Terra - Science Fiction 18: Im Land der ewigen Nacht - Ronald M. Hahn - E-Book

Terra - Science Fiction 18: Im Land der ewigen Nacht E-Book

Ronald M. Hahn

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Beschreibung

Tausend Jahre nach dem Ende der Welt beginnt Monjas Reise Als die junge Frodite Zeugin eines Attentats wird und in Notwehr den Drahtzieher tötet, bleibt ihr nur die Flucht – hinein in die Finstere Zone, ein Gebiet jenseits aller bekannten Naturgesetze. Dort, wo die Apokalypse ihre Spuren hinterlassen hat, lauern bizarre Mutationen, elysische Wesenheiten und Dimensionstore, die Menschen durch Raum und Zeit schleudern. Monja sucht Sicherheit. Was sie findet, ist eine Wahrheit, die den Verstand sprengt – und eine Macht, die nicht für Menschen gedacht ist.

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Seitenzahl: 219

Veröffentlichungsjahr: 2025

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In dieser Reihe bisher erschienen

3301 Dwight V. Swain Dunkles Schicksal

3302 Ronald M. Hahn Die Stadt am Ende der Welt

3303 Peter Dubina Die Wächter des Alls

3304 Walter Ernsting Der verzauberte Planet

3305 Walter Ernsting Begegnung im Weltraum

3306 Walter Ernsting Tempel der Götter

3307 Axel Kruse Tsinahpah

3308 Axel Kruse Mutter

3309 Axel Kruse Ein Junge, sein Hund und der Fluß

3310Ronald M. Hahn Die Herren der Zeit

3311 Peter Dubina Die letzte Fahrt der Krakatau

3312 Axel Kruse Knochen

3313 Ronald M. Hahn Projekt Replikant

3314 Axel Kruse HBAB

3315 Axel Kruse Seitwärts in die Zeit

3316 Axel Kruse ASTRONOMIC

3317 Axel Kruse Glühsterne

3318 Ronald M. Hahn Im Land der ewigen Nacht

3319 Axel Kruse Princess Majestrix

3320 Axel Kruse Neues aus Joaquins Bar

3321 Axel Kruse Kirkasant (Samuel Kors I)

3322 Axel Kruse Zeitreisen gehen anders …

IM LAND DER EWIGEN NACHT

TERRA - SCIENCE FICTION

BUCH 18

RONALD M. HAHN

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

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Copyright © 2025 Blitz Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Andreas-Hofer-Straße 44 • 6020 Innsbruck - Österreich

Redaktion: Danny Winter

Titelbild: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney

Vignette: Ralph Kretschmann

Satz: Gero Reimer

Alle Rechte vorbehalten.

3318 vom 04.10.2025

ISBN: 978-3-68984-610-7

INHALT

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

Ronald M. Hahn

1.

Im Licht des Silbermondes war das Pfahldorf am Rhoyn nur schemenhaft zu erkennen.

Ein lauwarmer Wind wehte. Monja, die vom Wasser her kam, summte „Gleich geht die Sonne auf“, vor sich hin und bog in eine der Gassen ein, die zwischen den Hütten verliefen. Sie hatte den Tag, wie üblich, bei den Gören auf dem rostigen Wrack vergammelt, das den Fluss für größere Schiffe an dieser Stelle des Flusses unpassierbar machte. Was sie am Tag davor getrieben hatte, wusste sie nicht mehr. Ihr war, als hätte ihr Leben gerade erst begonnen.

Ihr Magen knurrte. Sie musste sich etwas suchen, das ihr den Abend versüßte.

Für das von Grünzeug überwucherte Land, das das Dorf umgab, hatte sie keinen Blick übrig. Irgendwie glaubte sie, wie die anderen Gören auf dem Wrack zur Welt gekommen zu sein. Früher war es wohl ein funktionsfähiges Schiff gewesen. An die Havarie erinnerte sie sich nicht, in ihrem Kopf war alles dunkel. Jedenfalls war es auf Grund gelaufen. Das Pfahldorf, nun ihre Heimstatt, war ihr noch immer fremd. Die Einheimischen sprachen einen Dialekt, den sie aber ganz gut meisterte. Sprache war ihr Element.

