Für eine trauma-existentiale Theologie - Michael Pflaum - E-Book

Für eine trauma-existentiale Theologie E-Book

Michael Pflaum

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Beschreibung

In unserer Kirche haben viel zu viele Menschen Missbrauch erfahren. Kirche sollte ein Ort der Heilung und nicht ein Ort der Traumatisierung sein! Damit SeelsorgerInnen, Priester, engagierte Laien wirklich Traumatisierten beistehen können, brauchen sie ein echtes Verständnis für Traumatisierte und ein fundiertes Wissen über Traumatisierung. Wenn sich SeelsorgerInnen und TheologInnen auf dieses Thema einlassen, werden sie merken, dass dieses Thema fundamental ist, unser Menschenbild verändert und uns theologisch, pastoral, kirchlich herausfordert. Auch anhand eines Beispiels werden verschiedene Traumatherapien vorgestellt, um mehr Verständnis für Betroffene und ihre Nöte zu bekommen und um wichtige Einsichten anzubieten, um ihnen beistehen zu können. Mit diesen Traumatherapien werden dann theologische Themen, Kirche von heute und Gesellschaft kritisch betrachtet.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ouvertüre

Sprachlosigkeit und Ignoranz

Hat die Kirche ein SPD-Problem oder ein Dieselgate-Problem?

Dialektik der Aufklärung und Dialektik der heiligen Kirche

Warum sich mit Traumatherapien beschäftigen?

Mein Bezug zum Thema: Kirche und Missbrauch mit Traumatherapien betrachten

Überblick über die bisherige Literatur und ihre Ansätze

Hinweis für die Lektüre

Trauma-existentiale Anthropologie

Gewalt und Verdrängung

Geschichte der Traumaforschung, auch eine Geschichte der Verdrängung

Bei Kant fehlt das Trauma

Die Polyvagaltheorie – die Überlebensmodi bei Traumata

Wie das Trauma im Körper steckt – Peter Levines Traumatheorie

IFS-Theorie: Das innere Familiensystem bei Traumatisierten

Dissoziation

Trauma-existentiale Anthropologie

Spuren für eine trauma-existentiale Philosophie

In einen traumatischen Menschen hineinfühlen

Gedicht einer Traumatisierten

4. Sinfonie von Schostakowitsch

Von Traumatherapien lernen, Spiritualität neu verstehen

Anvertrauen können und Neurozeption

In die Gegenwart zurückkommen

Einen Halt, einen sicheren Ort in sich finden

Den alltäglichen Teufelskreislauf verändern

Erfolge bewusst machen

Duales Gewahrsein und Kontemplation

Erinnerungen aufarbeiten

Innere verletzte gelähmte Kinder retten von Gabriele Kuhn

Heilungsweg der IFS-Therapie

Sensumotorische Traumatherapie von Pat Ogden

Verletzte Kindteile heilen durch kontinuierlichen Bindungsaufbau und Beelterung nach Janina Fisher

Befreiung von traumatischer Last – spirituell-theologisch betrachtet

Homöopathie und Traumaverarbeitung

Den Körper heilen und integrieren

Giftsätze

Wenn Wut kommt, feiern

Mit Gott hadern

Phasen in der Traumabehandlung und „je nachdem“

Eine trauma-sensitive Haltung und Hermeneutik

Die 10 Dinge, die man nicht sagen bzw. tun sollte

Prinzipien und hermeneutische Brillen

Josef, der Traumatisierte und Versöhnende

Die kleinen Helden entdecken

Die „großen“ Jünger versagen

Die „kleinen Helden“ belehren Jesus, verstehen Jesus und folgen ihm nach

Kleine Heldin heute

Werden, Intensiv-werden

Die offene Ungleichung: Die Täter

Trauma-existentiale Theologie – Ringen um das rechte Menschenbild

Wie kann eine gute befreiende Lehre ins Gegenteil umschlagen?

Augustinus´ Sündenfall

Bestrafen – auf ewig!

Der traumatisierte Luther sucht einen gnädigen Gott

Ist das positive christliche Menschenbild wirklich so unbekannt?

Konkupiszenz und das positivere Menschenbild des Thomas von Aquin

Die Meta-Ebene der Menschenbild-Diskussion

Die Droge „Macht“ und ihre Wirkung auf die „Mächtigen“ und die „Untergebenen“

Entwicklung des Menschenbildes in der Entwicklung der Menschheit anhand Spiral Dynamics

Was ist dann Sünde?

Trauma-existentiale Ekklesiologie und die Machtfrage

Sex mit Polyvagaltheorie betrachtet

Foucault: Sex und Diskurs über Sex schaffen besonders intensive Machtbeziehungen

Der Missbrauch der Beichte und Wirkung auf das IFS des Pönitenten – Foucaults Analysen

Wirkung der katholischen Sexualmoral – eine Kombination aus Prohibition und „Animal Farm“

Über das IFS eines Täters

Kirche und Missbrauch mit Spiral Dynamics betrachtet

Wichtige Charakteristika der blauen Stufe

Lackmustest Schriftinterpretation

Blaue Liturgie

Klerikalismus

Hingabe und Opfer missbrauchen

Ist die Kirche nur ein rigides blaues System?

Schwammige Leitung zwischen blau und grün

Papst Franziskus und der Kirchenkampf mit Spiral Dynamics betrachtet

Systemevielfalt und Orte der Theologie

Jenseits der Stufen von Spiral Dynamics: Werden

Eine trauma-sensitive Kirche werden

Marilyn van Derbur wird vom Pfarrer Harvey gerettet

Kardinal Schönborn und Doris Wagner im Gespräch

Die Kirche heute aus der IFS-Sicht

Lasten ablegen

Unterscheidung der Geister

Frauen in unseren Gesellschaften und im blauen System Kirche

Prävention und Krisenmanagement

Trauma-existentiale Theologie und Spiritualität fördern

Vorrangige Option für die Betroffenen

Eine magis-Haltung

Für eine trauma-sensitive Gesellschaft

Staufen, Lüdge, Bergisch-Gladbach und Münster

Ein in der Öffentlichkeit unbekannter Fall

Der Versuch, eine öffentliche Diskussion anzustoßen

Eine nüchterne kalte ökonomische Berechnung

Unsere Gesellschaft muss trauma-sensitiv werden

Die Täter vernetzt, organisiert, international, unauffällig

Mehr geschultes Personal in Jugendämter und Gerichten

Die Arbeit der Polizei auf mehreren Ebenen unterstützen

Hotlines

Kinderärzte sollen vernetzt arbeiten können

Infopflicht der Plattformen

Vorratsdatenspeicherung

Sensibilisierung der Gesellschaft

Sexuellen Missbrauch in Schulen thematisieren

Eltern – sensibel für ihre Kinder

Eine Straftat und das Strafmaß ausschöpfen

Opferschutz muss vorrangig sein

Gegen das Verdrängen

Gegen die Idealisierung der Familie

Für mehr adäquate Therapien für Opfer

Im Zweifel für den Angeklagten darf nicht im Familiengericht gelten

Das Problem der Zeugenaussagen von Traumatisierten angehen

Eine Wende vollzieht sich und es gibt noch viel zu tun

Schluss

Anhang: Übersicht Spiral Dynamics

Literatur

Literaturnachweis

Vorwort

In unserer Kirche haben viel zu viele Menschen Missbrauch erfahren. Kirche sollte ein Ort der Heilung und nicht ein Ort der Traumatisierung sein!

Es geht nicht nur darum, dass in der Kirche durch Präventionskonzepte und –fortbildungen in Zukunft sexueller Missbrauch verhindert werden soll. Das ist äußerst wichtig und notwendig.

Es geht auch darum, dass die Kirche sich wirklich bemüht, die Opfer nicht noch weiter zu enttäuschen und zu verletzen.

Das eigentliche Ziel muss sein, dass Kirche ein Ort der Sicherheit, ja der Zuflucht, der Heilung für Traumatisierte wird. Dass in ihr nicht mehr Täter sind, sondern vielmehr Beistehende, Ermutiger, eben Seelsorger. Dass Kirche sogar auch öffentlich auf der Seite von Opfern von sexueller Gewalt steht.

Denn es gibt mehr Missbrauchte, Opfer von sexueller Gewalt, Traumatisierte, tapfere Überlebende unter uns, als wir vermuten.

Damit SeelsorgerInnen, Priester, PastoralreferentInnen oder GemeindereferentInnen, engagierte Laien wirklich Traumatisierten beistehen können, brauchen sie ein echtes Verständnis für Traumatisierte und ein fundiertes Wissen über Traumatisierung.

Wenn sich SeelsorgerInnen und TheologInnen auf dieses Thema einlassen, werden sie merken, dass dieses Thema fundamental ist, unser Menschenbild verändert und uns theologisch, pastoral, kirchlich ganz grundsätzlich herausfordert. Genau dies will dieses Buch anstoßen!

Nur über eine ehrliche und fundierte Selbstkritik kann Kirche wieder Kirche Jesu Christi werden!

Ich verneige mich vor den Heldinnen und Helden, die ihre Gewalterfahrung überlebt haben und das Kreuz der Traumatisierung tragen. Und ich verneige mich nochmals vor ihrer Kraft, trotzdem ja zum Leben zu sagen. Ich wurde durch sie auf ganz tief mich verwandelnde Weise zum gekreuzigten Christus geführt.

Ich danke von ganzem Herzen Anna, die ich über viele Jahre hinweg begleiten durfte, die mich ermutigt hat, ihre schlimmen Gewalterfahrungen und unsere gemeinsame Arbeit an ihrem Trauma in diesem Buch vorzustellen. Ich habe sehr viel von ihr gelernt!

Ebenso danke ich von ganzem Herzen Gertrud, die ich über zwei Jahre begleiten durfte und die gerne ihr Gedicht und ihr schönes Bild über die Gnade für das Cover des Buches zur Verfügung gab und die auch die erste Korrekturleserin des Buches war.

Ich danke ganz herzlich Frau Eva Hastenteufel-Knörr, die Missbrauchsbeauftragte der Erzdiözese Bamberg, die mein Buchprojekt immer unterstützt hat und mir wichtige Tipps gegeben hat.

Frau Erika Kerstner hat, obwohl sie mich gar nicht kannte, den Rohentwurf gelesen und aus ihrer reichen Erfahrung als Begleiterin in der Ökumenischen Initiative gewaltüberlebender Christinnen „GottesSuche“ viele wertvolle Anregungen mir gegeben. Herzlichen Dank dafür!

