Für mich soll es Neurosen regnen - Peter Wittkamp - E-Book

Für mich soll es Neurosen regnen E-Book

Peter Wittkamp

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Beschreibung

Was tun, wenn einen der Zwang im Griff hat?

Peter Wittkamp schrieb bereits Gags für Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf und ist seit Jahren Hauptautor der »heute show online«. Außerdem verhalf er den Berliner Verkehrsbetrieben mit der Kampagne #weilwirdichlieben zu einem ganz neuen Image. Doch er leidet seit mehr als 20 Jahren unter Zwangsstörungen. Und zwar deutlich heftiger, als »noch kurz mal schauen, ob der Herd wirklich aus ist«. Neben den wissenschaftlichen Fakten, die in einem solchen Buch nicht fehlen dürfen, gerät sein Buch über den Umgang mit dieser oft übersehenen Krankheit bisweilen sehr humorvoll, ohne das Thema der Lächerlichkeit preiszugeben.

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Zum Buch

Peter Wittkamp ist ein lustiger Mensch. Er schrieb bereits Gags für Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf und ist seit Jahren Hauptautor der »heute show online«. Außerdem verhalf er den Berliner Verkehrsbetrieben mit der Kampagne #weilwirdichlieben zu einem ganz neuen Image. Doch es gibt etwas, das nur sehr wenige Menschen über ihn wissen: Er leidet seit mehr als 20 Jahren unter Zwangsstörungen. Und zwar deutlich heftiger, als »noch kurz mal schauen, ob der Herd wirklich aus ist«. Und da er selbst nun mal nicht ganz unwitzig ist, gerät das neben den wissenschaftlichen Fakten, die in einem solchen Buch nicht fehlen dürfen, bisweilen sehr humorvoll, ohne das Thema der Lächerlichkeit preiszugeben.

Zum Autor

PETER WITTKAMP, Jahrgang 1981, ist erster Autor und Gagschreiber der »heute show online«. Außerdem ist er der Texter und Ideengeber der mehrfach preisgekrönten Kampagne #weilwirdichlieben der Berliner Verkehrsgesellschaft. Ab und an schreibt er auch ein Buch oder eine Kolumne in der Business Punk. Daneben berät er Unternehmen und Agenturen, wenn sie etwas Kreatives, Humorvolles oder Digitales machen möchten. Oder alles zusammen. Er twittert regelmäßig als @diktator und lebt mit seiner Familie in Berlin.

Peter Wittkamp

Für mich soll es Neurosen regnen

Mein Leben mit Zwangsstörungen

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Das Lesen dieses Buchs ersetzt jedoch keinesfalls den Besuch bei einem Arzt oder Therapeuten. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Originalausgabe Oktober 2019

Copyright © 2019 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23931-2V004

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für mich soll es Neurosen regnen,

mir sollten sämtliche Wunder begegnen, die Welt sollte sich umgestalten und ihre Sorgen für sich behalten.

– frei nach Hildegard Knef

Die erste Regel des Zwangsstörungs-Clubs:

Es muss eine zweite Regel geben,

damit es keine ungerade Zahl von Regeln gibt.

– Unbekannt

Inhalt

Vorwort

Mein erster Zwang

Wildwuchs im Neurosengarten

Begleiten Sie mich ein Stück

Das Loch

Komik ist Tragik in Spiegelschrift

Was ist eigentlich eine Neurose?

Und was sind Zwänge?

Übertrieben und sinnlos, oder: Was ist eine Zwangsstörung?

Denken oder handeln?

Häufig gestellte Fragen

Der schmale Grat, oder: Wann wird eine Macke zum Zwang?

Das Leben der anderen

Mein erster Zwang, Reloaded

Spiel auf Zeit

Mangelhaft

Die Luft ist raus

Klimawandel

Von nun an ging’s bergab

Zehn Dinge, die ich in der Psychiatrie erlebt habe – Nummer sieben wird Sie überraschen!

Was hilft gegen die Zwänge?

Einfach sein lassen

Zehn persönliche Tipps

Windeln wechseln

Ich war noch niemals in New York

Dank

Literaturhinweise

Informationen

Erfahrungsberichte

Vorwort

Niemand braucht ein Vorwort, oder? So was ist doch nicht mehr als der unnötige Teil eines Buches, in dem erklärt wird, was im Rest des Buches passieren wird. Oder zumindest, warum man den Rest lesen sollte. Ich habe nie verstanden, wozu das genau gut sein soll. Außer, das Buch ist sehr schlecht, dann ist das Vorwort so eine Art Puffer, bevor es so richtig schlimm wird. Wie das Wartezimmer bei einem Zahnarzt. Wenn das Buch hingegen gut ist, will man doch eigentlich sofort loslegen!

Ein weiterer Hinweis auf die Überflüssigkeit eines Vorworts: So etwas gibt es bei anderen Kulturgütern gar nicht erst! Filme zum Beispiel verzichten auf ein Vorwort. Die funktionieren auch ohne ein einleitendes:

»Guten Tag und willkommen bei Jurassic Park. In den folgenden 123 Minuten wird es viel um menschliche Fehlentscheidungen, kaputte Zäune und Dinosaurier gehen. Vor allem der T-Rex, genauer sein doch recht scharfes Gebiss, wird Gegenstand unserer Betrachtungen sein. Ein kleiner Tipp noch, bevor es gleich wirklich losgeht: Gewöhnen Sie sich nicht zu sehr an die im Film auftauchenden Darsteller. Wie gesagt, das recht scharfe Gebiss des T-Rex …«