Monja kannte sich im Dorf und der Umgebung gut aus. Deswegen achtete sie darauf, keinem Schergen in die Arme zu laufen. Schergen hüteten die Ordnung. Aber sie waren auch rotzfrech und gemein. Sie nahmen sich Dinge raus, die normalen Menschen verboten waren. Aber dass es Schergen gab, war eigentlich ganz gut: Hin und wieder rastete ja jemand aus. Dann zogen die Schergen ihm eins über den Schädel und ließen ihn ein paar Tage im Karzer schmoren.

Monja wusste, dass Gören, die ausrasteten, oft eine Kau-Z genannte Substanz eingenommen hatten. Leute, die gern im Dunkeln blieben, tauschten Kau-Z gegen andere Leistungen ein.

Im Dorf am Rhoyn herrschte Ordnung. Es war eine andere Welt: Auf dem Wrack, dem bevorzugten Quartier der Gören, brodelte das Leben. Monja hörte ihnen oft beim Schwafeln zu: Jene, die auf dem Schiff geboren waren und denen das Leben im Dorf zu langweilig war, bedauerten schon mal, dass sie nach der Havarie nicht mit ihren Eltern weitergezogen waren. Sie sahen sich als Gestrandete. Ihre Eltern waren längst über alle Berge. Irgendjemand hatte ihnen damals verkündet, es gäbe hinter den grünen Hügeln ein Land, in dem Milch und Honig flossen.

Monja kannte keinen Honig. Sie wusste aber, wie Milch schmeckte. Bei dem Gedanken daran spürte sie, wie durstig sie war.

Vor ihr bewegte sich ein Schatten. Sie verharrte, hielt die Luft an und huschte zwischen zwei Hütten in eine Nische. Ihr sechster Sinn tastete die Umgebung ab. Da war jemand unterwegs, der Böses im Schilde führte.

Monja duckte sich. Durch ein offenes Fenster hörte sie jemanden schnarchen.

Auch wenn sie nichts verbrochen hatte: Manche Schergen führten sich auf wie der Abschaum der vom Urwald überwucherten Ruinenstadt Kolonya, von der ihr der Jäger Jamal erzählt hatte. Jamal hatte sie auch gefragt, ob sie seine Geliebte werden und an seiner Seite die Welt bereisen wolle. Monja hatte abgelehnt, da sie damals erst zehn Jahre alt gewesen war und sich vorgenommen hatte, die Welt allein zu erkunden.

Ihr Ziel war ein zweistöckiges Gebäude aus Holz, ein sogenanntes Herrenhaus aus der Zeit vor der Apokalypse. Monja wusste zwar nicht, was die Apokalypse gewesen war, aber es musste eine grässliche Zeit gewesen sein, in der die Natur verrückt gespielt und unerklärliche Phänomene Menschen einfach verschluckt hatten. Ihr gefiel der solide Kasten mit dem Balkon über dem Eingang. Hinter den Fenstern des Hauses brannten Kerzen.

Das Herrenhaus wurde von Frauen und Froditen bewohnt. Die Männer des Pfahldorfes besuchten sie gern, um keinen Koller zu kriegen.

Das Leben war hart.

„Pass auf, du ...“ Ein Schlag traf Monjas Hinterkopf. Ehe sie begriff, wer sie beim Abbiegen angerempelt hatte, lag sie der Länge nach im Dreck.

Karmesinrote Zorneswolken blendeten sie und machten sie handlungsunfähig. Erst als der Mann vorbeigegangen war, sah sie seinen Rücken und seine Schulterklappen: Drei Sterne. Ein Schergen-Keptin. Groß, rothaarig, lockiges Haar. Er ging zum Herrenhaus und klopfte an.

Monja lag auf dem Gassenboden. Sie schnappte nach Luft. Die Tür des Herrenhauses ging auf. Lillebror lugte ins Dunkel hinaus, erkannte den Besucher und verbeugte sich.

„Platz da, Kretäng.“ Der Keptin schubste Lillebror zur Seite, trat ein und warf die Tür hinter sich zu.

Monja brauchte eine Minute, bis ihr Herz wieder normal schlug. Ihre heiße Wut wich einer kalten. Zu ihrer Überraschung empfand sie zum ersten Mal im Leben Mordlust.

