Für mich bist du tot - Elisabeth Charlotte - E-Book

Für mich bist du tot E-Book

Elisabeth Charlotte

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Beschreibung

In dieser zutiefst bewegenden Erzählung schildert die Autorin den schleichenden Zerfall ihrer kleinen Familie. Die Authentizität dieser Geschichte wurzelt in den 1950er-Jahren, als der Vater aus der DDR in den Westen Deutschlands flieht. Für die zurückgelassene Familie beginnt eine Ära voller Entbehrungen. Die überforderte Mutter, konfrontiert mit den täglichen Herausforderungen der Kindererziehung, sucht Zuflucht in Alkohol und Tabletten. Diese Flucht vor der Realität hinterlässt verheerende Auswirkungen auf alle Familienmitglieder, insbesondere auf die Entwicklung der Kinder. Die Leser werden Zeugen des von schicksalhaften Ereignissen geprägten Lebensweges der Protagonistin, von einem schüchternen Mädchen hin zu einer selbstbewussten Frau. Die Geburt ihres Sohnes markiert einen Wendepunkt. Doch ihr schmerzhaftes Coming-out und eine erste unglückliche Liebe bringen zusätzliche Herausforderungen mit sich. Als sie schließlich die Frau findet, die ihr Lebensglück zu vervollständigen scheint, bricht die eigentliche Tragödie herein und verändert ihr Leben von Grund auf.

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Für mich bist du tot

Zerstörte Illusionen

Impressum

Texte: Copyright by Elisabeth Charlotte Umschlag: Copyright by Elisabeth Charlotte

Verlag:

c/o Werneburg Internet Marketing und

Publikations-Service

Philipp-Kühner-Str. 2

99817 Eisenach

E-Mail: [email protected]

Homepage:www.elisabeth-charlotte-autorin.de

Druck: epubli –ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Für meinen Sohn

In liebevollem Gedenken an meine Schwester

geb. 30.03.1959

gest. 27.03.2021

Für meine Lebensgefährtin in großer Liebe

und Dankbarkeit

Wenn dein Herz leise zerbricht, wenn deine innere Stimme nicht mehr spricht, wenn deine Seele bitterlich weint, wenn die Zukunft dir hoffnungslos scheint, wenn deine Gedanken wild sich drehen, wenn deine Augen die Realität nicht mehr sehen, wenn dein Mund keine Worte mehr findet, wenn alles Glück in dir langsam schwindet, wenn dich deine Träume allmählich verlassen, wenn du beginnst dich und das Leben zu hassen, dann ist es verdammt noch mal höchste Zeit....loszulassen!

Verfasser unbekannt

Elisabeth Charlotte, Jahrgang 1949, wurde in der DDR geboren und hat im Osten von Berlin ihre Kindheit und Jugend verbracht. Das Schreiben ist für sie zum Bedürfnis geworden, um das Trauma ihrer Jugend aufzuarbeiten und um an den weiteren Schicksalsschlägen nicht zu zerbrechen.

In einer sehr persönlichen und schonungslos offenen Autobiografie gibt sie Einblick in ihre ungewöhnliche Kindheit und Jugend. Sie zeigt, wie die grenzenlosen Möglichkeiten, die sich nach der Wende für jeden auftaten, in ihrer kleinen Familie letzten Endes zur Katastrophe führten.

Diese Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten. Orte und Namen der betroffenen Personen wurden von der Autorin geändert, um ihre Identität zu schützen. Alle Rechte bleiben bei der Autorin. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne Genehmigung der Autorin reproduziert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

VORWORT

Der Titel dieses Buches mag bei einigen Lesern Bestürzung hervorrufen, denn diese Worte möchte niemand aussprechen oder gar hören. Ich selbst hätte mir das auch nie vorstellen können. Doch es war tatsächlich mein eigener Sohn, der mich unvermittelt und mit Hass, aber ohne jegliche Erklärung, mit diesen Worten verstoßen hat. Seit jenem Tag vor zehn Jahren habe ich keinen Kontakt mehr zu ihm.

Um diese zutiefst schmerzliche Erfahrung zu bewältigen, habe ich mich entschlossen, meine Lebensgeschichte aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Denn es gibt viele Betroffene, die einen solchen Kontaktabbruch von ihrem eigenen Kind ertragen müssen. Sie bleiben im Verborgenen und leiden unendlich.

