Für eine Kirche der Freiheit - Magnus Striet - E-Book

Für eine Kirche der Freiheit E-Book

Magnus Striet

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Beschreibung

Der Synodale Weg in Deutschland steht unter starkem Beschuss. Stimmen aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern und aus dem Vatikan kritisieren die Reformbestrebungen zum Teil deutlich. Magnus Striet analysiert die vielfältigen Stimmen und legt so den Grundkonflikt frei, um den es eigentlich geht. In seinem leidenschaftlichen Plädoyer wendet er sich gegen deutsche und internationale Kritiker des Synodalen Weges. Striet zeigt, dass die Katholische Kirche in ihrer aktuellen Form an ein Ende gekommen ist und spricht sich für weitreichende Erneuerungen von Kirche und Katechismus aus. Nur wenn sich die Kirche auf das moderne Selbstversverständnis des Menschen einstimmt und eine Kirche der Freiheit wird, wird sie eine Zukunft haben und wird Zeugin eines Gottes, der will, dass Menschen sich in ihrer Freiheit selbstbestimmt entfalten. Dies erfordert erhebliche Änderungen auch in der kirchlichen Lehre.

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Magnus Striet

Für eine Kirche der Freiheit

Den Synodalen Weg konsequent weitergehen

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Verlag HerderSatz: SatzWeise, Bad WünnenbergHerstellung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in GermanyISBN Print 978-3-451-39517-8ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82924-6ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-82928-4

Inhalt

Vorwort

I. Beobachtungen zur Situation in Deutschland – und ein Schreiben aus Rom

‚Synodaler Weg‘ und die Reformklassiker

Konflikt um die Freiheit

Ende einer Sozialgestalt von Kirche

Papst Franziskus und der ‚Synodale Weg‘

Deutschland unter einer spezifischen römischen Beobachtung

II. Nochmals: Unter welchen Bedingungen und vor allem wie über Freiheit reden?

Maßstab der Freiheit – woher?

Im Hintergrund Joseph Ratzinger

Wahrheit und Gewissen bei Menke

Oder doch Ordnung aus Freiheit? Eine nominalistische Alternative

Gott und das unbedingte Sollensgebot

Lehre unter Rechtfertigungsdruck – um der Moralität willen

III. Amtscharismaentzug oder: Warum die Kirche unvermeidlich ein Debattierclub bleiben wird

Medien auf der Seite der Lehramtskritiker?

Aufruf zur bischöflichen Autoritätsausübung

Gott und der Glaube

Keine letzte Sicherheit – aber wissenschaftssystemtauglich

Zwischenbeobachtungen zur Entscheidungsfindungskultur auf dem ‚Synodalen Weg‘

Deshalb: Wie vollzieht sich bischöfliche Autorität?

Humanae vitae – Entstehung und Folgen

Unterscheidung von Genese und Geltung

Über Vollmacht nachdenken

IV. Keine Angst vor Kirchenparlament(en)!

Auf der Suche nach dem Willen Gottes

Sensus fidei, Synodalität und Autonomie

Von wahrer und falscher Reform bei Walter Kasper

Schwierigkeiten mit dem Heiligen Geist

Vergleichspunkt repräsentative Demokratie

Wer praktiziert wahre Demokratie in der Kirche?

Selbst das ordentliche Lehramt, immer außerordentlich – und sogar unfehlbar

V. Die Sakramentalität der Kirche neu denken

Warum wurde Gott Mensch? Ein Vorschlag

Treue Gottes und apostolische Sukzession

Kirche lernt Menschenrechte

Historische Stärke neu erlernen

‚Synodaler Weg‘ als Symptom einer überfälligen Debatte

Freiheit und Sakramentalität

Epilog: Freiheitsbewusstsein als konfessionsdifferenzierendes Moment – zur Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland

