Für ein gutes Ende - Andreas S. Lübbe - E-Book

Für ein gutes Ende E-Book

Andreas S. Lübbe

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Beschreibung

Wie wollen wir sterben?

Andreas Lübbe, Onkologe und Palliativmediziner, erzählt von der Kunst, Sterbende an ihrem Lebensende zu begleiten. So, dass sie sich geborgen fühlen. Dass auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird. Dass das Leben bis zuletzt lebenswert ist. – Vor über 15 Jahren baute Lübbe eine Palliativstation auf, die er bis heute leitet. Von den Patienten und ihren Schicksalen, vom Umgang mit dem Sterben, von den Defiziten unseres Gesundheitssystems und den Möglichkeiten der Palliativmedizin berichtet er auf berührende Weise. Ein engagiertes Plädoyer dafür, worauf es ankommt: den Menschen.

Wenn Patienten den Eindruck bekommen, ein Laborwert wäre wichtiger als ihr Wohlbefinden, wenn Ärzten Mitgefühl und Empathie als Schwäche und fachliche Inkompetenz ausgelegt werden, dann läuft etwas schrecklich schief. Als junger Arzt hat Andreas Lübbe selbst erfahren, wie unmenschlich der Medizinbetrieb sein kann – heute sorgt er dafür, dass Sterbenskranke Linderung, Respekt und Zuwendung erfahren. Denn auch wenn es unausweichlich ist, dass das Leben eines Tages zu Ende geht: Wie es endet, darauf können wir Einfluss nehmen. Beispielhaft beschreibt Lübbe anhand der Erfahrungen auf der Palliativstation, worauf es dabei ankommt: Wie sieht eine gute Kommunikation zwischen Arzt und Patient aus? Wie gehen Ärzte und Pflegekräfte mit den höchst individuellen Krankheitsgeschichten um? Wie mit den Ängsten und Sorgen der Kranken? Was, wenn Kinder betroffen sind? Welche Möglichkeiten gibt es bei chronischen Leiden und Schmerzen? – Eine eindringliche Schilderung des Alltags auf einer Palliativstation: Aufklärung und konkrete Information, Hoffnung und Perspektive zu einem immer noch verdrängten Thema.

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Seitenzahl: 380

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Andreas S. Lübbe

Für ein gutes Ende

Von der Kunst, Menschen in ihrem Sterben zu begleiten

Erfahrungen auf einer Palliativstation

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Andrea Kunstmann

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Satz: EDV-Fotosatz Huber / Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN: 978-3-641-14286-5V002

www.heyne.de

Irmela

Inhalt

WARUM DIESES BUCH? – ZUR EINFÜHRUNG

Unsere Angst vor dem Sterben

Wie ich zur Palliativmedizin kam

Durchbruch: Der Aufbau einer Palliativstation

UNSERE GESELLSCHAFT BRAUCHT STERBEBEGLEITUNG: DIE ZENTRALEN PRINZIPIEN DER PALLIATIVMEDIZIN

Leben und Sterben heute

Welche Antworten gibt die Palliativmedizin?

Stefanie Werning und die Grenzen der Hochleistungsmedizin

Was ist eigentlich Krebs?

Das Ehepaar Werning kämpft gegen den Krebs

Die ersten Pflichten des Arztes: beobachten, zuhören, reden

Reinhold Immenhoffs schwaches Herz

Die Wünsche der Patienten stehen an erster Stelle

Am Lebensende ist Ehrlichkeit wichtig

Wenn die Kommunikation mit Patienten misslingt: Bernadette Hemsmüller

Palliativmedizin muss kommunikativ sein: Shared decision making

Der Therapiewunsch einer alten Dame

Sinn und Unsinn einer adjuvanten Therapie: Tania Cantano

Die Kunst der Symptomlinderung

Zu Hause sterben: Die Rolle der Hausärzte

Symptomkontrolle bei Herrn Schwan

Bei Familie Schwan zu Hause

Die Wichtigkeit der Prognose

Tabuisierung des Todes: Jürgen Freund

Sind Palliativmedizin und Sterbehilfe unvereinbar?

Juri Nowalski beschließt zu sterben

Das Recht auf Selbstbestimmung

Palliative Sedierung bei Herbert Priewald

Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht: Der mutmaßliche Wille

EINE UMFASSENDE VERSORGUNG: PALLIATIVMEDIZIN IST MEHR ALS SCHMERZTHERAPIE

Die Mitarbeiter – Herz unserer Palliativeinheit

Besonderheiten auf der Station

Regelmäßige Teambesprechungen

Die nicht-medizinischen Kollegen

Der Junge, der nicht weinen durfte

Herausforderungen für alle

Tapferkeit und Mitgefühl

Das richtige Maß von Nähe und Distanz

Routine und Improvisation: Der Tagesablauf auf der Station

Hochzeit im Krankenhaus: Der Fall Olga Kasslowski

Religiosität und Spiritualität

Mohammed Ahtirahi: Christliche und muslimische Fürsorge

Ein typischer Fall von Verdrängung: Andrea Herrlich

Die Wirkung von Placebos

Die Sphären der Musik

Supervision: Warum auch Helfer Hilfe brauchen

Diagnose Weltschmerz: Thomas Weinberg

Schwierige familiäre Verhältnisse: Ilse Lafrenz

Die überforderte Familie Risse

Silvia Gustavs überfürsorglicher Ehemann

Humor auf der Palliativstation

Was geschieht mit uns nach dem Tod?

Evidenz und Palliativmedizin, ein Widerspruch?

BESCHWERDEN LINDERN AM LEBENSENDE: DIE MÖGLICHKEITEN DER PALLIATIVMEDIZIN

Jan Schindler wird sprachlos

Bestrahlung oder Entfernung des Kehlkopfes?

Probleme im Kopf-Hals-Bereich

Wundmanagement und Blutungen

Wie wichtig ist die Physiotherapie?

Bernharda Willnows stiller Tod

Hoffnung auf ein Wunder: Janina Glimko

Probleme im Magen-Darm-Trakt

Die Angst vor dem Ersticken

Luftnot und Demenz bei Brigitte Förster

Verwirrtheit und Lebensqualität

Was man gegen Luftnot tun kann

Therapie mit einem nicht zugelassenen Medikament: Beate Beimvohr

Prostatakrebs bei Wilhelm Antes

Intimität und Sexualfunktion

Herr Antes darf nach Hause

Frau Sonnleitners Grabstätte

Hygiene und Resistenzen

Die Folgen eines Gehirntumors: Siegfried Überhof

Nach dem Tod

Das Ende von Frau Werning

FÜR EIN GUTES ENDE – NEUN PUNKTE, DIE MIR WICHTIG SIND

Zitierte Literatur

Warum dieses Buch? – Zur Einführung

Unsere Angst vor dem Sterben

»Vor welcher Krankheit fürchten Sie sich am meisten?«, wollte 2013 eine große deutsche Krankenkasse in einer Umfrage wissen. Zwei von drei Befragten nannten an erster Stelle den Krebs. Als den König der Krankheiten hat ihn der Krebsforscher Siddhartha Mukherjee in seinem Buch bezeichnet. Wer kennt das nicht? Kommt man auf das Thema Krebs zu sprechen, dann versteinern die Gesichter, und Fakten werden plötzlich mit hochemotionalen Begriffen aufgeladen, von bösartig, zerstörerisch oder einem Kampf um Leben und Tod ist dann die Rede.

Ein Herzinfarkt kann ebenfalls tödlich sein. Doch auch wenn er ebenso präsent ist, wird er weniger mystifiziert und flößt uns weniger Angst ein als der Krebs: Erst die Haare, dann die Freunde und schließlich sein Leben zu verlieren, das macht Angst. Es gibt kein Allheilmittel, es bleibt nach der Therapie eine lebenslange Unsicherheit, und noch immer stirbt die Hälfte der Erkrankten daran.