Es ist mein Wunsch, dass meine Geschichte anderen Menschen in ähnlichen Situationen Trost und Verständnis bietet. Möge sie dazu beitragen, das Schweigen zu brechen und das Leid zu lindern. Denn niemand sollte allein mit diesem Schmerz sein. Wir sind nicht allein, auch wenn es manchmal so scheint.

Elisabeth Charlotte

Mein erstes Leben

1949- 1970

Meine Eltern stammten aus der Ostzone und lernten sich 1947 in einem Tanzlokal kennen. Mein Vater war siebzehn Jahre alt und kam aus der Gefangenschaft. Meine Mutter, ein Jahr älter, absolvierte ihr hauswirtschaftliches Pflichtjahr, so wie es damals üblich war. Zwei Jahre später, im Juli 1948, heirateten sie.   Beide benötigten die Genehmigung ihrer Eltern, da man damals erst mit einundzwanzig Jahren volljährig war. Sie waren beide jung, verliebt und lebenshungrig und genossen das Leben nach Kriegsende in vollen Zügen. Anfangs wohnten meine Eltern gemeinsam, mit der gerade geschiedenen Mutter meines Vaters, in einer kleinen Wohnung in der sowjetischen Besatzungszone im Bezirk Friedrichshain. Wie man sich vorstellen kann, vertrugen sich Margarete und ihre Schwiegermutter, zwei charakterlich sehr unterschiedliche Frauen, überhaupt nicht. Immer wieder kam es zu Spannungen wegen Kleinigkeiten. Doch ein eigener Wohnraum war nicht so leicht zu bekommen. Ein Jahr nach der Hochzeit meiner Eltern wurde ich im März 1949 im elterlichen Schlafzimmer in der Boxhagener Straße geboren.

Damals war es selten, im Krankenhaus zu entbinden, die meisten Geburten fanden zu Hause statt. Meine Oma war auch bei meiner Geburt dabei. Sie erzählte mir Jahre später, dass sie während des Geburtsvorgangs den Eindruck hatte, dass ich nicht auf diese Welt kommen wollte. Heute weiß ich auch, warum. Nach meiner Geburt war den jungen Eltern bewusst, dass sie sich dringend nach eigenem Wohnraum umsehen mussten. Sie fanden ihn schließlich auch ein paar Straßen weiter in der Rigaer Straße. Damals war diese Straße eine ruhige Straße mit vielen kleinen »Tante-Emma-Läden« und einigen gemütlichen Kneipen. Die Wohnung war nicht groß. Sie bestand aus Wohnzimmer und Küche. Die Toilette war eine halbe Treppe tiefer.  Doch sie hatten endlich ihre eigene Welt.Im selben Jahr wurde übrigens auch auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik gegründet.

Drei Jahre später, im Oktober 1952, kam mein Bruder Gerhard zur Welt. Er kam einen Monat zu früh und auch er war eine Hausgeburt. Im Gegensatz zu meiner Geburt waren meine Eltern auf die Ankunft ihres zweiten Kindes so gar nicht vorbereitet. Es gab nichts für das Baby.

Die Hebamme wickelte das Neugeborene notdürftig in ein Handtuch und meine Großmutter wurde nun mit der Beschaffung des Nötigsten für das kleine Wesen beauftragt. Wie ich viel später erfahren habe, war mein Bruder kein Wunschkind. Meine Mutter hatte in den ersten Monaten einige abenteuerliche Versuche unternommen, die Schwangerschaft zu unterbrechen. Wir haben nie von ihr erfahren, warum sie dieses Kind nicht wollte. Meine Oma verbreitete allerdings hartnäckig, dass dieses Kind nicht von ihrem Sohn stammen könnte. Woher sie es wusste, oder es nur eine Vermutung war, blieb ihr Geheimnis. Allerdings war der Stachel bei meinem Vater jetzt für immer gesetzt. Es gelang ihm nie, eine normale Vater-Sohn-Beziehung mit dem Jungen aufzubauen. Von Geburt an war der Kleine in seiner Entwicklung zurückgeblieben und blieb ein Sorgenkind.