Was bildete dieser Kerl sich ein? Für wen hielt er sich, wenn er durch die Gassen stolzierte und sie beiseite schubste wie eine Laus? Er war doch nicht der Hetman. War das Dorf sein Privatbesitz?

Monja stand fauchend auf. Sie machte einen Schritt nach vorn und trat gegen eine Flasche, die vor ihr am Boden lag. Das Mondlicht zeigte ihr, dass sie etwas enthielt. Monja hob sie auf. Die Flasche war verkorkt. Sie enthielt etwas Weißes. Ein Stofffetzen? Wie eigenartig. Monja entkorkte und schüttelte die Flasche, bis sie den Fetzen ausspuckte. Es war kein Stoff. Es war Papier. Und es war beschriftet. Obwohl sie gar nicht lesen konnte, verstand sie die Beschriftung sofort: „Du bist Asta von Bismarck, und dies ist das größte Abenteuer deines Lebens.“

Eine Minute später pochte sie an die Tür, durch die der Schergen-Keptin gegangen war.

Lillebror öffnete. Er war, wie viele andere Menschen – und Monja – eine Mutation. Im Gegensatz zu anderen, die es übel getroffen hatte, war er aber nur sehr klein – etwa einen halben Meter groß.

Monja kniete sich hin, um ihm die Würde zu geben, die ihm gebührte.

„Was willst du?“ Lillebror war ein Produkt vieler Rassen, doch die meisten seiner Ahnen mussten weiß gewesen sein: Jemand vom Schiff hatte ihn am Ufer rumlaufen sehen und als Maskottchen mitgenommen.

„Lass mich rein.“ Monja deutete zähneknirschend auf die hinter dem kleinen Mann nach oben führende Treppe. „Hier ist gerade jemand reingegangen, dem ich die Fresse polieren muss ...“

„Oh!“ Lillebror kicherte. Im Nu war die Tür auf. Monja schlüpfte hinein. Sie folgte Lillebror in sein Büro, einen kleinen Raum rechts hinter der Tür.

„Was hast du vor?“ Lillebrors braune Augen blitzten.

„Ist Neola da?“

Nicken. „Im Salon.“

„Ist ihre Kammer offen?“

„Gewiss!“ Lillebror begutachtete Monja geradezu bewundernd. Er mochte große Menschen; er wäre sicher selbst gern einer gewesen.

„Sag ihr, ich bin dort, aber so, dass es niemand hört.“ Sie nickte Lillebror zu, eilte hinauf und begab sich in Neolas Kammer. Neola war eine dralle Frodite mit roten Locken. Sie war fünf Jahre älter als Monja und hatte sich ihrer angenommen. Ihre Lebensgeschichte war auch nicht ohne.

Monja nahm ein Bad. Als Neola eintrat, stand sie nackt im Zuber.

„Huh, eine nackte Frodite!“

„Hallo ...“ Sie umarmten und küssten sich. Dann stieg Monja aus dem Zuber und trocknete sich ab.

„Was willst du?“, fragte Neola.

Monja erklärte es ihr.

„Bist du wahnsinnig?“ Neolas dunkle Augen sprühten Funken. Sie war dunkelhäutig und attraktiv. „Haram ist ein Keptin! Leute wie er bestimmen über Leben und Tod. Wenn du dich gegen ihn auflehnst ... Er sticht dich ab. Er hat schon mehr als einen abgestochen.“

„Weiß der Hetman davon?“

„Bist du verrückt? Natürlich nicht. Wer sollte es ihm denn sagen? Ich jedenfalls nicht. Dazu ist mir mein Leben zu viel wert.“ Neola seufzte. „Man weiß ja nicht mal, ob er jemandem wie uns glauben würde. Wir sind hier doch nur geduldet.“ Sie lachte. „Um den Koller abzuwenden!“

„Ich lasse mich nicht treten“, sagte Monja. „Und damit er lernt, wie man sich fühlt, wenn man getreten wird, werde ich es ihm zeigen. Ich brauche ein Gewand, damit ich nicht auffalle.“

Das Gewand, das Neola ihr reichte, war eigentlich nur ein Lendenschurz. Und so fadenscheinig, dass man fast alles sah.