Anmerkungen

Vorwort

Freiheit ist heute die Aufgabe und Chance der Kirche.Hermann Krings

Schon lange hat die historische Wissenschaft Abstand davon genommen, Geschichte als die Geschichte großer Menschen (oder gar großer Männer) zu schreiben. Die tatsächlichen Prozesse sind viel komplexer. Ein Martin Luther King, der bis heute als die Gallionsfigur des Civil Rights Movement in den 50er und 60er Jahren in den USA gilt, konnte dies zwar nur werden, weil er unerschrocken die ‚Rassentrennung‘ in den Südstaaten als das beim Namen nannte, was es war: ein Unrecht. Aber die Zeit war auch reif für ihn. Andernfalls hätte er nicht diese Wirksamkeit entfalten können, die er faktisch entfaltet hat.

Gleiches gilt für den Augustinermönch Martin Luther. Auch ihn zeichnete eine Unerschrockenheit aus, nachdem er, zunächst existentiell umhergetrieben von Höllenangst, die ihm kirchlich eingeimpft worden war, sich auch noch mit einer korrupten Kirche konfrontiert sah, die diese Höllenangst für sich nutzte. Ob er wirklich auf dem Wormser Reichstag das Hier stehe ich und kann nicht anders gesagt hat, ist bis heute umstritten. Seine Grundhaltung angesichts des sich immer deutlicher abzeichnenden, auf eine Eskalation hinauslaufenden Konflikts kann aber auch so nachgewiesen werden. Die Wirksamkeit dieses Ausspruchs auch noch jenseits kirchlicher Prozesse kann überhaupt nicht hoch genug veranschlagt werden. Hier steht jemand, der ‚ich‘ sagt, ‚sich‘ meint und damit auch ein unter Umständen hohes persönliches Risiko eingeht.

Wenn Hannah Arendt in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts formulieren wird Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen, so liegt dies Denken ganz auf dieser Linie. Gehorchen darf ich nur mir, meinem Gewissen – und damit den Gründen, die ich für belastbar halte. Dies gilt für religiöse und für sich gegenüber letzten Fragen agnostisch verhaltende Menschen, wenn sie sich zu dem aufschwingen wollen, was Menschen möglich ist – Menschen zu werden, die sich selbst moralisch belasten und deshalb auch ethische Verantwortung übernehmen können. Auch Martin Luther und Hannah Arendt wären längst in Vergessenheit geraten, sie wären nicht mentalitätsbildend wirksam geworden, wenn die Zeit nicht reif für sie gewesen wäre. Und dennoch brauchte es diese Menschen.

Dieses schmale Buch ist im Juli 2022 entstanden. Nicht allgemeine Fragen von Freiheit und Ethik stehen in seinem Zentrum, sondern die Zerreißprobe, in der sich die katholische Kirche zumindest in vielen Gesellschaften dieser Erde seit geraumer Zeit befindet. Gleichzeitig deutet sich ebenfalls seit geraumer Zeit an, dass der Katholizismus – mal sichtbarer, mal weniger sichtbar – in den Ortskirchen dabei ist, sich zu verändern und neu zu erfinden. Möglicherweise hat zunächst kein anderer Kontext solche Turbulenzen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erlebt wie der lateinamerikanische Kontext. Klar gegen die Militärdiktaturen positioniert, die unzählige Menschenopfer forderten, baute sich eine Befreiungstheologie auf, die auf der Seite der ökonomisch Verarmten und de facto Rechtlosen stand. Hoffentlich unvergessen sind die Bilder, wie Johannes Paul II. Ernesto Cardenal bei seinem Besuch in Nicaragua im Jahr 1983 abkanzelte. Papst Franziskus hat Cardenal, der an der Seite der völlig Verarmten stand, im Jahr 2019 rehabilitiert. Die katholischen Ortskirchen hingegen in der ehemaligen durch die Sowjetunion beherrschten Ostblockzone haben ganz andere Prozesse durchschritten. Wer sich seine katholische Identität bewahrte, konnte sich als Widerstandsnest gegen eine menschenverachtende Besatzungsherrschaft stabilisieren und sich so seine innere Freiheit bewahren. Im Umbruch befinden sich auch diese Ortskirchen dennoch seit geraumer Zeit. Säkulare Luft gibt auch Raum zum Atmen – und sie muss nicht notwendig evangeliumsfern sein. Entscheidend ist, was als Kern des Evangeliums vom menschgewordenen Gott bestimmt und dann geglaubt wird. Wenn ich es recht sehe, findet in dieser Frage insgesamt ein Umbruch statt.