Doch mein Lektor, dem wir auf den folgenden Seiten immer mal wieder begegnen werden, besteht auf ein Vorwort. Der Vogel! Wobei ich seinen Beruf auch noch nicht so ganz verstanden habe. Denn ein Lektor ist jemand, den ein Verlag für gutes Schreiben bezahlt, weil die Leute, die der Verlag eigentlich für gutes Schreiben bezahlt, manchmal nicht gut genug schreiben. Na, dann soll er das Buch halt direkt selbst schreiben. Das will er aber auch nicht. Zu wenig Neurosen, sagt er. Also gut. Dann schreibe ich das Buch eben, und auf seinen ausdrücklichen Wunsch nun auch endlich ein Vorwort. Hier kommt es:

Guten Tag! Mein Name ist Peter Wittkamp, ich bin Autor, Werber und Gagschreiber. Ich habe bereits Scherze für das Fernsehen, für das Internet, für die Berliner Verkehrsbetriebe und für eine sehr bekannte Politikerin mit Doppelnamen geschrieben (nein, nicht die, eine andere). Ich bin Ende dreißig, trinke ab und an zu viel Alkohol, mache zu wenig Sport, liebe Musik und leide – hier bitte aufpassen, das wird später noch mal wichtig – seit über 20 Jahren an einer Zwangsstörung.

Das kennen Sie aus Serien und Filmen und von Bekannten, die ihren Herd zwanzig Mal kontrollieren müssen. Aber ich muss sie enttäuschen: Ich bin nicht so wie die Menschen in den Filmen. Ich zähle wenig, kann nahezu alles ohne Probleme berühren, darf jede Fuge auf dem Gehweg so betreten, wie ich es mag, und ich wasche mir nicht übertrieben häufig die Hände. Nun ja, um ehrlich zu sein: Ich wasche mir mittlerweile nicht mehr übertrieben häufig die Hände. Gleich im ersten Kapitel (geht bald los, versprochen!) erfahren Sie, wie ich das geschafft habe. Die Sache mit dem Herd hingegen mache ich tatsächlich. Und noch so einiges mehr. Sehr viel mehr. Der Satz, der am wenigsten zu mir passt, ist »Tu dir keinen Zwang an«. Also der und »Ich war heute Morgen um halb sieben schon zehn Kilometer Laufen«.

Aber zurück zur Zwangsstörung: Eine Zwangsstörung ist ungefähr wie (hier bräuchte ich einen guten Vergleich … ah, ich hab was …) ein T-Rex! Wenn man nicht aufpasst, hat sie dich schnell zwischen ihren Zähnen und lässt dich nie wieder los. Dafür ist sie immerhin ganz gut therapierbar, was man von einem T-Rex nicht gerade behaupten kann. »Lassen Sie uns heute mal über ihr Aggressionsproblem sprechen, Herr Rex! Ich vermute, es liegt an den Komplexen wegen Ihrer kurzen Ärmchen.«

Ich schreibe in diesem Buch darüber, welche Komplexe und Zwänge mich plagen, was Zwänge überhaupt sind, was der Unterschied zwischen harmlosen Macken und ernsthaften Zwängen ist, und darüber, wie ich versuche, mich immer und immer wieder aus ihren scharfen Zähnen zu befreien.

Mitunter versuche ich, obwohl es eine sehr ernste Krankheit ist, ein wenig humorvoll darüber zu berichten. Glück im Unglück: Meine Zwänge sind sehr stark, aber nie so stark, dass ich nicht über sie lachen möchte. Wenn Sie das nicht mögen oder es Ihnen unpassend erscheint, ist dieses Buch nicht das ideale Buch für Sie. Das ist nicht schlimm, ich bin Ihnen nicht böse. Es gibt viele andere gute Bücher. Und die haben sicher alle ein besseres Vorwort als dieses.

Wenn Sie selbst von der Krankheit betroffen sein sollten und dazu neigen, Zwänge von anderen zu übernehmen, müssen Sie sich ebenfalls überlegen, ob Sie jetzt weiterlesen wollen. Es wird viele Beispiele geben.

Und wenn Sie denken: Jurassic Park habe ich schon lang nicht mehr gesehen. Hätte ich eigentlich mehr Lust drauf, als über einen leicht dicklichen, eher unwitzigen Werbefuzzi mit seltsamen psychischen Störungen zu lesen. Nur zu. Ist auf Netflix verfügbar.

Wenn Sie allerdings jetzt noch immer dabei sind: Sehr schön! Ich freu mich. Wir legen gleich los. Machen Sie sich also bereit. Stellen Sie Ihre Tasse Tee mit dem Henkel genau parallel zur Tischkante ab und schauen Sie bitte noch mal schnell nach, ob der Wasserkocher auch wirklich ganz, ganz sicher aus ist. Wir haben das Vorwort überstanden. Das Buch beginnt genau jetzt.

Ich wünsche Ihnen ein ungezwungenes Lesevergnügen!

Mein erster Zwang

Das klingt fast schön. So wie »Mein erstes Pony«, »Mein erster Computer« oder »Mein erstes Auto«. Ein Zwang ist aber leider nichts sonderlich Schönes. Wobei der Vergleich mit dem ersten Auto gar nicht so verkehrt ist: Denn genau wie die Rostlaube – für nur 800 Tacken, aus vierter Hand, nur noch 10 Monate TÜV – macht so ein Zwang vor allem eines: ständig Ärger.