Wir alle müssen sterben. Doch obwohl wir das wissen, bleibt diese Angst. Angst ist ein Gefühl, und Gefühle sind mächtiger als der Verstand, der uns häufig im Stich lässt. Viele Menschen sind nicht gut genug über Dinge informiert, die sie selbst betreffen. Wenn jede dritte Patientin glaubt, durch eine Vorsorgeuntersuchung könne man Brustkrebs verhindern, dann gibt es bei der Aufklärung der Bevölkerung noch viel zu tun.

Als Palliativmediziner bin ich tagtäglich mit der Angst vor dem Sterben konfrontiert. Die größte Angst, die sich daran knüpft, ist die Angst vor Schmerzen und Qualen, zum Beispiel dem unerträglichen Gefühl des Erstickens. Eine andere ist die vor einem einsamen Tod, ob im Krankenzimmer oder zu Hause. Immer mehr Menschen leben alleine. Das nenne ich auch eine Art von Altersarmut. Vor gut sechzig Jahren hat der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber geschrieben, dass er, wenn es ans Sterben gehe, die Hand eines Menschen in der seinen halten wolle. Doch wenn immer mehr Menschen alleine leben, wer kann da schon wissen, wessen Hand es sein wird – die einer geliebten Person oder die eines professionellen Pflegers?

Angst kann lähmen, sie kann sprachlos machen; sie kann aber auch dazu führen, über sich hinauszuwachsen, den Mut der Verzweiflung in sich zu entdecken und dem Schrecken etwas entgegenzusetzen. Eine interessante Erfahrung habe ich in diesem Zusammenhang mit Kindern gemacht. Ausgerechnet sie gehen mit dem Sterben meist gelassener um als Erwachsene. Manche werden durch ihr Schicksal so schnell erwachsen, dass sie sogar ihre trauernden Eltern stützen. Deswegen mutet man heute praktisch allen Kindern mit unheilbaren Erkrankungen die Wahrheit über ihren Zustand zu. Von Kindern kann man noch viel mehr über das Sterben lernen: wie sie sich auf das Ende vorbereiten, die Verabschiedung planen und dass sie sich die Trauergäste bei der Beerdigung in bunter Kleidung wünschen.

Die Angst vor einem langen, qualvollen Ende ist es, die in letzter Zeit die Sterbehilfediskussion anheizt. Immer mehr Menschen sind der Ansicht, aktive Sterbehilfe oder der Suizid seien eine geeignete Möglichkeit, der Angst und den Qualen zu entfliehen. Wie man am Ende eines langen und anstrengenden Tages das Licht ausmacht, so möchten sie den Schalter ihres Lebens am Ende selbst bedienen. Die Kontrolle nicht zu verlieren, darauf hoffen viele, die für geplantes Sterben von eigener (oder fremder) Hand plädieren. Doch wenn es einmal zu Ende geht, sind wir andere Menschen als heute und würden vielleicht anders entscheiden; und wenn wir als Gesunde heute zu wissen glauben, was wir wollen, wird sich das, wenn wir schwer krank sind und es so weit ist, in den meisten Fällen verändert haben. So sind wir Menschen.

Eine Legalisierung der Sterbehilfe bereitet mir vor allem aus folgendem Grund Sorgen: Ich habe Angst, dass dann der moralische und faktische Druck auf Menschen enorm steigen wird, auch davon Gebrauch zu machen. Etwa bei einer alten Frau, die mitbekommt, wie sich die Familie ihretwegen streitet, die sieht, dass sie eine Belastung für die anderen darstellt, wo es doch so leicht sein könnte, endlich aus dem Leben zu scheiden. Dazu kommt die Frage der Gerechtigkeit. Nicht jeder verfügt über das nötige Geld oder Möglichkeiten der Unterstützung.

Ich werde später noch genauer auf die Sterbehilfediskussion eingehen. Hier nur so viel: Ich leite seit über 16 Jahren eine Palliativstation. Mir begegneten in meinem Berufsleben bislang viele Tausend Menschen an ihrem Lebensende, und der Wunsch nach Hilfe zum Sterben war extrem selten. Was die Menschen in jedem Fall wünschen, ist Hilfe bei der Linderung von körperlichen Beschwerden, aber auch bei der Bewältigung von Sorgen und Nöten in dieser schweren Zeit.

Sterbehilfe kann auch Hilfe beim Sterben bedeuten, und das möchte ich in diesem Buch beschreiben. Früher hieß es einmal salus aegroti suprema lex: Das Wohl des Kranken sei für mich als Arzt die oberste Richtschnur. Weiß ich als Arzt immer von diesem Wohl? Heute könnte es heißen voluntasaegroti suprema lex: Der Wunsch des Patienten scheint inzwischen die oberste Richtschnur zu sein. Meiner Meinung nach sollte die Palliativmedizin Hilfe beim Sterben sein, aber nicht den Tod herbeiführen.

Die Angst vor dem Tod kann ich Ihnen nicht nehmen, aber hoffentlich ein wenig die Angst vor einem qualvollen Ende. Wenn Sie nach der Lektüre dem Sterben mit etwas mehr Gelassenheit entgegensehen, dann hat dieses Buch seinen Zweck erfüllt.

Meine Mitarbeiter und ich erleben täglich die Höhen und Tiefen unserer Arbeit, in die ich Ihnen im Folgenden einen Einblick gewähren möchte. Dabei lege ich den Schwerpunkt auf die Patienten mit ihren individuellen Biografien, Erkrankungen, Wünschen und Ängsten und stelle ihre Fälle im Rahmen der Aufgaben und Bedingungen der Palliativmedizin in Deutschland dar. Die Palliativstation in diesem Buch ist eine von vielen in Deutschland. Die Patienten und ihre familiären Umstände sind so verfremdet, dass die Persönlichkeitsrechte der geschilderten Personen gewahrt bleiben. Die Krankengeschichten und Ereignisse auf der Station sind jedoch absolut realistisch beschrieben, sodass der Leser einen klaren Eindruck davon gewinnt, was am Lebensende auf einen zukommen kann und vor welche Herausforderungen dies den Betroffenen, aber auch das medizinische Personal und die Angehörigen stellt.

Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass die Palliativmedizin gerade in einer alternden Gesellschaft eine tragende Rolle spielen muss. Der Umgang mit sterbenden Menschen ist ein Gradmesser für unsere Humanität; an ihm wird deutlich, welchen Stellenwert wir Menschen zumessen.

Damit Sie nachvollziehen können, vor welchem Hintergrund ich meine Philosophie von einem Sterben in Würde entwickelt habe und auch, warum ich an bestimmten Zuständen oder Haltungen harsche Kritik übe, möchte ich zuerst ein wenig über meinen Werdegang erzählen. Viele Erlebnisse und Menschen – Kollegen wie Patienten – haben meine Auffassung vom Arztberuf geprägt. Und einige alte Fälle werden mir wohl immer im Gedächtnis bleiben, nicht unbedingt aus medizinischen Gründen, sondern weil sie so viel über den Umgang mit Krankheit, Sterben und Tod aussagen.