Frau Ina Gürsching hat einen wichtigen exemplarischen Fall beigetragen und mit mir zusammen die Bitte an fünf führende Zeitungen Deutschlands, die strukturelle Fehltendenz zum Thema zu machen, durchgeführt. (siehe letztes Kapitel) Vielen Dank für die Zusammenarbeit und Unterstützung!

Ouvertüre

Sprachlosigkeit und Ignoranz

In der Fastenzeit 2019 fand ein Einkehrtag für das Konveniat des Dekanats Erlangen statt. Das Thema war unsere priesterliche Berufung und Identität heute. Die Referentin, eine promovierte Pastoralreferentin, lud uns ein, auf unseren Werdegang zurückzuschauen. Was hat mich geprägt? Wie bin ich zum Priesterberuf gekommen? Usw. Jeder konnte einiges erzählen.

Im zweiten Teil thematisierte die Referentin die Missbrauchsvorfälle und fragte, wie diese unser priesterliches Wirken verändert haben, wie wir mit den Skandalen umgehen.

Es herrschte große Sprachlosigkeit. Dieselben Menschen, die vorher noch sprudelnd erzählt haben, konnten nur stammeln. Fassungslos und unbegreiflich…

Die Sprachlosigkeit zeugt davon, dass die normalen Koordinaten und Denkrahmen nicht mehr taugen! Deswegen ist die Sprachlosigkeit einerseits ehrlich.

Andererseits halte ich diese Sprachlosigkeit für äußerst problematisch, wenn man bei ihr stehen bleibt! Und wenn 2019 immer noch Priester sprachlos sind, sogar wenn sie untereinander über dieses Thema reden, zeigt das, dass sie auch nach 10 Jahren, nachdem in Deutschland die Jesuiten ihre Missbrauchsfälle öffentlich gemacht haben, noch keinen Weg gefunden haben, über dieses Thema zu sprechen.

Der erste Satz vom Traumaexperten Peter Levine in seinem Buch „Vom Trauma befreien“ lautet: „Ein Trauma ist die am meisten vermiedene, ignorierte, verleugnete, missverstandene und unbehandelte Ursache menschlichen Leidens.“1 Die meisten Menschen haben keine Ahnung, was psychisch passiert, wenn man ein Trauma erlebt, wenn man sexuell missbraucht wird, wenn eine Autorität wie ein Priester oder ein Lehrer oder ein Verwandter einem Gewalt zufügt und dazu noch einschüchtert, droht, beschämt, schlechtes Gewissen macht, zum Schweigen zwingt usw.

Bei einer Podiumsdiskussion über sexuellen Missbrauch in der Kirche meldete ich mich und empfahl jedem, der erahnen will, was die Folgen eines sexuellen Missbrauchs in der Kindheit sein können, das Buch „Klang der Wut“ des Konzertpianisten James Rhodes zu lesen. Er wurde in der Kindheit mehrere Monate lang von seinem Sportlehrer missbraucht. Er schildert sein nachfolgendes Leben mit Drogensucht, Ritzen, Depression, Abstürzen so plastisch, dass sich der Leser auf besonders intensive Weise in einen Traumatisierten hineinversetzen kann. Ein Kirchenverwaltungs-Mitglied aus einer meiner Gemeinden sprach mich ein halbes Jahr später an: „Aufgrund Ihrer Empfehlung habe ich das Buch gelesen. Ich hätte nie gedacht, dass sexueller Missbrauch so katastrophale Folgen haben kann.“ Und er arbeitete bis zur Rente als Pfleger in der Notaufnahme. Er kannte also menschliches Leid…

Ein anderer Traumaexperte, nämlich Nijenhuis, nannte sein dreibändiges Werk zu Enaktiver Traumatherapie: „Die Trauma-Trinität: Ignoranz – Fragilität – Kontrolle“. „Viele Familien, in denen Gräuel in Form emotionaler, körperlicher und sexueller Gewalt stattfanden, ziehen das Leugnen dem Realisieren vor, weigern sich also die Tatsachen anzuerkennen. Täter bleiben schon per definitionem von den Bedürfnissen ihrer Opfer gänzlich unberührt. Das übliche soziale Verhaltensmuster beruht auf Ignoranz gegenüber der Fragilität und dem Schmerz der betroffenen Kinder. In dem Versuch, die Kontrolle über das immense Problem chronischer interpersoneller Traumatisierung zu erlangen, machen sich viele Menschen – einzeln oder in Gruppen – blind für die offensichtlich grausamen Umstände, in denen ein beträchtlicher Anteil der Kinder aufwachsen muss. Es ist traurig aber wahr, dass Menschen aller sozialen Gruppen das Leiden der betroffenen Kinder und die vielschichtigen Auswirkungen der Gräuel, unter denen sie leben müssen, eher bagatellisieren, als sie zur Kenntnis zu nehmen. Die meisten Leute, Familien und Täter, aber auch die maßgeblichen Vertreter der Psychologie und der Psychiatrie haben wenig Interesse an der Gesundheit oder dem Wohlergehen missbrauchter, misshandelter oder vernachlässigter Kinder. Davon gibt es natürlich einige löbliche Ausnahmen. Doch Ausnahmen bestätigen bloß die Regel.“2

Nijenhuis Analyse in einem Satz: Die weitverbreitete Ignoranz über sexuellen Missbrauch und Traumatisierung ermöglicht, dass Täter ihre fragilen Opfer kontrollieren können! „Die Wirklichkeit zu leugnen, sie zu ignorieren, ist eine simple Kontrollmethode. Fast schon definitionsgemäß bedarf es dazu nur eines niedrigen bis mittleren Bewusstseinsniveaus. Eine genauso kurzsichtige Technik, um die Komplexität der eigenen Welt und seine eigene Fragilität zu kontrollieren, liegt darin, andere zu dominieren. Für eine solche Ignoranz und für totalitäre Handlungsweisen ist jedoch ein beträchtlicher Preis fällig: die direkten und indirekten Kosten chronischer Traumatisierung in der Kindheit sind unermesslich. Wir müssen dazu kommen anzuerkennen, was für ein gewaltiges persönliches, familiäres, klinisches und gesellschaftliches Problem diese Art der Traumatisierung darstellt – ein Problem, das sich jeder einfachen Lösung entzieht.“3

Die Sprachlosigkeit offenbart auch eine gigantische Ignoranz: Die meisten haben keine Ahnung, was sexueller Missbrauch und Traumatisierung bedeuten. Die Ausmaße, Dimensionen und zerstörerischen Konsequenzen von Missbrauch und Traumata sind also viel größer und anders, als die meisten Menschen erahnen.

Es braucht also Aufklärung! Es braucht besonders Aufklärung in der Kirche! Und diese Aufklärung können meines Erachtens verschiedene gute Traumatherapien ermöglichen. Wer sich mit Traumatherapien beschäftigt, überwindet seine eigene Ignoranz und Sprachlosigkeit!

Hat die Kirche ein SPD-Problem oder ein Dieselgate-Problem?

In der Herder Korrespondenz schrieb Lucas Wiegelmann als Untertitel für seinen Leitartikel: „Grund für die neuesten Austrittszahlen ist nicht zuletzt das chronische Selbstverständnis einer Institution im Niedergang. Die Kirche sollte üben, sich wieder selbst zu mögen.“4

Diese Analyse hat mich an die SPD erinnert. Sie ist wirklich leider eine zerstrittene Partei, die unattraktiv wurde, weil sie viel zu wenig zu sich selber stand und steht. Giovanni di Lorenzo schrieb in der ZEIT dazu: „Die SPD trägt schwer am Erbe einer Agenda, zu deren guten Seiten sie sich nicht bekannt hat und deren schlechten Seiten sie erst spät zu korrigieren begann. Sie hat sich durch drei Koalitionen geschleppt, von denen zumindest die letzte zu viel war. Sie hat ihr Führungspersonal verschlissen und auf höchster Ebene Versprechen gegeben, die sie nicht gehalten hat. Sie hat sich in Streitigkeiten verzettelt, die die meisten Wähler abstoßen. Was sich als Gesamtbild aufdrängt, ist eine Partei, die sich nicht mehr mag. Wie sollen erst andere sie attraktiv finden?“5

Hat die katholische Kirche das gleiche Problem wie die SPD? Zuviel Streit zwischen den Leitenden? Zu wenig eigenes Bewusstsein für das Wertvolle und die Stärken der Kirche? „Dass Kirche und Christentum etwas Schönes, Unterstützenswertes und Attraktives sind, strahlen ihre Mitglieder in Deutschland bekanntlich nur sehr widerstrebend aus. […] Nur im Gewand des Lamento über das schon wieder geschrumpfte Kirchenvolk gestatten sich viele Hauptamtliche, Ehrenamtliche und Normalgläubige noch die implizite Unterstellung, es wäre doch eigentlich viel schöner, wenn die Gottesdienste sonntags voller, die Gemeinden lebendiger, die Menschen gläubiger wären.“

Dann bringt Wiegelmann einen entlarvenden Vergleich: „Man stelle sich einen kriselnden Autobauer vor, der vor jeder Präsentation eines neuen Modells noch schnell seine schlechte Umsatzzahlen auf Videoleinwände projizieren ließe, wie zur Warnung: Danke für Ihr Interesse – nun vergessen Sie bitte nicht, dass wir Verlierer sind.“

Wiegelmann bringt nicht die SPD als Beispiel – sie wäre für seine Argumentation das passendste Beispiel. Er nimmt die Autobauer als Beispiel. Damit entlarvt er implizit seine eigene krumme Argumentation: Denn was hat sehr viele Bürger und Konsumenten am meisten in den letzten Jahren enttäuscht, wenn sie auf die deutsche Wirtschaft schauten: die Dieselaffäre! Die meisten Autobauer haben getrickst und betrogen. Und als der Betrug heraus kam, haben die Verantwortlichen laviert und nur scheibchenweise ihre Fehler zugegeben. Auch mit Entschädigungen knausern sie. Gleichzeitig haben sie die deutsche Politik weiterhin unter Druck gesetzt, auf dass sie ja nicht zu stark bestraft würden… Die Autobauer haben nie lamentiert sondern getrickst, gelogen, getarnt und getäuscht! Und der Vertrauensverlust ist bis heute nicht aufgearbeitet!