Mein erster richtiger Zwang war ein Waschzwang. Ein solcher Waschzwang nimmt bei vielen Betroffenen ein ganz ähnliches Schema an und verläuft folgendermaßen: Der Zwangskranke hat Angst, sich selbst oder andere mit Bakterien, Viren oder Ähnlichem anzustecken oder gar Schlimmeres. Praktischerweise schlägt der Zwang direkt eine passende Gegenmaßnahme vor: Waschen und Desinfizieren. Möglichst oft.

Ich muss zugeben: Ganz schön unkreativ »gewählt« von meinem neurotischen Kopf. Denn ein Waschzwang ist für Zwangskranke so etwas wie ein Rückenleiden für Möbelpacker: Ziemlich verbreitet. Gehört quasi zum Beruf. Und ebenso, wie sich ein Rückenleiden bei Menschen, die viel schleppen, leicht erklären lässt, ist auch der Waschzwang einer der Zwänge, der für Außenstehende noch einigermaßen nachvollziehbar ist.

Denn sehr viele ganz »normale« Menschen haben Angst vor Keimen und Ähnlichem und waschen sich lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Der Unterschied zu Personen mit einem Waschzwang ist: Bei Letzteren nimmt das Waschen enorme Ausmaße an. Häufig sind vor allem die Hände und Arme betroffen. Und so war es auch bei mir.

Ich war vielleicht 16 oder 17 Jahre alt und begann aus irgendeinem Grund, die Angst zu entwickeln, ich könnte mich selbst oder jemand anderen mit irgendetwas anstecken, wenn ich mir nicht oft genug die Hände wasche. Was das denn konkret sein könnte, war mir damals wie heute nicht so ganz klar, aber dem Zwang war das relativ egal. Da draußen gibt es sicher Hunderte oder Tausende gefährlicher Viren und Bakterien – wird schon was Passendes dabei sein …

Ich erinnere mich noch gut daran, dass es besonders schlimm war, wenn ich mit Blut in Kontakt kam. Denn obwohl ich aus dem Biounterricht wusste, dass der HI-Virus gar nicht so einfach übertragen wird, schwang die Angst vor AIDS mit.

Was ist, wenn an meinen Händen ein bisschen Blut von jemandem mit HIV ist? Und ich jemand anderen anfasse, der eine kleine Wunde an der Hand hat? Und dann stecke ich den an … und so weiter. Kram, den Zwangskranke gerne denken. Die Angst vor HIV und AIDS war damals, wie ich später lernte, bei Zwangskranken sehr verbreitet. Sie ist es heute noch – aber vor zwanzig Jahren war die Immunkrankheit noch deutlich mysteriöser, weniger erforscht und auch schlechter zu behandeln. Ich war mit meiner Furcht also nicht alleine, vielen anderen Menschen ging es ganz ähnlich wie mir – nur wusste ich das leider nicht. Ich war ein wenig isoliert. Ich lebte auf dem Dorf, im Internet stand noch nicht so viel drin wie heute, und außerdem begriff ich gar nicht so richtig, dass ich nicht gesund war. Selbst wenn, mit wem sollte ich darüber reden?

Zu dieser Zeit entwickelte ich auch eine Abneigung gegen Münzen aller Art. Groschen, 50-Pfennig-, Markstücke – wer weiß, in wessen Händen die schon überall gewesen waren und welche schrecklichen Keime und Krankheiten auf ihnen lauerten?

Aber ich hatte ja bereits die Lösung für meine Ängste: Händewaschen. Und nach dem Händewaschen lieber noch mal Händewaschen, falls sie beim ersten Mal nicht richtig sauber wurden. Das große Misstrauen gegen sich selbst, das ganz bezeichnend für viele Zwangskranke ist, hat sich schon damals gezeigt. Also lieber noch ein drittes Mal die Hände waschen, dieses Mal mit noch etwas mehr Seife, nur zur Sicherheit, falls bei den ersten beiden Waschgängen doch irgendetwas schiefgelaufen ist und die Hände nicht komplett gereinigt wurden. Hinfort mit den bösen Keimen, Viren und Bakterien. Hinfort!

Menschen, die unter einem Waschzwang leiden, wissen, dass sich solche Handlungen nicht nur zwei oder drei Mal wiederholen können, sondern auch zehn Mal oder sogar dreißig Mal. In manchen Fällen ist der Waschzwang auch verknüpft mit einem Zählzwang oder anderen Ritualen, was die Aufgabe noch komplizierter macht. Diese lautet dann zum Beispiel so: Die Hände müssen absolut sauber werden, und zusätzlich darf die Zahl der Waschgänge auf keinen Fall ungerade sein. Sonst ist es »nicht richtig«. Im Extremfall steht der Zwangskranke dann einen halben Vormittag lang am Waschbecken.

Bei mir war es damals glücklicherweise nicht so extrem. Aber extrem genug, dass sich körperliche Folgen einstellten. Denn wenn Hände sehr oft mit Seife in Kontakt kommen, werden sie rau und rissig – da kann auch die beste Handcreme nicht mehr helfen. Besonders schlimm wurde es, wenn es draußen kalt war, oder bei starker Belastung der Hände. Ich hatte damals häufig Volleyball gespielt und musste ansehen, wie die Haut meiner durch das viele Waschen trocken gewordenen Hände regelmäßig einriss und immer wieder ein wenig Blut zum Vorschein kam, wenn ich einen Ball annahm. Da es beim Volleyball leider von großem Interesse ist, den Ball häufig anzunehmen, zeigten sich schnell zarte rote Risse auf meinen Händen. Zum Glück konnte ich die feinen Blutspuren unauffällig abwischen, so dass niemand der Mitspieler etwas davon mitbekam. Denn wenn man an einem Zwang leidet, möchte man ihn meist möglichst gut verstecken. Weil man ja selbst am besten weiß, dass man sich sehr irrational verhält. Das ist der Kern jeder Zwangserkrankung. Der Zwangskranke weiß, dass er etwas übertrieben macht, doch er kann sich nicht dagegen wehren.