Wie ich zur Palliativmedizin kam

Als Konrad Adenauer im hohen Alter starb oder wenn jemand in meinem Umfeld schwer erkrankte, dann hatte mich das schon als Kind immer interessiert. Ich wollte nicht nur die genauen Umstände und die Todesursache erfahren, sondern vor allem auch, warum man dem jeweiligen Menschen nicht besser helfen konnte. Zum einen brachte mich also das Mitgefühl zur Heilkunde, das Interesse am anderen und die Ohnmacht der Medizin, der es nicht geglückt war, den Hausmeister von nebenan zu heilen. Zum anderen faszinierte mich die technisch-wissenschaftliche Seite, die Strukturiertheit des Faches, wie es sich in den didaktisch gut aufbereiteten Medizinbüchern präsentierte, die ich nach dem Abitur zur Hand nahm. Da nämlich arbeitete ich ein paar Monate lang am Fließband und im Lager der Fischfabrik meines damaligen Wohnortes in Bremerhaven, und mit der Fachliteratur beschäftigte ich mich in den Pausen (auch in Phasen des Leerlaufs, womit ich mir einmal einen gehörigen Anpfiff des Meisters einhandelte). Nun komme ich weder aus einem Akademikerhaushalt, noch hätte mir jemand aus der Familie oder dem Bekanntenkreis meiner Eltern aus erster Hand etwas über die Laufbahn und das Berufsleben eines Arztes berichten können. Den für das Medizinstudium nötigen Numerus clausus hatte ich mir also aus eigenem Antrieb und nicht ohne viel Mühe erarbeitet. Die Erfahrungen in der Fisch verarbeitenden Industrie haben mich später immer wieder motiviert, wenn ich mit mir haderte, weil der Prüfungsstoff kaum zu bewältigen war oder die schwere Krankheit eines Patienten mich bedrückte. Die Arbeit in der Fabrik hatte mir sehr deutlich gemacht, wo ich unter anderen Umständen hätte landen können: wenn ich einem anderen Elternhaus entstammt, in einem anderen Land geboren und zu einer anderen Zeit groß geworden wäre. Am Fließband hatte ich kluge, fleißige und freundliche Menschen kennengelernt, die in vielen Fällen zu Höherem befähigt gewesen wären, die die Umstände jedoch in ebendiese Fabrikhallen gebracht hatten.

Während meines Studiums hinterließ Oberschwester Renate einen unvergesslichen Eindruck: Ich sammelte damals an Wochenenden und Feiertagen Erfahrungen als Hilfspfleger in einem Krankenhaus in Berlin-Neukölln. Die Strukturen und Abläufe auf der orthopädischen Frauenstation waren Anfang der Achtziger altmodisch und liebenswert zugleich. Es gab noch Krankensäle, in denen bis zu zwölf operierte und zumeist ältere Patientinnen lagen. Die Krankenstation war eigentlich immer gut gefüllt und der Ton, der dort herrschte, militärisch streng und doch einfühlsam, wenn es darauf ankam. Oberschwester Renate, eine erfahrene Pflegekraft im blauen Gewand, mit dicker Hornbrille und weißer Haube, wie es sich für eine dem Orden entsprungene Schwester damals gehörte, vereinte genau diese Strenge und Einfühlsamkeit. Was ich von ihr vor allem mitnahm, war ihre schier endlose Geduld, wenn es zum Beispiel darum ging, infizierte Wunden zu versorgen oder Zuckerkranke auf Insulin einzustellen. Die Devise war, mindestens zwei Tage nach einer Anpassung ins Land gehen zu lassen, um den Effekt der Maßnahme auch beurteilen zu können, denn der Körper eines alten und kranken Menschen brauche seine Zeit. Als Palliativmediziner habe ich mir später diese Zurückhaltung und Besonnenheit zu eigen gemacht. Sie passen vermutlich besser zu dem Fach und meinem Naturell als die blitzschnelle Entschlossenheit, die man gemeinhin einem Chirurgen abverlangt.

Einer glücklichen Fügung war es dann zu verdanken, dass es mich nach dem Medizinstudium sogleich in die USA verschlug. Über meine Promotionsarbeit hatte ich in Oxford einen Institutsleiter kennengelernt, der mir ein Studium der Physiologie und Biophysik in seiner Abteilung an der University of Louisville, Kentucky, anbot. Diese dreieinhalb Jahre waren mit unzähligen Eindrücken gefüllt. Dort lernte ich wissenschaftliches Arbeiten, amerikanische Campuskultur und eine zuvor nicht gekannte persönliche Betreuung der Studenten durch Professoren kennen. Und ich schloss Freundschaften, die bis heute halten. Ich kam auch mit den Sitten und Gebräuchen vieler Asiaten und Mexikaner in Berührung, die in dem bekennenden Einwanderungsland Amerika mit einem anderen Selbstverständnis als bei uns in die Universität und Gesellschaft integriert werden. In dieser Zeit konnte ich auch verfolgen, was sich in einem winzigen und zugleich emotionalen Gebiet der Medizin gerade an Revolutionärem ereignete, was zu meiner Entscheidung, in die Palliativmedizin zu gehen, beitragen sollte.

Meine Doktorarbeit verfasste ich während des Studiums in Berlin. Darin ging es um Untersuchungen an Blutgefäßen bei Tieren mit künstlichen Herzunterstützungssystemen. Die neueste Errungenschaft der Forschung war damals das implantierbare Kunstherz für den Menschen. Seine Entwicklung hatte mein Doktorvater Professor Bücherl mit seinem Team gegen Bedenkenträger und behördliche Auflagen und sogar trotz der Gängelung durch seine eigene universitäre Verwaltung mit Beharrlichkeit, Durchsetzungsvermögen und seinem Charisma, einer Mischung aus Autorität und Charme, Liebe zum Mitmenschen und Schaffenskraft, vor vielen Jahren vorangetrieben. Es war reiner Zufall, dass gerade in Louisville, wo ich mein Studium absolvierte, zu der Zeit einige der ersten Menschen lebten, denen man ein permanentes Kunstherz aus Polyurethan und Metall implantiert hatte. Den für diese Eingriffe weltbekannten Herzchirurgen William DeVries suchte ich eines Tages auf und ließ mir bei einer Tasse Kaffee zwischen zwei Operationen Neuigkeiten von seinen Patienten berichten, während ich das loswurde, was ich aus Berlin wusste. DeVries konnte sich vor Anfragen verzweifelter Patienten aus aller Welt kaum retten und war mit dem sogenannten Jarvik-7-Herz seinen Konkurrenten immer einen Schritt voraus. Noch verursachten die Kunstherzen allerdings regelhaft Schlaganfälle, weil sich Blutgerinnsel in den Herzaggregaten bildeten. Fachwelt, Medien und Weltöffentlichkeit führten daher heiße Diskussionen über den Sinn dieses Eingriffs.

Ein Kunstherzpatient blieb mir in dauerhafter Erinnerung, denn er lehrte mich eine entscheidende Lektion: Das, was Menschen unter guter Lebensqualität verstehen, muss wohl eine höchst individuelle Angelegenheit sein. William J. Schroeder war Mitte fünfzig und wurde durch sein Kunstherz zwar insgesamt 620 Tage am Leben gehalten, doch auch er blieb von Schlaganfällen nicht verschont. Irgendwann konnte er kaum noch seine Arme bewegen. Er saß, wenn er nicht schlief, die ganze Zeit im Rollstuhl. Ein Schlauch verband sein Kunstherz durch die Brustwand hindurch mit einem externen Antriebsaggregat, einem batteriebetriebenen Motor, der Luft rhythmisch zu Membranen im Herzen leitete, die das Blut im Fluss hielten. Wäre ihm dieser Motor entrissen worden, hätte sein Kunstherz augenblicklich aufgehört zu schlagen. In diesem Zustand, scheinbar ein menschliches Wrack, mit schlaffer Körperhaltung und einem Gesicht, dem die Mühsal des Lebens deutlich anzusehen war, wurde der Patient eines Tages vor die Kameras der Weltöffentlichkeit gezerrt. Denn er wollte unbedingt dabei sein, wenn seine Tochter heiratete. Und was sagte dieser Mann, dem alle die denkbar schlechteste Lebensqualität unterstellten? Er sei so glücklich, dass ihm vergönnt sei, an der Hochzeit teilzunehmen, darauf habe er sich so sehr gefreut und es kaum noch für möglich gehalten. Im Vorfeld der Pressekonferenz hatten sich selbst ernannte Verfechter einer »menschlichen« Medizin lautstark über ihre Kollegen empört, die diesen Patienten angeblich als Versuchskaninchen benutzten und sich nicht schämten, ihn auch noch auf solch unbarmherzige Weise der Öffentlichkeit zu präsentieren. Jetzt waren einige von ihnen verstummt. Vielleicht hatten sie ja begriffen, dass nur die Betroffenen selbst festlegen können, was der Sinn des Lebens und was Lebensqualität ist. William J. Schroeder war damals froh und dankbar für die Segnungen der Medizin, auch wenn er kurz nach der Hochzeit verstarb. In der Bewertung, was gut für jemanden ist, möge man also vorsichtig sein und ihn das am besten selbst entscheiden lassen – das würde ich mir für meine künftige Tätigkeit als Arzt hinter die Ohren schreiben.

