klinik lag. Wie durch ein Wunder kam in der Reha seine Beweglichkeit zurück, und auch seine Sprachfähigkeit stellte sich wieder ein. „Nun muss ich acht Tabletten nehmen, zwei Mal am Tag, dazu trinke ich zwei Halbe über den Tag verteilt, dann geht es mir wieder gut“, waren seine Worte, und ich wusste nun, wen ich vor mir hatte. Es zeigte sich schnell, dass er ein sehr neugieriger Mensch war. Er löcherte mich mit Fragen, sodass ich völlig vergaß, mich nach meiner „Sehnsuchtsalm“ zu erkundigen. Ich fragte ihn, wie das gewesen war im Tal während des Zweiten Weltkriegs, und was er als Kind alles erlebt hatte. Staunend hörte ich zu, was dieser von einem Schlaganfall genesene Mann zu erzählen hatte. Detailgetreu schilderte er seine Kindheit hier auf der Alm, und dazwischen sagte er immer wieder: „Vom Krieg haben wir hier nichts mitbekommen.“ Es war ein interessantes Gespräch mit einem Mann, den ich vor zwei Stunden noch nicht kannte.
Auf einmal fing er an, mich auszufragen, was ich so in meinem Leben gemacht hätte, mit der Bemerkung: „Weißt du, ich bin mein Leben lang kaum über Tölz hinausgekommen, außer zwei oder drei Mal war ich in München, und nun bin ich, Gott sei Dank, wieder auf der Alm, mit über achtzig.“ So erzählte auch ich einiges aus meinem Leben, und als ich von meiner beruflichen Zeit in den USA berichtete, hörte er nicht mehr auf, immer weiter nachzufragen.
In einer Fragepause fragte ich ganz schnell: „Wo geht denn der Weg weiter zur Gopperalm?“ Sofort kam die Gegenfrage: „Was willst du denn dort?“ Nun packte ich aus und erzählte von meinem Traum, auf der Alm Senner zu sein. Er fand das gut und ermutigte mich, meinen Traum zu verwirklichen, zeigte mir den Weg hinüber, und ich verabschiedete mich überhastet, denn es war schon später Nachmittag geworden, und dunkle Gewitterwolken brauten sich über dem Zugspitzmassiv zusammen.
Nach etwa einer halben Stunde stand ich vor der Hütte meiner Träume. Am Berghang standen zwölf Kälber, doch die Hütte war verschlossen, weit und breit kein Mensch. Nach diesen ersten Eindrücken stieg ich eilig ab zurück ins Tal, begleitet von Blitz und Donner und kam völlig durchnässt bei meinem Auto an. Etwas über zwei Stunden hatte ich für den Abstieg gebraucht, und es wurde bereits dunkel. Zufrieden fuhr ich nach München zurück und nahm mir fest vor, die nächsten Tage beim Bauern vorzusprechen. Jetzt wollte ich erst verdauen, was ich gehört und gesehen hatte, und so sagte ich zu mir: „Schlaf eine Nacht darüber, dann siehst du alles realistischer.“
Geschlafen habe ich wenig, denn die ganze Nacht legte ich mir Argumente zurecht, die ich bei meinem Ansinnen bei den Bauersleuten ins Gespräch bringen könnte. Einen Kurs bei der Almgenossenschaft hatte ich nicht vorzuweisen.
Also griff ich am nächsten Tag, abends nach der Stallzeit, zum Telefon, die Stimme der Bäuerin meldete sich, und ich begann, mein Anliegen vorzutragen, und war überrascht, dass mein Gegenüber am Telefon zuhörte und keine Fragen stellte. „Ja, dann schauen’s mal vorbei am Hof“, sagte die Bäuerin, und das Gespräch war beendet.