In Deutschland wird dieser Umbruch sichtbar am ‚Synodalen Weg‘. Möglicherweise ist die Konstellation auch hier sehr spezifisch. Eines aber scheint mir deutlich zu sein: Die Zeit war längst reif dafür, endlich Klartext über die Missstände zu sprechen, über eine evangeliumsgemäßere und deshalb andere Kirche nachzudenken.

Die hier vorgelegten Überlegungen betrachten den ‚Synodalen Weg‘ in Deutschland auf einer Metaebene. Ob sich die größtenteils im Schnellschussformat über Feuilletons und soziale Medien abspielenden Auseinandersetzungen wirklich auf einer intellektuell-theologischen Ebene verstehen lassen, kann ich nicht abschließend beantworten. Dazu bedürfte es soziologischer und sozialpsychologischer Kompetenz. Manchmal beschleicht mich allerdings der Eindruck, dass es vor allem um den als bedrohlich empfundenen Verlust dessen geht, was angeblich immer schon so war – was jedoch bei näherem Hinsehen überhaupt nicht immer bereits so war. Extrem hellsichtig hat vor genau fünfzig Jahren Hermann Krings darauf hingewiesen, dass es in Zukunft „notwendig“ sein werde, „sich darauf einzustellen, daß der Mensch mehr und mehr in instabilen Systemen existieren“ werde. Krings war Philosoph, praktizierender Katholik und jemand, der sich als intellektuell beweglich gezeigt hat. Dabei wurde er zunächst intellektuell geprägt durch die mittelalterliche Scholastik, die angehende katholische Theologen vorschriftsmäßig zu studieren und als ihre normative Aussteuer in ihre künftige Praxis zu übernehmen hatten. Krings hatte freidenkerisch erkannt, dass das Sich-Einlassen auf das in der Neuzeit und der Moderne neu gefasste Selbstverständnis der Menschen gerade nicht eine Gefahr, sondern eine Chance für die Kirche darstellt. Er blieb katholisch. Denn er mahnte, dass „ein prinzipielles Mißtrauen gegenüber der Vernunft und Freiheit“ einen „Widerspruch gegenüber Tradition und Lehre“ darstelle. Allerdings war er bereits zutiefst skeptisch, was die Traditionsfähigkeit der katholischen Kirche anging. Anstatt ihrer Tradition treu zu bleiben, sich produktiv-konstruktiv in die neuzeitliche Philosophie einzubringen, die „im Grunde aus Kritik und Selbstkritik“ bestanden habe, habe man durch „unmittelbar-dogmatische Berufung auf die Offenbarung sinnlosem Missbrauch Vorschub geleistet.“1 Dem ist nichts hinzuzufügen, bis heute nicht.