Weitere Schlüsselerlebnisse hatte ich nach meiner Rückkehr aus den USA auf der Transplantationsstation einer deutschlandweit renommierten hämatologisch-onkologischen Abteilung in Berlin, wo ich einen Teil meiner Facharztausbildung absolvierte. Hier wurden vor allem jüngere Menschen behandelt, Leute in meinem Alter, deren Keimzelltumor oder Knochenmarkleiden bereits vorbehandelt worden war. Für solche Patienten war die Chance einer Heilung zwar gering, aber sie war gegeben. Wollte man sie nutzen, begab man sich in diese Klinik, wo einen zumeist eine Hochdosis-Chemotherapie erwartete, der sich eine lebensrettende Stammzell- oder Knochenmarktransplantation anschloss. Die durch die Behandlung hervorgerufene Krankheitslast und Sterblichkeit waren wegen der kompletten Auslöschung des von bösartigen Zellen befallenen Knochenmarks hoch, doch die Gefahren der Therapie wurden den verzweifelten, aber auch hoffnungsvollen Patienten kaum vermittelt – auf die dort fehlende und mir so wichtige Aufrichtigkeit gegenüber Patienten werde ich noch zu sprechen kommen.

Viele waren durch die Krankheit und die vorausgegangene Behandlung psychisch offenbar so belastet, dass sie häufig vollkommen verängstigt in ihren Betten lagen, womöglich sogar depressiv verstimmt, sodass man ihnen psychologisch hätte helfen müssen. Doch ich ließ mich von meinen Kollegen anstecken, die sich vor allem auf die Laborwerte konzentrierten, die man als Richtschnur für eine erfolgreiche Behandlung der Krankheit betrachtete. Hatte man sie im Griff, musste es dem Patienten gut gehen. Vielleicht hätte man auch sagen können, blieb der Patient am Leben, dann war das Ziel aller Bemühungen erreicht und der nächste konnte kommen. Was in den Patienten vorging, wenn wieder einmal Schläuche an sie angeschlossen wurden, wie sie die Gegenwart erlebten und welche Gedanken sie sich um die Zukunft machten, alles das hatte wenig zu interessieren. Ich musste damals viel lernen, und so hatte auch ich keine Zeit für scheinbare Nichtigkeiten wie Zuwendung und Gespräche.

Allerdings schockierte mich, welche Haltung sich die auf der Station tätigen Ärzte und Schwestern angeeignet hatten, um mit dem Leid und den Hoffnungen, mit denen sie Tag für Tag konfrontiert waren, umzugehen. Es widerte mich beinahe an, wie wenig wertschätzend und respektlos einige über die Patienten sprachen, als seien es namenlose Geschöpfe ohne Biografie und Individualität. Bei den morgendlichen Besprechungen schwang, je nachdem, wer vortrug, entweder Sarkasmus und Ironie mit oder eine nüchterne Sachlichkeit. Humor, eine gelassene Heiterkeit oder Empathie jedenfalls habe ich vermisst. Das wurde damals vermutlich als unangemessene Nähe, Befangenheit, Schwäche oder fachliche Inkompetenz fehlgedeutet.

Sehr geschätzt habe ich unseren Chef Dieter Huhn. Er gehörte zu den wenigen im Großklinikum, die als bescheiden und zurückhaltend galten. Seine Anwesenheit vermittelte uns jungen Kollegen Sicherheit, weil wir jederzeit in schwierigen Situationen auf sein Wissen und seinen Erfahrungsschatz zurückgreifen konnten. Er war eine Autorität, ohne dass er es eingefordert hätte.

In einer Frühbesprechung wurde einmal ein 27-jähriger Mann vorgestellt, den ich bis heute nicht vergessen habe, weil er zu denjenigen gehörte, die man bespöttelte. Man beschrieb Stefan Behrens als »ausgeweidet«, denn er war schon etliche Male operiert worden. Erst waren bei ihm Hoden und Lymphknoten entfernt worden, dann wurde die erste Metastase aus der Lunge reseziert, dann das halbe Organ auf der anderen Seite. In der Zwischenzeit hatte man ihm diverse Chemotherapien verpasst. Auf sie sprach sein Krebs irgendwann nicht mehr an, sodass man nun durch eine Hochdosis Chemotherapie die allerletzten Tumorzellen aus seinem Körper vertreiben wollte. Wenn dann immer noch bösartige Zellen zu finden sein sollten, so meinte der Patient, dann solle man auch den letzten Rest aus ihm herausschneiden. Über diese Verzweiflung des jungen Mannes, aus der zugleich so viel Kampfgeist und Lebenswille sprachen, machten sich die Ärzte lustig, und ich werfe mir noch heute vor, dass ich dagegen nicht eingeschritten bin. Stefan Behrens vertrug die Hochdosistherapie nicht und starb an ihren Folgen.

Auf der Station gab es viele vergleichbare Patienten, die durch die Hochleistungsmedizin behandelt und möglichst geheilt werden sollten. Die Kollegen kannten alle relevanten Studien und hatten für jedes medizinische Problem, ob erhöhte Temperatur oder blutende Blase, ein Mittel zur Hand. Dass hinter dem Krankheitsbild und den Symptomen immer auch ein Mensch stand, mit seiner Biografie, mit ganz individuellen Sorgen und Hoffnungen, schien dabei in Vergessenheit zu geraten. Es fehlte die Zeit, und die Haltung der Mitarbeiter war eine andere. Das Behandlungsziel wurde in eine bestimmte Richtung vorgegeben. Patienten in ärztliche Entscheidungen mit einzubeziehen und die Ziele der Behandlung mit ihren Vorstellungen abzugleichen, ihre Einwilligung zu jeder Untersuchung und therapeutischen Maßnahme einzuholen (wozu man gesetzlich gezwungen ist) – das stand nicht auf der Agenda. Ich nahm mir nach dem halben Jahr fest vor, die Patienten, die man mir anvertrauen würde, mit mehr Zeit und Zuwendung zu behandeln.

Situationen, in denen der Tod nur auf seine Gelegenheit wartete, auf eine kleine Unaufmerksamkeit der Ärzte, das versagende Medikament oder den nachlassenden Lebensmut des Kranken, hatte ich im Rahmen meiner Ausbildung zur Genüge kennengelernt. Besonders häufig gab es sie auf einer Intensivstation, wo ich Gelegenheit hatte, ganz unterschiedliche Typen von Medizinern und Vorgesetzten kennenzulernen. Manche beeindruckten mich durch Mut und Tatkraft, Aufrichtigkeit und Integrität. Sie hatten es teilweise schwer, sich gegen die Blender und Schaumschläger durchzusetzen, bei denen ich mich fragte, wie sie es überhaupt in diese Position geschafft hatten.

