Für eine bessere Zukunft - Justin Trudeau - E-Book

Für eine bessere Zukunft E-Book

Justin Trudeau

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Beschreibung

Der sympathischste Regierungschef der Welt. Oh wie schön ist Kanada! Neben atemberaubender Natur und faszinierenden Großstädten hat das Land nun auch ihn: Justin Trudeau. Sein gutes Aussehen und seine charismatische Art brachten ihm weltweite Aufmerksamkeit, doch man darf ihn darauf nicht reduzieren. Seine progressive Politik, ein Kabinett, das zur Hälfte aus Frauen besteht und in dem auch Minderheiten zahlreich vertreten sind, sein menschlicher Umgang mit syrischen Flüchtlingen – er macht einfach alles richtig. Hier erzählt er seine Geschichte. Von der Kindheit mit dem naturverbundenen Vater bis hin zu den Menschen und Ereignissen, die seinen Werdegang und seine politischen Ansichten prägten. Dabei war und ist er durchaus auch ein Rebell. Ein tätowierter Boxer, der sich selbst als Feminist bezeichnet, gerne Yoga macht und Marihuana legalisieren möchte. Ein Widerspruch? Ganz und gar nicht!

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Seitenzahl: 404

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Justin Trudeau

Für eine bessere Zukunft

Aus dem kanadischen Englisch von Peter Beyer

HERBiG

Die Originalausgabe »Common Ground« erschien 2014 bei HarperCollins Canada. Für die vorliegende deutsche Ausgabe wurden die Reden im Anhang ergänzt.

Besuchen Sie uns im Internet unter:

www.herbig-verlag.de

© für die deutsche Ausgabe und das eBook:

2016 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

© 2014 by Justin Trudeau

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: picture-alliance

Satz und eBook-Produktion: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

www.Buch-Werkstatt.de

ISBN 978-3-7766-8257-1

Für meine beste Freundin, Partnerin und Seelenverwandte

Danke für alles, was du tust, und für alles, was du bist

Je t’aime, Sophie.

Inhalt

Prolog

Kindheit in 24 Sussex

Aufwachsen in Montreal

In den Osten reisen, nach Westen ziehen

Die Wälder sind schön, dunkel und tief

Zwei Entscheidungen, die mein Leben veränderten

Papineau: Politik von Grund auf

Leben als Parlamentsneuling

Der Weg zum Parteivorsitz

Hoffnung und harte Arbeit

Dank

Bildnachweis

Anhang:

Siegesrede des designierten Premierministers am Abend nach den Wahlen in Kanada

Montreal, 20. Oktober 2015

Rede beim Weltwirtschaftsforum

Davos, Schweiz, 20.Januar2016

Prolog

Wo immer man in der Küche und im Wohnzimmer unseres Hauses in Ottawa hinschaut, entdeckt man Fotos. Sie kleben auf dem Kühlschrank, stehen eingerahmt auf Regalböden und Arbeitsflächen, hängen an den Wänden. Offizielle Momente wechseln sich ab mit Lieblingsmotiven aus dem Familienkreis – Sophie mit den Trauzeugen bei unserer Hochzeit, Xaviers Einschulung, wir vier in Haida Gwaii auf unserer letzten Reise nach British Columbia, bevor Hadrien geboren wurde, ich mit Wählern in Papineau posierend, meine Brüder Sacha, Michel und ich, mit dem Fahrrad die Einfahrt zu 24 Sussex entlangfahrend, meine Mutter Margaret, lächelnd mit ihren Enkelkindern. Jedes einzelne dieser Fotos löst besondere Erinnerungen aus und hat eine Bedeutung für uns. Doch drei Fotos, die ein guter Freund von uns geschossen hat, fallen mir immer wieder ins Auge. Es sind Fotos, die nicht nur schöne Erinnerungen wachrufen, sondern auch eine Geschichte erzählen.

Auf dem ersten Foto sitzt ein Mann mittleren Alters im Heck eines Kanus und hält mit breitem Grinsen auf dem Gesicht das Paddel bereit. Das Kanu gleitet über einen Abschnitt rauen Wassers, und der Mann beobachtet einen im Bug des Kanus sitzenden Jungen, der sein Paddel mit bestenfalls fragwürdig zu nennendem Geschick handhabt. Der Mann ist mein Vater, der Junge bin natürlich ich. Wir fahren an einem milden Frühlingstag auf dem Wasser. Das Grinsen im Gesicht meines Vaters deutet darauf hin, dass er nicht zufriedener sein könnte. Ich glaube auch, dass er es ist, denn er nimmt mich auf eine besondere Fahrt mit, ein Initiationsritus, dem all seine Söhne unterzogen wurden.

Wir alle – Sacha, Michel und ich – haben diese Fahrt mit meinem Vater über diese Stromschnellen unternommen. Wir konnten noch kaum laufen, als Dad uns schon ein Paddel in die Hand drückte und uns in die Techniken der Voyageurs einwies. Unter seinem wachsamen Auge steuerten wir auf eine kleine Ansammlung von Stromschnellen zu, die den Abfluss des Harrington Lake in die Gatineau Hills markieren. Mein Vater wollte nicht, dass wir eine beschauliche Fahrt genossen; er wollte, dass wir uns einer Herausforderung stellten, an der Fahrt beteiligt waren, irgendwie mitarbeiteten und die Dinge selbst in die Hand nahmen. Er wollte, dass wir Spaß haben.

Auf dem nächsten Foto steuern zwei Männer ein Schlauchboot durch weit schwierigeres Gewässer als auf dem ersten Foto. Tatsächlich befinden sie sich inmitten einer Reihe ernst zu nehmender, reißender Stromschnellen. Der ältere Mann, der einen etwas strubbeligen Bart trägt, sitzt vorn im Boot und hat sich sein Kajakpaddel quer über die Beine gelegt. Angesichts der gefährlichen Krängung des Boots und des tückischen Gewässers ringsum wirkt er gleichermaßen beschwingt und besorgt. Hinter ihm, im Heck, konzentriert sich der wesentlich jüngere Mann darauf, einem wuchtigen Felsen in der Nähe auszuweichen.

Es sind dieselben beiden Menschen auf den zwei Fotos, die im Abstand von zwanzig Jahren aufgenommen wurden. Auf dem zweiten Bild genießt mein Vater die Fahrt, ich steuere das Boot, und wir gehen beide total in diesem Moment auf. Die Bilder sind Ausschnitte aus dem Lauf der Zeit und dessen Auswirkungen auf uns.

Das dritte Bild zeigt – Überraschung! – wieder ein Kanu. Dieses ist rot und glänzend, gleitet auf spiegelglattem Wasser dahin, und ich sitze erneut im Heck. Vom Bug aus winkt Sophie in die Kamera. Hinter ihr tut Ella-Grace es ihr nach, während Xavier auf der mittleren Bank sitzt und sich alles in Ruhe anschaut. Die Fotografie hält einen unserer zahlreichen Kanu-Ausflüge mit den Kindern fest. Dieses Foto, aufgenommen oberhalb von Miles Canyon auf dem Yukon River, ist deshalb von Bedeutung, weil es unseren letzten gemeinsamen Sommer als vierköpfige Familie festhält: Im folgenden Winter wurde unser Sohn Hadrien geboren.

Die Präsenz meines Vaters dominiert die ersten beiden Fotos, und ich bilde mir ein, dass er auch auf dem dritten präsent ist, dieses Mal im Geiste. Dass er Kanufahren liebte, ist kein Geheimnis. Es verband ihn mit der freien Natur, stärkte seinen Überlebensinstinkt und sein Unabhängigkeitsgefühl, und es knüpfte an seine Wurzeln als junger Mann, begnadeter Sportler und als Kanadier an. Er nutzte jede Gelegenheit, zumindest einen Teil des Tages damit zu verbringen, auf dem Wasser zu paddeln, einen Skihang hinabzupreschen oder einen Wanderweg zu erkunden. Ich werde wohl nie einem ausgebuffteren Naturburschen begegnen.