Natürlich weiß Wiegelmann, dass er in seinem Artikel die Skandale und heißen Eisen der katholischen Kirche nicht unerwähnt lassen kann: „Wahrscheinlich würde sich bei solchen Untersuchungen der sexuelle Missbrauch als wichtiges Austrittsmotiv herausstellen. Die mangelnde Teilhabe von Frauen oder die Diskriminierung Homosexueller dürften weitere Gründe sein. Die Ursachenforschung könnte aber zusätzlich auch ganz allgemein den demonstrativen Pessimismus in der Kirche als wichtigen Faktor ergeben. Ihr als chronisch verinnerlichtes Loser-Image. Eine Gemeinschaft, die sich ihrer selbst schämt, wirkt nach innen frustrierend und nach außen abschreckend.“

Er stellt die Gründe nebeneinander und vermutet, dass der demonstrative Pessimismus auch ein wichtiger Grund sei. Auch dieser Abschnitt entlarvt seine krumme Argumentation: Erstens weiß er nicht, ob wirklich der Pessimismus von Kirchenleuten abschreckend ist. Er nennt keine Untersuchungsergebnisse. Und zweitens: Er setzt die Gründe nur nebeneinander. Er sieht keine Zusammenhänge, obwohl die Zusammenhänge offensichtlich sind: Wenn Bischöfe und Diözesanverantwortliche abweisend und verdrängend auf Missbrauchsfälle durch Priester reagiert haben und diese Verdrängungstaktik in der Öffentlichkeit genauso bekannt wird wie die Dieselaffäre, braucht man sich nicht wundern, dass viele Katholiken angewidert auf ihre Kirche reagieren.

Die Kirche ist nach Paulus ein Leib. Und sie soll sich besonders um die schwächsten Glieder kümmern. In den letzten Jahrzehnten hat sie oft genug das Gegenteil getan. Kein Wunder, dass ihr Vertrauenspotential massiv geschwunden ist. Mit Paulus sagen viele Katholiken: Die „schwächsten Glieder“ in der Kirche, die Opfer von sexuellem Missbrauch, wurden nun oft genug verdrängt anstatt sie anzuhören, ihnen zu glauben, sie zu entschädigen, sie zu unterstützen und die Täter zur Rechenschaft zu bringen!

Ich argumentiere deswegen komplett gegen Wiegelmann: Die katholische Kirche erlangt nur wieder Vertrauen, wenn sie mit Reue, Ernsthaftigkeit und Umkehr den Missbrauchsopfern entgegenkommt! Eine „Lasst uns doch einfach von unserem tollen Glauben begeistert sein“-Strategie funktioniert nicht, weil sie verlogen ist.

Die Kirche wird eine gesunde Selbstliebe erst wieder erreichen, wenn sie sich in Liebe den schwächsten und verwundeten Teilen zuwendet. Die Kirche hat kein SPD-Selbsthass-Problem sondern ein Dieselaffäre-Verdrängungs-Problem!

Dieses immense Problem haben viele in der Kirche insbesondere in den letzten 10 Jahren versucht anzugehen. Ende Juni 2020 hat z. B. der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, mit der deutschen Bischofskonferenz als erster deutschen Großorganisation eine öffentliche Vereinbarung zur Aufarbeitung sexueller Gewalt unterschrieben und in diesem Kontext die katholische Kirche gegenüber anderen Institutionen als Vorreiter bezeichnet.6 Und gleichzeitig gibt es noch viel zu tun und zu verändern!

Dialektik der Aufklärung und Dialektik der heiligen Kirche

Adorno und Horkheimer, die aufgrund des Naziregimes ausgewandert waren, stellten sich im Jahre 1944 in Amerika die Frage: Wie konnte im Land der Dichter und Denker, im deutschen Volk, das Größen wie Kant, Schiller und Beethoven hervorgebracht hat, Adolf Hitler an die Macht kommen?

Ihre Grundantwort: Es gibt eine Dialektik der Aufklärung. Eigentlich soll die Aufklärung den Menschen befreien. Kant ruft uns zu: „Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Aber sie schlägt ins Gegenteil um. Die Massen unterwerfen sich dem Naziregime. Die ganze edle Ethik der bürgerlichen Gesellschaft, geprägt von Kant, Schiller und Beethoven, wird über Bord geworfen und man folgt einem Sozialdarwinismus und einer Rassenlehre.

Adorno und Horkheimer wollten genau diese Dialektik analysieren: Wie konnte die „gute“ Aufklärung so ins Negative und Zerstörerische umschlagen?

Ich glaube, dass sich die Kirche heute eine ähnliche Frage stellen muss: Wie konnten in der heiligen Kirche so oft Missbräuche stattfinden und vertuscht werden? Wie konnten so viele Amtsträger in einer Institution, die Jesus Christus als Vorbild hat, die das höchste sexualethische Ideal vertritt, die zerstörerischste und gewaltsamste Form aller Sexualpraktiken wählen: den Kindesmissbrauch?

Adorno und Horkheimer suchten den Grund nicht außerhalb. Sie analysierten nicht die krude Psyche eines Adolf Hitler. Sie bezeichneten die Größen der Nazis nicht als psychisch fehlgeleitet. Sie suchten in der aufgeklärten Vernunft selbst den Nährboden, so dass die Nazis leichtes Spiel hatten.

Wir sollten gleiches auch mit der Dialektik der heiligen Kirche tun! Wir können nicht der 68er Revolution und der modernen sittenverfallenen Welt komplett den Schwarzen Peter zuschieben. Wir müssen wie Adorno und Horkheimer in der „heiligen Kirche“ selbst das finden, das die negative Dialektik, das Umschlagen in die extreme unheilige Gewalt des Kindesmissbrauchs ermöglicht hat.

Dafür müssen wir meines Erachtens mit Foucaultscher Manier sowohl das Denken als auch die Machtpraktiken untersuchen. Der Grund für die unheilige Dialektik ist vielfältig und komplex und kann nur gefunden werden, wenn man Gedankengebäude und Praktiken vernetzt betrachtet.

Doris Wagner, ehemalige Ordensschwester mit Missbrauchs-erfahrung, hat ihr zweites Buch über spirituellen Missbrauch geschrieben und damit diese Einsicht einem breiteren Publikum verdeutlicht: der sexuelle Missbrauch, die Praktik, ist nur möglich mit einem gedanklichen Missbrauch, mit einer Indoktrination, mit eingeimpften Giftsätzen.

Aber wie kann man unser schönes Evangelium so zerstörerisch verwenden? Diese Frage muss sich katholische Theologie und katholische Kirche und ihr Lehramt heute stellen!

Für die Erforschung der Dialektik der „heiligen Kirche“ möchte ich einen Beitrag leisten. Ich will mit Traumatherapien und Traumatheorien wie die IFS-Therapie und die Polyvagaltheorie den Missbrauch in der Kirche betrachten.

Warum sich mit Traumatherapien beschäftigen?

Was für einen Gewinn kann es haben, wenn man mit Traumatherapien Missbrauch und Kirche betrachtet? Hier einige Stichworte:

Traumatherapien/-theorien überwinden die Sprachlosigkeit und klären auf.

Sie geben eine Einsicht, was für Folgen Missbrauch bewirken kann.

Sie helfen, mit Traumatisierten gut umzugehen.

Sie zeigen die physiologischen und psychologischen Grundlagen für Traumaerfahrungen und Traumatisierung auf, insbesondere die Polyvagaltheorie und Peter Levines Traumatheorie.

Die IFS (Therapie mit dem inneren Familiensystem) hat Richard Schwartz aus der systemischen Familientherapie entwickelt. Deswegen kann sie eine individualistische und eine systemische bzw. strukturelle Sichtweise gleichermaßen bieten.

Traumatherapien/-theorien können Zusammenhänge zwischen spirituellen und sexuellen Missbrauch verdeutlichen.

Traumatherapien/-theorien können die christliche Lehre in einem neuen Licht erscheinen lassen. Denn die Überwindung von Traumata gehört eigentlich wesentlich zum Erlösungsglauben der Christen!

Traumatherapien/-theorien liefern Kriterien, ob Menschenbilder bzw. andere theologische Konzepte gesund oder problematisch sind.

Daraus ergeben sich einige Thesen, die einen Überblick über dieses Buch geben:

Trauma-existentiale Theologie:

1. These: Traumata und Missbräuche sind kein Seitenthema, wenn man den Menschen verstehen will. Die Möglichkeit von Traumata gehört wesentlich zu den Existentialen des Menschen. Gerade die Polyvagaltheorie verdeutlicht dies.

2. These: Heute ist eine trauma-existentiale Theologie not-wendig, weil Traumata existential sind, weil Traumata und ihre Heilung wesentlich zum christlichen Glauben gehören (siehe allein die Kreuzigung und die Auferstehung Jesu Christi), weil in der Kirche und in der heutigen Gesellschaft viel zu viel Menschen, besonders Kinder, Missbrauch erleben mussten und müssen.

Analyse der Kirche:

3. These: Die Missbrauchten sind Glieder der Kirche. Die schwächsten Glieder (Paulus) zu verdrängen heißt Verrat an Jesus Christus: Was Ihr den Geringsten getan habt, das habt Ihr mir getan.

4. These: Die Kirche hat genauso auf diese Traumatisierung reagiert, wie ein traumatisierter Mensch auf ein Trauma reagiert, wenn er ohne Hilfe ist, das Trauma zu verarbeiten, nämlich durch Verdrängung. In der Kirche gibt es deswegen Verbannte, polarisierte Manager und Feuerbekämpfer, genau dieselbe Teile-Struktur gibt es auch in den Traumatisierten.

5. These: Täter, also z. B. missbrauchende Priester, haben ebenfalls verschiedene Teile, die entweder im Widerstreit liegen oder teilweise gar nichts voneinander wissen. Nur so ist „erklärbar“, wie ein Priester im Evangelium lesen kann und sexuell ein Kind missbrauchen kann. Diese Erklärung ermöglicht Aufklärung, selbstverständlich gewährt sie keine Entschuldigung, keine Relativierung der Verantwortung.

6. These: Die Kirche ist traumatisiert durch Lasten, nämlich Lehren und Praktiken. Indem sie diese Lasten weitergibt, ist sie als ganze auch verantwortlich für strukturelle Sünden. Die Verantwortung für diese strukturelle Sünde tragen insbesondere die Bischöfe und Päpste, die diese Lehren und diese Praktiken fortgesetzt haben, aber auch Priester und Theologen! Diese These unterstützt folgende Feststellung:

Es gab schon vor der sexuellen Revolution von 1968 und vor dem II. Vatikanum sexuellen Missbrauch von Priestern. Sie konnten nur viel besser vertuscht werden. (Siehe den Dokumentarfilm von Jan Schmitt: Wenn einer von uns stirbt, geh´ ich nach Paris.“, siehe die Missbrauchsskandale in Polen, das nicht durch die 68er Revolution geprägt war.)