„Du bist wahnsinnig.“ Neola schüttelte den Kopf. „Aber du weißt sicher, was du tust.“

Monja nickte dankbar. „Krieg raus, wo er ist, ja? Und markiere die Tür für mich.“

„Gut.“ Neola zwinkerte ihr zu. „Es ist schließlich dein Hals.“ Sie ging zur Tür, drehte sich aber noch mal um. „Falls wir uns nicht mehr sehen sollten: Ich hab dich immer gemocht. Wäre ich als richtiger Mann auf die Welt gekommen, hätte ich dir vielleicht den Hof gemacht.“

„Danke.“ Welch ungewohntes Wort kam da über ihre Lippen?

„Noch was“, sagte Neola. „Was ist, wenn sie dich in meinem Zeug erwischen?“

„Dann bin ich natürlich hier eingebrochen und hab es gestohlen.“

„Gut.“ Neola ging. Monja zog sich um. Wäre sie in dem Aufzug, in dem sie sich vor dem Spiegel drehte, draußen umherstolziert, hätten die Schergen sie in den Karzer gesteckt.

Monja zählt bis fünfhundert. Dann ging sie hinaus. Die Dielenbretter knarrten. Doch dies war in einem Holzhaus, in dem es ständig knarrte, gänzlich unverdächtig.

Neola hatte die Tür am Ende des Ganges mit einem dünnen Kreidestrich markiert. Der Korridor, den sich ihre Kammer mit elf anderen teilte, wurde notdürftig von Ölfunzeln erhellt.

Es wäre für Monja kein Problem gewesen, die Tür mit dem Fuß aufzustoßen und in den Raum hineinzustürmen, in dem der Keptin seinem Vergnügen nachging: Hier gab es keine verschlossenen Türen.

Monja drückte ein Ohr an die Tür und stellte sich vor, was Haram in der Kammer trieb. Ihr sechster Sinn zeigte ihr, dass er – von einer Funzel an der Decke gedämpft beleuchtet – auf einem Bett saß: in einem Arm einen Boi, im anderen ein Görl. Natürlich. Ein Mensch wie er musste einfach pervers sein! Und während er noch überlegte, wem er seine Gunst zuerst schenken sollte, würde Monja die Tür auftreten und ...

„... diese Sau noch heute kalt machen“, hörte sie eine Männerstimme sagen.

„... nicht einfach, an Kaya ranzukommen, solange seine Leibschrate ihn ständig im Blickfeld haben“, sagte ein anderer Mann.

Und ein dritter: „Die schalten wir nach Möglichkeit vorher aus.“

Monja stutzte. In ihrem Kopf wirbelten viele Gedanken umher. Auf diese Situation war sie nicht gefasst gewesen: Drei Männer ... die sich gegen jemanden verschworen, von dem sie wusste, dass er der Hetman war ... Kaya ... Drei Männer ... die sich hier trafen, um sich zu einem Komplott zu verabreden ...

„He, du da! Was hast du vor?“

Monja fuhr herum.

Am Ende des Korridors war ein schnauzbärtiger Mann aus einer Kammer getreten. Er war halbnackt, trug aber Hosen und Stiefel. Seine Augen waren vor Erstaunen groß: Er fixierte den metallenen Totschläger in Monjas Hand und fragte sich vermutlich, wem das aufgetakelte kleine Ding an den Kragen wollte.

Bevor Monja reagieren konnte, wurde die Tür, vor der sie stand, aufgerissen. Nun hatte sie keine Wahl mehr. Der rothaarige Keptin, der sie zu Boden gestoßen hatte, schaute zuerst sie und dann die Waffe in ihrer Hand an.

„Wer ... Was ...?“

Die Männer, die hinter ihm im Zimmer saßen, sprangen auf. Der Keptin machte einen Versuch, sich zu ducken. Leider war er nicht schnell genug: Der Hieb, der seinen Nasenrücken traf, warf ihn nach hinten und provozierte einen Schreckensschrei.

Er fiel gegen seine Gefährten, die fluchend zu Boden stürzten.