Also Verstecken. Das gelang mir ganz gut. Niemand bekam so richtig etwas mit. Vielleicht ab und an ein überraschtes »Wäschst du schon wieder die Hände?«, sonst nichts. Das lag auch daran, dass mein damaliger Waschzwang verhältnismäßig schwach ausgeprägt war. Verhältnismäßig bedeutet: Für eine normale Person habe ich meine Hände wirklich deutlich zu oft gewaschen (wenn ich schätzen müsste, bis zu vierzig Mal am Tag). Jemand, der unter einem sehr starken Waschzwang leidet, wird darüber aber nur lachen können.

Bei mir war es meist so, dass ich vor allem dann unbedingt die Hände waschen musste, wenn ich mit etwas »Unreinem« in Kontakt kam. Urin, Fäkalien, Blut. Klingt also erst mal nachvollziehbar und nicht sonderlich verrückt: Bei Kontakt mit Urin Hände waschen. Keine komplett abwegige Idee. Möchte man ab und an auch mal gerne einigen Kollegen auf der Herrentoilette hinterherrufen.

Aber ich habe natürlich weitergedacht – ähnlich wie bei den Münzen. Was ist mit den Gegenständen, die mit Urin, Fäkalien oder Blut Kontakt gehabt haben könnten!? Sie merken: Der Zwangskranke liebt den Konjunktiv! Hätte, hätte, Neurosenkette. Der Hahn des Waschbeckens. Das Handtuch. Die Klinke an der Badezimmertür. Alles wurde zur potenziellen Gefahr. Was ist, wenn der, der mir gerade die Hand gegeben hat, eben jemandem die Hand gegeben hat, der davor eine Klinke angefasst hat, die jemand angefasst hat, der gefährliche Viren an der Hand hatte. Also auch dann lieber noch mal die Hände waschen. Und genau an dieser Stelle wird es dann gefährlich. Oder krankhaft. Aber eben ganz typisch für einen Zwang.

Fünf Mal am Tag Hände waschen ist sicher sinnvoll, bei fünfzig Mal wird es schon ein bisschen schwieriger. Immerhin wäre ich damals sofort bereit gewesen, wenn ich spontan eine Notoperation hätte leiten müssen: Ich war durch das viele Händewaschen nahezu keimfrei. Lassen sie mich durch, ich bin zwar kein Arzt, aber ich habe seeeehr saubere Hände.

Mein erster Zwang verschwand dann nach einiger Zeit wieder. An den genauen Grund dafür kann ich mich nach so vielen Jahren nicht mehr erinnern, aber ich vermute sehr stark, es hing damit zusammen, dass ich mich nicht habe unterkriegen lassen. Dass der Zwang, auch wenn er ganz ohne Zweifel einen starken Einfluss hatte, mein Leben nicht vollständig bestimmen konnte. Typisch für einen fortgeschrittenen Zwangskranken wäre es gewesen, einfach nicht mehr zum Volleyball zu gehen und am besten alle Kontakte mit Menschen oder Münzen zu vermeiden, um so die Auswirkungen des Zwangs zu verstecken und keine neuen Keim-Risiken einzugehen.

Aber ich war jung, voller Energie und wollte mich ganz einfach nicht verstecken. Ich wollte verstehen, viel sehen, erfahren, bewahren.

Ich habe Dorffeste auf Wiesen besucht, auf denen es keine Waschbecken gab. Ich habe betrunken auch mal drei Stunden lang vergessen, mir die Hände zu waschen. Ich habe weiterhin Münzen berührt, weil ich mir eben etwas kaufen wollte. Und ich habe mit blutigen Händen weiter Volleyball gespielt. Die Lust auf Abenteuer und Abwechslung war größer als der Zwang.

Damals wusste ich noch nicht, dass ich an einer Zwangserkrankung litt, und ich wusste natürlich noch viel weniger, wie man sie hätte therapieren können. Doch ich habe ganz intuitiv das absolut Richtige gemacht: mich nicht einschränken lassen und weiterhin am Leben teilgenommen. Ich habe mich unangenehmen Situationen gestellt, in denen ich mir nicht so oft, wie ich vielleicht gewollt hätte, die Hände waschen konnte. Erst sehr viel später lernte ich, dass Experten dazu »Konfrontationstherapie« sagen.

So hat mein Kopf langsam wieder gelernt, dass überhaupt nichts passiert, wenn ich für ein paar Stunden auf meine übertriebenen Reinigungen verzichte. Dass ich niemanden anstecke. Dass die Welt nicht untergeht. Und so wusch ich mir wieder deutlich seltener die Hände, bis ich dann später, vielleicht mit 18 Jahren, wieder ein relativ normales Maß erreichte.

So was mag so ein Zwang übrigens überhaupt nicht. Er möchte wie ein nordkoreanischer Diktator regieren. Und er will, dass seine kranken Regeln eingehalten werden – jede Rebellion gegen seine Diktatur ist ihm ein Dorn im Auge.

Zwanzig Jahre später erscheint mir die Episode mit dem aufkommenden und wieder verschwindenden Waschzwang ein wenig wie der Beginn eines Horrorfilms:

Etwas Verstörendes taucht kurz auf der Leinwand auf und irritiert die Protagonisten. Aber sie vergessen es dann wieder und denken sich nichts dabei. Doch der Zuschauer weiß schon: Das kommt garantiert wieder. Und zwar schlimmer. So war es auch mit meinen Zwängen.