Die Ehe meiner Eltern verlief bald nicht mehr so harmonisch, obwohl sie sich noch sehr liebten. Mein Vater war Busfahrer, weshalb meine Mutter oft allein unterwegs gewesen ist. Die Wohnung war für vier Personen nicht ausreichend groß. Oft kam es zu heftigen, lauten Streitereien, die mit Handgreiflichkeiten verbunden waren. Nicht nur wir Kinder bekamen alles mit, auch die Nachbarn waren informiert. In solchen besonderen Situationen

erhielten wir emotionale Hilfe von einem älteren Ehepaar, das eine Etage über uns wohnte. Sie stammten aus Ostpreußen und waren kinderlos.

Mein Bruder und ich nannten sie liebevoll Tante und Opa. Wir empfanden eine aufrichtige Liebe zu den beiden, da sie uns wie eigene Enkelkinder verwöhnten. Durch das Spielen mit uns, das Ausstatten mit Kleidung und gemeinsame Ausflüge schenkten sie uns besondere Aufmerksamkeit. Wir durften sogar bei ihnen übernachten, wenn unsere Eltern feierten oder stritten. In ihrer Gesellschaft fanden wir das Gefühl von Geborgenheit, das uns zu Hause fehlte. An die Großeltern mütterlicherseits kann ich mich nicht erinnern. Der strenge Großvater war bereits vor meiner Geburt verstorben, und die Großmutter verstarb, als ich zwei Jahre alt war. Meine Mutter erzählte mir, dass ich sie sehr geliebt haben soll und sie stets als »Omileinchen« bezeichnete. Leider habe ich keinerlei Erinnerungen an sie, was ich zutiefst bedauere. Zum Großvater väterlicherseits hatte ich nur oberflächlichen oder besser gesagt gar keinen Kontakt. Dies lag vermutlich daran, dass die Großeltern geschieden waren und jeglichen gegenseitigen Kontakt vermieden. An schöne familiäre Momente oder besondere Höhepunkte während meiner frühen Kindheit kann ich mich nicht erinnern. Ich war ein ruhiges und introvertiertes Mädchen. Wo man mich auch hinstellte, spielte ich in meiner eigenen Welt. Spielzeug war nur wenig vorhanden, deshalb verweilte ich besonders gerne auf unserem Hof in einer blumengeschmückten Ecke unter den Wohnzimmerfenstern einer freundlichen Familie. Hier tauchte ich in eine andere Welt ein, sang laut und mit Leidenschaft meine Lieblingslieder. Die Nachbarn waren wohl ziemlich genervt. Doch man mochte mich und ließ mich gewähren. Bis auf mein zu lautes Singen war ich ruhig und unauffällig. Meine Eltern waren in der Nachbarschaft, bei Freunden und Bekannten sehr beliebt. Es sprach sich schnell herum, dass ihre Partys immer lustig und ausgelassen waren und dort jede Menge an Alkohol floss.

Im September 1955 begann mein Schulleben mit dem ersten Schultag. Meine Schultüte war mit einer prächtigen Schleife verziert und weil sie groß war, wurde sie bis zur Mitte mit Zeitungspapier gefüllt. Nur der obere Teil, der durchsichtig war, ließ einige Süßigkeiten und Schulutensilien erkennen. Zu unserer Klassenlehrerin, die uns von der 1. bis zur 4. Klasse begleitete, hatte ich von Anfang an eine ganz besondere Bindung. Ich verehrte sie, fühlte mich in ihrer Gegenwart wohl und hatte das Gefühl, dass sie mich etwas mehr mochte als die anderen Kinder. Dies mag gewiss Einbildung gewesen sein, aber es gab meinem kindlichen Selbstbewusstsein einen enormen Schub. Das Lernen fiel mir unter ihrer Anleitung leicht und nur auf ihre Anregung hin trat ich dem Schulchor bei. Ob das für den Chor vorteilhaft war, kann ich heute nicht mehr sagen, aber ich tat alles, was sie vorschlug, ohne zu zögern. Schnell wurden wir Erstklässler in die Jungpionier-Organisation aufgenommen und trugen stolz das blaue Halstuch, das Zeichen der Jungpioniere. Obwohl die Pionierorganisation heutzutage oft kritisiert wird, leistete sie viel für ihre jungen Mitglieder. An den Pionier-Nachmittagen wurde gebastelt, gewerkelt und Theater gespielt. Es wurden Ausflüge und Exkursionen organisiert, die kostenfrei waren oder gelegentlich einen geringen Beitrag erforderten. Während der Schulferien hatten Kinder die Möglichkeit, für zwei Wochen in Ferienlagern zu entspannen, fernab von Schule und Eltern. Dadurch war gewährleistet, dass die Kinder nach dem Unterricht beschäftigt waren, beaufsichtigt wurden und soziale Fähigkeiten erlernten. Für Schüler wie mich, die nach Schulschluss aufgrund berufstätiger Eltern nicht nach Hause konnten, gab es einen Hort. Dort wurden gemeinsam Mahlzeiten eingenommen, Hausaufgaben unter Aufsicht erledigt und natürlich gespielt. Obwohl für das Wohl der Schüler gesorgt wurde, fühlte ich mich in diesen Gruppen nicht besonders wohl.