Monja fuhr herum. Sie hatte ihre Chance vertan. Sie musste hier raus. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass die dicke Schminke sie so gut tarnte, dass die Verschwörer sie nicht erkannten, wenn sie ihr draußen begegneten. Sie lief den Weg zurück, den sie gekommen war – auf den Schnauzbart zu, dessen plötzliches Auftauchen sie aus dem Konzept gebracht hatte. Er wollte ihr den Weg verstellen, doch die Metze, mit der er sich zuvor verlustiert hatte, drängte sich neugierig an ihm vorbei und fing an zu schreien, als sie Monja sah.

Nun galt es schnell sein: Monja sprang vor, fest entschlossen, dem Schnauzbart, wenn er den Weg nicht freigab, den Kiefer zu brechen. Doch der Mann war flinker als erwartet: Er hechtete in die Kammer zurück und stürzte sich auf seinen Waffengurt, der über einem Bettpfosten hing.

Monja duckte sich. Sie schubste die kreischende Metze beiseite und floh. Hinter ihr im Gang öffneten sich hier und da Türen. Bei ihrem unverhofften Anblick nahm das Gekreisch bald überhand.

Monja rannte an Frauen und Froditen vorbei und eilte die Treppe hinunter. Unten, in der Taverne, hatte man den Lärm ebenfalls vernommen: Schon polterten ihr Schritte entgegen.

Sie unterdrückte einen Fluch und lief durch den langen Gang, der an den unteren Kammern vorbeiführte. Am anderen Ende riss sie ein Fenster auf. Der Lärm über und hinter ihr machte ihr eins klar: Sie musste sich sputen. Wenn Keptin Haram und seine Mitverschwörer sie zu fassen kriegten, erging es ihr schlecht. Monja schaute aus dem Fenster.

Die Luft schien rein.

Als sie auf die Fensterbank saß, packten rohe Hände von hinten ihren Hals, und eine heisere Stimme fauchte: „In Ghus Namen: Du bist festgenommen!“

Monjas Kopf fuhr herum. Sie sah den Schnauzbart mit der Hose. Er war ein Scherge! Seine Augen lachten triumphierend.

„Im Namen der Renitenz“, erwiderte Monja und drosch ihm den Totschläger aufs Maul, so dass er wie ein Sack Kartoffeln zu Boden ging. „Du kannst mich mal.“ Dann sprang sie aus dem Fenster.

Sie landete genau vor den Füßen zweier Schergen, die wohl darauf warteten, dass ihr schnauzbärtiger Kollege sein kleines Dienstvergehen in aller Ruhe beendete.

2.

Monja kannte Menschen, die schon mal im Kerker gesessen hatten.

Deswegen glaubte sie, auf alles vorbereitet zu sein: Beim ersten Klirren des Schlüsselbundes war sie auf den Beinen, schmiegte sich rücklings an die Wand und hielt die Luft an.

Ihr Schädel tat weh. Ihre Rippen schmerzten. Die Schergen hatten sie verdroschen und wie ein Stück Vieh in ein mit Stroh ausgelegtes Loch geworfen.

Die Tür ging auf. Ein rothaariger Schmalhans, unter dessen Ahnen ein Reptil gewesen sein musste, trat mit dem Schlüsselbund in der Hand ein. Er grinste Monja an, sagte aber kein Wort. Dann machte er einem Mann Platz, der ebenfalls rothaarig war. Sein Auftauchen erschreckte Monja bis ins Mark.

„Danke, Helmat.“ Der Keptin steckte dem Schergen etwas zu.

Helmat salutierte und verschwand. Keptin Haram drehte sich zu Monja um.

Nun wagte sie, wieder Luft zu holen. Was wollte der Kerl hier? Sich an ihr rächen? Es war wohl logisch, mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Dass die Zellentür nicht verriegelt wurde, gefiel Monja. Sie wollte ihr Leben teuer verkaufen. Aber sie war auch bereit, jede Gelegenheit zur Flucht zu nutzen. Wenn der Kerl ihr zu nahe kam, würde sie ihre Finger in seine Augenhöhlen bohren und ...

„Sieh an, sieh an.“ Haram trat in die Mitte der Zelle, schaute sich um und rümpfte die Nase. „So kann es einem ergehen, wenn man auf der schiefen Bahn landet.“

Du bist auf der schiefen Bahn, Arschloch, dachte Monja. Du weißt es nur nicht. Und: Noch einen Schritt – und ich garantiere für nichts mehr.