Wenn man es weniger dramatisch ausdrücken möchte: Ich fahre bis heute mit der Rostlaube Zwang in der Gegend herum. Und ständig ist irgendwas kaputt.

Wildwuchs im Neurosengarten

Machen wir einen großen Sprung und schauen, wie es heute, gut zwei Jahrzehnte später, bei mir aussieht.

Der Zwang – oder vielmehr: die Zwänge kamen mit der Zeit tatsächlich wieder. Nicht sofort und unmittelbar, eher schleichend. Blöd nur: Sie wurden in den letzten 20 Jahren immer stärker. Was für mich vor allem bedeutete, dass sich ihr Einflussgebiet vergrößerte. Vom Händewaschen auf nahezu alle Bereiche meines Lebens. Kaum etwas in meinem Alltag ist heute zwanglos – außer ab und an der Dresscode auf einer Einladung. Im Gegenteil: Die Zwänge schränken mich zum Teil ziemlich stark ein und sind sehr belastend geworden. Jeder neue Tag ist für mich ein neuer Kampf gegen sie geworden.

Tja, was soll ich sagen. Insgesamt könnte man diese Entwicklung so zusammenfassen: doof gelaufen. Würde mich mein Lektor in diesem Buch Smileys verwenden lassen, würde ich jetzt den Traurigen mit dem tränenden Auge einfügen.

Und doch: In allem Schlechten steckt meist auch etwas Gutes. Und für dieses Buch ist meine Entwicklung ja gar nicht so unvorteilhaft. Denn wenn ich nur diesen einen Waschzwang in meiner Jugend gehabt hätte, was für ein ödes Leseerlebnis wäre das hier bitte geworden?

»Guten Tag, mein Name ist Peter Wittkamp, ich hatte früher mal einen Zwang, den habe ich aber erfolgreich bekämpft, bis er verschwand, und nun ist alle wieder gut. Danke, dass Sie mein Buch gelesen und vor allem bezahlt haben. Schönen Tag noch.«

***

Nein. Es lief anders. Ganz anders.

Sven Regener, der Sänger der Band Element of Crime, singt in dem Song »Straßenbahn des Todes« die Zeilen

»Wo die Neurosen wuchern/

Will ich Landschaftsgärtner sein.«

Allerdings meint er diese Zeile, wenn ich sie richtig deute, in einem positiven Sinn – als eine Ode an die liebenswerten Spleens, die wir alle haben. »Wuchernde Neurosen« sind ihm etwas Begehrenswertes, Schönes, Romantisches. Fast kann man sich bildlich vorstellen, wie die Neurosen dekorativ eine leicht verwitterte rote Backsteinwand hinaufranken und im Frühling in den schönsten Farben blühen.

So idyllisch wie in diesem Lied lief es bei mir leider nicht. Zwar wucherten in den letzten zwanzig Jahren auch bei mir die Neurosen. Nur war das nichts Begehrenswertes, Schönes oder Romantisches, sondern etwas Destruktives, Einengendes und Furchtbares. Denn die Neurosen wuchsen bei mir so stark, dass es für andere Pflanzen in meinem Garten langsam eng wurde. Sie waren keineswegs dekorativ, sondern einfach nur Unkraut, das den Nährboden für andere Gewächse raubte.

Ich benötigte also ebenfalls einen Landschaftsgärtner. Nur nicht den romantisierenden Sven Regener – sondern einen mit einer dicken Machete, der sich mit mir durch das Dickicht kämpft und das Unkraut beseitigt. Klar, wir sprechen über einen Therapeuten. Den ich – viel zu spät, aber immerhin – vor einigen Jahren dann auch endlich aufsuchte.

Wie es von einem »simplen« Waschzwang zu einem Garten voller Neurosen kam, davon möchte ich in diesem Buch berichten. Und natürlich davon, wie mein Landschaftsgärtner und ich versuchen, Ordnung in das Dickicht zu bringen. Oder welche Mittel helfen können, damit sich erst gar keine Neurosen im Garten heimisch fühlen.

Aber an dieser Stelle möchte ich vor allem schildern, woran ich aktuell leide. Damit Sie gleich zu Beginn einen kleinen Einblick in mein Leben bekommen. Oder wie man in einem Meeting so unschön sagen würde: Damit wir alle auf dem gleichen Standsind!

***

Es gibt ein paar wenige Zwangskranke, die nur an einem einzigen Zwang leiden. Das ist dann meist ein großes Thema, das ihr Leben dominiert und stark einschränkt. Ich hingegen leide an sehr vielen Zwängen ganz unterschiedlicher Art. Wenn man es positiv formulieren würde, könnte man sagen, der Zwang ist bei mir eine Lebenseinstellung. So wie bei anderen Menschen radikaler Tierschutz oder eine politische Agenda.

Meine Zwänge sind etwas, das ich nicht nur wie ein Hobby – abends von halb sieben bis acht – ausübe, sie begleiten mich den ganzen Tag. So, wie ein Leistungssportler nicht aufhört, ein Leistungssportler zu sein, nur weil er gerade nicht trainiert oder sich im Wettkampf abmüht. Im Gegenteil, der Leistungssport definiert meist auch einen großen Teil der übrigen Zeit. Wie er sich ernährt, wie er sich mental stärkt, wann er schlafen gehen muss, mit wem er sich trifft, wann er Urlaub machen kann, wie er sein Geld verdient, vielleicht sogar die Partnerwahl.