Die Fotos zeugen davon, wie die Zeit vergeht. Es sind aber auch die Bilder, die tief in mir einen Widerhall auslösen und mich meinen Vater am meisten vermissen lassen. In dieser gemeinsamen Zeit, in der wir damals miteinander paddelten oder wanderten, fühlten wir uns einander als Familie am engsten verbunden. Die Stadt war es, die durch Arbeitsstress und Politik sein Familienleben zuweilen zu ersticken drohte. In der Natur hingegen entspannten wir, indem wir Kontakt zu uns selbst aufnahmen, so, wie wir waren, und nicht so, wie andere uns haben wollten. Gemeinsam lernten wir, uns Hindernissen entgegenzustellen, Ängste zu überwinden, und wir fühlten uns unendlich mit unserem Land und seiner großartigen natürlichen Schönheit verbunden.

Heute ist es mir nicht mehr möglich, mir aus einer Laune heraus ein Snowboard oder ein Paddel und eine Schwimmweste zu schnappen und mich stundenlang oder tagelang auf einem Berg oder einem Fluss zu verlieren. Sophie und ich müssen derlei Momente für unsere Familie erkämpfen, im Urlaub oder an mit großer Vorfreude herbeigesehnten Sonntagen. Doch die Erfahrungen aus meiner Jugend sind in mir lebendig, und Sophie und ich wollen unseren Kindern diese weitergeben. Xavier, Ella-Grace und Hadrien sind der Mittelpunkt unserer Welt und der Grund, weshalb wir gemeinsam diese Reise unternommen haben.

Ich hatte die einmalige Gelegenheit, dieses Land in vielen Phasen meines Lebens zu erkunden – als Junge auf den Reisen mit meinem Vater, als junger Mann auf dem Weg in die Berge im Westen und während der Lehrerausbildung, als Leiter von Katimavik und jetzt als Vater und als Politiker. Jede dieser Reisen führte mir das Land vor Augen, in dem wir leben, die geografischen Entfernungen, die wir überbrücken müssen, und die reichen Gaben, die dieses Land hervorbringt. Landkarten können keinen Eindruck von Kanadas tatsächlichen Größenverhältnissen vermitteln, und Flugreisen verkleinern alles, was unser Land zu bieten hat. Aus zehntausend Metern Höhe kann man die Ausdehnung der Kornkammern in den Prärieprovinzen oder die Ingenieurleistung am Rogers Pass nicht wertschätzen. Man muss dafür auf dem Boden stehen, von wo aus man nicht nur das Land erkunden, sondern auch den Menschen begegnen kann, die diesem Land genauso zugetan sind, wie ich es bin.

Allzu viele von uns Kanadiern betonen ihre regionalen Unterschiede und vergessen dabei, was uns verbindet. Wir sind ein Volk, das zwei offizielle Sprachen spricht und eine Fülle anderer miteinander teilt. Bei all unseren Unterschieden, was Kultur, Geschichte und Geografie betrifft, verbinden uns doch gemeinsame Werte, welche die kanadische Identität ausmachen. Ich empfinde fest verwurzelte Liebe und Respekt gegenüber Kanada und weiß, dass außerordentliches Potenzial in uns steckt. Alles, was ich in meinem Leben gesehen und erlebt habe, hat diese Tatsache untermauert und verstärkt. Alle Vorschläge, die ich in meiner politischen Laufbahn mache, beruhen auf dieser Prämisse.

Allerdings kann dieses Potenzial leicht vertan und, einmal verschwendet, nicht so einfach wiederhergestellt werden. In den letzten Jahren verblasste die potenzielle Größe unseres Landes im Schatten polarisierender Politik und einer Tendenz, die Macht um ihrer selbst willen zu ergreifen. Das ist nicht das, was das Land braucht, und auch nicht das, was wir Kanadier wirklich wollen. Die Gründung unseres Landes basiert auf besseren Zielen als diesen, ist geprägt von einer Vision, die für Menschen in aller Welt einzigartig und auch ermutigend war.

Die Gefahr, dass diese Ziele aus den Augen verloren werden, war einer der Gründe, die mich in die Politik gehen und mich für eine andere Haltung plädieren ließen, um Kanada voranzubringen. In vielerlei Hinsicht spiegelt sich in meiner Haltung meine Erziehung wider und mein Bewusstsein, dass wir nicht nur den Reichtum unseres Landes, sondern auch die Verantwortung, diesen Reichtum zu schützen und zu fördern, teilen müssen. Wir müssen unsere viel gepriesene Toleranz und Integrationsbereitschaft und unseren Respekt für demokratische Werte zu schätzen wissen, aber auch noch einem Feinschliff unterziehen. Wir müssen das unschätzbare Erbe dieses weiten und wunderschönen Landes ehren und auch seine Verheißung einer reichen Zukunft für unsere Kinder und Kindeskinder.

Sehen Sie es mir bitte nach, wenn sich das jetzt ein wenig überschwänglich anhört. So etwas passiert mir bei Dingen, die ich liebe und hoch schätze. Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu erklären, weshalb ich so empfinde in Bezug auf unser Land und wie ich lernte, die Initiative zu ergreifen.

Meine Vision für dieses Land ist stark geprägt von meinen Erfahrungen und den Einflüssen, unter denen ich stand – Trudeau und Sinclair, Vater und Mutter, Französisch und Englisch, Ost und West. So wie ein Fluss die Summe aus hundert Nebenflüssen ist, so bin ich das Produkt von vielen Menschen und Regionen.

Sohn war ich immer, aber heute bin ich auch Ehemann, Vater und ein Mensch voller Leidenschaft für sein Land. Und wenn ich den Wunsch hege, eines Tages die Gelegenheit zu bekommen, Kanada in eine Zukunft der Gerechtigkeit, Gleichheit und mit gemeinsamen Zielen zu führen, dann muss ich Ihnen meine Geschichte mit meinen eigenen Worten erzählen, sodass Sie mich als den Menschen, der ich bin, besser kennenlernen, weitab vom Rampenlicht des politischen Lebens. Ich möchte Ihnen das Pflichtbewusstsein erklären, das mich antreibt – unserem Land zu dienen, indem ich die gemeinsame Grundlage stärke, auf der jeder Kanadier und jede Kanadierin seinen bzw. ihren Platz in einem starken und gerechten Land finden kann.

Kindheit in 24 Sussex

Der passende Anfang meiner Geschichte findet sich vor über einem Jahrhundert in der Gemeinde Banff an der dünn besiedelten Nordostküste von Schottland, die zur Grafschaft Aberdeenshire gehört. Eines Tages im Jahre 1911 ging ein Dorflehrer und passionierter Angler namens James George Sinclair gemeinsam mit Freunden an ein nahe gelegenes Flüsschen und warf seine Angel aus. Prompt wies ein Constable die Gruppe zurecht und erklärte ihnen, sie fischten illegal – die Wasserstraße »gehöre« auf ihrem gesamten Verlauf einem ortsansässigen Adeligen.

In Schottland und anderswo in Europa überdauerten feudale Landnutzungsrechte bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein, und wer das Gesetz übertrat, musste mit strengen Strafen rechnen. Falls James noch einmal erwischt werden würde, wie er den lokalen Feudalherren um seine Fische bestahl, so warnte ihn der Constable, würde er dafür hinter Gitter wandern.

James und seine Freunde packten ihre Ausrüstungen zusammen und machten sich über die Wiese auf den Nachhauseweg. Dabei murrte er: »Wenn ich nicht fischen kann, kann ich nicht leben.« Einer von James’ Gefährten beschrieb daraufhin den anderen ein völlig freies Land, einen schönen Fleck Erde, wo es in den Wäldern nur so wimmele vor Wild und »keinem Adeligen die Fische gehören«. Er habe davon in einem Buch gelesen, erzählte der Mann. Es sei ein wundervoller Ort, über viertausend Meilen entfernt, jenseits des Atlantiks und ganz am Rande von Kanada. Ein Ort, der »British Columbia« heiße.