Einen der Oberärzte schätzte ich sehr. Er war abwartend, ruhig und besonnen und ließ sich die Differenzialdiagnosen immer genau durch den Kopf gehen, bevor er sie mit uns diskutierte. Ein Mann der leisen Töne, ein Privatdozent, der das Kunststück beherrschte, die jungen Kollegen ihre eigenen Argumente so zerpflücken zu lassen, dass sie dabei noch nicht einmal schlecht aussahen. Einer, der sich seiner Patienten wie ein väterlicher Freund annahm und dessen Einfühlungsvermögen authentisch wirkte, der immer ein offenes Ohr hatte, kurz, ein vorbildlicher Arzt.

Den anderen empfand ich als das genaue Gegenteil. Er war der Professor, aktiv und zupackend, manchmal fast anbiedernd, immer eine Spur zu laut. Er überlegte nur kurz und warf nicht selten das wohlüberlegte Konzept des Privatdozenten über den Haufen, ohne seinen Kollegen zu fragen, warum er diese und nicht jene Entscheidung getroffen hatte. Er hatte etwas Dozierendes, das mehr darauf angelegt war, den Jüngeren zu zeigen, wo sie in der Hierarchie standen, und weniger, sie eines Besseren zu belehren.

Noch ein Patient hat sich mir tief ins Gedächtnis eingebrannt. Der etwa 40-Jährige, dessen Name mir entfallen ist, lag in der onkologischen Abteilung der Universitätsklinik. Man würde vermuten, dass man dort seine Bedürfnisse würdigte, doch ich hatte damals den Eindruck, dass selbst Hunde in einem Tierheim besser behandelt werden.

Niemand besuchte ihn, und er konnte wegen seiner Krankheit kein einziges Wort mehr von sich geben. Aufgrund eines Tumors am Hals hatte der Patient eine riesengroße Wunde, von der ein unerträglicher Geruch ausging. Die Wunde sollte eigentlich einmal am Tag versorgt werden, doch bald begannen die Schwestern zu meutern und weigerten sich, das Zimmer zu betreten, in dem der Mann alleingelassen und unter Opioiden in seinem Bett kauerte, mit seiner immer nachlässiger versorgten Wunde. Keiner der Ärzte sprach ein Machtwort. Ich habe noch heute das Gefühl, damals versagt zu haben, denn ich war doch angetreten, Menschen in Not zu helfen, und nun erhob auch ich keinen Einspruch, um dem Patienten zu helfen. Wir Ärzte betraten zwar zumindest das Zimmer, doch auch wir brachten dem Mann nicht die nötige Zuwendung entgegen. Von professionellem Wundmanagement konnte keine Rede sein. Der Patient verfiel immer mehr, bis er nach acht Wochen verstarb. Mich als jungen Arzt hatte die Situation überfordert. Zwar hatte ich die Misere erkannt, doch gleichzeitig war ich zu machtlos und zu unsicher, als dass ich ihr etwas Wirkungsvolles hätte entgegensetzen können.

Durchbruch: Der Aufbau einer Palliativstation

All diese Erfahrungen fließen bis heute in meine Tätigkeit auf der Palliativstation ein, die ich mit ein paar engagierten Mitstreitern 1998 gründete. Als mir der Chefarzt der damaligen Inneren Abteilung der Karl-Hansen-Klinik vor bald 17 Jahren seine Räumlichkeiten anbot, zögerte ich keine Sekunde und nahm diese Station sofort und ohne große Überlegungen, Sitzungen und Abstimmungen in Beschlag. Es war seine Privatstation, die schönste im Haus, ganz oben gelegen und mit Aussicht auf die leicht hügelige Landschaft des Teutoburger Waldes, eine Art Penthouse, nur ohne Terrasse. Nach Zustimmung der Geschäftsführung konnten wir es kaum erwarten, endlich zu beginnen. Innerhalb eines Jahres wollten wir unser Vorhaben realisieren. Die Mission, die Zukunftsperspektive und auch das Bestreben, etwas gegen das falsche oder nicht vorhandene Image der Palliativmedizin im eigenen Unternehmen, der Stadt und im Kreis zu unternehmen, schweißte die Mitarbeiter vom ersten Tag an zusammen, sodass sie sich ganz und gar der Sache hingaben und alles taten, damit ihre Palliativstation zu einem Erfolg wurde. Diesen Erfolg messen wir bis heute an der Dankbarkeit der Patienten und ihrer Angehörigen. Er zeigt sich in ihren Gesichtern, Worten und Gesten und in ihren Spenden, denn sie wissen, dass ihre Lieben in den besten Händen sind. Der Erfolg zeigt sich nicht zuletzt in der Gewissheit der Mitarbeiter, sich für das Richtige entschieden zu haben. Auch die Akzeptanz in der Region und die Anerkennung der Kollegen und politisch Verantwortlichen verschafft uns die Genugtuung, damals gegen Widerstände den richtigen Schritt getan zu haben. Ordentlich praktizierte Palliativmedizin bringt sich nicht durch spektakuläre medizinische Eingriffe zum Ausdruck, die der Öffentlichkeit präsentiert werden und damit ganz automatisch für den Ort, das Unternehmen und seine Mitarbeiter die Werbetrommel rühren. Ordentlich praktizierte Palliativmedizin ist stiller und zeigt auf andere Weise ihre Wirkung. Damals waren wir über 16 Jahre jünger, jung genug, um die nötige Geduld aufzubringen.

Die Station ist nicht perfekt. Es gibt zwölf Zimmer für die Patienten und zu wenige für das Personal. Die Balkone ziehen sich über zwei oder drei Zimmer, sodass ein Patient immer damit rechnen muss, ungewollt einem anderen zu begegnen. Die Badezimmer für die Kranken, denen man beim Duschen oder Waschen häufig zur Hand gehen muss, sind für den Zweck zu klein, und auch die Beleuchtung auf der Station war zunächst alles andere als heimelig. Auf der anderen Seite vermitteln unsere Räume, wenn man sie durch die zwei Aufzugtüren betritt, einen Eindruck von Großzügigkeit. Dank der Spendengelder, die wir von unserem Förderverein erhielten, und einer neuen Verwaltungsspitze konnten wir die Optik und den Wohlfühlfaktor der Station verbessern. Bald wurden vier kleine Badezimmer zu zwei großen behindertengerechten umgestaltet, und der Rezeptionsbereich wurde geöffnet, indem man die Fenster eines einfachen Holzverschlags durch einen großen Tresen ersetzte. Von dort aus hat man das Zentrum der Station im Blick und kann sogar in einige Krankenzimmer hineinblicken. Die Atmosphäre im Eingangsbereich wurde mit gelben und rötlichen Farbtönen freundlicher gestaltet und der sterile Eindruck des alten Krankenhauses durch Pflanzen, Bilder und neue Möbelstücke nach und nach aufgehoben.

Es ist wichtig zu betonen, dass unsere Arbeit in dieser Form ohne unseren Förderverein nicht möglich wäre. Laut Satzung ist der Verein dazu da, die Patienten und die Angehörigen, die Mitarbeiter und all jene zu unterstützen, die sich der Palliativmedizin verpflichtet fühlen. Er springt auch immer dann ein, wenn der Verwaltungsdirektor der Klinik eine Ausgabe nicht genehmigt. Den Vereinsnamen »Pallium – Lebensqualität für Krebsbetroffene e. V.« werden wir demnächst ändern müssen, weil sich die Palliativmedizin schon lange nicht mehr nur Krebskranken widmet. Es ist ein kleiner Verein mit nicht viel mehr als 30 Mitgliedern, von denen sich gut fünf mehr oder minder stark engagieren und den man anders und größer hätte aufziehen können. Doch auch wenn wir uns damals für die kleinere Variante entschieden haben und ohne Gelder freigiebiger Großsponsoren auskommen müssen, gelang es uns über die Jahre dennoch, Teile der Station zu renovieren und mit hochmodernen Betten und speziellen Matratzen auszustatten oder die Mitarbeiter großzügig zu Weiterbildungsmaßnahmen zu schicken. Nicht zuletzt finanziert der Verein die nicht durch das Klinikunternehmen angestellten Honorarkräfte und unterstützt selbst durchgeführte Weiterbildungskurse zur Palliativmedizin im Rahmen der vom Verein getragenen Akademie.