Haram blieb stehen. „Du hast mich geschlagen. Mich!“ Er berührte seine Nase. Erst jetzt sah Monja, dass sie blaurot und angeschwollen war.

Haram kicherte. „Respekt.“ Er nickte ihr zu. Im Licht des durch die Gitterstäbe scheinenden Mondes glitzerten seine Augen eigenartig erheitert. „Du hast Mut, du Kröte. Du bist rotzfrech.“ Er deutete auf die Fetzen, die sie kleideten – oder nicht, je nachdem. Er befeuchtete seine Lippen. „Ich hab dich trotz der Tünche sofort erkannt. Deswegen weiß ich, warum du wütend auf mich bist.“ Er räusperte sich. „Ich erkenne dich auch dann noch, wenn du das Zeug abgewaschen hast.“

Monja lauschte. Ihr war unklar, was der Mann wollte.

„Du hast Mut.“

„Hast du schon mal gesagt.“ Monja erschrak, als sie ihre Stimme hörte. Sie hatte nicht antworten wollen. Sie hatte dem Keptin zuhören, ihn einschätzen, durchschauen wollen. Jetzt kam sie sich wie eine Spielverderberin vor.

„Du kannst also sprechen, hm?“

„Klar.“

„Wie heißt du?“

„Und du?“

Der Keptin wirkte verblüfft, aber nur kurz. Es passierte wohl nicht oft, dass ihm jemand so rotzfrech kam. „Ich bin Keptin Haram.“

Monja nannte ihren Namen. Sie wusste, dass Haram am längeren Hebel saß. Mit genügend bösem Willen konnte er ihre Attacke als Mordversuch hinstellen. Er hatte zwei – nein, drei – Zeugen. Er konnte ihr anhängen, was er wollte. Das Gericht würde sie verurteilen, und man würde sie dort ins Wasser werfen, wo sich die immer hungrigen Fotzolythen tummelten.

„Ich hoffe, du bist nicht nur mutig, sondern auch vernünftig“, sagte Haram. „Mit Mut allein kommt man nämlich nicht weit.“

Er nahm sie auf eine Weise in Augenschein, die Monja als gierig empfand. Sie wusste, dass es Menschen gab, die einen mit den Augen auffressen konnten. Haram gehörte dazu. Und sie sah außerdem in seinen Augen, dass er sie als so anziehend empfand, dass er bereit war, ein Verbrechen zu begehen.

Ihr sechster Sinn hatte sie noch nie getrogen: Was dieser Mann mit ihr vorhatte, wollte sie nicht über sich ergehen lassen.

Und ihr sechster Sinn sagte ihr noch etwas: Keptin Haram hatte eine Gabe, die sie nicht deuten konnte. Aber sie spürte, dass sie gefährlich war.

„Hast du eine Gabe?“, fragte er sie unvermittelt.

Monja antwortete nicht. Sie wiegte den Kopf, als hätte sie ihn nicht richtig verstanden. Sie musste mehr über ihn erfahren. Sie musste ihn aushorchen. Sie musste das, was er sagte, gegen ihn nutzen. Sie musste ihn schwafeln lassen und ihm, wenn sie nahe genug an ihm dran war, in die Eier treten und die Fliege machen – durch die Tür, vor der er jetzt noch stand ...

Sie zuckte die Achseln. „Ich kann kochen.“

Erst als Sterne vor ihren Augen tanzten und sie spürte, dass ihr Hinterkopf gegen die Wand geknallt war, begriff sie, wie schnell Haram sein konnte.

Seine Rechte würgte ihren Hals. Er schleuderte ihren Kopf hin und her. „Was glaubst du, was wir hier machen, du blöde Schwanzfotze? Glaubst du, mir ist nach Spielen zumute, hm?“

„Ich lerne fremde Sprachen“, murmelte Monja. „In ein paar Minuten.“

Krachen in ihren Gehörgängen. Wieder schlug ihr Kopf gegen die Wand, klatschte seine Linke auf ihre Wange. „Ich sag dir, auf was es ankommt! Auf mich! Du tust, was ich sage, du Missgeburt! Begreifst du das? Hast du mich verstanden? Antworte! Antworte, du ...! ANTWORTE!“

Monja röchelte. „Ja-a-a ...“ Sie war wie betäubt. Und schockiert wie noch nie. Ihr war klar gewesen, dass sie mit allem rechnen musste. Nun kriegte sie alles und war nicht darauf vorbereitet.