Wenige Monate später befanden sich James George Sinclair, seine Frau Betsy und ihr dreijähriger Sohn Jimmy an Bord eines Schiffes mit Kurs auf Kanada. Sie fanden in British Columbia weit mehr als nur Fische. Ihr neues Zuhause war ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo sich harte Arbeit lohnte, unabhängig davon, welchen Akzent man sprach oder welche Herkunft man hatte. Im Verlauf des folgenden halben Jahrhunderts erwarb ihr Sohn Jimmy einen Abschluss in Maschinenbau, erhielt ein Rhodes-Stipendium, diente während des Zweiten Weltkriegs in der Royal Canadian Air Force (RCAF), wurde zum Abgeordneten gewählt, wurde Kabinettsmitglied, durchlief eine erfolgreiche Karriere als Geschäftsmann – und blieb zeit seines Lebens, wie vor ihm schon sein Vater, ein passionierter Angler.

Jimmy und seine Frau Kathleen gaben der vierten ihrer fünf Töchter den Namen Margaret. Heute lebt sie in Montreal; sie ist meine Mom.

Im September 1941 wurde Jimmy Sinclair die besondere Auszeichnung zuteil, seine erste Amtszeit als Abgeordneter des Wahlbezirks Vancouver North anzutreten, während er eine Flugstaffel der RCAF in Nordafrika befehligte. Zur gleichen Zeit unternahm ein frankokanadischer Intellektueller eine bemerkenswerte, sechzehnhundert Kilometer lange Kanuexpedition von Montreal zur James Bay. Er begab sich auf die Spuren der Reise, die im siebzehnten Jahrhundert die coureurs de bois – Waldläufer beziehungsweise Trapper – unternommen hatten, welche die Hudson’s Bay Company gründeten. Die Reise zog reges Medieninteresse auf sich; unter der Schlagzeile »Studenten auf Vergnügungsreise« führte eine Lokalzeitung die sechs Kanuten namentlich auf. Einer von ihnen trug den Namen Pierre E. Trudeau.

Es war eine beschwerliche Reise. Für meinen Vater ging es genau darum: »Ich habe die Stromschnellen bezwungen, während andere sie umtrugen«, schrieb er in einem Brief an einen Freund. »Die Lebensmittel gingen zur Neige, die Portagen waren indiskutabel, die Stromschnellen gefährlich … mit anderen Worten, das Leben war herrlich.« So nahm mein Vater seine Heimat Quebec wahr – als einen stolzen, wunderbaren Ort voll wilder Schönheit. Er empfand es immer so, dass der Geist, der diese Provinz ausmacht, im gleichen Maß ihrer Landschaft wie ihrer Sprache und ihrer Kultur entspringt.

Als Familie spürten wir stets eine starke Verbundenheit zum Wasser. Tatsächlich spielt Wasser schon in meiner allerersten Kindheitserinnerung eine Rolle. Ich war noch keine zwei Jahre alt, als mich mein Vater in einen Schneeanzug steckte und mit mir in Harrington Lake Schlitten fuhr. Diese regierungseigene Residenz des Premierministers im Gatineau Park war einer der Lieblingsorte meiner Eltern, und die beiden verbrachten dort gemeinsam Zeit. Es war Dezember 1973, und der See war nicht ganz zugefroren. Meine Mutter stand oben auf einer Anhöhe, hochschwanger mit meinem Bruder Sacha, und feuerte uns an, während mein Vater mit mir auf dem Schlitten immer wieder den Hügel hinaufstapfte und dann heruntersauste. Jede der kurzen Abfahrten endete in der Nähe des Wasserlaufs, der aus dem See strömt, jenem Fluss, den ich später hinabpaddeln sollte.

Nach ein paar Abfahrten hatte mein Vater sich davon überzeugt, dass es ungefährlich war und beschloss, ich solle es alleine probieren. Oben auf dem Hügel gab er dem Schlitten einen Schubs, und schon fuhr ich die Anhöhe hinunter, während er und meine Mutter zuschauten. Fast sofort erkannte mein Vater ein großes Problem: Als wir zu zweit auf dem Schlitten gesessen hatten, sorgte unser gemeinsames Gewicht dafür, dass die Kufen des Schlittens die Eiskruste durchbrachen und unsere Fahrt verlangsamten. Doch da ich nun alleine auf ihm saß, glitt der Schlitten eher wie ein Schlittschuh über die Eisschicht, nahm immer mehr Fahrt auf und steuerte geradewegs auf den Fluss zu. Während mein Vater so schnell er konnte den Hügel hinunterrannte und mir hinterherjagte, stand meine Mutter erschrocken oben auf dem Hügel und rief: »Mein Baby, mein Baby!«

Obwohl ich damals noch sehr klein war, erinnere ich mich doch deutlich daran, wie die Fahrt endete, nämlich damit, dass der Schlitten zur Hälfte im sandigen Ufer stecken blieb und meine ausgestreckten Händchen bis zu den Handgelenken im eiskalten Wasser versanken. Ich trug blaue Strickfäustlinge, und meine Hauptsorge bestand darin, dass ich sie nass gemacht hatte. »In den Fluss gefallen, Fäustlinge nass!«, rief ich meinem Vater erfreut und überrascht zugleich zu, als er ankam, um mich zu retten. Er hob mich mit einer Hand schwungvoll hoch, packte mit der anderen Hand den Schlitten und trug mich wieder die Anhöhe hinauf. Es war ein bedeutender Tag: Ich hatte meine Weihe als Naturbursche empfangen.

Vor diesem Abenteuer lag die ereignisreiche Zeit meiner Geburt. Sir John A. Macdonald war der letzte Premierminister gewesen, der während seiner Amtszeit Nachwuchs bekommen hatte. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter begrüßten die Zielsetzungen der neuen feministischen Bewegung in Bezug auf die Elternrollen von Männern und Frauen. Allerdings lagen drei Jahrzehnte zwischen den beiden, und ein solcher Altersunterschied ließ sich nicht so einfach überwinden. Um es ins rechte Licht zu rücken: Mein Vater wurde 1919 geboren, in dem Jahr, als Frauen in Kanada das Recht erlangten, für öffentliche Ämter zu kandidieren.

1971 untersagte das Ottawa Civic Hospital es Ehemännern nach wie vor, ihre Frauen in den Kreißsaal zu begleiten. Als meine Mutter davon erfuhr, wurde sie wütend. Falls ihr Ehemann bei ihrer Entbindung im Krankenhaus nicht an ihrer Seite sein dürfe, werde sie ihr Baby – das war ich – in 24 Sussex auf die Welt bringen. Als die Nachricht vom Protest meiner Mutter den Verwaltungsrat des Krankenhauses erreichte, schaffte er die antiquierte Einschränkung sofort ab, worauf andere Krankenhäuser in Ottawa und schließlich im ganzen Land diesem Beispiel folgten. Als ich am ersten Weihnachtsfeiertag das Licht der Welt erblickte, war mein Vater an der Seite meiner Mutter. Es war, wie mir zuverlässige Quellen mitteilen, eine leichte und unkomplizierte Geburt. Und ich denke, dass ich und mein Vater meiner Mutter dabei halfen, dem patriarchalischen Denken alter Schule einen Dämpfer zu versetzen.