7. These: Gute, gesunde christliche Spiritualität und Traumatherapien haben Ähnlichkeiten. Alle wichtigen Traumatherapien bauen auf einem dualen Gewahrsein auf. Also einerseits ein sicheren Halt haben, andererseits eine Beziehung zu den Wunden aufbauen, so dass sie heilen können. Dies entspricht von der Grundstruktur dem kontemplativen Weg: Ausrichtung auf Gott (der sichere Halt) und Bereitschaft, das Leidvolle, Verwundete anzuschauen und nicht zu verdrängen.

Wie Wandel und Heilung geschehen kann

8. These: Es braucht in der katholischen Kirche eine Aufklärung, eine Erhellung durch Verstehen von Zusammenhängen, damit Heilung und Wandel möglich sind. Eine Aufklärung kann durch das Wissen der Traumatherapien geschehen. Dies kann zu einer traumasensitiven und einer trauma-existentialen Theologie und Pastoral führen. So eine Theologie und Pastoral erkennt die Lasten, die belastenden Lehren und Praktiken, die zu spirituellem Missbrauch führen, der mit dem sexuellen Missbrauch in der Kirche zusammenhängt, und bewirkt Entlastung und Wandel!

Prävention, Missbrauchsbeauftragte und Missbrauchskonzepte in den Diözesen sind wichtig und notwendig. Gerade in den letzten 10 Jahren haben viele Verantwortliche in der katholischen Kirche auf verschiedenen Ebenen vieles aufgearbeitet und verändert. Das muss gewürdigt werden (siehe Unterkapitel: Eine magis-Haltung.) Gleichzeitig möchte ich mit diesem Buch aufzeigen, dass wir die ganze Tiefe des Problems nur mit der Einbeziehung des Wissens von Traumatheorien und -therapien verstehen können.

9. These: Die Traumatisierten in der Kirche werden von der Kirche nur dann nicht wieder verletzt, wenn die Verantwortlichen eine Ahnung, ja ein kompetentes Wissen über Traumatisierung und Traumatherapien haben. Nur mit diesem Wissen können Opfer, wenn sie das wollen, in der Kirche Menschen finden, die ihnen heilend zuhören und sie begleiten.

10. These: Die ehrliche Auseinandersetzung mit den Missbrauchsskandalen müsste eigentlich dazu führen, die Streitthemen und faulen Kompromisslösungen aus dem II. Vatikanum anzupacken.

Warum der Wandel und die Heilung not-wendig für den christlichen Glauben, für die Kirche, die Gesellschaft und für die Menschen sind!

11. These: Die Auseinandersetzung mit Traumatisierten und Traumatherapien wird unser Verständnis des christlichen Glaubens und der christlichen Botschaft vertiefen und in neuem Licht erscheinen lassen.

Eine Begründung in aller Kürze: Man kann den Kreuzweg Jesu als freiwillig auf sich genommenes Trauma verstehen. Man kann den Exodus als Befreiung aus Erstarrung und Unterwerfung lesen, als Befreiung eines kollektiv traumatisierten und versklavten Volkes deuten. Usw.

12. These: Die Auseinandersetzung mit Traumatisierten, mit Traumatherapien, mit der Traumatisierung der Kirche als Ganzes und der Beginn eines Heilungsprozesses könnte auf andere positiv wirken. In unserer Welt geschieht so viel sexueller Missbrauch, Gewalt, Traumatisierung. So viele Menschen sind traumatisiert. Dies sollte zu einer traumasensitiven politischen Kirche führen! Die Gesellschaft und die Politik muss trauma-sensitiver werden!

Eine Bemerkung zum Abschluss dieser Thesen: Mich überzeugen „hobbypsychologische“ Erklärungen in Freud´scher Manier, die tiefenpsychologisch ein Muster für die Missbrauchstaten angeben, überhaupt nicht. Hier ein Beispiel: Der Düsseldorfer Psychotherapeut Dieter Funke sieht in der theologischen Konstruktion der Heiligen Familie eine kollektive Traumatisierung: „Der Vater ist nicht der richtige Vater und kein sexueller Partner der Mutter. Die Mutter ist keine richtige Frau, sondern Jungfrau. Der Sohn wird auf diese Weise seiner Kindposition beraubt und gerät zum Ersatzpartner der Mutter. Er wird von der Mutter zum besseren Partner gemacht und sitzt auf Vaters Platz. Ständige Rivalitäten und Machtkämpfe, Größenfantasien und depressive Schuldgefühle, Entwertung, Idealisierung, wie sie sich in der biblischen Konstruktion der Heiligen Familie wieder finden, prägten solche Beziehungsmodelle.“7 Da wird das komplexe Problem zu einfach, zu unterkomplex analysiert. Ich bin fest überzeugt, dass wir mit Traumatheorien und Michel Foucaults Analysen zu Macht und Sex bessere Verständnismodelle haben als Sigmund Freuds Lehre.

Mein Bezug zum Thema: Kirche und Missbrauch mit Traumatherapien betrachten

Die Gnade eines unbelasteten Christentums

Ich habe neben vielem anderen wertvollen ein sehr großes Geschenk von meinen Eltern bekommen. Sie lehrten uns drei Söhnen ein völlig unbelastetes Christentum. Und sie lebten dieses unbelastete Christentum auch authentisch vor. Meine beiden Eltern sind in der christlichen Arbeiterjugend (CAJ) geprägt worden und haben Kardinal Cardijn, den bescheidenen belgischen Priester und Gründer der Bewegung, selbst kennen gelernt. Cardijn rief den jungen Arbeitern zu: Ihr seid das Salz der Erde! Welche Wertschätzung! Welch ein positives Menschenbild!

Schon meine Eltern waren nicht belastet z. B. durch wöchentliche Beichten mit durchbohrenden Fragen. Nein, sie lernten in der christlichen Arbeiterjugend, dass die Heilige Schrift Bedeutung für die heutige Welt, für ihre Situation in der Arbeitswelt hat. Mein Großvater mütterlicherseits war ein Maurergeselle. Er las zum Beispiel gerne Dostojewski Romane. Dieser einfache und weise Mann sah es überhaupt nicht gern, wenn seine Frau einem Kinde eine Ohrfeige verpasste. Deswegen wuchsen meine Mutter und ihre Geschwister ohne Prügelstrafen in der Familie auf, in einer Zeit, in der diese überall üblich waren. Mein väterlicher Großvater ließ sich während eines Fronturlaubs im Zweiten Weltkrieg einen Stein auf den Fuß fallen. Er konnte es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, auf andere Menschen zu schießen. Lieber verletzte er sich selber und nahm in Kauf, dass er als Deserteur angeklagt wurde.

Ich wuchs in einer kleinen Filialkirche am Rande von Nürnberg auf mit einem alten Jesuitenpater als Pfarrer. Auch hier erlebte ich im Großen und Ganzen ein völlig unbelastetes Christentum. In meiner Teenagerzeit besuchte ich Veranstaltungen von Franziskanerpatern: Assissifahrt, Kloster auf Zeit oder Wanderpredigten. Auch hier erlebte ich fröhliches, menschenbejahendes Christentum. In meiner Sturm und Drang Zeit legte ich mich mit allen drei Autoritäten an: dem Jesuitenpater, unserem Pfarrer, dem Jesuitenbruder, der die Jugendarbeit im CPH leitete, und dem Direktor meines Gymnasiums. In allen Konflikten hielten meine Eltern zu mir.

Nach dem Abitur besuchte ich das erste Mal die kontemplativen Exerzitien im Haus Gries, geleitet von Franz Jalics. Ich war völlig fasziniert. Die Grundideen jeder Predigt notierte ich nach dem Abendgottesdienst. Ich ahnte und spürte genau, dass diese Spiritualität und dieses Gebet mein Leben wesentlich prägen wird. Auch hier hatte ich das Glück, eine im Großen und Ganzen unbelastete, befreiende Spiritualität erleben zu dürfen.

In meinem ganzen Theologiestudium kam ich nie in eine Glaubenskrise. Ich nahm fasziniert die Ergebnisse der historischkritischen Methode auf und vertiefte mich mit großer Leidenschaft in philosophische Schriften. Mit dem Jesusgebet hatte ich einen Halt, von dem aus ich offen, interessiert, neugierig der Vielfalt der Forschungen begegnen konnte und mit Intuition und Urteilskraft und Reflexion das für mich Stimmige herausfand.

Ich habe also in Kindheit, Jugendzeit und Studium kein belastendes, einengendes, verkrampftes, unterdrückendes Christentum am eigenen Leib erfahren. Das ist wirklich eine große Gnade und ein großes Geschenk. Und ich weiß, dass dieses Geschenk besonders durch ein Ereignis überhaupt möglich wurde: das II. Vatikanische Konzil. (Das Konzil ist ja auch bei den Lehren von Cardijn in die Schule gegangen. Meine Eltern haben somit den Geist des Konzils schon vor dem Konzil mitbekommen.) Ohne dieses Konzil hätte ich mich sicherlich nie entschieden, Priester zu werden!

Alle Formen spirituellen, religiösen Missbrauchs, die Doris Wagner in ihrem Buch „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ beschreibt, habe ich – Gott sei Dank – nicht erlebt.

Neben Philosophie beschäftigte ich mich nach dem Studium immer mehr auch mit therapeutischer Literatur und mit nicht christlichen spirituellen Wegen. All das floss in mein Buch „Die aktive und kontemplative Seite der Freiheit“ ein. Dieses Wissen sollte ich dann auch bald anwenden können:

Begleitung von Traumatisierten

Seitdem ich Priester bin, ergab es sich zweimal, dass ich ein Missbrauchsopfer lange begleitet habe. Ich möchte die beiden Frauen Heldinnen nennen. Die eine Heldin, Anna (Name geändert), begleitete ich intensiv zehn Jahre. Sie wurde schon als Kind vom Nachbarn vergewaltigt und erlitt dann über Jahre sexuelle Gewalt durch einen Priester. Die andere Heldin, Gertrud (Name geändert), begleitete ich intensiv zwei Jahre. Sie wurde über Jahre hinweg von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht. Mit beiden Heldinnen bin ich immer noch sehr freundschaftlich verbunden.