Unsere Gesellschaft braucht Sterbebegleitung: Die zentralen Prinzipien der Palliativmedizin

Leben und Sterben heute

Die Palliativmedizin hatte es in Deutschland nicht leicht, sich gegen Widerstände durchzusetzen. Ich habe schon von dem Patienten mit dem Tumor am Hals berichtet, den wir nicht adäquat betreut und versorgt haben. Wir wussten damals in den späten Achtzigerjahren nicht, was man alles für Menschen tun kann, die mit großen Wunden und starken Schmerzen alleine sind. Dass sich die Palliativmedizin weiterentwickeln konnte, ist das Ergebnis eines längeren Prozesses. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen die Menschen mehr miteinander und füreinander lebten, nicht zuletzt, weil sie auch dazu gezwungen waren, gehen sie heute viel lieber ihren eigenen Weg. Sie wollen sich und ihre Interessen verwirklichen. Viele haben keine Kinder, pflegen über soziale Netzwerke virtuelle Freundschaften mit Leuten, denen sie nie begegnen, und sie leben in ihren vier Wänden alleine. Doch was, wenn ich am Lebensende niemanden habe, von dem ich mich verabschieden kann, was, wenn keiner um mich ist, der mich begleitet? Wer ganz und gar auf sich bezogen lebt, läuft Gefahr, auch dann allein zu sein, wenn es schlecht um ihn steht – wenn er arbeitslos wird und seine Existenz auf dem Spiel steht oder eben wenn er schwer erkrankt und es ans Sterben geht. Will man dann alleine sein?

Wir sind geprägt vom heute in den westlichen Gesellschaften vorherrschenden Menschenbild und den entsprechenden Vorstellungen vom Sinn des Lebens. Sie sind das Ergebnis eines Zivilisationsschubes, der vor vier- bis fünfhundert Jahren einsetzte. Im Laufe dieses Prozesses wurden alle naturhaften, animalischen Aspekte des menschlichen Lebens, Gewalt, die körperlichen Funktionen, Krankheit und Tod, verdrängt und mit Scham- und Peinlichkeitsempfindungen belegt, sie galten nicht mehr als gesellschaftsfähig.

Während das Selbstbestimmungsrecht des Menschen in der Moderne allgegenwärtig ist, rücken zugleich die naturhaften Aspekte unserer Existenz auf unterschiedliche Weise wieder deutlicher in unser Bewusstsein. Tabus werden enttabuisiert. Nacktheit ist allgegenwärtig. Der assistierte Selbstmord wird publikumswirksam diskutiert. Die Palliativmedizin vollzieht hier gewissermaßen einen Spagat. Sie trägt den ganz individuellen Bedürfnissen des Kranken Rechnung und setzt gleichzeitig auf Mitmenschlichkeit beim Sterben.

2013 starben in Deutschland ungefähr 880.000 Menschen. Drei von vier Todesfällen traten im Alter jenseits von 65 Jahren auf, und in den meisten Industrienationen hat sich das Spektrum der häufigsten Todesursachen während der letzten 100 Jahre deutlich verändert. Es wird geschätzt, dass sich der Tod eines Menschen in über 70 Prozent aller Fälle durch eine vorangehende Krankheit und entsprechende Symptome ankündigt. Dadurch ist es möglich, die äußeren und die inneren Umstände der Sterbephase zu gestalten. Auch der Sterbeort hat sich gewandelt. Während sich in den USA die Zahl der in einem Krankenhaus Verstorbenen von 60 Prozent im Jahr 1980 auf unter 40 Prozent reduzierte, starben nach einer Gießener Studie in Deutschland 2013 immer noch etwa 50 Prozent der Menschen in einem Krankenhaus, 40 Prozent in einer Pflegeeinrichtung und nur 10 Prozent in ihrer häuslichen Umgebung, obwohl fast jeder zu Hause sterben möchte.

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir selbst einmal mit Palliativmedizin in Berührung kommen, ist hoch. Dafür sind chronische Krankheiten verantwortlich. Beinahe drei von vier Menschen über 65 Jahren leiden sogar unter mehreren chronischen Krankheiten gleichzeitig. Man kann sie nicht beseitigen, sondern muss mit ihnen leben und versuchen, ihre Folgen so gut wie möglich zu behandeln. Sie schreiten fort und bringen uns in vielen Fällen den Tod. Das klingt bestürzend, aber ich meine, das hat auch sein Gutes. Viele Betroffene können so die verbleibende Zeit bewusst erleben, und es macht einen Unterschied, ob ich mich vorbereitet oder unvorbereitet verabschiede – vor allem auch für die Angehörigen. Viele Menschen in unserem Land wissen nicht, dass sie chronisch krank sind, was das bedeutet und dass ihr Ende naht. Sie werden nicht darüber aufgeklärt oder wollen nicht wahrhaben, was man ihnen gesagt hat, sie verdrängen, vergessen oder relativieren die Botschaft. Dann leben sie einfach so weiter, als wäre nichts, unterziehen sich den Behandlungen und unterliegen dem Irrglauben oder der falschen Hoffnung, die Behandlungen könnten endlos weitergeführt werden. Ich habe Menschen erlebt, die erst nach vielen Gesprächen die Wahrheit an sich herangelassen haben. Nun behaupten manche Ärzte, so etwas wie Wahrheit gebe es in der Medizin gar nicht, nichts könne man sicher voraussagen. Damit wollen sie sich und ihre Patienten schützen und drücken sich vor der Verpflichtung, sich mit den objektiven Tatsachen auseinanderzusetzen. Aber Wahrheit muss ja nicht automatisch Klartext bedeuten. Manchmal ist bei der Wahrheitsvermittlung eine andeutende Sprache sinnvoller. Statt von »unheilbar« oder »nichts mehr zu machen« zu sprechen, sollte man vielleicht Formulierungen verwenden, die Raum für individuelle Deutungen lassen. Zum Beispiel: »Wir sind nicht glücklich über das Ergebnis der Untersuchung. Da sind Zellen, die sich ungebremst vermehren.« So wird dem Patienten im ersten Schritt der Diagnosemitteilung ein Angebot unterbreitet, selbst zu entscheiden, wie weit er seine Wissbegierde stillen möchte. Denn nicht jeder Mensch will alles wissen, und nicht wenige wollen sich lediglich in die Hände eines Arztes begeben, der für sie die richtigen Entscheidungen trifft. So unterschiedlich Menschen sind, so unterschiedlich gestalten sie ihre letzte Lebensphase. Deswegen trifft meist zu: Menschen sterben, wie sie gelebt haben. Ich werde darauf noch zurückkommen.