Ähnlich ist es bei mir und vielen anderen Zwangskranken: Das Leiden hat uns mehr oder weniger im Griff und beeinflusst sehr viele Aspekte unseres Lebens. Bei nahezu allem, was ich mache, überlegt sich mein Zwang, wie er mich dabei am besten stören könnte. Wie er das, was ich gerade mache, unter seine Fittiche bekommen könnte. Er will alles beeinflussen. Manchmal träume ich sogar von meinen Zwängen.

Der Zwang ist sozusagen zu meinem Lifestyle geworden. Das Wort gefällt mir sehr gut, obwohl es eigentlich in mehrfacher Hinsicht unpassend ist. Einen Lifestyle sucht man sich normalerweise aus – ich nicht. Zudem ist ein Lifestyle meist etwas, das einem gut gefällt. Auch nicht der Fall. Trotzdem beschreibt das Wort sehr treffend, wie umfassend sich der Zwang in meinem Alltag ausbreitet. Ich bin mir sicher, dass es andere mit dieser Krankheit ähnlich empfinden. Vielleicht entwerfe ich für uns irgendwann mal eine T-Shirt-Kollektion mit dem Spruch »My Lifestyle is OCD«.

Das ist übrigens die Abkürzung der englischsprachigen Bezeichnung von Zwangskrankheit. Nicht zu verwechseln mit OCB – das sind Blättchen für selbstgedrehte Zigaretten. OCD steht für Obsessive-compulsive disorder, also frei übersetzt »Besessen-zwanghafte Funktionsstörung«. Da ist OCD doch ein bisschen griffiger.

Ich werde den Begriff übrigens ab sofort häufiger verwenden, einfach, damit hier nicht so oft das Wort »Zwang« hintereinander steht. Das liest sich nicht so schön und es juckt meinen Lektor in den Fingern, wenn er das Wort Zwang zu häufig liest (wobei mir der Gedanke gut gefällt, dass es sein Zwang sein könnte, das Wort »Zwang« möglichst oft zu streichen). Abgesehen davon klingt »I have OCD« deutlich besser als »Ich leide unter einer Zwangsstörung«. Englisch ist halt einfach immer ein bisschen cooler – selbst bei psychischen Störungen.

But now butter to the fishes: zurück zu meinen Zwängen. Es gibt Hunderte, vielleicht sogar Tausende verschiedener Arten, an OCD zu leiden. Meist unterscheiden sich diese Tausenden Arten noch einmal in Hunderttausende, ganz persönliche Ausprägungen bei den Menschen, die darunter leiden. Zwänge sind sich zwar oft sehr ähnlich, aber doch ist jeder individuell. So wie Schneeflocken. Es gibt allerdings eine Art Klassensystem: ein paar wenige Kategorien, in die sich fast alle Arten von Zwängen unterordnen lassen. Wir werden diese Kategorien später in diesem Buch noch genauer kennenlernen. »Reinigungs- und Waschzwänge« sind zum Beispiel eine dieser Überkategorien. Mein Waschzwang wäre hier gut aufgehoben, aber zum Beispiel auch der Zwang, die Küche oder das Bad absolut keimfrei zu halten.

Diejenigen Zwänge, unter denen ich heute am meisten leide, fallen jedoch unter zwei andere Hauptkategorien: Es handelt sich um »Kontrollzwänge« und »magisches Denken«. Kontrollzwänge zählen eher zu den Zwangshandlungen, während magisches Denken – wie der Name schon andeutet – zu den Zwangsgedanken zählt. Keine Sorge, den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Zwängen werden wir uns später ebenfalls noch genauer anschauen. Etwas vereinfacht könnte man aber sagen: Zwangshandlungen führt man aus, Zwangsgedanken spielen sich eher im Kopf ab.

Jetzt habe ich an dieser Stelle ganz schön viele Kategorien eingeführt. Zur Sicherheit hier noch einmal ganz verständlich: Zwangserkrankungen lassen sich in Zwangshandlungen und Zwangsgedanken unterteilen. Innerhalb dieser beiden gibt es ein paar Schubladen, in die sich die meisten Zwänge einordnen lassen.

Nehmen wir uns den Kontrollzwang vor. Ein solcher Zwang hat nichts damit zu tun, dass man andere Menschen kontrollieren möchte wie ein Puppenspieler seine Figur oder ein Stalker sein Opfer. Er dreht sich in den meisten Fällen darum, dass man Angst davor hat, eine Katastrophe auszulösen oder zumindest nicht verhindern zu können, weil man etwas übersehen hat oder anderweitig nachlässig war. Aus diesem Grund kontrolliert man lieber noch mal schnell …

Prominentester Vertreter des Kontrollzwangs – ein richtiger Superstar unter den Zwängen – ist der Drang, immer und immer wieder nachzuschauen, ob der Herd auch wirklich aus ist. Kontrollzwänge sind eine ungeheuer weit verbreitete Art von OCD und zeigen sehr viele Ausprägungen. Ihnen gemeinsam ist die Angst, nicht richtig gehandelt zu haben, Sorge darum, die Kontrolle über etwas verlieren zu können – und damit verbunden die Zwangshandlung, immer und wieder eine bestimmte Sache zu überprüfen. Ist das Fenster zu? Ist der Herd aus? Habe ich das Auto abgesperrt? Tritt hier irgendwo Gas aus?