Ich war unauffällig, schüchtern und erschien für mein Alter viel zu ernst. Meine Freunde bestanden hauptsächlich aus den Nachbarskindern aus den umliegenden Häusern sowie einigen Schulkameraden. Mein engster Freund wurde Jürgen vom Haus gegenüber. Wir waren im gleichen Alter, verstanden uns bestens, verbrachten viel Zeit miteinander und teilten unsere kleinen Geheimnisse. Beide liebten wir Tiere und kümmerten uns um Hunde, die in engen Käfigen bei einem nahegelegenen Tierhandel gehalten wurden, bis sie verkauft wurden. Wir führten sie spazieren, spielten mit ihnen und brachten sie zum Ladenschluss wieder zurück. Oft besuchten wir den freien Platz an der Ecke, wo früher einmal ein Haus stand. Dort fanden regelmäßig Jahrmärkte mit vielen Karussells oder manchmal auch Zirkusleben statt. Stundenlang verbrachten wir dort, lauschten der Musik, beobachteten das bunte Treiben und träumten vor uns hin. Diese Welt übte eine faszinierende Anziehungskraft auf mich aus. Allerdings hatten wir beide praktisch nie genügend Geld für die Karussells. Wie die meisten Kinder spielte auch ich hauptsächlich auf der Straße, eine damals übliche Beschäftigung. Zu dieser Zeit gab es keine Spielekonsolen, Erlebnishöfe, Spaßbäder oder Abenteuerlandschaften, geschweige denn Handys. Die Straße und die noch vorhandenen Ruinen boten uns Abenteuer genug. Spielzeug hatten nur wenige Kinder. Unsere Treffpunkte als Kinderclique waren größtenteils die Hausflure und die Ruinen. Dort bauten wir mit den Steinen, die herumlagen, kleine Wohnungen mit Küche und Wohnzimmer und tauchten so in unsere eigene kleine Welt ein. Unser meistgespieltes Spiel war »Vater, Mutter, Kind«, bei dem jedes Mal neu entschieden wurde, wer die Rollen von Mutter, Vater oder Kind übernehmen durfte. In der Nähe, drei Häuser weiter, befand sich ein echter kleiner landwirtschaftlicher Betrieb, etwas versteckt im zweiten Hinterhof. Dort gab es einen Stall mit Pferden, Hunden, Hühnern und Katzen. Besonders die Pferde zogen mich magisch an. Ich war dort gerne, durfte die Pferde füttern, den Stall freiwillig und voller Freude ausmisten und mit den anderen Kindern im Stroh herumtoben. Es war ein kleines Paradies für mich, und dort fühlte ich mich absolut wohl.

Unsere Eltern waren berufstätig und verdienten ihr Geld. Dennoch reichte es offensichtlich nicht bis zum nächsten Zahltag. Der Monat war immer viel zu schnell herum und so ließ man kurzerhand zum Monatsende beim Händler anschreiben. Das war Usus, viele Menschen, bei denen das Geld schneller verbraucht war als der Monat zu Ende, machten das damals so. Es war also nichts Außergewöhnliches, sofern man die aufgelaufenen Schulden dann auch wieder beglich. Gerade das aber gelang meinen Eltern nicht immer, es häuften sich schnell größere Summen an. Erst beim Lebensmittelladen unten im Haus, dann beim Gemüsehändler gegenüber, mitunter auch mal beim Nachbarn.

