Gang zum Friedhof - Klaus Heimann - E-Book

Gang zum Friedhof E-Book

Klaus Heimann

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Beschreibung

Allerheiligen. Auf dem Gemeindefriedhof in Essen-Haarzopf wird eine Leiche gefunden. Wie aufgebahrt liegt sie auf einer geräumten Grabstelle. Weder in der Gemeinde, noch im Stadtteil ist der Mann bekannt. Woher kam er? Was führte ihn auf den Friedhof? Welches Motiv steckt hinter der Tat? Als die Mordwaffe gefunden wird, gerät der Haarzopfer Pfarrer unter Verdacht. Endlich gelingt es Hauptkommissar Sigi Siebert, die Identität des Ermordeten aufzudecken. Zwischen dem Opfer und einem Grab auf dem Friedhof besteht eine Beziehung, die zur Lösung des Falls führt …

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Gang zum Friedhof

Klaus Heimann

edition oberkassel

Inhaltsverzeichnis

Allerheiligen

Leichenfund auf dem Friedhof

Identität unbekannt

Stochern im Nebel

Mordwaffe gefunden

Verdachtsmomente

Nebel lichtet sich

Ermittlungen in der Domstadt

Vermisst

Noch eine Leiche

Ein aufschlussreiches Begräbnis

Durchbruch

Nachhall

Anmerkungen des Autors

Dank an die LeserInnen

Klaus Heimann

Impressum

Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.

2. Korinther, Kapitel 12 Vers 7

Zitiert nach der Lutherbibel 1984

Allerheiligen

Der Morgen gebärdete sich völlig anders als der gestrige Abend. Von den unwetterartigen Wolkenbrüchen waren nur ein paar Pfützen übrig geblieben. Der tief stehenden Sonne gelang es leicht, einen Weg durch das stark gelichtete Herbstlaub zu finden.

Die Luft, die sie atmete, war feucht, wie gewaschen. Kalt war es nicht. Sie war früh von zuhause aufgebrochen, direkt nach dem spärlichen Frühstück. Die täglichen Wege zum Friedhof änderten zwar nichts, aber immer, wenn sie ihn über den Seiteneingang betrat – sie betrat ihn aus unerfindlichem Grund nur über diesen Seiteneingang, als ob Peters Tod dadurch zu etwas Unvollendetem würde –, gab er ihr ein wenig innere Ruhe und Gefasstheit. Es war genau dieses Gefühl, das sie hierher führte. Die Besuche an Peters letzter Ruhestätte waren für sie notwendig wie das tägliche Brot.

Vor beinahe drei Jahren war ihr Mann beim Tsunami-Unglück im thailändischen Phuket ums Leben gekommen. Am zweiten Weihnachtstag 2004. Aus einer perfekten Urlaubsstimmung heraus, aus der Mitte des Lebens. Dieses Jahr wäre Peter siebenundvierzig geworden. Sie selbst war etwas jünger.

Sie erinnerte sich an diesen zweiten Weihnachtstag wie an gestern oder vorgestern. Am Morgen war sie mit ein paar anderen Touristen zusammen an Bord eines Segelboots gegangen. Peter hatte diesen Trip heimlich gebucht und ihr an Heiligabend mit glänzenden Augen geschenkt. Ihr Mann wusste, dass sie begeistert vom Segeln war, von der spritzenden Gischt, wenn der schlanke Rumpf in schneller Fahrt das Wasser durchpflügte, von den geblähten Segeln, die den Wind auffingen. Peter wurde schnell seekrank und hatte darauf verzichtet, sie auf den Ausflug zu begleiten. Dieser Entschluss war sein Todesurteil.

Als die energiegeladene Strömung des Tsunamis unter ihrem Boot in Richtung Land walzte, waren sie einige Kilometer vor der Küste gesegelt. Auf dem Schiff hatten sie erst etwas davon bemerkt, als sich die pure Energie als haushohe Welle auf den Strand entlud. Sie nahm dort sofort ihr tödliches Zerstörungswerk auf.

Wie viele alptraumartige Ereignisse sie verkraften musste, ehe sie Peter endlich auf dem evangelischen Friedhof in Essen-Haarzopf beerdigen konnte, drei Straßen von ihrer Wohnung entfernt. Die tagelange Ungewissheit, wo er steckte, der schreckliche Moment der Identifizierung, die Formalitäten für die Überführung, die organisatorischen Fragen der Bestattung – das alles im Zustand einer tiefen, traumatischen Trauer.