Die vermeintliche Katastrophe, vor der sich die Betroffenen fürchten, kann verschiedene Formen haben: zum Beispiel ein Brand, ein Todesfall, ein Unfall, eine Verletzung, eine Explosion, ein Einbruch, eine Vergiftung – aber auch bisweilen etwas weniger dramatische Formen wie eine Kündigung auf der Arbeit oder ein verpasster Termin. Dabei neigen wir Betroffenen oft dazu, immer die schlimmstmöglichen Folgen anzunehmen. Wir sind Zwangspessimisten. Der Wasserkocher, der versehentlich angelassen sein könnte, führt also ganz bestimmt und unbedingt zu einem Brand, der die komplette Wohnung vernichtet und außerdem noch mindestens vier Nachbarn durch die Rauchvergiftung mit in den Tod reißt. Wenn so etwas geschähe, würde sich der Zwangskranke doch bestimmt ein Leben lang schuldig fühlen und sicher nie wieder glücklich. Und da ist es doch nicht zu viel verlangt, noch mal ganz schnell zu schauen, ob der Wasserkocher wirklich, wirklich, wirklich aus ist. Zum achtzehnten Mal.

Meine Kontrollzwänge haben im Grunde genau dieses Muster. Nur dass ich vor einiger Zeit den Wasserkocher bei uns zu Hause abgeschafft habe und durch einen ganz altmodischen Teekessel ersetzt habe. So muss ich nur noch den Herd kontrollieren, wenn ich das Haus verlasse, und nicht mehr Herd UND Wasserkocher.

Auch bei mir geht es meist um die Angst, schuld zu sein, dass jemand tödlich oder zumindest schwer verunglückt, weil ich etwas unterlassen habe. Nur beschränkt sich dieser Zwang bei mir leider nicht bloß auf Gefahren im Haushalt, sondern hat sich nach und nach immer mehr ausgeweitet, so dass er die bizarrsten Formen annehmen kann.

Situationen, die anderen Menschen vollkommen harmlos und gewöhnlich erscheinen, sehe ich als Gefahren. Ich denke stets: Was wäre die schlimmstmögliche Folge?

Selbst eine einfache Tomate, die jemandem auf der Straße aus der Einkaufstasche gefallen ist, löst bei mir folgende Gedankenkette aus: Was ist, wenn jemand drauftritt? Was ist, wenn dann eine rutschige Fläche entsteht? Was ist, wenn dann jemand darauf ausrutscht? Was ist, wenn er sich dabei schwer verletzt oder sogar das Genick bricht?

Das ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht vollkommen unmöglich. Da ist es doch besser, die Tomate schnell aufzuheben und in den nächsten Mülleimer zu werfen. Dann gehe ich ein paar Meter weiter, sehe eine Bananenschale, und alles geht von vorne los. Ich wäre ein prima Straßenreiniger geworden.

Aber es ist mein voller Ernst: Ich muss mich überwinden, weiterzugehen, wenn ich Obst auf der Straße sehe. Gerade in Berlin kein seltener Anblick. Und wenn schon Früchte auf der Straße eine Bedrohung darstellen, sieht man noch ganz andere Gefahren. Zum Beispiel Flaschen, die in der Nähe von Autoreifen liegen. Ein Auto könnte drüberfahren, die Flasche zerbrechen, die Scherben in den Reifen eindringen, der Reifen bei schneller Fahrt platzen, das Auto verunglücken … Zack: große Katastrophe. Es ist mir zwar immer ein bisschen peinlich, diese Flaschen aufzuheben, weil ich damit vor Passanten ein bisschen wie ein Obdachloser wirke, der gerade acht Cent reicher geworden ist, aber die »drohende« Katastrophe zwingt mich dazu.

Ein weiteres Beispiel: Wenn es irgendwo nach Rauch riecht, kontrolliere ich, ob ein Feuer ausgebrochen ist und ich die Feuerwehr rufen müsste. So weit eigentlich normal und vernünftig. Das Problem ist, dass ich schon über tausendmal gedacht habe, es könnte hier doch ein kleines bisschen verbrannt riechen – und nie war es tatsächlich so.

Ich traue meiner Nase deshalb nicht mehr. Ich nehme Gerüche wahr, die es gar nicht gibt. Und alles nur wegen der Angst, ein Feuer aus Nachlässigkeit nicht bemerkt zu haben.

Ich kann die Probleme am Berliner Flughafen gut nachvollziehen. Würde man mich ein solches Gebäude bauen lassen, wäre ich auch erst mal jahrelang mit dem Brandschutz beschäftigt.

Ähnlich problematisch ist es bei mir übrigens auch, wenn es irgendwo nach Gas riecht. Oder anders ausgedrückt: nach Gas riechen könnte. Ich habe dann große Schwierigkeiten, mich von diesem Ort zu entfernen. In mir steigt der Drang, immer und immer wieder zu überprüfen, ob es hier nicht doch irgendwie komisch riecht. Oder jemandem Bescheid zu sagen, der an diesem Ort verantwortlich ist, um die Last und »Verantwortung« von meinen Schultern zu nehmen. Übrigens: Noch bis in die 1920er Jahre gab es tatsächlich den Beruf des Gasriechers. Menschen mit sehr sensiblen Nasen, die undichte Gasrohre erschnüffeln mussten, um Explosionen zu vermeiden. Das wäre vielleicht auch etwas für mich gewesen.

Aber es sind nicht nur Feuer, Gas oder glitschige Tomaten, die mir Sorgen bereiten. Ich sehe in allem immer die größtmögliche Gefahr. Wenn ich irgendwo offene Stromkabel sehe, würde ich am liebsten den Finger dranhalten, um zu prüfen, ob kein Strom drauf ist und sie niemandem gefährlich werden können.

Wenn ich eine fremde Wohnung betrete, untersuche ich sie zwanghaft nach möglichen Gefahrenquellen, vor denen ich die Bewohner warnen »muss«. Daher besuche ich Freunde und erst recht Fremde eher ungerne zu Hause.