Mein Vater war ein charmanter, lustiger und gut erzogener junger Mann. Schnell fiel ihm auf, dass es neben meiner Mutter auch andere attraktive Frauen gab. Diese Frauen fanden auch Gefallen an ihm und umwarben ihn. Er war ein attraktiver Mann und so begann er mit der einen und auch der anderen Frau eine Affäre. Damals nannte man solche kleinen Romanzen noch »Techtelmechtel«.

Die Anwesenheit der Damen blieb meiner Mutter natürlich nicht verborgen, insbesondere wenn einige von ihnen unangemeldet bei uns vorbeikamen und den »Bruder« meiner Mutter sprechen wollten. Das führte zu häufigen Auseinandersetzungen und hitzigen Diskussionen, die nicht nur verbal ausgetragen wurden. Gelegentlich flogen Kochtöpfe mit dem Mittagessen durch die Küche, Geschirr wurde an die Wand geworfen oder aus dem Fenster geschleudert. Es schien wichtig zu sein, dass alle Hausmitbewohner mitbekamen, was vor sich ging. Die beiden Erwachsenen gerieten tatsächlich in heftige körperliche Auseinandersetzungen, ohne Rücksicht auf uns Kinder. Ein besonders erschütternder Moment war für mich, als meine Mutter nach einem solchen Streit wimmernd auf dem Boden lag, während mein Vater ohne Gnade auf sie eintrat, kalt über sie hinwegstieg und dann die Wohnung verließ.

Die Erinnerung an dieses Ereignis begleitet mich bis heute. Nachdem sich die Gemüter etwas beruhigt hatten, fand, wie konnte es anders sein, die Versöhnung auf lebhafte und laute Weise im Schlafzimmer statt.

Eines Tages war die Last der Schulden, die Streitigkeiten mit meiner Mutter und die Bindung zu verschiedenen Damen für meinen Vater zu viel geworden. Über Nacht verließ er uns ohne Vorwarnung in Richtung Westdeutschland. Unsere Mutter blieb zurück, mit uns Kindern, den Schulden und einem knappen Brief. Seine einzigen Worte waren: »Ich werde im Westen nach Arbeit suchen und dann Geld für euren Unterhalt schicken«. Diese Ausreise machte ihn nach den geltenden DDR-Gesetzen strafbar und in der DDR galt er jetzt als Republikflüchtling. In unregelmäßigen Abständen erhielten wir etwas Westgeld, was jedes Mal ein besonderes Ereignis war. Durch den Umtausch in Ostmark hatten wir meist das Dreifache oder sogar Vierfache zur Verfügung. Es reichte für das Nötigste an Kleidung und manchmal auch für kleine Genüsse. Leider flossen diese Gelder unregelmäßig und konnten die wachsenden Schulden meiner Mutter nicht decken. Sie litt sehr unter der Trennung, war emotional labil und hatte Schwierigkeiten im Umgang mit Geld. Wenn Geld da war, wurde großzügig gelebt, bei Geldknappheit wurden wieder Schulden gemacht. Sie zögerte nicht, bei Nachbarn, Freunden, Bekannten und sogar bei meiner Klassenlehrerin um finanzielle Hilfe zu bitten. In diesen Momenten schämte ich mich zutiefst und sehnte mich danach, unsichtbar zu sein.

1959 – 1969

Nach längerer Zeit als Alleinerziehende entschied sich meine Mutter dazu, ihre Stelle als Stenotypistin zu kündigen und eine gut bezahlte Position, als Chefsekretärin in einer Baufirma anzunehmen. Dort begann sie bald eine Beziehung mit ihrem Vorgesetzten. Als junge, attraktive, lebensfrohe und offene Frau war es verständlich, dass sie sich nach Nähe und Liebe sehnte. Alles hätte vermutlich in Ordnung sein können, wenn ihr Chef nicht schon verheiratet und Vater von zwei Kindern gewesen wäre. Schließlich erwartete meine Mutter eines Tages ein Kind von ihm.

Leider hatten sich ihre Schulden, offenkundig die Mietschulden, inzwischen auf ein untragbares Maß angehäuft, und die Wohnungsverwaltung kündigte ihr die Wohnung.