Mein Bruder Sacha kam zwei Jahre nach mir zur Welt, und Michel folgte ihm weniger als zwei Jahre danach, sodass wir drei uns in vielerlei Hinsicht ähnlich waren. Wir waren in unserer Kindheit enge Spielgefährten – spielten Fangen, ärgerten uns gegenseitig, brachten uns in Schwierigkeiten. Tatsächlich waren wir wild wie junge Löwen. Ich brachte Sacha das Ringen bei, als er noch Windeln trug, und Sacha wälzte sich mit Michel herum, als der noch ein Kleinkind war. Meine Eltern ließen sich von dieser ganzen Energie inspirieren und legten Turnmatten im Erdgeschoss von 24 Sussex aus, begierig darauf mitanzusehen, wie wir unsere überschüssige Energie auf gesunde Art und Weise auspowerten.

Damals war Harrington Lake wie die Kulisse für einen Hardy-Boys-Roman, ein Ort, der um Abenteuer bettelte. Zu unserer Freude förderte mein Vater diese Vorstellung immer wieder. In der Nähe konnten wir ein altes Gehöft mit einer verwaisten Scheune erkunden. Auf halbem Weg zum See, vorbei an einer alten Glimmer-Grube, befand sich ein unbenutztes Bootshaus, wo meine Brüder und ich uns im Sommer sonnten. Etwa hundert Meter vor der Küste war ein winziges Eiland, der Ort für den Initiationsritus jedes Einzelnen von uns. Wer sieben Jahre alt wurde, das war ausgemachte Sache, schwamm zum Eiland hinaus und wieder zurück.

Dass unser Vater dem zustimmte, war ein Beispiel dafür, dass er uns immer ermutigte, unsere körperlichen Grenzen auszuloten. Natürlich leitete er uns an und beschützte uns – als wir uns an diesem Ritual versuchten, war er dabei und schwamm neben uns her, bis zum Inselchen und zurück.

Im Übrigen liebte er es, uns zu überraschen. Er zog topografische Karten vom Gatineau Park hervor, legte den Finger auf eine Stelle und sagte: »On va là.« Eine halbe Stunde später hatten wir drei unsere Mühe, mit ihm und unserer Mutter Schritt zu halten, während er zuversichtlich in die Wildnis hineinmarschierte. Sein Orientierungssinn war hervorragend, und wir verirrten uns nie. Dies galt allerdings nicht für andere Besucher des Gebiets. Ab und zu lief uns ein verirrter Wanderer über den Weg – und stellte dann fest, dass ihm der kanadische Premierminister die Richtung wies. Wenn ich heute auf derartige Ereignisse zurückblicke, kommen sie mir unwirklich vor. Als kleines Kind jedoch erschien es vollkommen normal, dass der Premierminister Wanderern half, die sich in den Gatineau Hills verlaufen hatten.

Ein Wechsel der Jahreszeiten bewirkte keinesfalls, dass unsere Aktivitäten in der freien Natur und unsere Familienausflüge zum Erliegen kamen. Wenn Schnee lag, bedeutete das vielerlei. Mit dem Skifahren fingen wir alle schon sehr früh an. In Harrington Lake schnallten wir uns für gewöhnlich Schneeschuhe an die Füße und gingen damit aus der Tür. Es handelte sich allerdings nicht um die modernen Leichtbaumodelle, die heute auf dem Markt sind. Stattdessen trugen wir die alten, tropfenförmigen Holzversionen, die ein wenig so aussahen wie Tennisschläger und mit Katzendarm bespannt wurden (der, wie unser Vater uns versicherte, nicht wirklich von Katzen stammt). Während wir durch die Wildnis stiefelten, erzählte mein Vater, immer auf Französisch, Geschichten über Albert Johnson, auch bekannt als Mad Trapper of Rat River. Der Mann war ein berüchtigter Krimineller während der Zeit der Weltwirtschaftskrise, der die Royal Canadian Mounted Police (RCMP) zu einer fast 250 Kilometer langen Verfolgungsjagd durch die Nordwest-Territorien und die überfrorene Wildnis des Yukon veranlasste. Dies inspirierte uns natürlich dazu, abwechselnd die Rolle des Mad Trapper zu übernehmen und sich irgendwo in den Gatineau Hills zu verstecken, um zu sehen, ob es einem gelang, sich nicht von den anderen Familienmitgliedern fangen zu lassen.

Die Fährte von jemandem zu lesen, der auf Schneeschuhen unterwegs ist, ist leicht – wenn er sich geradlinig vorwärtsbewegt. Daher versuchte man, die Verfolger zu verwirren, indem man im Kreis ging, abbog, kehrtmachte, eine Acht lief oder sich gar von Ast zu Ast hangelte, um die Fährte zu unterbrechen. Wir liebten dieses Spiel und beschäftigten uns stundenlang damit.

Nachdem er ein ganzes Aufgebot der RCMP über einen Monat lang in Atem gehalten hatte, wurde der Mad Trapper schließlich von den Mounties an einer überfrorenen Biegung des Eagle River erschossen. Unsere Verfolgungsjagden hingegen endeten für gewöhnlich damit, dass mein Vater eine Tafel Zartbitterschokolade aufbrach und verteilte.

Erst mit acht oder neun Jahren bekam ich deutlichere Vorstellungen vom Beruf meines Vaters und von dem, was er tat, wenn er nicht bei uns zu Hause war. Meine Mutter erzählt gerne, dass ich meinen Dad einmal als »Chef von Kanada« bezeichnet habe. Aber was bedeutete das genau? Die Eltern meiner Freunde gingen Tätigkeiten nach, die ich begriff – sie arbeiteten in einem Geschäft oder kümmerten sich als Ärzte um Menschen oder sprachen im Radio. Diese Art von Arbeit verstand ich. Die Vorstellung von jemandem, der im Staatsdienst war, war viel abstrakter, schwieriger zu begreifen.

Das Thema beschäftigte mich eines Tages, als ich meinen Vater etwas über unser Haus fragte und er antwortete, es gehöre uns nicht so, wie uns unsere Kleidung oder unsere Bücher gehörten. Nicht? Das war komisch. Wir wohnten doch in 24 Sussex, warum also gehörte uns das Haus nicht? Seine Erklärung lautete, es gehöre der Regierung, was mich nur noch mehr verwirrte. Leitete denn mein Vater nicht die Regierung? Gehörte damit denn nicht alles ihm? Dann, im Jahre 1979, verloren die Liberalen die Wahlen. Fast über Nacht war 24 Sussex nicht mehr unser Zuhause. Wir packten unsere Sachen und zogen ein paar Blocks weiter nach Stornoway, die offizielle Residenz des Oppositionsführers. Da begriff ich, dass der wahre Chef von Kanada das kanadische Volk ist.

Im Lauf der Zeit verstand ich einige der komplexeren Probleme, mit denen mein Vater sich beschäftigen musste. Dabei sorgte er dafür, dass meine Aufmerksamkeit sich auf große Ereignisse und ihre Bedeutung konzentrierte. Dass er mit seinen jungen Söhnen über die 1982 erlassene Charta der Rechte und Freiheiten sprach, lag natürlich nahe. Ich war damals zehn Jahre, alt genug, um mit den Grundsätzen der Demokratie vertraut zu sein, auch mit der Vorstellung, dass Regierungen nach dem Willen der Wähler an die Macht kommen und abtreten müssen. Während er die Bedeutung der Charta erläuterte, wies mein Vater, der ein solches Dokument schon in seiner Zeit als Justizminister unter der Regierung Pearson in den Sechzigerjahren vor Augen gehabt hatte, darauf hin, einige Gesetze darin seien zu wichtig, als dass die Regierung sich über sie hinwegsetzen dürfe.

Die Vorstellung, eine Mehrheit – oder, in Anbetracht unseres Wahlsystems, manchmal weit weniger als die Mehrheit – könne die enorme Macht der Regierung dazu nutzen, Minderheitenrechte zu beschränken, brachte meinen Vater auf. Er nannte es »die Tyrannei der Mehrheit«. Er erklärte es uns Kindern so: Es dürfe beispielsweise Rechtshändern, die eine große Mehrheit in der Bevölkerung stellen, nicht erlaubt sein, Gesetze zu verabschieden, die auf Kosten von Linkshändern gingen, nur weil diese in der Minderheit sind.