Die das Leben begleitenden und den Sterbeprozess bestimmenden chronischen Krankheiten können alle möglichen Organe befallen, etwa das Herz, die Lunge, die Nieren, das Nervensystem oder das Gehirn; es sind zumeist Erkrankungen, bei denen eine fortschreitende entzündliche Veränderung der Blutgefäße zu einem natürlichen Abbau und Verschleiß führt, sodass die Organe ihre Funktion langsam einstellen. Die Gewebe können von bösartigen Zellen befallen werden, wie bei Krebserkrankungen, oder von Eiweißablagerungen durchsetzt sein, wie beim Morbus Alzheimer. Manchmal ist gar nicht genau festzustellen, warum ein Patient kontinuierlich verfällt. In Deutschland sterben pro Jahr über 250.000 Menschen an den Folgen eines Tumorleidens, über 130.000 aufgrund einer chronischen Herzerkrankung und mehr als 30.000 wegen eines chronischen Lungenleidens. Hinzu kommen Tausende mit Schlaganfällen, Nieren- und Leberversagen sowie Patienten mit tödlich verlaufenden neurologischen Erkrankungen, wie die amyotrophe Lateralsklerose, bei der die Muskulatur nach und nach immer schwächer wird, bis schließlich auch die Atemmuskeln versagen. Nicht zu vergessen die zunehmende Zahl von Demenz­erkrankungen. Alle diese Kranken haben das verbürgte Recht auf eine ambulante oder stationäre palliativmedizinische Ver­sorgung.

Welche Antworten gibt die Palliativmedizin?

»Hier fühle ich mich sicher und geborgen.« Diese Worte aus dem Mund eines schwer kranken Menschen, der bei uns auf der Palliativstation behandelt wird, zeigen uns, dass unsere Arbeit bei ihm ankommt. Oder die ängstliche und doch hoffnungsvolle Frage einer Patientin zu Hause: »Wenn es hier nicht mehr geht, darf ich dann zu Ihnen kommen?« Nach einer Odyssee durch Kliniken und Praxen, nach enttäuschten Hoffnungen und schweren Rückschlägen bietet die Palliativstation einen sicheren Ankerplatz, an dem die Betroffenen innehalten können. Hier geht es um ihr Wohlbefinden, hier kümmert man sich um ihre weitere Versorgung, hier hört man ihnen zu, und hier können sie sein, wie sie sind. Auf der Palliativstation macht ihnen niemand etwas vor, sie erfahren dort, wie es weitergeht und wie viel Zeit ihnen noch bleibt. Vor allem können sie immer wieder dorthin zurückkehren, wenn ihre Versorgung zu Hause nicht mehr möglich ist. Hier steht weniger die Krankheit als vielmehr der Mensch im Mittelpunkt. Hier geht es um sein Wesen und seine Wünsche, seine Hoffnungen und seine Vergangenheit. Es geht um die Persönlichkeit des Einzelnen. Sie zu erkennen und bei der Behandlung zu berücksichtigen, sodass der Betroffene es wahrnimmt und wertschätzt, ist eine zutiefst anspruchsvolle und zugleich reizvolle Aufgabe. Denn wir Menschen sind verschieden, und der Körper, der kranke Organismus, reagiert durch vielfältigste Ausdrucksformen über Geist und Psyche auf die Auswirkungen von Krankheit und Therapie. Diese Zusammenhänge zu verstehen und in die Therapie einzubeziehen, hebt die Palliativmedizin vom Rest der Medizin ab.

Insofern unterscheidet sie sich auch grundlegend von der Onkologie, die sich ausschließlich mit Krebspatienten beschäftigt und bei der die Hoffnung auf Heilung und damit die Erkrankung und ihre Therapie im Vordergrund stehen. Deshalb nimmt man die unerwünschten Wirkungen der Behandlung, therapiebedingte Krankheiten und Sterblichkeit in Kauf und erwartet vom Patienten, dass er aktiv mitarbeitet und sich gegen die Krankheit stemmt. In der Palliativmedizin steht dagegen der Patient im Zentrum. Wo die Krankheit keine Rolle mehr spielt, weil man sie nicht heilen kann, konzentriert man sich auf die Linderung der von ihr hervorgerufenen Beschwerden. Der Patient darf passiv sein und die Verantwortung abgeben, und auf unerwünschte Nebenwirkungen einer Behandlung braucht er sich nicht mehr einzulassen.

In der modernen Welt der Medizin, in der zumeist Erfolge verkündet werden, wird das Querschnittsfach Palliativmedizin in seiner Bedeutung unterschätzt, denn es befasst sich mit denjenigen, denen durch Hochleistungseingriffe nicht mehr geholfen werden kann; so gesehen ist die Palliativmedizin aber gerade hochmodern. Wir befinden uns zwar in einer Zeit, in der Grenzen bewusst ausgelotet und auch überschritten werden, Grenzen in der darstellenden Kunst, der Unterhaltungsindustrie, der Ausbeutung der Natur, Grenzen der Verantwortung im Beruf und nicht zuletzt Grenzen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit durch Doping im Sport und im Alltag. Das Leben scheint durch die Medizin verfügbar geworden, manipulierbar, ja, grenzenlos bestimmbar. Aber wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass unser menschliches Leben Grenzen hat und es auch in der Hochleistungsmedizin Misserfolge, Fehlschläge und Unerreichbares gibt.

Noch immer glauben manche Ärzte, man brauche das Fach gar nicht, Sterbende hätten sie schon immer mitversorgt. Andere vertreten die Ansicht, dieser Bereich sei unzeitgemäß, weil er so viele personelle Ressourcen verschlingt. Und ein Teil der Bevölkerung glaubt sogar, selbst am besten zu wissen, was am Lebensende mit ihnen zu geschehen habe. Ich sage diesen Skeptikern, dass sie irren. Palliativmedizin ist hochmodern, die Möglichkeiten der Symptomkontrolle am Lebensende sind gerade in den letzten wenigen Jahren enorm verfeinert worden, und ja, das Gebiet ist personalintensiv. Doch dafür benötigt man keinen teuren Apparatefuhrpark, und die Arzneimittelkosten halten sich in Grenzen.

Vor diesem Hintergrund stellen sich zwei wichtige Fragen: Wie lehrt man ein Fach, das zugleich eine Naturwissenschaft und eine Geisteswissenschaft ist? Und wie kann man es möglichst flächendeckend in Deutschland verbreiten? In den vergangenen bald drei Jahrzehnten sind große Fortschritte auf beiden Feldern erzielt worden. 2014 gibt es in Deutschland bei 36 Medizinischen Hochschulen acht Lehrstühle, fünf weitere sind in Planung. Eine aktive und ausgezeichnet aufgestellte Fachgesellschaft hat 2014 Leitlinien zur Versorgung der Patienten fertiggestellt und tut alles, um das Fach in die verschiedenen medizinischen Tätigkeitsfelder und Bereiche unserer Gesellschaft zu integrieren. Trotzdem bleiben einige Probleme: Wie verändert man die Haltung vieler Akteure im Gesundheitswesen, und wodurch erhöht man das Verständnis derjenigen, die über das Geld walten? Noch ist die Palliativmedizin nicht auf allen Ebenen akzeptiert, und nicht jeder, der inzwischen auf dieses Pferd setzt, weiß über die zugrunde liegende Auffassung und ihre konkrete Umsetzung in der Praxis Bescheid. Offensichtlich kommt es hier auch auf Allgemeinwissen an, auf die Kenntnis der Grundlagen von Ethik und Moral, von Philosophie, Psychologie und Ethnologie, von anderen Kulturen und Religionen. Um den Patienten als Menschen mit seinem Werdegang und seiner Wertewelt, seinen Wünschen und Sehnsüchten kennenzulernen, bedarf es neben der Menschenkenntnis, der eigenen Lebenserfahrung und dem Allgemeinwissen nicht zuletzt der Fähigkeit zur professionellen Kommunikation. »Professionell« wird hier leicht missverstanden. Man verbindet damit unausgesprochen eine Distanz, eine förmliche, wohl höfliche, aber immer auch eine entfernte Beziehung, wie man sie vielleicht zwischen Verkäufer und Kunde findet. Auch im Medizinstudium wird professionelle Distanz propagiert: Der Abstand zum Patienten sei für die bestmögliche Behandlung erforderlich. Natürlich darf ein Arzt von der Erkrankung seines Patienten innerlich nicht so angegriffen sein wie der Patient selbst, weil er ihm dann keinen Halt mehr bieten kann. Aber wie finden junge Medizinstudenten das richtige Maß der Anteilnahme heraus? Wenn man sich zu schnell abzuschotten beginnt und sich innerlich distanziert, weil einem etwas nahegeht, dann kann dieser Schutzwall zur Verhärtung und damit zur Verflachung des Arzt-Patienten-Verhältnisses führen. So plädiere ich für eine Lehre von »professioneller Nähe« im Medizinstudium.