In der DDR wurde nun aber niemand einfach auf die Straße gesetzt, besonders nicht, wenn Kinder betroffen waren. So wurden wir lediglich »zwangsgeräumt«, wie es etwas freundlicher ausgedrückt wurde, in eine andere Wohnung, die schwer vermietbar war. Die Miete beläuft sich jetzt nur noch auf einundzwanzig Ostmark. Die Wohnung liegt in der Warschauer Straße, in der Nähe der S- und U-Bahn-Stationen und in der Nähe der Oberbaumbrücke, die die Grenze zum Westberliner Bezirk Kreuzberg bildet. Zu dieser Zeit war es möglich, mit der U-Bahn in den Westteil von Berlin zu fahren, sofern man die polizeilichen Kontrollen überstand.

Mit diesem erzwungenen Umzug sollten sich indessen viele Dinge ändern. Wie bereits erwähnt, stellte sich die neue Unterkunft als schwer oder sogar unmöglich vermietbar heraus. Sie war feucht, renovierungsbedürftig, dunkel und bestand erneut nur aus einem Zimmer und einer Küche. Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss, direkt über einem Kellereingang. Auch die Toilette befand sich wieder außerhalb und musste erneut mit den Nachbarn geteilt werden. Es gab zwei Höfe, wobei sich im hinteren Hof riesige Gesteinsbrocken befanden, die von Unkraut überwuchert waren. Eine große Mauer umgab das Gelände und ein tiefer Schacht in der Mitte des Hofes, wahrscheinlich ein alter Bunker, war speziell für meinen Bruder von großem Interesse. Bisher lebten wir zwar in sehr bescheidenen, aber doch einigermaßen geordneten Verhältnissen.

Das sollte jetzt vorbei sein.

In dem dunklen Zimmer befand sich ein massiver, antiker Kleiderschrank, randvoll mit alter Kleidung. Dieser Schrank musste einiges aushalten, da er oft von meinem Bruder und mir als Versteck während unserer Spiele genutzt wurde. Abends wurde die Klappcouch für meinen Bruder als Schlafplatz hergerichtet. Zusätzlich gab es eine kleine Anrichte, einen instabilen Couchtisch und die alten Ehebetten, die bereits in der Rigaer Straße existierten, in denen meine Mutter und ich schliefen. Zu Beginn hatten wir auch ein Radio, das wir von unseren Ziehgroßeltern geschenkt bekommen hatten. Ich erinnere mich gerne daran, wie ich regelmäßig und mit großer Leidenschaft am Montagabend die „Schlager der Woche“ und am Sonntagvormittag Rätselsendungen mit Hans Rosenthal oder die „Insulaner“ gehört habe. Doch eines Tages verschwand das Radio plötzlich. Möglicherweise wurde es von meiner Mutter bei der Pfandleihe verpfändet und nicht wieder ausgelöst. Die Küche war einfach ausgestattet, mit einem antiken Küchenschrank, der einst meiner Großmutter gehörte, einem Küchentisch und zwei Stühlen. In einer Ecke stand ein Kohleherd, auf dem ein zweiflammiger Gaskocher platziert war. Luxusartikel waren uns fremd. Zum Zeitpunkt des Umzugs befand sich meine Mutter im sechsten Monat schwanger, mein Bruder war sieben Jahre alt und ging bislang nicht zur Schule, während ich zehn Jahre alt war. Der Umzug setzte meinem Bruder und mir stark zu. Wir wurden plötzlich von unserem Freundeskreis getrennt, ich musste mich von meiner geliebten Lehrerin am Ende des vierten Schuljahres verabschieden und in eine andere Schule in der Nähe unseres neuen Wohnorts wechseln. Dort gelang es mir nie richtig anzukommen und ich blieb stets am Rande, eine Außenseiterin. Eine sehr schmerzliche Erfahrung für uns war die Trennung von unseren geliebten Ziehgroßeltern. Trotz dieser Trennung besuchten wir sie natürlich weiter so oft wie möglich.

Es war leider so, dass meine Mutter während ihrer Schwangerschaft ziemlich häufig Alkohol konsumierte, meist in Form von Obstwein, stark rauchte und regelmäßig eine Vielzahl verschiedener Tabletten einnahm.