Dad gehörte einer sprachlichen Minderheit an und zudem einer Generation, die miterlebt hatte, wie überall in der Welt die Macht des Staates dazu missbraucht worden war, Menschen entsetzliche Dinge anzutun. Er kämpfte sein ganzes Leben lang dafür, aus Kanada ein Land beispielloser Vielfalt zu machen: in Bezug auf Religionen, die ethnische Herkunft und den Glauben. Damit Vielfalt funktionieren kann, müssen die Menschen frei sein. Mittels der Charta trug er dafür Sorge, dass keine Gruppe Kanadier die Regierung dazu missbrauchen konnte, die grundlegenden Freiheiten irgendeiner anderen Gruppe Kanadier übermäßig einzuschränken. In diesem Sinne war sein Grundwert auf klassische Weise liberal. Ich teile diesen Wert und glaube gleichermaßen stark daran.

In den folgenden Jahren wurde die Charta der Rechte und Freiheiten zum Instrument für eine noch nie da gewesene Ausweitung individueller Freiheiten in Kanada. Man hat auf sie zurückgegriffen, um willkürliche Gesetze außer Kraft zu setzen, welche die freie Wahl der Kanadier in den privatesten und intimsten Bereichen des Lebens eingeschränkt hatten. Dank der Charta werden Kanadier nicht länger am Arbeitsplatz wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert oder daran gehindert, den Menschen zu heiraten, den sie lieben, nur weil er oder sie gleichen Geschlechts ist. Dank der Charta haben Frauen das Recht erlangt, über ihre reproduktive Gesundheit zu bestimmen. Auch andere Aspekte dieses Verfassungsgesetzes verfolgen das gleiche Ziel. So machten sich beispielsweise die First Nations Artikel 35 zunutze, um Rechte, die nach der Besiedlung durch Europäer von Regierungen verletzt worden waren, gesetzlich festzuschreiben.

Seit ich 2008 Parlamentsabgeordneter wurde, habe ich oft darüber nachgedacht, wie die Ära Harper wohl ohne die Charta der Rechte und Freiheiten verlaufen wäre. Mr Harper und seine Partei sind keine Anhänger der Charta. Sie weigerten sich, deren dreißigsten Geburtstag zu feiern. Sie nehmen auch nur selten Bezug auf sie, denn der Oberste Gerichtshof hat die Charta dazu benutzt, einem großen Teil der besonders autokratischen Bestrebungen der Regierung einen Dämpfer zu versetzen. Ich persönlich denke, es dreht sich alles um den grundlegenden Unterschied zwischen dem liberalen und dem konservativen Freiheitsgedanken. Der liberale sieht vor, dass alle Individuen, ungeachtet ihrer Herkunft oder ihres Glaubens, die gleichen grundlegenden Rechte und Freiheiten haben und dass die Verfassung sie vor den mächtigen Kräften schützen muss, die diese Rechte andernfalls einschränken – und in Extremfällen aufheben – würden. Der konservative Freiheitsgedanke scheint mir wesentlich stärker darauf ausgerichtet zu sein, Menschen und Gruppen, die an der Macht sind, die Freiheit zu geben, diese Macht nach Gutdünken auszunutzen.

Ich glaube zutiefst an den liberalen Freiheitsgedanken. Im Frühjahr 2014 gab ich bekannt, dass ich mich entschlossen für das weibliche Selbstbestimmungsrecht einsetzen würde. Für eine Reihe meiner parlamentarischen Kolleginnen und Kollegen war das eine große Veränderung. Bis dahin betrachtete die Liberal Party dieses Recht als der Freiheit jedes einzelnen Parlamentsmitglieds untergeordnet, im Parlament entsprechend seinem oder ihrem religiösen Glauben abzustimmen. Als jemand, der römisch-katholisch aufgewachsen ist und eine Jesuitenschule besucht hat, verstehe ich, dass es tiefgläubigen Menschen schwerfällt, ihre Überzeugungen hintanzustellen, um Landsleuten dienlich zu sein, die diese Überzeugungen womöglich nicht teilen. Doch für mich geht es beim Liberalismus genau darum. Er vertritt die Auffassung, dass privater Glaube zwar geschätzt und respektiert werden sollte, sich jedoch grundlegend von der öffentlichen Pflicht unterscheidet. Meine Vorstellung von Freiheit sagt mir, dass wir die Rechte der Menschen, das zu glauben, was ihnen ihr Gewissen vorschreibt, schützen, aber genauso hart dafür kämpfen sollten, Menschen davor zu bewahren, dass ihnen die Überzeugungen anderer aufgezwungen werden. Das ist der Unterschied zwischen den Positionen, die ein Bürger zum Ausdruck bringt, und der Stimme, die im Parlament abgegeben wird. Geben Abgeordnete im Parlament ihre Stimme ab, äußern sie damit nicht bloß einen Standpunkt, sondern bringen den Willen zum Ausdruck, alle anderen Kanadier kraft eines Gesetzes an diesen Standpunkt zu binden. An dieser Stelle muss man eine Trennlinie ziehen. Ich bin überzeugt davon, dass mein Vater, wäre er heute noch da, dem zustimmen würde.

Mag sein Job auch einzigartig gewesen sein, so war mein Dad, den wir Papa nannten, weil wir mit ihm immer französisch sprachen, in vielerlei Hinsicht wie die meisten Väter. Er scherzte mit uns, spielte Spiele mit uns, und wenn er uns eine besondere Freude machen wollte, nahm er uns manchmal zur Arbeit mit. Für gewöhnlich bedeutete dies, dass Sacha, Michel und ich im zweiten Obergeschoss des mittleren Gebäudetrakts im Parlament stundenlang Fangen oder Verstecken spielten. Bis heute kann ich an bestimmten Räumen oder Treppenhäusern in dem Gebäude nicht vorbeigehen, ohne dass die Erinnerung an diese Zeiten wieder wach wird.

Den umfassendsten Einblick in die alltägliche Arbeit, die mein Vater als Premierminister leistete, bekam ich nicht in Ottawa vor Augen geführt, wo er seine Rollen als Premierminister und Elternteil strikt voneinander getrennt hielt, sondern wenn wir im Land unterwegs waren oder ins Ausland reisten. Abgesehen von unseren Auftritten bei feierlichen Anlässen, etwa dem Volkstrauertag und dem Canada Day, bekamen wir von seinen öffentlichen Aufgaben kaum etwas mit. Doch wenn wir ihn über Ottawa hinaus begleiteten, lagen die Dinge anders.

Als ich an der Reihe war, mit ihm ins Ausland zu reisen, saß ich häufig in irgendeinem Hotel und mampfte einen Muffin zum Frühstück, während mein Vater von Leuten wie Bob Fowler, seinem außenpolitischen Berater, und Ted Johnson, seinem Chefassistenten, detaillierte Briefings über die Zusammenkünfte des Tages erhielt. Manchmal nahm ich auch an abendlichen Veranstaltungen teil. Dies verschaffte mir die Möglichkeit, internationalen Regierungschefs zu begegnen, etwa der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme, der mir ein Jagdmesser mit einem Griff aus Rentierhorn schenkte, das ich bis zum heutigen Tag zu schätzen weiß.

Zuweilen bekam ich bedeutende Ereignisse hautnah mit. Dies geschah zum Beispiel, als ich 1982 mit meinem Vater kanadische Militärbasen in Westeuropa besuchte und ein Bulletin verlauten ließ, der sowjetische Regierungschef Leonid Breschnew sei gestorben. Am nächsten Tag waren wir unterwegs nach Moskau, um den Trauerfeierlichkeiten beizuwohnen.