Um diese unterschiedlichen Aspekte etwas deutlicher zu machen, möchte ich Ihnen als Erstes die Krankengeschichten von Stefanie Werning und Reinhold Immenhoff schildern. Sie enthalten bereits viel von dem, worauf ich im Laufe des Buches noch genauer eingehen werde: die medizinischen und psychosozialen Komponenten einer unheilbaren Erkrankung; die Probleme, die die moderne Hochleistungsmedizin und ein auf Wettbewerb basierendes Gesundheitssystem mit sich bringen; die Herausforderungen, aber auch die Chancen einer guten palliativmedizinischen Versorgung.

Stefanie Werning und die Grenzen der Hochleistungsmedizin

Stefanie Werning werde ich immer in Erinnerung behalten. Wir haben sie viele Monate begleitet, sie war mehrmals bei uns auf der Station, und dort ist sie am Ende auch verstorben. Als ich Frau Werning zum ersten Mal sah, salzte sie gerade ihre Gemüsesuppe nach, denn nach der letzten Chemotherapie war ihr Geschmacksempfinden noch nicht wieder zurückgekommen, und so schmeckte alles, was sie zu sich nahm, fade oder zu bitter und mitunter sogar metallisch.

Ihre Krankheitsgeschichte reichte mehrere Jahre zurück. Als sie gerade 50 Jahre alt geworden war, hatte man ihr in der Apotheke mitgeteilt, jetzt sei es an der Zeit, an sich selbst zu denken. So rät man allen Frauen zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr zu einer Röntgenuntersuchung der Brüste. Dadurch könne man die Sterblichkeitsrate bei Brustkrebs erheblich, weil statistisch signifikant, senken. Das überzeugte sie. Erst viel später erfuhr sie, dass »erheblich« nichts mit »statistisch signifikant« zu tun hat und dass nur eine oder zwei von tausend einer Mammografie unterzogenen Patientinnen wegen dieser Untersuchung gerettet werden, sodass der Nutzen des Screenings keineswegs unumstritten ist. Immerhin gehörte Stefanie Werning nicht zu denen, die fälschlich denken, man könne durch die Untersuchung sogar Brustkrebs verhindern.

Bei der Vorsorgeuntersuchung diagnostizierte man bei ihr tatsächlich Brustkrebs. Für sich genommen war das zwar eine Katastrophe, denn ihr gesamtes Leben drohte damit auf den Kopf gestellt zu werden, aber es hieß, dass alles sehr gut aussehe, die Prognose exzellent sei, und mit den modernen Therapiemethoden sei eine Brustkrebserkrankung heute so zu behandeln wie jede andere Erkrankung auch, die kam und nach einer medizinischen Behandlung wieder verschwand. Stefanie Werning glaubte fest an die erfreuliche Mitteilung, die keinen Zweifel zuließ. Dass »alles«, also wirklich »alles« so gut aussah, ließ sie durchhalten, und so ertrug sie nach der Operation, die man bei ihr brusterhaltend durchgeführt hatte, die darauffolgende Chemotherapie, bevor sich noch eine Bestrahlung anschloss. Alles in allem zog sich die Erstbehandlung wegen eines zwei Zentimeter kleinen Tumors über ein halbes Jahr hin, doch wie Tausende anderer war sie bereit, mit dieser Therapie für ihr Leben zu kämpfen und alles dafür zu tun, die Krankheit zu überleben. Sie steckte tapfer all die unerwünschten Folgen der Behandlung weg, von denen sie erst erfuhr, als sie schon aufgetreten waren. Ein Aufklärungsformular hatte man ihr vor Beginn der Chemotherapie zwar zur Unterschrift ausgehändigt, doch dort waren für jedes Organ so viele mögliche Komplikationen und Folgen beschrieben worden, dass sie das mehrseitige Blatt ungelesen unterschrieb. Bei welchen dieser möglichen Probleme sie frühzeitig Gegenmaßnahmen hätte ergreifen können, sagte man ihr nicht.

Zu den lästigen Folgen der Therapie gehörte das Taubheitsgefühl in den Fingern, das sie anfangs besonders aufregte. Es entwickelte sich schleichend, begann damit, dass ihr ein Teelöffel aus der Hand fiel, weil sie ihn nicht kräftig genug gegriffen hatte. Sie wunderte sich, versuchte, das taube Gefühl zu ignorieren, doch leider verschwand es nicht. Niemand hatte sie vorgewarnt, erst von einer Mitpatientin hatte sie davon erfahren, doch da waren schon drei der vier Zyklen der Chemotherapie abgelaufen, und zur Taubheit war ein unangenehmes Kältegefühl an den Fingerspitzen dazugekommen und etwas zeitversetzt auch noch ein Gefühl der Kälte an den Fußsohlen. Es war, als laufe sie auf kaltem Metall, und wenn sie länger als fünf Minuten unterwegs war, hatte sie regelrechte Schmerzen. Diese Störungen klangen immer nur langsam ab, erst nach der gefühlten Ewigkeit einer Stunde spürte sie wieder Wärme. Die andere Patientin beschrieb ihr dieses Gefühl als »Wie-auf-Watte-gehen«, das sich in ein »Ameisenlaufen« verwandelte. Als sie bei dem behandelnden Krebsspezialisten nachfragte und ihre Wahrnehmungen etwas detaillierter beschrieb, weil sie dachte, so könne er ihr besser helfen, begann der, mit den Augen zu rollen. Immerhin bestätigte ihr der Onkologe, dass so etwas häufiger vorkomme.

Sie arrangierte sich auch mit der ihr unbekannten bleiernen Tagesmüdigkeit und der damit einhergehenden körperlichen Schwäche, deren Namen »Fatigue-Syndrom« sie von ihrem Hausarzt erfuhr. Sie hatte ihm berichtet, dass sie nach tiefem Nachtschlaf morgens mit normaler Kraft aufstand, bevor sie in den späten Vormittagsstunden von der Müdigkeit überfallen wurde. Es war ein Gefühl, das von unten nach oben in ihr aufstieg und zu einer ausgeprägten Schwere in den Beinen führte, was ihr kaum noch Energie ließ, sich aus dem Sessel aufzurichten. Im Laufe des Nachmittags lösten sich das Schweregefühl und die Müdigkeit unerwartet wieder auf. Tatsächlich schlagen sich während der Chemotherapie oder einer Strahlenbehandlung viele Menschen mit dem Fatigue-Syndrom herum, doch zumeist geht man es nicht an. Dabei kann man es in vielen Fällen gut behandeln, zum Beispiel mit Blutkonserven oder einem blutbildenden Hormon, mit Hormonen bei Unterfunktion der Schilddrüse, Sexualhormonen und weiteren Präparaten. In jedem Fall ist Bewegung günstig, nicht zu viel und nicht zu wenig: Es genügen 15 bis 20 Minuten am Tag durch eine Tätigkeit, bei der der Puls einen Wert von 180 minus Lebensalter in der Minute erreicht. Frau Wernings Wochenprogramm bestand aus einer Mischung von Radfahren, Gymnastik mit Musik und schnellem Gehen; außerdem wollte sie versuchen, zu schwimmen. Viermal die Woche jeweils eine knappe halbe Stunde war besser als gar nichts, und dann konnte man ja weitersehen.