Ich arbeitete mit beiden spirituell und traumatherapeutisch kombiniert. Nun werden sich vielleicht viele Leser fragen: Sehr gewagt! Wie kann ein Priester ohne therapeutische bzw. traumatherapeutische Ausbildung so eine schwierige und riskante Begleitung machen? Ich gebe darauf drei Antworten:

1. Die Heldin, die ich zehn Jahre begleiten durfte, hat nach einem halben Jahr und einem wichtigen Ereignis so viel Vertrauen in mich gefasst, dass sie mir ihr Leid offenbarte. Sie wäre nie zu einer/einem ihr unbekannten TraumatherapeutIn gegangen. Denn sie hatte so viel negative Erfahrungen mit ÄrztInnen erleben müssen, dass sie sich nur dann jemand anvertraute, wenn sie sich wirklich bei der Person sicher fühlte. Ich hatte also die Wahl: entweder ich arbeitete mit ihr oder keiner.

2. Auf zwei Wissensquellen konnte ich zurückgreifen: die Lehre der Kontemplation von Franz Jalics und mein Wissen aus der Lektüre vieler therapeutischer Bücher. Die Einsicht, die ich in den folgenden Kapiteln noch ausführlich darstellen werde: die Kombination von Kontemplation (bzw. Achtsamkeits-praxis) und therapeutischen Werkzeugen ist sehr wertvoll, um Traumatisierten zu helfen. Diese Einsicht vermitteln auch viele große Traumatherapeuten wie Ursula Witz, Janina Fisher oder Richard Schwartz.

3. Mit dem Wagnis, für mich unbekanntes Gebiet zu betreten, nämlich die Begleitung einer Traumatisierten, und die Notwendigkeit auszuprobieren, bin ich nicht allein. Tröstlich fand ich, wie die angesehene Traumatherapeutin Janina Fisher schreibt: „Was Traumatisierung bedeutet, haben meine Mitstreiterinnen und ich im Laufe von drei Jahrzehnten „auf die harte Tour“ gelernt. Wir haben uns von unseren Klientinnen und Klienten durch ihre innere Welt führen und zeigen lassen, wie sie von Symptomen bedrängt werden und wie es ist, in einem Körper zu leben, der so strukturiert ist, dass er in der ständigen Erwartung von Vernichtung oder Verlassenwerden lebt. Weil wir über keine Behandlungskonzepte verfügten, die auf die Bedürfnisse traumatisierter Klienten zugeschnitten waren, mussten wir alle „improvisieren“: wir dachten uns neue Techniken und Interventionen aus und prüften, was „funktionierte“, um es dann beizubehalten – entweder weil die Interventionen erkennbar Wirkung zeigten oder weil die Klienten einfach gut damit zurecht kamen.“8

Zwei Blickrichtungen kommen mir in vielen Büchern über Missbrauch in der Kirche manchmal zu kurz: Der Blick auf das Leiden der Traumatisierten nach dem Missbrauch. Und nicht selten sogar der Blick auf die Opfer selbst, als leidenden Menschen, als Subjekte! Zweitens: Der kundige Blick auf das Leiden der Traumatisierten durch das Wissen der modernen Traumatherapien und -theorien hat bis jetzt nach meinem Wissen noch keiner in die Diskussion von katholischer Kirche und Missbrauch eingebracht. (Jennifer Baldwin und Andreas Stahl mit ihren Büchern zu traumasensitiver Theologie bzw. traumasensibler Seelsorge gehören zu protestantischen Kirchen.) In dem Titel von Ursula Wirtz Werk „Stirb und werde. Die Wandlungskraft traumatischer Erfahrungen“. steckt für mich folgende Ahnung: Die spirituellen, dogmatischen und ekklesiologischen Bedeutungen der vielen durch Priester Traumatisierten können wir nur entdecken, wenn wir mit Traumatherapien und –theorien strukturiert uns den Erfahrungen, Traumatisierungen, Kreuzwegen aber auch den Heilungswegen von Missbrauchsopfern zuwenden!

Viele Missbrauchsopfer suchen Heilung gerade in der Kirche, obwohl sie in der Kirche missbraucht wurden. Das klingt für Außenstehende sehr seltsam. Aber viele, nicht alle, suchen in der Kirche weiterhin Heimat, Halt, Sinn, aber auch Gerechtigkeit und hoffen auf Umkehr und Läuterung der Kirche! Dafür muss Kirche, Seelsorge, Theologie trauma-sensibel werden!

Überblick über die bisherige Literatur und ihre Ansätze

Der folgende Überblick mit meinen Kommentaren verfolgt drei Ziele: Erstens wird deutlich, aus welchen Perspektiven, mit welchen Ansätzen das komplexe, schwierige Thema schon behandelt wurde. Zweitens kann ich durch diesen Überblick mit Kommentaren Bücher empfehlen, die ich für besonders wertvoll halte, und auch Hinweise auf Einseitigkeiten oder blinde Flecken geben, die ich aus meiner Perspektive bei einigen Büchern festgestellt habe.

Drittens wird vor diesem Hintergrund deutlicher, welchen Mehrwert dieses Buch bringen soll und welche Bereiche es höchstens kurz anschneidet oder auch ausspart, weil diese in anderen Büchern fundiert und ausführlich schon dargestellt wurden.

Um einen Überblick über die Literatur geben zu können, möchte ich einige „Kategorien“ vorstellen:

Bücher, in denen Betroffene von ihrer Traumatisierung und ihrer Lebensgeschichte danach berichten.

Eine speziellere Kategorie sind die Bücher von Menschen, die durch Priester missbraucht wurden.

Bücher über die Missbrauchsskandale in der Kirche

Traumatherapie- und Traumatheoriebücher

Bücher über Prävention und Krisenmanagement

Bücher, die verschiedene Querverbindungen über die Kategorien hinweg ziehen

Bücher von Traumatisierten allgemein:

Es gibt viele ergreifende Berichte von Missbrauchten. Hier will ich nur auf zwei hinweisen:

James Rhodes: Der Klang der Wut

Wer einen „Gesamteindruck“ für das seelische Innenleben eines durch sexuelle Gewalt Traumatisierten bekommen will, erfährt diesen in der Lektüre dieses Buches. Über den Missbrauch selbst schreibt Rhodes fast nichts. Und das finde ich sehr gut. Weil in der Thematik Unerfahrene und die Öffentlichkeit zu sehr auf den Tathergang fixiert sind. Die jahrelange, jahrzehntelange Leidensgeschichte danach ist den wenigsten bewusst. Das Buch erzählt nicht nur von den Verdrängungsprozessen durch Drogen, harter Arbeit und Ritzen und von der inneren Zerrissenheit im seelischen Innenleben. Rhodes lässt all das durch seine heftige, manchmal derbe Sprache erleben. Im Kontrast dazu stehen seine wunderbaren Beschreibungen der Musikstücke, die ihm geholfen haben, aus den Teufelskreisen auszubrechen, allen voran die Chaconne von Bach. Dieses Buch ist für mich eine schriftstellerische Meisterleistung, eines der schönsten Bücher über die Herrlichkeit von Musik. Und zuletzt zeigt es, dass das Trauma überwunden werden kann.

Marilyn van Derbur: Tagkind – Nachtkind.

In Sprache und Stil völlig anders ist dieses Buch der Miss America van Derbur. Aber auch durch dieses Buch kann man lebendig miterleben, was sexuelle Gewalt bewirkt: Marilyn musste eine tiefe Dissoziation, Spaltung zwischen ihrem Normal-Leben-Selbst, dem Tagkind, und dem Nachtkind, dem Teil, das über Jahre hinweg regelmäßig den sexuellen Missbrauch des eigenen Vaters nachts erleben musste, vollziehen. Sie schreibt eher in epischer Breite, dezent und sehr liebevoll gegenüber allen Menschen, die ihr halfen zu heilen. Das Buch ist auch ein ergreifendes Buch über die Liebesgeschichten zwischen ihr und ihrem Mann. Im letzten Teil gibt sie ihr Wissen über sexuelle Gewalt, Prävention, Heilungswege weiter. Dieser Bestseller hat in den USA das Thema sexuelle Gewalt und die traumatischen Auswirkungen ab 2003 auf neue Weise ins Bewusstsein gebracht.

Bücher von Traumatisierten, die durch Kleriker missbraucht wurden: Auch hier gibt es mehr als die aufgeführten Bücher

Doris Wagner: Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau

Matthias Katsch: Damit es aufhört. Vom befreienden Kampf der Opfer sexueller Gewalt in der Kirche

Dieses Buch ist äußerst beeindruckend und wichtig, weil es von dem steinigen Weg der zu Opferverbänden zusammengeschlossenen Traumatisierten im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts erzählt, um die Kirchenleitungen wachzurütteln und zur Änderung des Verschleierungskurses zu bringen. Angefangen bei den Gesprächen mit Pater Mertes bis hin zu den Demonstrationen der Opfer, als Papst Franziskus 2018 Chile besuchte.

Bücher, die den Missbrauchsskandal der Kirche analysieren:

Bei diesen Büchern ist für mich ein Lesekriterium: Kommen die Opfer in der Analyse wirklich als Subjekte vor? Kommen ihre Erfahrungen wirklich zur Sprache? Geht es darum, dass Missbrauch in der Kirche wirklich unwahrscheinlicher wird und dass den Leidenden Gerechtigkeit und Hilfe zukommt? Oder wird der Missbrauchsskandal als Aufhänger genommen, um den eigenen kirchenpolitischen Kampf weiter zu führen?

Ein anderes Lesekriterium: Inwieweit wird fundiert aufgezeigt, dass Kirche mit ihrer Lehre, Praxis, Kultur, hierarchischen Institution und Vorgehen Mitverantwortung für den Missbrauch hat?

Auch hier nur eine Auswahl:

Gabriele Kuby: Missbrauch mit einem Vorwort von Kardinal Gerhard Müller. In diesem Buch kommen die Opfer mit ihren Erfahrungen überhaupt nicht vor. Das Buch ist auch sonst das beste Beispiel dafür, wie man mit diesem Thema nicht umgehen darf. Eine völlig unqualifizierte Schmähschrift: Die Schwulen und die moderne, säkulare Welt sind die eigentlich Schuldigen.

Geoffrey Robinson: Macht, Sexualität und die katholische Kirche Der Weihbischof von Sydney hat selbst in seiner Jugendzeit sexuelle Gewalt von einem Fremden erfahren. Er war Leiter der australischen bischöflichen Kommission zur Aufklärung sexuellen Missbrauchs. Seine Analyse ist engagiert, er kennt die leidenden Traumatisierten aus Erfahrungen. Als Bischof und Priester will er, dass die Kirche wieder Kirche Jesu Christi werde, die nicht Leiden schafft sondern lindert.