Wenn ich von jemandem gebeten werde, im Urlaub die Blumen zu gießen, muss ich ablehnen. Das wirkt dann, als wäre ich kein bisschen hilfsbereit, dabei ist eigentlich das Gegenteil der Fall: Ich lehne ab, weil ich eben weiß, dass ich neben den fünf Minuten für die Blumen noch eine Stunde brauchen würde, um die Wohnung meiner Freunde ordentlich auf Gefahren zu überprüfen. Nur: Erklären kann ich das selten, weil ich sonst ja über meine Krankheit reden müsste. Auf Reisen meide ich übrigens Airbnb & Co. und wähle immer ein Hotelzimmer. Da ist alles standardisiert, nicht so chaotisch, meist professionell gewartet, es gibt Rauchmelder. Außerdem gibt es in Hotelzimmern erfreulich wenig Herdplatten. Wenn es nach mir ginge, sollten Hotels das bei der Zimmerausstattung mit bewerben: »TV, Badewanne, Zimmerservice, gratis WLAN, Minibar, kein Herd«.

Wenn ich sehe, dass auf dem Spielzeug meines kleinen Sohnes eine kaum sichtbare Folie angebracht ist, die Babys leicht in den Mund nehmen könnten, denke ich nicht: »Puh, noch mal Glück gehabt. Gut, dass ich das gesehen habe.«

Ich denke: »Was ist, wenn andere Eltern die Folie nicht erkennen. Soll ich den Hersteller anschreiben? Er sollte doch besser Warnhinweise auf das Spielzeug kleben!« Dann fange ich an zu googeln, wie viele Kinder im Jahr an Plastikfolienschnipseln ersticken, und brauche manchmal einen halben Tag, um den Gedanken an die Gefahren in anderen Kinderzimmern zu verdrängen.

Ich könnte an dieser Stelle noch Dutzende Absätze mit »Wenn ich …« bringen, aber mein Lektor meint, das sei für den Anfang genug. Sie würden schon verstehen, was gemeint ist. Außerdem hätten wir ja noch ein paar Seiten vor uns.

Zurück zum Kontrollzwang: Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ich mich häufig für Dinge verantwortlich fühle, die überhaupt nicht in meinem Verantwortungsbereich liegen. Ich übertreibe es mit der Vorsicht und dem Gedanken »Was wäre, wenn …«. Der Kontrollzwang lässt mich überreagieren und überängstlich sein. Das »Es könnte aber doch sein, dass …« nimmt überhand. Mein Kontrollzwang hat mich deshalb schon sehr viel gekostet. Mehrere Monate oder vielleicht sogar eher Jahre an Lebenszeit. Er hat mich auch in immens peinliche Situationen gebracht. Doch davon später mehr.

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Meine zweite große Zwangs-Baustelle neben den Kontrollzwängen ist das sogenannte »magische Denken«. Was ist das? Ganz einfach erklärt, ähnelt es dem, was passiert, wenn Leute drei Mal auf Holz klopfen: Sie haben einen »schlimmen« Gedanken geäußert (»Wenn der Opa mal sterben sollte …«), der ein unangenehmes oder komisches Gefühl zur Folge hat (»Was wäre, wenn das wirklich passiert, kurz nachdem ich es gesagt habe …«). Sie kennen das: Man klopft deshalb »zum Ausgleich« drei Mal auf Holz und hat den bösen Gedanken damit unschädlich gemacht.

Ein Fußballer, der nur dann ein gutes Gefühl beim Spiel hat, wenn er zuerst seinen linken Schuh anzieht, denkt ebenfalls »magisch«. Beide, der Holzklopfer und der Fußballer wissen, dass sie einfach nur ein wenig abergläubisch sind. Der »schlimme Gedanke« wird eintreten oder nicht eintreten, unabhängig davon, ob auf Holz geklopft wurde. Und der Fußballer hat schon hohe Niederlagen erlebt, obwohl er auch vor diesen Spielen den linken Schuh zuerst angezogen hat. Die Reihenfolge hat keinen nachweisbaren Einfluss auf die Partie. Trotzdem beruhigen beide Handlungen irgendwie – das Klopfen und das Schuhritual. Beides ist vollkommen harmlos, man könnte es jedoch als ganz leichte Form oder Vorstufe eines Zwangs beschreiben. Boris Becker berichtet in einem Interview mit Benjamin von Stuckrad-Barre1, dass er immer zuerst mit dem rechten Fuß auf den Rasen getreten ist. Im Jahr 1986 in Wimbledon hat es auf jeden Fall gewirkt. Aber wäre sein Ritual wirklich so mächtig gewesen, hätte er von da an jedes Turnier gewinnen müssen. Hat er aber nicht.

Es gibt wirklich kaum jemanden, der solche Formen von leichtem Aberglauben oder bestimmten Ritualen nicht kennt. Beliebt und sehr verbreitet sind auch kleine Wetten mit sich selbst. Zum Beispiel »Wenn die nächsten drei Ampeln grün bleiben, wird es ein guter Tag«. Es gibt sogar eine Website – spleen24.tumblr.com –, bei der man eine Zeit lang seine Marotten einsenden konnte. Es sind wirklich großartige Perlen dabei. Hier sind als Kostprobe drei dieser anonym veröffentlichten Spleens, die eng mit dem magischen Denken verwandt sind:

»Bevor ich den Wasserkocher benutze, muss ich immer eventuell noch vorhandenes Restwasser ausschütten. Wenn kein Restwasser im Kocher ist, fülle ich etwas Wasser rein und schütte es dann aus.«