Die hier vorgelegten Überlegungen werden auf der einen Seite analysierend vorgehen. Es werden Äußerungen zum ‚Synodalen Weg‘ aus der jüngsten Vergangenheit untersucht, um so den sich abspielenden Grundkonflikt möglichst scharf ins Auge zu bekommen. Gleichzeitig soll auf der anderen Seite der Blick konstruktiv nach vorne geöffnet werden. Völlig unabhängig davon, welche Beschlüsse auf dem ‚Synodalen Weg‘ die notwendigen Mehrheiten finden, ob sie innerhalb des von Papst Franziskus ausgerufenen weltweiten Synodalen Prozesses und der an diesen anschließenden Bischofssynode rezipiert werden oder nicht, werden sich die Katholizismen in den Ortskirchen verändern. Hermann Krings hat die bedenkenswerte Überzeugung vertreten, dass die „Angst vor der Freiheit“ in der Kirche – gemeint ist die Leitungsebene – „auch Angst vor der Einsicht in die mögliche Illegitimität der eigenen Macht“2 sei. Auch dem ist nichts hinzuzufügen. Nur, dass fünfzig Jahre später bei unzähligen Menschen, die sich gleichwohl als katholisch verstehen, das Gefühl, eigentlich gehorsam sein zu müssen, verdunstet ist.

Wie Freiheit zu verstehen ist, bildet deshalb den systematisch entscheidenden Punkt in den Auseinandersetzungen. Ich verweise auf das zweite Kapitel dieser Überlegungen. Da Karl-Heinz Menke einer der profiliertesten Gegner des ‚Synodalen Wegs‘ ist, er zudem seit geraumer Zeit mich als Gegenposition zu seiner Position stilisiert, er darüber hinaus in Medien präsent ist, die mich als den intellektuellen Ziehvater häretisch-schismatischer Tendenzen in diesem Prozess ausmachen, ergibt es möglicherweise Sinn, die teils scharf geführte Kontroverse zwischen uns, wann Freiheit tatsächlich Freiheit ist, zum Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen zu machen. Dabei hatte ich eigentlich nach dem deutlichen Schlagabtausch mit Karl-Heinz Menke vor einigen Jahren entschieden, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Schon damals ging es zentral um das Thema Freiheit.3 Worum auch sonst, könnte man fragen: Der Katholizismus, jedenfalls in den Regionen, die kulturell nachhaltig durch den Aufklärungsaufruf des 18. Jahrhunderts geprägt wurden, sich doch bitte seines eigenen Verstandes zu bedienen und sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu befreien, um so der Würde der Freiheit ihren Ausdruck zu geben, erlebt seit dem 19.  Jahrhundert immer wieder Turbulenzen, die von der Frage ausgelöst werden, wie viel Freiheit sein darf. Grundsätzlicher noch geht es um die Frage, was überhaupt unter Freiheit verstanden werden soll und unter welchen Voraussetzungen Freiheit überhaupt Freiheit genannt werden darf und nicht in der Beliebigkeit endet.

Die Debatte noch einmal aufzunehmen, schien mir dann doch deshalb sinnvoll zu sein, weil Menke sich in den letzten Jahren eindeutig affirmativ zu Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. verhält, hinter dem sich wiederum die auf dem ‚Synodalen Weg‘ versammeln, die die dort verhandelten Reformvorschläge für eine Zeitgeistanpassung und letztlich für einen Abfall von dem Glauben halten, der von Christus gestiftet wurde. Ich halte an einem anderen Verständnis von Freiheit fest. Die Konsequenzen aus diesem Verständnis finden sich im Epilog. Dort geht es endgültig um eine Kirche der Zukunft – und ein Verständnis dessen, was Sakramentalität genannt werden soll. Die dazwischen geschalteten Kapitel fragen, wie überhaupt theologisches Nachdenken funktioniert und ob nicht ganz andere als die bisher vorhandenen Strukturen der Entscheidungsfindung in der katholischen Kirche deren Auftrag, das Evangelium vom menschenfreundlichen Gott in der Welt von heute und morgen lebendig zu halten, viel dienlicher sein könnten. Wenn im Folgenden vereinfachend von Kirche gesprochen wird, so ist immer die katholische Kirche gemeint. Das erste Kapitel versucht eine vertiefende Standortbestimmung.