Magnus Striet, Anna Werden (Hg.): Unheilige Theologie

Sehr wichtiger Aufsatzband, der theologisch fundierte Analysen zu Priesteramt, kirchlicher Sexualmoral, Pastoralmacht, kultischer Reinheitsvorstellung bietet, immer in Bezug auf die Frage, ob sexueller Missbrauch dadurch begünstigt wurde. Es ist auch der einzige Band, in dem ich auch eine Einbeziehung der wichtigen Forschungen von Michel Foucault gefunden habe.

Michael Albus, Ludwig Brüggemann: Hände weg! Sexuelle Gewalt in der Kirche

Ebenso wichtiger Aufsatzband, in dem die „strukturelle Sünde“ in Lehre, Praxis und Organisation, die den Missbrauch ermöglicht bzw. begünstigt hat, von prominenten Theologen fundiert und engagiert untersucht wird. Die für mich zentrale Kritik am augustinischen negativen Menschenbild wird hier auch thematisiert.

Es gibt noch weitere sehr gute Aufsatzbände, z. B. aus dem Jahr 2010, aber auch weitere, die noch früher erschienen sind.

Stephan Goertz, Herbert Ulonska: Sexuelle Gewalt. Fragen an Kirche und Theologie

Die Opferperspektive ist hier dezidiert mit zwei Artikeln vertreten, einer auch speziell aus feministisch-theologischer Sicht.

Rotraud A. Perner (Hg.): Missbrauch. Kirche – Täter – Opfer

Er enthält z. B. eine Analyse der Täterstrategien und des Machtgefüges mithilfe der Transaktionsanalyse.

Doris Wagner, Christoph Schönborn: Schuld und Verantwortung

Da ich sehr ausführlich auf dieses Gespräch eingehe, hier nur so viel: Sehr lesenswert. Dieses Gespräch ist an sich und vom Inhalt her ein prophetisches Zeichen. Hier nimmt ein Kardinal ein Opfer wirklich ernst und geht in einen ehrlichen Dialog mit ihr.

Doris Wagner: Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche

In diesem Buch wird noch einmal auf andere Weise klar, warum die strukturelle Sünde die sexuelle Gewalt von Priestern begünstigt. Denn (fast) jeder sexueller Missbrauch in der Kirche ist „eingebettet“ in einen spirituellen Missbrauch. Und jeder sexuelle Missbrauch ist in der Kirche nur durch Machtmissbrauch möglich. Und dieser spirituelle Missbrauch ist gerade in religiösen Gemeinschaften, Orden, spirituellen Bewegungen weit verbreitet. Sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche wird nur eingedämmt, wenn auch der spirituelle Missbrauch eingedämmt wird. Positiv formuliert: Seelsorge muss heißen, Menschen zu ermöglichen bzw. zu begleiten, selbstbewusste Glaubenssubjekte zu werden.

Thomas Hanstein: Von Hirten und Schafen. Missbrauch in der katholischen Kirche – Ein Seelsorger sagt Stopp

Dieses Buch ist eine umfassende Analyse der strukturellen Sünden, die die Missbrauchstaten in der Kirche gefördert, begünstigt und vertuscht haben. Ich stimme vielem zu, was er schreibt. Und doch fehlt mir einiges für eine differenzierte Sichtweise. (Ich werde meine Hauptkritik im Verlauf des Buches ausführlich darstellen. Siehe: Ist die Kirche nur ein rigides blaues System?) Mir fehlt, dass Hanstein in der Kirche und in der katholischen Theologie die Strömungen nicht aufgreift, die anders sind als die „verknöcherte“, rigide Front, die den Geist des II. Vatikanums nicht fortsetzen wollen, die die Hierarchie festigen wollen und Veränderungen und Reformen blockieren. Mir fehlt bei ihm auch das Wissen um Traumatherapien. Viele seiner Kritikpunkte sind berechtigt! Aber ich hatte bei der Lektüre den Verdacht, dass die Missbrauchsopfer Impuls sind, um alles Falsche, Verknöcherte in Kirche aufzudecken. Kommen die Überlebenden als Subjekte vor? Bei dem Buch fehlt mir auch ein Blick auf das Wirken des Heiligen Geistes selbst. Jesus kommt als Maßstab vor, den die Kirche verfehlt. Aber wo ist bei ihm die Hoffnung, dass in der Kirche durch den Heiligen Geist gewirkt Menschen Wandel, Umkehr, Reformen antreiben?

Hanspeter Oschwald: Auf der Flucht vor dem Kaplan

Dieses Buch ist eine lebendige, anekdotenreiche Milieuschilderung der deutschen katholischen Welt in den Fünfziger und Sechziger Jahren, die auf ihre Weise bestätigt, dass die sexuellen Missbräuche durch Priester nicht erst durch die 68er Revolution hervorgebracht wurden. Auch die Schlüsselstellung des Beichtgespräches im Geflecht von Sex, Macht und Missbrauch in der Kirche wird deutlich.

Prävention und Aufarbeitungshilfen

Mary Hallay-Witte, Bettina Janssen (Hg.): Schweigebruch. Vom sexuellen Missbrauch zur institutionellen Prävention

Welche Lern- und Entwicklungsprozesse gab und gibt es im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in der katholischen Kirche in Deutschland, um durch Prävention sexuellen Missbrauch in der Kirche einzudämmen?

Uwe Eglau, Elisabeth und Johannes Leitner, Michael Scharf: Sexueller Missbrauch in Organisationen. Erkennen. Verstehen. Handeln.

Was soll man wissen und beachten, wenn sich in der eigenen Gemeinde, Gemeinschaft, Organisation zeigt, dass ein Mitglied jemanden sexuell missbraucht hat? Dieses Buch gibt fundiert Auskunft: Wie sind Tätertaktiken? Was müssen Opfer erleiden? Wie sind typische Dynamiken in der Organisation, wenn der Missbrauch ans Tageslicht kommt: Verharmlosungstendenzen, Spaltungsdynamiken usw.? Wo soll man sich Hilfe holen? Was muss die Leitung in dieser Krise beachten? Was muss man für eine gute Prävention tun? Ein kompaktes, sehr gutes Handbuch.

Bücher zum Vatikan und zum Papst Franziskus

Ein „einfacher“ Priester wie ich hat keinen Zugang und kein eigenes Wissen über die Vorgänge über den Vatikan, die internen Machtkämpfe, die kirchenpolitischen Entwicklungen im jetzigen Pontifikat von Papst Franziskus. Zwei Bücher vermittelten mir einen glaubhaften, differenzierten Einblick:

Krzysztof Charamsa: Der erste Stein. Als homosexueller Priester gegen die Heuchelei der katholischen Kirche

Er hat jahrelang in der Glaubenskongregation gearbeitet, ist im katholischen, polnischen Milieu aufgewachsen und hat selber mit seiner Homosexualität jahrelang gerungen. Ein wirklich gläubiger, frommer Priester erzählt in diesem Buch aus seinen Erfahrungen.

Marco Politi: Das Franziskus Komplott. Der einsame Papst und sein Kampf um die Kirche

Der Vatikankenner Politi berichtet ausführlich und differenziert über Franziskus´ Bemühungen, die Kirche und den Vatikan zu reformieren, über seine Stärken und Schwächen, über seine Befürworter und intriganten Gegner. Besonders ausführlich und erschreckend zeigt er auf, dass es leider zu viele Kräfte im Vatikan gibt, die die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals verschleppen, behindern, verzögern. Sehr empfehlenswert!

Andere Kirchen und Religionen

Diana Schultz: Wenn Glaube krank macht. Geistlicher Missbrauch in Gottes Kirchen

Spirituellen bzw. geistlichen Missbrauch gibt es auch in anderen Kirchen, kirchlichen Gemeinschaften. Wie wird z. B. in der freikirchlichen Szene diese Herausforderung analysiert? Eine kurze, fundierte Analyse mit Fallbeispielen.

Werner Vogd: Der Ermächtigte Meister. Eine systemische Rekonstruktion am Beispiel des Skandals um Sogyal Rinpoche

Sexuellen und spirituellen Missbrauch gibt es auch in anderen Religionen. So gingen die sexuellen Fehltritte und Gewaltausbrüche des buddhistischen Lehrmeisters Sogyal Rinpoche mehrmals durch die Presse. Diese sehr fundierte, nicht einfach zu lesende Analyse von Gesprächen mit Anhängern der buddhistischen Glaubensgemeinschaft um Sogyal Rinpoche ist für jemand, der sich intensiver mit spirituellem und sexuellem Missbrauch und den möglichen systemischen Dynamiken in einer Glaubensgemeinschaft beschäftigen will, sehr erhellend.

Traumatherapiebücher

Es gibt viele gute Bücher über Trauma und Traumatherapie. Ich liste die 12 Bücher auf, von denen ich selber viel gelernt habe.

Stephen Porges: Die Polyvagaltheorie und die Suche nach Sicherheit

In Interviews erklärt Porges verständlich seine Theorie, wie er sie entwickelt hat und warum sie für das Verständnis von Traumata so wertvoll ist.

Peter Levine: Vom Trauma befreien

Dieses Buch ist eine kompakte Darstellung seiner Traumatheorie und seiner Traumatherapie.

Drei Bücher, um die IFS-Therapie kennenzulernen:

Richard Schwartz: IFS. Das System der Inneren Familie. Ein Weg zu mehr Selbstführung.

Kompaktes, lebendiges Einführungsbuch des Begründers

Richard Schwartz: Systemische Therapie mit der inneren Familie Das Grundlagenwerk.

Jay Earley: Meine innere Welt verstehen. Selbsttherapie mit Persönlichkeitsanteilen.

Sehr ausführliches Einführungsbuch mit vielen Beispielen

Dass ich sehr von der IFS-Therapie überzeugt bin, zeigt sich schon darin, dass sie mich zu dem Buch „Exerzitien der Selbstliebe“ animiert hat, in dem ich die IFS auch als spirituellen Heilungsweg vorstelle.

Pat Ogden, Kekuni Minton, Clare Pain: Trauma und Körper

Sehr gute Darstellung der sensumotorisch orientierten, d. h. körperbezogenen Traumatherapie. Auch der allgemeine Teil über Traumatheorie ist sehr empfehlenswert.

Janina Fisher: Die Arbeit mit Selbstanteilen in der Traumatherapie Sie kombiniert IFS-Therapie mit sensumotorischer Therapie. Sie berichtet ausführlich von ihren Fällen und ihrer Arbeitsweise. Auch über die Behandlung von dissoziativer Identitätsstörung bei massiver Traumatisierung berichtet sie ausführlich. Ich habe sehr viel durch dieses Buch verstanden und gelernt!