Haram ließ sie los. Monjas Knie gaben nach. Sie sank auf den Boden und hockte vor ihm auf den Knien, was noch entwürdigender war.

„Wie alt bist du?“ Seine Stimme war ein Fauchen.

„S-siebzehn ...“ Monja hatte furchtbare Kopfschmerzen und mörderische Angst.

„Schön.“ Haram wurde leiser. „Ich sag dir, welche Wahl du hast: Du hältst die Schnauze. Oder du gehst schwimmen, sobald du wieder auf freiem Fuß bist.“

„Komm ich denn auf freien Fuß?“, fragte Monja erstaunt.

Haram nickte. „Leider. Weil du erst siebzehn bist.“ Er knurrte. „Hätten wir dich geschnappt, wärst du längst nass. Niemand würde dich vermissen. Aber du bist Helmat in die Hände gelaufen. Er ist ein bürokratischer Trottel – und stolz darauf, dass seine Buchführung immer stimmt.“

Ich muss ihm dankbar sein. „Ich wähle das Schnauzehalten“, sagte Monja, „obwohl ich gar nicht weiß, was ich für mich behalten soll.“

Haram lachte erheitert. Er klang in diesem Moment nicht unsympathisch. „Du lernst schnell.“ Er griff in ihr Haar, spielte mit einer Strähne. „Aber wer sagt mir, dass ich dir glauben kann, hm?“ Er ließ ihr Haar los, trat ans Fenster, winkte ihr zu. „Komm her!“

Monja richtete sich langsam auf und schaute die Tür an.

„Lass dir bloß nicht einfallen, abzuhauen!“, sagte Haram, dem ihr Blick nicht entging. „Du weißt nicht, mit wem du dich anlegst.“

„Ich will’s auch nicht wissen.“ Monja hatte Angst. Sie hatte sich noch nie im Leben so gefürchtet. Haram hatte eine Gabe, und dass ihr sechster Sinn ihr nicht sagen konnte, welcher Art sie war, empfand sie als bedrückend. Die Finsternis war gut. Sie hoffte, dass Haram verborgen blieb, dass sie zitterte.

„Schau hinaus! Siehst du die Männer da?“ Haram deutete auf den Turm, der im Sternenglanz in den Himmel ragte. Er war von Laufgängen umzogen, auf denen man mehrere Gestalten sehen konnte. Es waren drei. Sie standen an der Ecke zum Fluss hin. So wie sie standen, erweckten sie den Eindruck, dass der Mann in der Mitte von denen, die ihn flankierten, an den Armen festgehalten wurde.

„Siehst du sie?“

„Ja“, murmelte Monja. Was wollte Haram ihr sagen? Was war an den drei Männern da oben wichtig? Hier lebten tausend Menschen!

„Der Mann in der Mitte“, sagte Haram neben ihr, „hat auch immer so getan, als hätte er nichts gehört und nichts gesehen.“

Monja hörte etwas rascheln. Als sie aufschaute, hatte Haram einer Innentasche seiner Jacke etwas entnommen, das er ihr in die Hand drückte. Es war ein Rohr aus Messing. Ein Fernrohr.

„Schau hindurch. Schau ihn dir an.“

Monja schaute hindurch. Sie musste das Objektiv des Fernrohrs verstellen, bevor sie etwas sah. Doch dann sprang ihr der Kopf des Mannes förmlich ins Gesicht. Er hatte allmählich ergrauendes Haar, trug eine zerschlissene Montur und war geknebelt. Monja hatte ihn schon oft schwermütig nachts spazieren gehen sehen. Der Mann war alt, älter als Haram.

Hetman Kaya. Monja hielt die Luft an. Was ging da oben vor? Was sollte das?

„Jetzt pass auf.“ Haram nahm ihr das Fernrohr aus der Hand und ließ es auf die Hälfte schrumpfen.

In seiner Hand – am Zellenfenster – blitzte ein Zündholz auf. Die Männer, die Scheffe Kaya flankierten – Monja sah, dass man ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt hatte – rissen ihn hoch und warfen ihn über Bord.