Ich danke dem Verlag Herder und vor allem Herrn Dr.  Stephan Weber sehr dafür, dass ich dieses Büchlein so schnell realisieren konnte, nachdem ich mich erst Anfang Juli zu ihm entschieden hatte. Im Übrigen kann eine aufgezwungene Unterbrechung in den Arbeitsplanungen auch produktiv sein. Irgendwelchen Sinnmutmaßungen in solchen Fällen zu folgen, bin ich dennoch nicht bereit. Auch wenn der Theologe nicht abschließend sagen wird, wir seien nur Launen der Natur, so wird er oder doch jedenfalls ich nicht mit einem Vorsehungsglauben um die Ecke kommen. In der Moderne angekommen, sollten auch Christ:innen4 ernüchtert sein in ihrem allzu naiven Gottvertrauen. Abgewöhnen müssen sie sich ein solches Vertrauen dennoch nicht. Auch dazu mehr im Epilog.

Freiburg, im Juli 2022 Magnus Striet

I. Beobachtungen zur Situation in Deutschland – und ein Schreiben aus Rom

Der im Vorwort erwähnte Disput zwischen Menke und mir fand statt, bevor der Missbrauchsskandal die katholische Kirche in Deutschland vollends erfasste. Die Veröffentlichung der MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche von 1945 bis 2015 durch Kleriker im Jahr 2018 bildete eine Zäsur in der Geschichte des deutschen Katholizismus. Als Reaktion darauf wurde durch den damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Reinhard Kardinal Marx ein ‚Synodaler Weg‘ ausgerufen. Ein kirchenrechtlich betrachtet zweifelhaftes Instrument, weil nicht vorgesehen, aber immerhin. Selbst hochrangige Kirchenverantwortliche wie Kardinal Marx hatten eingesehen, dass es so nicht weitergehen könne. Empathielos geblieben war man seitens der Kirchleitung gegenüber den Opfern sexuellen Missbrauchs. Nicht die Betroffenen hatten interessiert, vielmehr wurde ein perfider Täter- und Systemschutz betrieben. Während man nach außen, in die Gesellschaft hinein den Moralapostel gab, entzog man die „Brüder im Nebel“ (Joachim Kardinal Meisner) der staatlichen Justiz. Selbst kirchenrechtlich zu ergreifende Maßnahmen wurden geflissentlich ignoriert – und zwar über Jahrzehnte, wenn man auch nur den Zeitraum ab 1945 berücksichtigt.1 Völlig zu Recht hat Christiane Florin deshalb die Kirche einen „Verantwortungsverdunstungsbetrieb“ genannt, wenn Priester, die zuvor mit der Aura des Heiligen ausgestattet worden waren, den Schwächsten der Schwachen Gewalt angetan hatten. Wer bestreitet, dass dieser Begriff die Sache trifft, muss erklären, warum der Skandal sexuellen Missbrauchs erst 2018 zu einem öffentlichen Skandal in Deutschland wurde, obwohl das Problem zumindest auf der Leitungsebene der Kirche selbstverständlich bekannt war. Und was für Deutschland gilt, gilt weltweit. Sexueller Missbrauch durch Kleriker ist ein globales Problem.

Ob der Kardinal damals erahnt hat, welche Dynamiken er mit der Ankündigung eines ‚Synodalen Wegs‘ freisetzen sollte, kann ich nicht beurteilen. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass der über Jahrzehnte nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil angestaute Unmut über die Stagnation in der Kirche schon vor 2018 immens groß war. Nach der Veröffentlichung der MHG-Studie brach der Unmut nur endgültig mitten in der Kirche aus, und er erfasste selbst Personen, die bisher – vorsichtig gesagt – noch eher abwartend, vermittelnd agierten. Aber worum geht es eigentlich im Kern dieser Debatten?