Boon, Steele, Van der Hart: Traumabedingte Dissoziation bewältigen. Ein Skills-Training für Klienten und ihre Therapeuten

Ein sehr exzellentes Buch, das man gerade auch Traumatisierten empfehlen kann. Es behandelt alle „Problemfelder“ eines Traumatisierten: Wie gehe ich mit Triggern, Übererregung, Schlafproblemen, Giftgedanken, panischen Ängsten, Suchtproblemen, Grenzen setzen usw. um?

Reinert Hanswille, Annette Kissenbeck: Systemische Traumatherapie

Dieses Buch vermittelt einen sehr guten Überblick über verschiedene Traumatheorien und Traumatherapien und ihre Methoden.

Gabriele Kahn: Das Innere-Kinder-Retten.

Dieses Buch stellt insbesondere einen sanften Weg vor, wie man schwere traumatische Ereignisse heilend verarbeiten kann.

Ursula Wirtz: Stirb und werde

Sie analysiert Traumata mit der Psychotherapie C. G. Jungs. Besonders beeindruckend fand ich ihre Darstellung, dass Jung selbst Traumata erlitten hat und wie er sie verarbeitet hat.

Judith Herman: Die Narben der Gewalt.

Dieses Standardwerk der Traumaforschung zeigt besonders die Geschichte der Traumaforschung auf. Diese ist gerade in ihren Anfängen von Verdrängung und Verleugnung geprägt.

Traumasensible Seelsorge und Theologie

Wie kann Seelsorge traumasensibel sein? Welche Inhalte der Theologie müssen wir kritisch beleuchten, damit wir traumasensibel werden? Wie kann eine Spiritualität sein, die Traumata und spirituellen Missbrauch verhindert? Es gibt dazu noch wenig Literatur.

Jennifer Baldwin: Trauma-sensitive Theology

Ein exzellentes Buch, das leider noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Es ist auch das einzige theologische Buch über Trauma und Missbrauch, das die IFS-Therapie einbezieht und auf theologische und pastorale Themen anwendet. Im ersten Teil erläutert sie profund anhand von Traumatheorien, was ein Trauma ist. Daraus entwickelt Baldwin im zweiten Teil eine traumasensitive Hermeneutik, gefolgt von traumasensitiven Reflexionen zu allen wichtigen dogmatischen Themen wie Ontologie, Gotteslehre, Anthropologie, Sündenlehre, Christologie usw. Absolut vorbildlich! Die Autorin ist ordinierte Pfarrerin und Therapeutin.

Erika Kerstner, Barbara Haslbeck, Annette Buschmann: Damit der Boden wieder trägt. Seelsorge nach sexuellem Missbrauch

Drei erfahrene seelsorgerische Begleiterinnen von Überlebenden von sexueller Gewalt fassen ihr ganzes Wissen und ihre Erfahrungen in einem Buch zusammen. Dies ist ein Buch, in dem die Opfer mit ihren Erfahrungen, ihren Verwundungen und Enttäuschungen selbst zur Sprache kommen. Das Buch behandelt alle wichtigen Themen, die bei seelsorgerischen Gesprächen mit Traumatisierten aufkommen: Hadern mit dem Gebot der Elternehre, Theodizee-Frage, Verzeihens-Aufforderung, welche biblischen Texte wirken verstörend, welche tröstlich und heilend usw. Genauso empfehlenswert wie das Buch von Jennifer Baldwin. Was mir bei dem Buch fehlt, ist eine explizite Einbeziehung der Erkenntnisse von Traumatheorien und Traumatherapien.

Warum also dieses Buch?

Die letzten zwei vorgestellten Bücher decken sehr viel von meinem Grundanliegen ab. Aber trotzdem haben mich mehrere Gründe dazu geführt, dieses Buch zu schreiben. Die Übersicht zeigte, was fehlt, nämlich Querverbindungen über alle „Kategorien“ und „Perspektiven“ hinweg: Lebensgeschichte von Traumatisierten, Traumatheorie, Traumatherapie, Theologie und Spiritualität, kritische Kirchenanalyse, Philosophie, kritischer Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit sexueller Gewalt. Genau diese Verknüpfung versuche ich in diesem Buch!

Die Geschichte einer schwer traumatisierten Frau und ihr Heilungsweg. Meine Erfahrungen als Begleiter.

Verknüpfung von Traumatheorien und Traumatherapien, Philosophie (Gilles Deleuze insbesondere) und kontemplativer Spiritualität.

Kritische Analyse der Theologie insbesondere anhand des Menschenbildes. Einordnung dieser Analyse in die allgemeine jetzige Diskussion um das Menschenbild (Bregman, Ricard).

Kritische Analyse der Lehre, Praxis, Institution katholische Kirche auch anhand von Michel Foucaults Forschungen zu Macht und Sexualität, dem IFS-Modell und Clare Graves Spiral Dynamics.

Kritische Anfrage an unsere Gesellschaft, an Jugendämter, Justiz und Politik auch angesichts der Skandale von Lüdge und Staufen, Münster, Bergisch-Gladbach.

Hinweis für die Lektüre

Folgende Kapitel enthalten einige oder viele Berichte von sexueller Gewalt.

Gewalt und Verdrängung

Homöopathie und Traumaverarbeitung

Die offene Ungleichung: Die Täter

Jede traumatisierte Leserin, jeder traumatisierte Leser möge selbstverantwortlich entscheiden, ob sie/er diese Kapitel liest oder überspringt, um sich vor Getriggertwerden und Belastungen zu schützen!

Trauma-existentiale Anthropologie

Traumata und Gewalt sind kein Seitenthema, wenn man den Menschen verstehen will. Die Möglichkeit von Traumata gehört wesentlich zu den Existentialen des Menschen, genauso wie die Angst nach Kierkegaard oder die Sorge nach Heidegger. Gerade die drei hier vorgestellten Traumatheorien zusammengenommen verdeutlichen dies.

Theologen und Seelsorger bekommen durch Studium und Fortbildungen verschiedenes Grundwissen über Psychologie, Therapien, Kommunikationsmethoden usw. vermittelt. Aber Grundwissen in Traumatheorien und Traumatherapien wird bis jetzt nicht vermittelt. Eine Trauma-sensible Theologie und Seelsorge kann aber nur entwickelt werden, wenn man über Grundwissen von Traumatheorien verfügt.

Gewalt und Verdrängung

„Am Anfang des Denkens steht der Einbruch, die Gewalt, der Feind, und nichts setzt die Philosophie voraus, alles beginnt mit einer Misosophie.“9 Auch wenn dieser Satz aus dem Hauptwerk des Philosophen Gilles Deleuze, „Differenz und Wiederholung“, stammt, das sich keineswegs explizit mit sexuellem Missbrauch oder Trauma beschäftigt, trifft er für unser Thema ins Schwarze!

Ein Mädchen, wir nennen sie mit dem Decknamen Anna, hatte Geburtstag und freute sich auf die Familienfeier am Nachmittag. Ahnungslos folgte sie dem Nachbarn, der sie in den Wald fuhr und dort sexuell missbrauchte. Der Nachbar wurde zwar kurz darauf festgenommen und verurteilt. Aber das Mädchen wurde von männlichen, nicht von weiblichen Polizisten vernommen. Der Vater war so schockiert, dass er dem Mädchen immer wieder vorwarf: Wir haben Dir doch verboten, mit einem Fremden zu gehen! Das Mädchen verstand es nicht: Aber der Nachbar ist doch kein Fremder! Sie hätte sich so sehr gewünscht, dass ihre Eltern sie immer wieder umarmen und sagen: Du kannst nichts dafür! Einige Monate später begann das Kind zu ritzen. Regelmäßig! So konnte sie für eine Weile ihren seelischen Schmerz verdrängen. Danach plagten sie immense Gewissensbisse. Weil sie auch nicht mehr genügend aß, wurde sie auf eine Kinderkur geschickt. Traumatische Erlebnisse musste sie auch dort erleben: Sie musste unter Zwang 20 Marmeladenbrote essen. Sie wurde wegen Bettnässen geschlagen und von einem Arzt sexuell belästigt.

Nochmals Deleuze: „Jedes Vermögen ist aus seinen Angeln gehoben.“10 Das gilt erst einmal für die traumatisierte Person. Die Gewalt des einbrechenden Feindes hat die schöne bisherige vertraute Welt mit einem Schlag zerstört. Aber es gilt auch für die Personen um die traumatisierte Person herum.

Der Vater war so verzweifelt, dass er schlaftablettensüchtig wurde. Er schickte immer wieder Anna zum Apotheker, um die verschreibungspflichtigen Tabletten zu besorgen. Der Apotheker gab dem Mädchen die Tabletten auch ohne Rezept – wenn sie ihm sexuell gefügig ist.

Nochmals Deleuze: „Was nur empfunden werden kann, erschüttert die Seele, macht sie perplex“11 Die eingebrochene Gewalt ist so unbegreiflich, dass sie alle normalen Denkrahmen und Denkvermögen aus den Angeln hebt. Das Gewaltereignis kann nur empfunden werden, erschüttert die Seele und macht sie so perplex, dass der seelische Schmerz mit Ritzen oder Tabletten verdrängt werden muss.

Anna versucht im Teenageralter einen Suizid, überlebt und muss nun mit einer Behinderung durch den Unfall leben.

Der Vater ist inzwischen leberkrank. Er empfiehlt der jungen Frau, einen Hilfsjob in einer Pfarrei anzunehmen. „Da bist Du sicher!“

Wie er sich da täuschte! Nach einer geschickt inszenierten Phase der Vertrauensbildung hatte der Pfarrer X den Kokon schon aufgebaut. Bei einer Pfarreireise vergewaltigte er die junge Frau. „Einem Krüppel glaubt man nicht!“ sagte er ihr ins Gesicht. Die nächsten 10 Jahre wird er sie mehrmals wöchentlich sexuell belästigen und missbrauchen, bis er eine neue Stelle antrat! Zurück blieb eine zerstörte, hochtraumatisierte, tief verletzte Frau.

Nochmals Deleuze: „Auf diesem passiven Untergrund wird alles Gewalt. Hier wird der Hexensabbat der Dummheit und der Bösartigkeit gefeiert.“12 Man muss gar nicht den philosophischen Kontext der Sätze von Deleuze kennen. Man muss seine Sätze gar nicht „richtig verstehen“ – und spürt trotzdem, dass sie zu unserem Thema passen! (Ich werde später den Kontext erläutern.)