Am Flughafen empfing uns der kanadische Botschafter in der Sowjetunion, Geoffrey Pearson, und briefte meinen Vater während der Fahrt zum Hotel. Ein Großteil des Gesprächs, daran erinnere ich mich, kreiste um die Frage, wer Breschnews Nachfolger werden würde. Während wir durch Moskau fuhren, sah ich zu, wie es Abend über der dunklen, düsteren Stadt wurde, während mein Vater ein langes, detailliertes Gespräch über die sowjetische Innenpolitik führte, bei dem er sich als ebenbürtig gegenüber einem Diplomaten erwies, der in Moskau stationiert war. Es war eine weitere Bestätigung für den Jungen, der ich damals war, dass mein Vater so gut wie alles wusste.

Wenn es um Rüstungskontrolle oder Handelsabkommen geht, gibt es Grenzen, wie viel ein Kind davon verstehen kann. Doch zu den Erkenntnissen, die ich gewann, gehörte die Tatsache, dass bei auswärtigen Beziehungen persönliche Beziehungen von entscheidender Bedeutung sind. Ich war beeindruckt davon, dass es bei den Briefings für meinen Vater häufig genauso sehr um die Persönlichkeiten seiner Amtskollegen ging wie um die Themen.

Dies war besonders spannend, wenn ich bei den Treffen meines Vaters mit den Regierungschefs anderer Länder dabei sein durfte. Manchmal wirkten sie so unterschiedlich, dass es mich verwunderte, dass sie konstruktiv miteinander umgehen konnten. Zum Beispiel Ronald Reagan.

Ich war neun, als der amerikanische Präsident zum Mittagessen mit meinem Vater in 24 Sussex eintraf. Es war an diesem Tag ziemlich deutlich, dass etwas Bedeutsames vor sich ging, denn Beamte der RCMP standen im Abstand von drei Metern rings um das Grundstück – mehr Security bekam ich auf dem Grünstreifen weder vorher noch nachher zu sehen.

Als der charismatische US-Präsident hereinkam, stellte mein Vater mich vor und meinte, wir drei sollten auf der Loggia entspannen, bevor die beiden Regierungschefs zu Mittag aßen. Reagan schenkte mir ein warmes Lächeln, während wir uns hinsetzten, und fragte mich, ob ich ein Gedicht hören wolle. Interessiert legte mein Vater den Kopf auf die Seite. Er liebte Poesie und ließ uns häufig Verse auswendig lernen, etwa aus Werken wie Phèdre von Racine oder Der Sturm von Shakespeare. Doch Reagan hatte einen anderen Geschmack. Statt klassischer Verse zitierte er aus Das Ende des Dan MacGrew von Robert Service (»Man feierte wild und mit lautem Gegröhl / in der Kneipe Malamut …«).

Ich war begeistert von der Strophe. Mein Vater war ein wenig irritiert, sowohl von der für einen Neunjährigen etwas unangebrachten Thematik als auch von der für den Cowboy/Schauspieler/Präsidenten vorhersehbar treffenden Auswahl des Gedichts. Doch es zeigte Wirkung; ich war so beeindruckt, dass ich es auswendig lernte und darüber hinaus auch andere Balladen, die mein Vater mir nie beigebracht hätte, von The Cremation of Sam McGee bis zu The Highwayman von Alfred Noyes.

Ebenfalls unvergesslich waren die Zeiten an Bord der Regierungsmaschine vom Typ Boeing 707, die für Reisen ins Ausland eingesetzt wurde. Im vorderen Bereich der Maschine befanden sich acht große Sitze, jeweils vier einander gegenüber. Dahinter standen zwei große Liegesessel, auf denen mein Vater und ich während langer Flüge schliefen. Eine Wand trennte diesen Bereich vom Rest des Flugzeugs ab, der Mitarbeitern, Sicherheitspersonal und Medien zur Verfügung stand. Da mein Vater auf den Flügen häufig arbeitete und keine Brüder da waren, mit denen ich hätte spielen können, ging ich manchmal nach hinten, um mich mit den Leuten zu unterhalten, die ich kannte. Doch so interessant diese Gespräche auch sein mochten, waren meine Besuche in diesem Bereich doch kurz. Denn damals war das Rauchen in Flugzeugen noch erlaubt, auch in der Regierungsmaschine, und der blaue Dunst, der diesen Bereich im Flieger erfüllte, löste Hustenreiz bei mir aus.

Am wertvollsten auf diesen Reisen mit meinem Vater war die Gelegenheit zu sehen, wie er Entscheidungen traf. Er stellte den Menschen in seiner Nähe immer Fragen und forderte sie auf, Stellung zu etwas zu beziehen. Nur selten ließ er seine eigenen Ansichten im Detail erkennen, bevor alle anderen zu Wort gekommen waren, was im Gegensatz zu seinem öffentlichen Image als nahezu autokratischer Entscheider stand. Jedwede Entscheidung, die mein Vater traf, war das Ergebnis eines Prozesses, bei dem viele Meinungen gehört wurden und der sich manchmal über Wochen oder Monate hinzog. Das Modell der Entscheidungsfindung, das ich während jener Flüge mit der 707 kennenlernte, hat meinen eigenen Führungsstil geprägt.

In diesem Kontext wuchs ich auf. Vor allem anderen aber ist mir in Erinnerung geblieben, wie wir fünf als Familie in Ottawa lebten und wie unsere Eltern uns zugetan waren.

Obwohl sein Zeitplan eng getaktet war, war Dad ein engagierter, tatkräftiger Vater, der viel Freude an seinen Kindern hatte. Er fand Befriedigung darin, elterliche Aufgaben zu erfüllen, passte abends auf uns auf, als wir noch Kleinkinder waren, reparierte später unsere Fahrräder und bastelte Weihnachtsgeschenke. Er erzählte Gutenachtgeschichten, en français, bien sûr, über Jason und das Goldene Vlies oder Paris und Helena aus Troja, oder erschreckte uns mit der Geschichte von Polyphem in seiner Höhle. Tagsüber brachte er uns mit so ziemlich jeder nur möglichen sportlichen Betätigung in Kontakt, auch wenn ihn Mannschaftssportarten wie Fußball, Football und Hockey nicht interessierten. Er brachte uns bei, wie man segelt, auf Felsen klettert, mit einem Gewehr und der Ausrüstung zum Bogenschießen umgeht, sich im Gelände orientiert, schwimmt, taucht, sich abseilt und, natürlich, Ski läuft. In Harrington Lake verbrachten wir mindestens vier Stunden am Tag mit irgendeiner Art von Outdoor-Aktivität, ob es nun heiß oder kalt draußen war, trocken oder pitschnass. Mein Dad pflegte den schönen Ausspruch: »Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung.«

Er und meine Mutter übertrafen einander beim Skilaufen. Meine Mutter war immer eine hervorragende Skiläuferin. Was meinen Vater betrifft, so stellte er mit seinem anmutigen Stil und seiner aggressiven Art andere Skifahrer in den Schatten, sogar auf den anspruchsvollsten Abfahrten, und noch mit über siebzig hielt er mit meinen Brüdern und mir auf den schwierigsten Hängen Schritt.

Wenn er nicht gerade auf Skiern stand oder im Kanu saß, übte er sich in Gesellschaftstänzen, vertiefte sich in klassische Musik und ernste Literatur und teilte auch diese Begeisterung mit uns. Wir wurden dazu ermutigt, ja es wurde sogar von uns erwartet, uns genauso in Geschichte auszukennen, katholischer Theologie und den Grundlagen der Philosophie, wie wir es verstanden, auf Skiern einen Parallelschwung hinzubekommen oder ein Kanu durch dichtes Gebüsch zu umtragen.

Wir drei meldeten uns zu Judokursen an, was uns dabei half, fallen und abrollen zu lernen, und als ich vier oder fünf war, brachte mir mein Vater Boxen bei, was ich später aktiv weiter praktizierte.