Auf dem ‚Synodalen Weg‘ ist inzwischen von einem ‚Lehramt der Betroffenen‘ die Rede. Ich bin nicht sicher, ob ich da mitgehen kann. Zwar kommt auch den Betroffenen sexuellen Missbrauchs selbstverständlich eine wichtige Stimme in der Kirche zu. Denn wenn eine Kirche sich nicht anfragen ließe von dem Leid der Betroffenen und nach systemischen Ursachen fragen würde, die möglicherweise Gründe in der Theologie haben, die in der Kirche wirksam ist, so müsste sie sich den Vorwurf gefallen lassen, ethisch skrupellos zu sein. Ganz bestimmt könnte sie sich nicht mehr auf den Juden Jesus berufen, der doch gerade auf der Seite derer stand, die übersehen wurden oder denen gar Gewalt angetan wurde. Wenn ich skeptisch bleibe, so will ich nicht das Leid der durch sexuelle Gewalt traumatisierten Betroffenen herunterspielen. Als aber Ende 2018 in Deutschland der ‚Synodale Weg‘ ausgerufen wurde, befand sich die Kirche jedenfalls in Deutschland (aber auch in vielen anderen Ländern!) schon lange in einer Abwärtsspirale. Im Kern dieses Konflikts stand und steht bis heute die Frage, ob sich die Kirche auf ein modernes Freiheitsverständnis einlassen kann und darf. Dies gilt jedenfalls für die Ortskirchen, die in der westlichen Welt existieren. In den liberalen Demokratien, die den Individuen innerhalb des geltenden Rechts in der privaten Lebensführung möglichst große Freiheitsräume zusichern, brodelt es schon lange. In Ortskirchen, die unter autoritären Bedingungen existieren müssen, mögen die Akzente anders gesetzt sein. Wer um politische Freiheitsrechte kämpfen muss, stellt die Frage nach der Freiheit in der Kirche eventuell hintenan. Sie stellt sich aber genauso.

‚Synodaler Weg‘ und die Reformklassiker

Es war deshalb auch völlig klar, welche Themen sofort wieder auf die Tagesordnung rücken würden: Sexualmoral, Zulassungsvoraussetzungen zum Amt und die Frage, wie Entscheidungsprozesse in der Kirche gestaltet werden können. Ob man deshalb wie der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer von einem „Missbrauch des Missbrauchs“ sprechen sollte, darf man bezweifeln. Wenn man über missbrauchsbegünstigende systemische Gründe nachdenken will, wird man sich unter anderem diesen Themenfeldern widmen müssen. Sollten die Daten es nicht hergeben, dass hier Gründe lagen, so wäre dies ja auch ein Ergebnis. Bisher deuten die Studien aber nicht darauf hin. Gleichwohl gärte es schon lange, und selbst wenn es den Skandal des sexuellen Missbrauchs und seiner Vertuschung nicht gegeben hätte, wären diese Themen regelmäßig wieder auf die Tagesordnung gekommen, weil die lehramtlichen Positionen große Teile der katholischen Milieus schon lange nicht mehr überzeugen. So die einen, die theologisch begründet Reformen und damit eine andere Kirche wollen, während die anderen darauf bestehen, dass bestimmte lehramtlich eingenommene Positionen so konstitutiv mit der Lehre der römisch-katholischen Kirche verbunden sind, dass diese nicht revidiert werden können, wenn man nicht die von Christus selbst gestellte und in apostolischer Tradition entfaltete Identität des Glaubens aufgeben wolle. Man wird Voderholzer zugestehen müssen, dass Themen wie Sexualmoral und Zulassungsvoraussetzungen zum Amt auch ohne den Skandal des Missbrauchs und seiner Vertuschung auf dem Zettel derer standen und stehen, die eine andere Kirche wollen. Aber eine andere Kirche will auch der Regensburger Bischof. Nämlich eine, in der nicht mehr diskutiert wird, sondern in der sich alle Gläubigen folgsam hinter dem Papst versammeln. (Gerne wüsste ich allerdings von ihm, ob dies auch für die Zeit von Alexander VI. und Julius II. gegolten hat. Oder ob für ihn Pius IX. – „Die Tradition bin ich“ – immer noch die Idealfigur eines Papstes darstellt, wenn es um die Verkörperung apostolischer Sukzession geht.)