Am Morgen nahm sie Tabletten zum Wachwerden, abends zum Einschlafen und zwischendurch gegen Schmerzen oder zur Beruhigung – ein verantwortungsloser Umgang in ihrem Zustand. Ich bin überzeugt, dass dies einer der Gründe war, warum meine Schwester ganze zwei Monate zu früh, viel zu klein und unreif geboren wurde. Ursprünglich sollte sie den Namen Martina tragen, jedoch vergaß meine Mutter diesen Namen, weshalb sie letztlich Regina genannt wurde. Bei dieser Geburt wurde meine Mutter im Krankenhaus entbunden, verließ es jedoch bereits einen Tag nach der Geburt eigenmächtig. Obwohl wir bei unseren Ziehgroßeltern gut aufgehoben waren, war unsere Mutter unruhig und wollte nicht länger in der Klinik bleiben. Der eigentliche Grund lag wohl darin, dass sie dort keinen Alkohol konsumieren und nicht rauchen durfte.

Das Mädchen war winzig, wog nur 1500 Gramm und musste daher für weitere zwei Monate auf der Säuglingsstation im Inkubator bleiben. Wir besuchten das Baby täglich, um die Muttermilch abzugeben, die meine Mutter zuvor abgepumpt hatte. Ich war sehr traurig, denn ich hatte mich so sehr auf mein Geschwisterchen gefreut. Meine Vorfreude galt unserer Püppi, wie sie später von allen genannt wurde. Schon jetzt konnte ich es kaum erwarten, sie in meinen Armen zu halten. Stolz spazierte ich schon mal vorab mit dem hübsch zurechtgemachten, aber noch leeren Kinderwagen durch die Straßen, um mich auf ihre Ankunft vorzubereiten. Ich habe trotz meiner großen Vorfreude auf mein neues Geschwisterchen, Mühe gehabt, eine enge Bindung zu meinem Bruder aufzubauen. Es erschien mir seltsam, aber wir blieben stets distanziert zueinander. Die Liebe, die ich als Zehnjährige empfand, übertrug ich nun auf dieses winzige Wesen. Ich kümmerte mich liebevoll um sie, fühlte mich verantwortlich und umsorgte sie. Meine Mutter war darüber erfreut und sah mich fortan als „Vizemutti“ an.

Auch mein Vater war inzwischen aktiv geworden, was die neue Familiengründung anbelangte. Er lernte in Westdeutschland eine andere Frau kennen und wurde im November desselben Jahres noch einmal Vater eines Sohnes. Somit hatte ich neben meiner Halbschwester auch noch einen Halbbruder, der an einem unbekannten Ort in Westdeutschland lebte. Die Ehe meiner Eltern, die schon seit Langem nur noch formell bestand, wurde in diesem Jahr endgültig geschieden, und mein Vater wurde zu monatlichen Unterhaltszahlungen von je sechzig DM für uns Kinder verpflichtet. Im Jahr 1960 heiratete er zum zweiten Mal und lebte fortan mit seiner Frau, seinem Sohn und einem älteren Adoptivsohn in der Umgebung von Köln. Als mein Vater damals ging, war ich erst acht Jahre alt. Acht Jahre lang waren wir eine Familie, aber trotzdem kann ich mich nicht erinnern, eine besondere Verbindung zu meinem Vater in diesen frühen Jahren gehabt zu haben. Was mir bis heute besonders präsent geblieben ist, sind die vielen Streitigkeiten zwischen meinen Eltern. Als Kind, mit acht Jahren konnte ich natürlich nicht verstehen, warum er uns verließ, jedoch spürten wir alle bald schmerzhaft die Auswirkungen seiner Abwesenheit.

Meine Mutter hielt die Beziehung zu ihrem Vorgesetzten weiter aufrecht. Im Gegensatz zu ihr aber mochte ich ihn gar nicht, gab ihm instinktiv die Schuld an den zunehmenden Veränderungen meiner Mutter. Sicher spielte auch kindliche Eifersucht dabei eine Rolle, denn sie verbrachte sehr viel Zeit mit ihm, Zeit, in der sie uns allein ließ, spät in der Nacht und meist angetrunken zurückkam. Wenn sie mit ihm nachts unterwegs war, kam ich nie in den Schlaf. Ich lauschte angestrengt auf jedes Geräusch und wünschte inbrünstig, sie käme nicht wieder betrunken nach Hause. Dann war die Nacht nämlich für mich erst einmal vorbei.