Meine Mutter bestand darauf, unsere Horizonte auf andere Weise zu erweitern. In meinem Fall erzielte sie damit nur wechselnden Erfolg. Als ich gerade einmal sechs Jahre alt war, meldete sie mich beim Ballettunterricht an. Ich bin ein großer Anhänger von eklektischen Interessen, wenn es um Kultur geht. Doch einer von zwei Jungen unter sechzehn jungen Mädchen zu sein war mehr, als mein junges Ego verkraften konnte. Meine Mutter und die Ballettlehrerin kamen meinem Selbstbewusstsein insofern entgegen, als dass sie mir gestatteten, Hosen statt Strumpfhosen zu tragen. Aber das reichte nicht. Ich hasste die ganze Idee und rebellierte dagegen, zum Ballettunterricht geschleppt zu werden, bis meine Mutter mich eines Tages im wahrsten Sinne des Wortes aus der Tür von 24 Sussex schleifen musste, während ich schrie und um mich trat. Ich klammerte mich an den Türrahmen und hielt mich verzweifelt daran fest, mich weigernd, Moms Bitten Folge zu leisten. Schließlich sagte ein Arbeiter, der gerade in der Nähe der Haustür ein Geländer strich und uns einen Moment beobachtet hatte: »Kommen Sie, Lady. Verschonen Sie den Jungen.«

Das gab den Ausschlag. Ich ging zwar an jenem Tag zum Ballett, aber es war mein letzter Besuch.

Während meine Mutter und mein Vater als Eltern sehr gut miteinander harmonierten, hatten sie als Paar bekanntlich viele Probleme. Die Theorie meiner Mutter lautet, dass sie und mein Vater nicht dazu in der Lage waren, einen »normalen« oder konstruktiven Streit auszutragen. Es gab keinen Mittelweg, sodass meine Eltern sich nicht allmählich einigten, sondern die Dämme brachen und beide ihrem Ärger freien Lauf ließen. Im Lauf der Zeit kam es immer häufiger zu unschönen Auseinandersetzungen zwischen den beiden, bis ihre Ehe schließlich scheiterte.

Meine Mutter erkennt bereitwillig an, dass ihr Mann ein vorbildlicher Vater war, da er sich immer Zeit für seine Kinder nahm. Tatsächlich war seine Einstellung bei der Kindererziehung seiner Zeit um Jahrzehnte voraus. Fast immer fand er etwas Neues, das unser Interesse weckte, irgendeine faszinierende Entdeckung, der es nachzugehen galt, oder auch bloß irgendeinen Trick, um uns zum Lachen zu bringen und glücklich zu machen.

Für seine schwerfälligeren Kollegen war sein aktives Mitwirken bei der Kindererziehung zuweilen schockierend. Als ich noch ein Baby war, kam Dad häufig tagsüber nach Hause, um mitzuhelfen und sich um mich zu kümmern. Er rannte die Treppe hinauf ins Kinderzimmer, bevor er sich auch nur den Mantel ausgezogen hatte. Damit dieses Arrangement funktionierte, lud er seine Kabinettsmitglieder auch schon einmal zu einem Arbeitsessen in 24 Sussex ein. Bei einer denkwürdigen Gelegenheit setzte er mich zum Erstaunen seiner versammelten Kollegen in einen Babysitz an die Mitte des Tisches im Esszimmer. John Turner, der neu ernannte Finanzminister meines Vaters, beobachtete mich einen Moment und sagte dann: »Keine Sorge, Pierre. Wenn Kinder erst einmal ein wenig älter sind, sind sie viel witziger und interessanter.« Als mir mein Dad Jahre später diese Geschichte erzählte, fand er Johns Bemerkung immer noch verblüffend: Für ihn gab es nichts Interessanteres, als zuzuschauen, wie ein Baby die Welt entdeckt. Er ergötzte sich an unseren ersten Worten und ersten Schritten genauso wie an unseren ersten Rückwärtssalti von einem Sprungbrett oder auf einem Trampolin. Von meinen ersten Erinnerungen an meinen Vater bis zu meiner letzten war seine Liebe für uns offenkundig. Dies gab mir mehr als alles andere festen Halt in meiner Kindheit.

Ich will ehrlich sein: Vieles daran, Sohn des Premierministers zu sein, machte einfach Spaß. Zum Beispiel die speziellen Decknamen, welche die RCMP unserer Familie gab: Mein Dad und meine Mom waren Ahorn 1 und 2, meine Brüder 4 und 5. Ich war Ahorn 3. Auch sämtliche wichtigen Orte in unserem Leben hatten Decknamen. Meine Schule, Rockcliffe Park Public School, hieß Bereich 81, und Bereich 76 war das Haus meines Kumpels Jeff. Manchmal überließen die Beamten der RCMP meinen Brüdern und mir das Mikrofon, damit wir mit den Mounties in den anderen Wagen verschlüsselte Botschaften austauschen konnten. Ich weiß noch, wie stolz ich an dem Tag war, als ich ihren sogenannten Geheimcode knackte: »Alpha Bravo Charlie! Man nimmt einfach den ersten Buchstaben jedes Wortes!«

Geburtstagsfeiern in 24 Sussex machten besonders viel Spaß, da wir dann die weitläufige alte Villa für einen Tag in ein Spielhaus verwandelten. Da sowohl Sacha als auch ich Weihnachten Geburtstag hatten, luden wir Mitte Dezember unsere ganze Klasse ein. Es kamen an die vierzig Kinder, Dad zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, und wir hatten die Freiheit, Avalanche zu spielen, eine Art Versteckspiel, bei dem sich jeder gefundene Spieler der Suchgruppe anschließt, bis am Ende des Spiels schließlich ein ganzes Rudel Kinder nach dem einen noch verbliebenen versteckten sucht.

Das war der Teil meines Lebens, den meine Schulfreunde sahen und mich manchmal darum beneideten. Gelegentlich geschahen unerwartete Dinge, die für lange Gesichter sorgten. Ich kann mich an einen Tag im Juni erinnern, als ich elf Jahre alt war und mit meinem Freund Jeff Gillin auf der Auffahrt von 24 Sussex spielte. Da kam ein Wagen vorgefahren, die Tür ging auf, und eine elegante junge Frau mit einer Sporttasche in der Hand stieg aus. Es war Diana, die Prinzessin von Wales. Sie und Prinz Charles bereisten gerade Kanada, und man hatte mir erzählt, dass sie inoffiziell vorbeikommen würde, um im Pool hinter dem Grundstück ein paar Runden zu schwimmen. Also beschloss ich, es sei angemessen, sie gebührend zu begrüßen.

Jeff und ich hatten das vage Gefühl, dass wir dabei irgendeine Form von Protokoll einhalten sollten. Doch so, wie wir in unseren schmuddeligen T-Shirts und Jeans herumstanden, hatten wir keinen blassen Schimmer, was wir tun sollten. Uns tief verneigen? Salutieren? Stattdessen warfen wir unsere Fahrräder hin und standen mehr oder weniger stramm, eine kindliche Version einer Ehrengarde, während die Prinzessin vorbeiging. Für mich war es eine peinliche Situation, und erschwerend kam hinzu, dass Diana offenbar ein wenig verstimmt darüber war, dass wir sie bei etwas störten, das für sie absolut ungestörte Privatsphäre hätte sein sollen. Kaum war sie dann an uns vorbei gehastet (nur leicht die Augen verdrehend), wandte ich mich Jeff zu, um mich dafür zu entschuldigen, was geschehen war. Mit großen Kulleraugen rief er: »Oh mein Gott! Das war unglaublich!«

Etwa zur gleichen Zeit kam es zu einer weiteren Begebenheit, an der Jeff beteiligt war. Er und ich und ein paar Freunde fuhren auf unseren Fahrrädern durch die nähere Umgebung, und wie üblich folgte uns in sicherem Abstand ein Beamter in einem Fahrzeug der RCMP. Ich dachte mir nichts dabei, doch als einer meiner Freunde beschloss, es sei doch lustig, unseren Schatten aus den Reihen des Sicherheitsdienstes abzuschütteln, bogen wir plötzlich scharf ab, durchquerten einen Park, fuhren ein paar Nebenstraßen entlang und kehrten über eine kurvenreiche Route zu Jeffs Haus zurück – wo uns natürlich der Beamte der RCMP, der geahnt hatte, was wir tun würden, bereits erwartete. Als meine Freunde und ich zu Ende gespielt hatten, begleitete mich der Beamte nach Hause und gab dort, wie es seine Pflicht war, einen Bericht über den »Vorfall« ab.