Liebe Leserin, lieber Leser, denken Sie nun: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Leider gibt es viele solcher unglaublich schlimmen Lebensläufe. Viele von ihnen sind unbekannt. Auch die folgende Geschichte wäre beinahe unbekannt geblieben:

Der Regisseur Jan Schmitt erforscht in seinem Dokumentarfilm „Wenn einer von uns stirbt, geh´ ich nach Paris“ die Vergangenheit seiner Mutter, nachdem sie Selbstmord begangen hat. Ein schreckliches Geheimnis deckt er auf: Die Nachkriegsfamilie, in der seine Mutter aufwuchs, war zerrissen. Wenn jedoch ein Priester, ein Jesuit aus der Mannschaft der Volksmission des berühmten Paters Leppich, dem „Maschinengewehr Gottes“, die Familie besuchte, gab es ein wenig Harmonie. Dafür ließ die Mutter zu, dass er sich bei jedem Besuch mit einer Tochter sexuell vergnügen durfte – die Mutter von Jan Schmitt. Am Ende des Films zeigte sich, dass in einer Psychotherapiesitzung sogar Erinnerungen von einem sexuellen Missbrauch durch den eigenen Vater in der frühen Kindheit zum Vorschein kamen.

Es ist also völlig falsch zu glauben, dass der sexuelle Missbrauch an Kindern allgemein und der sexuelle Missbrauch durch Priester erst mit der sexuellen Revolution in den 68er Jahren begannen. Der Film von Jan Schmitt ist einer von vielen Gegenbeweisen. Ebenso auch die Missbrauchstaten des Gründers der Legionäre Christi, Marcial Maciel Degollado.

Geschichte der Traumaforschung, auch eine Geschichte der Verdrängung

Wir springen in die Zeit vor Beginn des 20. Jahrhunderts: Freuds Psychoanalyse entstand aus der Verdrängung sexueller Gewalt! Freud behauptete nach 18 Fallstudien über hysterische Frauen in seinem Artikel „Zur Ätiologie der Hysterie“ 1896, dass die Ursache für Hysterie sexuelle Übergriffe, Misshandlungen und Inzest sind. Aber ein Jahr später verwarf er seine Erkenntnisse. In seinen Briefen deutete er an, dass er vor der entsetzlichen Wahrheit zurückschreckte: So viel sexuelle Gewalt in so vielen bürgerlichen Familien in Wien? Das kann nicht sein bzw. das darf nicht sein.

Judith Herman bringt das Fazit auf den Punkt: „Aus den Trümmern seiner Theorie zur Entstehung der Hysterie durch frühe Traumatisierung schuf Freud die Psychoanalyse. Die maßgebliche psychologische Theorie des zwanzigsten Jahrhunderts basiert auf der Leugnung weiblicher Realität.“13

Freud ist der fundamentalen Begegnung, die „zum Denken nötigt“14 ausgewichen. Die Psychoanalyse ist ein Abwehrmechanismus. Lieber hat die Frau einen Penisneid, als anzuerkennen, dass die Väter, Brüder und Onkels sexuell missbrauchen. „Hier wird der Hexensabbat der Dummheit und der Bösartigkeit gefeiert.“

Langsam dämmert uns, dass sexuell Missbrauchte und Traumatisierte viel zu oft doppelt Gewalt erleiden mussten. Die Gewalttat und dann die gewaltsame Verdrängung – das Opfer bekommt den Schwarzen Peter zugeschoben. Im Mittelalter sind Missbrauchsopfer von Dämonen besessene Hexen, im 19. Jahrhundert sind es Hysterikerinnen: „Die Schriftstellerin Sylvia Faser, ein Inzestopfer, schildert ihre persönliche Entdeckungsreise: „Wenn mein Körper andere Szenen darstellt, habe ich wieder Krämpfe, die manchmal durch Albträume ausgelöst werden. Danach ist meine Kehle eitrig, mein Magen aufgewühlt, ich habe Brechreiz. [...] Dabei fällt mir der Alb aus mittelalterlichen Volksmärchen ein, der schlafende Frauen vergewaltigte, die dann Dämonen zur Welt brachten… In einer stärker abergläubischen Gesellschaft hätte ich sicher als vom Teufel besessenes Kind gegolten. Tatsächlich war ich vom Papers Dreizack besessen – dem Teufel im Mann.“ In früheren Zeiten, so Fraser, hätte man sie vielleicht als Hexe verbrannt. Zu Freuds Zeiten hätte sie als klassische Hysterikerin gegolten. Heute würde man bei ihr eine multiple Persönlichkeitsstörung diagnostizieren.“15

Auch Kriegstraumatisierte mussten im Namen der Wissenschaft doppelte Gewalt erleiden. Konservative Psychiater wie Lewis Yealland interpretierten zur Zeit des I. Weltkriegs traumatische Kriegsneurosen als Versagen des Einzelnen. Der Traumatisierte ist ein schwacher Mensch! Deswegen behandelte Yealland seine traumatisierten Soldaten mit Demütigungen, Drohungen und Bestrafungen. „Hysterische Symptome wie Stummheit, Ausfall von Sinnesorganen oder Bewegungsstörungen behandelte man mit Elektroschocks. Die Patienten wurden heftig angegriffen und als faul und feige beschimpft. Wer Zeichen des „abscheulichen Feindes namens Negativismus“ zeigte, dem drohte man mit dem Kriegsgericht.“16 Andere Psychiater konnten aufzeigen, dass auch mutige Soldaten eine traumatisierte Kriegsneurose bekommen konnten. Und manche Forscher erkannten auch Ähnlichkeiten zwischen Hysterie und den Kriegsneurosen.

Im Gegensatz zu Freud erlitt C. G. Jung mehrere tiefe Traumata: Er war das „Ersatzkind“ nach zwei totgeborenen Schwestern und einem kurz nach der Geburt gestorbenen Bruder. Als Kleinkind fühlte er sich verlassen, wenn die Mutter wegen Depression monatelang im Hospital war. Als 12-Jähriger wurde er Opfer eines homosexuellen Attentates, eines sexuellen Missbrauchs. Er erlitt die typischen Folgen: „Dissoziation, Aufspaltung in zwei Persönlichkeiten, Ohnmachtsanfälle, epilepsieverdächtige Anfälle, Schuldübernahme und Identifikation mit den Aggressor, Erinnerungsverlust, Schlaflosigkeit, quälende Gedanken.“17 Als Jung seinem Lehrer Freud den sexuellen Missbrauch schriftlich offenbarte, distanziert sich Freud von Jung. Es kommt zum Bruch. Im Oktober 1913 hatte Jung in wachen Visionen Vorahnungen vom I. Weltkrieg, die er aber als eine anbahnende Psychose deutete. „Das Rote Buch handelt von diesem Abstieg in die Unterwelt und kann als eine Dokumentation gelesen werden, wie mit überwältigenden, desorientierenden traumatischen Einbrüchen in die Alltagswelt umgegangen werden kann.“18 C. G. Jung verdrängte seine Traumata nicht sondern verarbeitete sie.

Aber seltsamerweise wurden diese Erkenntnisse wieder vergessen: „Die Erforschung psychischer Traumata hat eine eigenartige Geschichte – immer wieder gibt es Phasen der Amnesie. Auf Zeiten intensiver Forschungstätigkeit folgten immer wieder Zeiten, in denen das Thema in Vergessenheit geriet. In den letzten 100 Jahren gab es wiederholt vergleichbare Forschungsansätze, die aber jeweils abrupt abgebrochen und erst sehr viel später wieder aufgenommen wurden. Klassische Studien, die vor 50 oder 100 Jahren entstanden sind, lesen sich oft wie zeitgenössische Arbeiten. Obwohl das Forschungsgebiet eine reiche Tradition besitzt, vergaß man die Ergebnisse immer wieder, und sie mussten jeweils neu erarbeitet werden.“19 Judith Herman benennt auch den offensichtlichen Grund für diese Amnesie: Wer sich mit psychischen Traumata beschäftigt, muss in Bereiche des Undenkbaren, des Überschrecklichen vordringen. Er muss sich grundlegenden Glaubensfragen stellen. Jegliches harmonische Weltbild wird an der Wurzel infrage gestellt. Erst im Jahr 1971 wurde in den USA das erste Zentrum für Vergewaltigungsopfer eingerichtet. „1976 fand in Brüssel das erste Internationale Tribunal über Verbrechen an Frauen statt.“20 Also 80 Jahre nachdem Freud seine erschreckenden Erkenntnisse verdrängte! Es brauchte also nochmals 80 Jahre, bis in der Öffentlichkeit, Gesellschaft und Justiz Vergewaltigung bewusst wahrgenommen wurde! Kämpferische Feministinnen haben das Tabu Vergewaltigung ans Tageslicht der Öffentlichkeit gebracht. Die sexuelle Befreiung der 68er hat in der Öffentlichkeit die Bereitschaft eröffnet, über Sexualität freimütiger zu diskutieren und sexuelle Gewalt überhaupt thematisieren zu können.

Johannes XXIII hat als Zeichen der Zeit die Herausforderungen benannt, bei denen die Menschenwürde grundsätzlich in Frage steht. Missbrauch und Traumata sind kein Seitenthema! Sie sind ein wichtiges „Zeichen der Zeit“!21

Bei Kant fehlt das Trauma

Wer an philosophischen Gedanken nicht interessiert ist, kann dieses Kapitel auch überspringen.

Mancher Leserin bzw. manchem Leser erscheint es vielleicht als nebensächlich, umständlich, speziell, wenn ich nun Kant aufgreife. Kant hat unser modernes Bild des Menschen wesentlich geprägt! Kant thematisiert zwar Abhängige, die noch unfähig sind, ihre eigene Vernunft zu gebrauchen. Er fordert sie auf, ihre eigene Vernunft zu gebrauchen. Aber in Kants Philosophie gibt es kein Trauma! Damit fehlt aber ein zentraler Aspekt des Menschseins. Wir sind hier einem wichtigen blinden Fleck der Philosophie Kants und damit der ganzen abendländischen Kultur auf der Spur.

An Kant möchte ich aufzeigen, inwiefern das Trauma in seiner Philosophie ein blinder Fleck ist, inwiefern Deleuze das Trauma als das „Außen“ im Denken Kants aufgezeigt hat - auch wenn Deleuze den Begriff Trauma nicht verwendet.

Kant formulierte drei zentrale Fragen der Philosophie: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was kann ich hoffen? Die drei Fragen können zusammengefasst werden in der Frage: Was ist der Mensch? Diese Frage hat Kant in einem entscheidenden Aspekt nicht beantwortet, wenn das Trauma in seiner Philosophie fehlt!