Gehe ich zu weit mit meiner Diagnose, dass die Diskussionen zunehmend an Schärfe gewinnen? Als ich mich im Frühjahr 2022, nachdem sich vermehrt Bischöfe und Kardinäle aus dem Ausland kritisch zum deutschen ‚Synodalen Weg‘ geäußert und vor einem drohenden Schisma gewarnt hatten, öffentlich äußerte, ob wir nicht längst ein Schisma hätten, habe ich damit auch eine für mich unerwartet heftige Reaktion ausgelöst. Im Kern hatte ich nur gesagt, dass doch längst ganze katholische Milieus in eine innere Distanz zu lehramtlichen Positionen gegangen seien. Rein empirisch betrachtet, dürfte dies kaum zu bestreiten sein. Interessant für mich waren die Reaktionen. Kritiker des ‚Synodalen Wegs‘ feierten schon fast meine Äußerungen, weil ich ihnen nun als Beleg dafür diente, dass der ‚Synodale Weg‘ schismatische Tendenzen zeige. Auf der Kritiker-Seite waren dann freilich sehr schnell auch ganz andere Töne zu vernehmen. Von Gerhard Ludwig Kardinal Müller wurde ich als das „Große Striet-Ross des Synodalen Wegs“ betitelt, das „in den Kampf“ habe „geworfen werden“ müssen, „um den deutschen Führungsanspruch in der Weltkirche durchzusetzen“.2 Jemanden durch eine ganz offensichtlich sehr bewusst eingesetzte Rhetorik in die Nähe einer menschenverachtenden Ideologie zu rücken, die von Deutschland ausging, sollte überlegt sein. Nun gut. Irritierend ist noch etwas anderes an den Äußerungen des Kardinals.

Das Gewicht von Klerikern aus dem deutschsprachigen Raum in Rom war in den letzten Jahren schließlich nicht gerade gering. Wenn ich mich nicht täusche, durften über Jahrzehnte nur die in die kuriale Streitmacht aufsteigen, die den Kampf gegen die „Diktatur des Relativismus“, so Joseph Kardinal Ratzinger vor dem Konklave, aus dem er dann als Papst Benedikt XVI. hervorging, aufzunehmen bereit waren. Seit den Tagen von Johannes Paul II. geht es bei diesem katholisch vorgetragenen Antirelativismus um Fragen des Lebensschutzes, was ganz zweifelsohne ein hochsensibles Thema ist. Lebensschutzpolitik kann aber in bestimmten katholischen Kreisen auch ganz andere Facetten annehmen. Inzwischen sind es, mindestens gleichgewichtet, Fragen einer Egalisierung der Geschlechterverhältnisse, wie sie in liberalen Demokratien zunehmend respektiert und auch rechtsstaatlich abgesichert werden, die in diesen Kreisen und bis in die oberste kirchliche Hierarchie hinein hart ausgetragen werden. Dabei geht es auch um den gesamten Komplex nicht-heterosexueller Lebenspartnerschaften beziehungsweise Ehen. Relativistisch ist es in diesen Kreisen auch, die Frauenordination zu fordern oder aber die streng hierarchische Verfassung der Kirche verändern zu wollen zugunsten von synodalen Strukturen, die andere Entscheidungsfindungsprozesse gewährleisten. Ich darf an Walter Kardinal Kasper erinnern, der sich inzwischen zu einem prominenten Kritiker des ‚Synodalen Wegs‘ entwickelt hat. Es scheint jedenfalls in der Schar derer, die nichts ändern wollen, weil sie das, was auf dem ‚Synodalen Weg‘ diskutiert wird, für gottgegeben halten, an deutschsprachigen Stimmen nicht zu fehlen.