Meine Freunde und ich fanden unsere Bemühungen, den Beamten ein Schnippchen zu schlagen, lustig. Mein Vater war da anderer Ansicht. Kurzum, er war stinksauer. »Meinst du vielleicht, diese Leuten macht es Spaß, einem elf Jahre alten Jungen zu folgen?«, wollte er von mir wissen. »Es ist ihr Job, für deine Sicherheit zu sorgen, damit ich meinen Job machen kann. Und du boykottierst ihre Arbeit und machst sie ihnen bewusst schwer – aus Jux und Dollerei?« In dem strengen Ton, den ich nur allzu gut kannte, fügte er hinzu: »Das war eine absolute Respektlosigkeit diesen Männern gegenüber. Das hast du nicht von mir.«

Meinen Vater zu enttäuschen, war so ziemlich das Schlimmste, was ich als Kind tun konnte. Wie die meisten Kinder sehnte ich mich nach seiner Aufmerksamkeit und seinem Lob. Zwar schenkte er mir beides oft, doch seine Missbilligung war eine schmerzliche Erfahrung für mich.

Es gab Zeiten, in denen wir die Grenze mutwillig überschritten. Ich weiß nicht, ob Sacha, Michel und ich weniger oder mehr »mutwillig« waren als andere ausgelassene Kinder in unserem Alter. Ich weiß nur, dass beide unsere Elternteile und vor allem unser Vater null Toleranz für etwas anderes als respektvolles Verhalten hatten. Mag sein, dass wir in einem privilegierten Umfeld gelebt haben, aber wenn es um Verhalten und Disziplin ging, wurden wir nicht verhätschelt. Im Gegenteil.

Meine Mutter betonte stets, wie bedeutend gute Manieren seien. Ein Verstoß gegen das Protokoll oder die Etikette hatte einen strengen Verweis von ihr zur Folge. »Gute Manieren öffnen euch Türen«, belehrte sie uns, »und wenn die Tür erst einmal auf ist, könnt ihr euren guten Charakter unter Beweis stellen.« Auch bestand sie darauf, unser Verhalten und Interesse gegenüber Menschen müsse aufrichtig sein. »Seid nicht unaufrichtig«, wies sie uns an. »Die Leute merken es, wenn ihr nicht ehrlich seid, und wenn sie es merken, werden sie euch nie wieder ganz vertrauen.«

Die Bedeutung eines sowohl ehrlichen wie auch respektvollen Verhaltens gegenüber anderen war eine Säule unserer Erziehung, die meinen Brüdern und mir von unseren Eltern vermittelt wurde. Als ich acht Jahre alt war, nahm mein Vater mich zum Parlamentshügel mit, wo wir im dortigen Restaurant zu Mittag aßen. Als ich von meinem Teller aufschaute, erblickte ich Joe Clark, den Vorsitzenden der oppositionellen Progressive Conservative Party. Im Glauben, meinem Vater damit eine Freude zu machen, plapperte ich einen albernen Witz über Joe nach, den ich auf dem Schulhof gehört hatte. Mein Vater konnte nicht darüber lachen. Stattdessen war er entsetzt, und ich bekam einen strengen Vortrag darüber zu hören, dass es zwar in Ordnung sei, gegen den Standpunkt eines Gegners anzugehen, man aber keinesfalls einen Angriff unter die Gürtellinie unternehmen dürfe. Um es unmissverständlich klarzumachen, ging er mit mir zu dem Tisch, an dem Mr Clark mit seiner Tochter Catherine saß, und stellte uns einander vor.

Ich habe mich oft gefragt, wie mein Vater auf die wachsende Zahl persönlicher Angriffe statt inhaltlicher Auseinandersetzungen seitens einiger Akteure auf dem politischen Parkett reagieren würde. Zweifellos wäre er angewidert davon und wohl enttäuscht von allen Beteiligten. Er würde einen Weg finden, um seine Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen, ohne dabei ein Blatt vor den Mund zu nehmen, aber auch ohne dabei auf persönliche Attacken, die er vehement verurteilte, zurückzugreifen.

So viel Nachdruck darauf zu legen, andere unabhängig von ihren Standpunkten oder Titeln zu respektieren, gehörte zu den wichtigsten Lektionen, die meinen Brüdern und mir als Kind eingebläut wurden. Manchmal wiesen unsere Eltern zu diesem Zweck von sich aus auf die Vorzüge anderer hin und auf die Hochachtung, die sie verdienten. Unsere Haushälterin Hildegard West, die wir immer schlicht Hilda nannten, war einer dieser Menschen. Es lässt sich nur schwer beschreiben, was genau an Hilda dazu führte, dass wir ihr alle so viel Zuneigung entgegenbrachten, außer vielleicht, dass sie in jeder Hinsicht Wärme ausstrahlte.

Vielleicht aufgrund eines Kommentars von mir oder einer anmutigen Geste seitens Hildas, nahm mich meine Mutter eines Tages beiseite und sagte: »Justin, du wirst im Laufe deines Lebens Königen, Königinnen, Präsidenten und aller Art Menschen mit Macht und Ansehen begegnen. Aber ganz gleich, welche Titel sie tragen, werden viele von ihnen nicht so wertvoll als Mensch sein wie Hilda.«

Dad forderte noch unnachgiebiger von uns, andere respektvoll zu behandeln. Als ich einen uns zugeteilten Beamten der RCMP einmal als Baldy, also Glatzkopf, bezeichnete, nahm der Mann es gut gelaunt hin. Mein Vater aber, der meinen Kommentar mitgehört hatte, bestand darauf, dass ich mich auf der Stelle bei dem Mann förmlich entschuldigte. Den Beamten hatte es womöglich nur amüsiert, dass ein junger Bursche diesen Begriff lässig benutzte. Dad amüsierte sich nicht. Und er sorgte dafür, dass ich es mitbekam und mir hinter die Ohren schrieb.

Jenseits der Welt von 24 Sussex war da noch der temperamentvolle, im Westen des Landes verwurzelte Zweig unserer Familie. Ein Besuch bei den Sinclairs in British Columbia war immer eine schöne Abwechslung von Ottawa und den dort vorherrschenden Einschränkungen. Über diesen Zweig meines Stammbaums sehen allzu viele Menschen hinweg. Alle kennen mich als Sohn eines ehemaligen Premierministers, aber viele vergessen, dass ich auch Enkelsohn eines weiteren außergewöhnlichen Politikers bin, nämlich Jimmy Sinclair, der, wie schon erwähnt, in Schottland geboren wurde und als Kleinkind nach British Columbia kam. Ihm verdanke ich einen meiner beiden Mittelnamen sowie eine Fülle wunderschöner Erinnerungen.

Während des Kriegs diente er als Staffelführer der RCAF in Sizilien, Malta und Nordafrika. Später gehörte Jimmy zum lebenden Inventar des Parlaments, wo er die Wahlkreise Vancouver North und Coast-Capilano vertrat und unter Premierminister Louis Saint-Laurent das Amt des Fischereiministers innehatte. Nach seiner politischen Karriere wurde er Präsident und Vorsitzender von Lafarge Cement North America und krönte damit seine bemerkenswerte berufliche Laufbahn.