Sie bewegte sich rumpelnd und taumelnd im Zimmer und unabhängig von der späten Stunde verlangte sie von mir, wieder aufzustehen. Ich musste ihr dann Zigaretten oder Alkohol aus der Kneipe besorgen, die sich äußerst praktisch gleich im Vorderhaus befand. Oft benötigte sie auch dringend verschiedene Arten von Tabletten, die ich aus der Nachtapotheke besorgen musste. Mein Verweigern oder Einwand half nichts. Sie gab erst Ruhe, wenn ich alles beschafft hatte. Ich hatte keinerlei Wahl und deshalb fürchtete und verabscheute ich diese Situation. Die Situation wurde noch unangenehmer, wenn sie nicht nur betrunken war, sondern auch noch diesen Joachim nachts mitbrachte. Da das Zimmer in einem unordentlichen Zustand war, wurde kein Licht eingeschaltet. Alles spielte sich im Dunkeln ab, ohne Rücksicht auf uns Kinder. Ich lag dicht neben den beiden im Ehebett und wurde ungewollt Zeuge ihres intimen Geschehens. Die ungewohnten Geräusche und Stöhnen waren befremdlich und unangenehm. Um dem zu entkommen, hielt ich mir das Kissen über den Kopf und steckte mir die Finger in die Ohren. Das Ganze erzeugte Angst und Übelkeit in mir, da ich nicht verstand, was vor sich ging. Manchmal schrie ich sie einfach in das Dunkel hinein an, sie mögen aufhören, endlich ruhig sein, stillliegen. Doch das war sinnlos, sie nahmen mich gar nicht wahr. Am frühen Morgen war dann der Spuk endlich vorbei. Joachim hatte sich leise aus der Wohnung geschlichen.

Als Kind empfand ich, wie alle Kinder, Liebe für meine Mutter, obwohl sie nicht dem typischen Bild einer fürsorglichen Mutter entsprach. Sie war einfach anders, aber sie war meine Mutter, und ich kannte sie nur so. Es war nicht einfach für sie, allein mit uns drei Kindern zu sein, ohne Partner. Als ich etwa vierzehn Jahre alt war, änderte sich meine Einstellung und meine Gefühle ihr gegenüber. Ordnung und Sauberkeit bereiteten ihr immer Schwierigkeiten. Sie hatte stets plausible Ausreden für die Vernachlässigung der Hausarbeit. Entweder war sie müde, verkatert oder hatte schlicht keine Lust. Die Konsequenzen blieben nicht aus. Die Wohnung befand sich schnell in einem katastrophalen Zustand. Ungewaschenes Geschirr türmte sich auf, angetrocknete Essensreste waren überall zu finden, und der Müll wurde einfach in eine Ecke geworfen. Die Gardinen waren vergilbt, die Fenster so schmutzig, dass man weder hineinsehen noch hinausschauen konnte. Staub bedeckte die Möbel mit einer dicken Schicht. Kleine Insekten fühlten sich bei uns offensichtlich wohl und vermehrten sich in Scharen. Die Bettwäsche war vergraut und abgenutzt, und wenn überhaupt vorhanden, wurde sie höchstens einmal im Jahr gewaschen. Meistens schliefen wir ohnehin nur im Inlett. Der Geruch in der Wohnung muss intensiv gewesen sein. Aus diesem Grund durften wir niemanden in die Wohnung lassen – keine Freunde, Nachbarn oder Verwandte. Alle wurden abgewiesen. Trotzdem bemühte ich mich als Elfjährige nach besten Kräften, das Chaos zu beseitigen, was mir allerdings nicht wirklich gelang.

Meine Schwester befand sich damals in einem Säuglings-Wochenheim. Jeden Montag brachte ich sie dorthin, am Freitag nach der Schule holte ich sie wieder ab. Es bereitete mir große Schmerzen und ich vermisste sie während der Woche sehr. Sie fühlte sich dort nicht wohl und wurde regelmäßig krank. Die Erzieherin kontaktierte meine Mutter daher häufig auf der Arbeit, um sie zu bitten, das Mädchen abzuholen. Dann war es meine Aufgabe, dies zu erledigen.Aufgrund des knappen Einkommens meiner Mutter nahm sie mich mit einer Entschuldigung für die Zeit der Krankenpflege für einige Tage aus der Schule.