Man hörte kein Klatschen, keinen Schrei, nichts. Das Zündholz erlosch; die beiden Männer auf dem Laufgang klopften sich gegenseitig auf die Schulter und tauchten in der Finsternis unter.

Monja stand schlotternd da und lauschte fassungslos dem Pochen ihres Herzens.

„Damit du siehst, dass Keptin Haram keine Phrasen drischt.“ Haram schaute sie an. Seine Augen glitzerten dämonisch. „Solange Helmat Verantwortung über dich hat, bist du in Sicherheit.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Aber sobald du da draußen bist ...“ Er deutete aus dem Fenster. „Wir sind nicht nur zu dritt. Wir sind viele. Wir sind mehr, als du glaubst. Mit wem du auch redest: Du weißt nie, ob du dich einem von uns anvertraust.“ Er schaute sie lauernd an. „Haben wir uns verstanden?“

Monja schluckte. „Ja.“ Ihr wurde schlecht. „Ich hab schon Mühe, mich an meinen Namen zu erinnern.“ Und sie dachte: Du bist tot, Drecksack. Du weißt es nur noch nicht.

„Brav.“ Haram legte eine Hand auf ihre Schulter. „Bleib so. So kannst du es weit bringen.“ Seine andere Hand war plötzlich unter ihrem Lendenschurz und griff zu. „Und jetzt darfst du mir deine Dankbarkeit beweisen“, rasselte er. „Mit so was wie dir wollte ich es schon immer mal treiben.“

Monja zog geschwind das Messer aus der Scheide an Harams Gürtel, riss den Arm hoch und rammte ihm die Klinge tief ins Herz. Haram gurgelte; seine dunklen Augen traten hervor, sein Blick zeigte Entsetzen; dann spuckte er eine Blutfontäne aus, der Monja geschickt auswich.

Harams Knie knickten ein, und er klatschte wie ein Sack Kartoffeln zu Boden, wo er vier, fünf Sekunden zuckend um sich trat und etwas sagte, das Monja nicht verstand. Dann war er tot, und Monja, die mit bebenden Knien vor ihm stand, wurde klar, dass sie hier nicht bleiben konnte: Helmat hatte Haram in ihre Zelle gehen sehen. Er würde gegen sie aussagen. Als Frodite hatte sie keine Chance gegen einen Schergen: Helmat würde sie dem Scharfrichter überantworten, und der würde sie vom Turm in den Fluss werfen lassen, damit sie den räuberischen Fotzolythen zum Fraße diente.

Nicht mit mir, dachte Monja. Sie huschte aus dem Karzer, hörte Helmat mit anderen Schergen in der Nebenhütte lachen und rannte zum Fluss hinab, wo sie Harams Messer abwusch und auf den Deich hinauf eilte, wo sie eine gute Aussicht auf die nächtliche Landschaft hatte.

Ihr Blick wanderte über die am Ufer vertäuten Lastkähne und Boote.

Wie groß waren wohl ihre Chancen, ungesehen in die unbekannte Welt zu entschwinden, bevor Harams Leiche gefunden wurde, man die richtigen Schlüsse zog und ein Kommando in Marsch setzte, um sie zu fangen? Jeder Schwachkopf – auch Helmat – würde davon ausgehen, dass sie sich jetzt nicht dort versteckte, wo sie normalerweise hauste.

Harams Unterlinge würden sich fraglos zuerst die Liegeplätze vornehmen und jedem dort herumlungernden Tagedieb Brot und Branntwein versprechen, wenn er ihnen erzählte, wo und wann er eine hübsche Frodite gesehen hatte. Dass sie hübsch war, wusste Monja: Wenn die Sonne schien und die Triebe sprossen, konnte sie kaum eine Gasse durchqueren, ohne dass irgendein Lüstling hinter ihr her pfiff und ihr eindeutige Angebote machte. Und an den Landestegen war sie so bekannt wie ein bunter Hund.

Aber nicht bei Fremdlingen. Monja huschte an mehreren Lastkähnen vorbei und hielt nach ihr unbekannten Schiffern Ausschau. Schon hatte sie einen gesichtet: einen großen breitschultrigen Kerl, der wie ein Jäger in Leder gekleidet war. Er stand an der Reling eines Lastkahns namens Nordwind.