Am nächsten Tag fuhr ich in die Jachenau und fand sofort den Hof. Auf mein Klingeln an der Tür antwortete niemand, schon wollte ich wieder gehen. Doch dann ging ich um den Hof herum und fand die Bäuerin im Stall beim Melken. Ich stellte mich vor und begann, zu reden. „Jetzt habe ich keine Zeit“, war die Antwort der Bäuerin. Ich verließ den Stall und wartete im Hof. Es war mir klar, dass mein Traum, wenn ich jetzt ginge, von der Alm ausgeträumt wäre. So wartete ich eine halbe Stunde, bis alle Kühe gemolken waren.
Als die Bäuerin aus dem Stall kam und ich immer noch dastand, war sie wohl überrascht und fragte: „Warum wollen Sie denn auf unsere Alm?“ Ich begann, wieder meine Geschichte zu erzählen und fügte hinzu, dass ich Erfahrung im Umgang mit Tieren habe, da ich als Schüler meine Ferien immer bei meinem Großvater verbracht hatte, der eine Landwirtschaft besaß und mir vieles beigebracht hätte. „Stall ausmisten, Kühe von Hand melken, Pflügen mit vorgespannter Kuh und Getreide mähen“, fügte ich noch hinzu. Meine Hartnäckigkeit hatte wohl ihre Meinung, „Was will denn der Stadtmensch auf unserer Alm?“, die ich aus ihrem Gesicht zu lesen glaubte, etwas entkräftet.
Zu meiner Überraschung sagte sie plötzlich: „Ab nächster Woche ist niemand oben, also Montag können Sie für zwei Wochen hinauf.“ Ich hätte ihr um den Hals fallen können. „Kommen’s aber vor acht Uhr in der Früh und holen’s den Schlüssel, aber pünktlich sein, denn ich muss um acht weg.“
Es war Mittwoch, und so hatte ich noch einige Tage Zeit, die notwendigen Besorgungen zu machen. Die Gedanken schossen mir wild durch den Kopf. Und als ich nach München zurückfuhr, sang ich im Auto Marienlieder, denn ich glaubte im Unterbewusstsein, dass Maria, die ich sehr verehre, ihre Hände mit im Spiel hatte. Noch am selben Abend schrieb ich meine Checkliste, und in den verbleibenden Tagen bis zum Aufstieg drehte sich alles in meinem Kopf nur noch um die Alm.
Montagmorgen sechs Uhr startete ich mit dem Auto von München in Richtung Jachenau. Mein Kofferraum war mit allem gefüllt, was ich in den nächsten Wochen zu brauchen glaubte.
Ein „Grüß Gott“ und die Schlüsselübergabe durch die Bäuerin, die schon im Aufbruch war, noch eine kurze Wegbeschreibung und den Rat, ein Stück Zeitung in den Kamin zu stecken und anzuzünden, bevor ich das Feuer am Herd entfachte. Dies war der letzte Ratschlag, den ich mitbekam, dann war ich allein, ausgestattet mit Schlüsselbund und viel Vertrauensvorschuss. Ich fuhr zum Parkplatz am Taleingang, an dem ich mein „Depot“ unter einem schattigen Baum parkte. Dann begann ich, meinen großen Rucksack mit allem zu füllen, was mir am wichtigsten erschien (Kaffee, Brot, Butter, Käse, Kartoffeln, Gemüse, Milch, Eier, Weihrauch, eine kleine Bibel und meine Reiseikone). Dann war der Rucksack voll, und als ich ihn aufsetzte, staunte ich über sein schweres Gewicht, doch etwas auszupacken, war keine Option. Mein Rücken würde sich schon an die Last gewöhnen, war mein Gedanke.
In der kühlen Morgenluft begann ich, loszustapfen, den Lainbach entlang. Nach einer Stunde kam ich an eine Weggabelung und folgte dem Aufstieg in den Bauernwald, so hatte man mir den Weg beschrieben. Wie sagte doch die Bäuerin? „Am höchsten Punkt nach links den steilen Fahrweg weiter, und dann kannst du die Alm nicht mehr verfehlen.“ Nach fast drei Stunden stand ich schweißgebadet am Gatter zur Alm.