Jede Entscheidung bis zu seiner Beerdigung hatte sie gegen sich selbst erkämpft, für jede einzelne hatte sie Felsbrocken vor ihrem Denken wegschieben müssen. Die wirkliche Verarbeitung hatte im Grunde erst in der Sekunde begonnen, als sie Peter eine Blume ins Erdloch nachwarf. Ihr Bruder hatte mit beherztem Griff verhindert, dass sie wegen eines spontanen Schwindels auf den Sarg hinabrutschte. Seitdem umgab sie die Trauer wie ein zäher Teig, den sie tagtäglich gezwungen war zu durchwaten.

Dem Unglück waren etliche Therapiestunden gefolgt. Freunde begannen sie zu meiden, weil sie sich veränderte. Nun, um die war es kaum schade. Geblieben war der dunkle Schatten auf ihrem Leben, in dem sie nicht wieder richtig Fuß fasste.

Gestern, am Vorabend von Allerheiligen, war sie vor dem plötzlich einsetzenden Regen geflohen und deshalb nicht mehr bis zum Grab ihres Mannes gekommen. Sie hatte eine Kerze anzünden wollen auf Peters Grab wie so viele andere Hinterbliebene auf den Ruhestätten ihrer Verstorbenen.

Das drahtbespannte Eingangstor fiel hinter ihr zu. Sie ging an den Abfallcontainern vorbei, daneben war die Wasserzapfsäule mit den Gießkannen. Am schmiedeeisernen Haupttor, dessen senkrechte Streben weiß angemalte Verzierungen krönten, bog sie nach links in den Hauptweg ab. Die letzten Blätter der Lindenallee, die der Regen gestern verschont hatte, leuchteten strahlend gelb im Sonnenlicht.

Ihr Weg führte am ältesten Grab auf dem Friedhof vorbei. Im April 1905 war der Mann verstorben. Wenige Schritte entfernt fiel ihr Blick auf ein gen Himmel zeigendes Paar Schuhe. Sie wusste gleich, dass dort eine Leiche lag. Zögernd ging sie darauf zu – abgestoßen und angezogen zugleich. Zwei Unterschenkel tauchten auf. Dann sah sie den Toten ganz, ausgestreckt auf einer geräumten Grabstelle. In genau derselben Stellung hatte Peter damals dagelegen, sommerlich bekleidet mit Badeshorts und Hawaiihemd unter zerzausten Palmen.

Die alten Bilder krochen in ihr hoch. Die lange Reihe der Opfer, die sie entlanggeschritten war. Der süßliche Geruch von Verwesung stieg ihr wieder in die Nase.

Heute ging sie nicht zu Boden, nahm nicht den Kopf des Toten in die Hand, weinte nicht, dass die Tränen auf seine erstorbenen Gesichtszüge fielen. Stattdessen griff sie zu ihrem Handy, wählte die 110, teilte der geschäftsmäßigen Stimme ihren Standort mit und was sie entdeckt hatte. Erst dann taumelte sie die paar Meter zur nächsten Bank hinüber, die sie gerade rechtzeitig erreichte, bevor sie der Schwindel übermannte.

Der Schock von Phuket brach ein weiteres Mal aus ihrem Innersten hervor – unbewältigt. Sie stand wieder am Anfang der Trauer über Peters Tod, an dem Punkt, als sie ihm die Blume ins Grab warf.

Leichenfund auf dem Friedhof

Eckhard Schulz, mein Freund von der Schutzpolizei, den alle Ecki nennen, und ich sitzen in unserer Lieblingskneipe. Wir starren seit einer Weile stumm von unseren Barhockern aus ins verwaiste Innere des hufeisenförmigen Tresens aus dunklem Holz.

Aus reiner Sentimentalität war ich auf den Mord in Haarzopf zu sprechen gekommen. Er hatte mich seinerzeit emotional ziemlich aufgemischt. Mit Opfern von Gewalttaten war ich während meiner Berufsjahre als Hauptkommissar in der Mordkommission ständig in Berührung gekommen. Im Haarzopf-Fall hatte die emotionale Komponente eine besondere Dimension angenommen. Die Grenzen zwischen Täter und Opfer, zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Glaube und Trost waren in diesem Fall ziemlich verschwommen.

In meinem Kopf sehe ich die arme Frau auf der Bank sitzen, völlig erstarrt, nicht ansprechbar. Verheult, als ob sie keine Tränen mehr besäße. Ich kann mich kaum erinnern, in meiner aktiven Dienstzeit jemals eine solche Verlorenheit gesehen zu haben.

Ich finde zur Sprache zurück. »In dem Zustand, in dem wir die Frau später fanden, hat es mich total gewundert, dass sie uns angerufen hat.«

Ecki räuspert sich. »Unser Beruf ist manchmal ganz schön scheiße, was, Sigi?«

»Ist er. Aber irgendeiner muss ihn schließlich machen.«

»Laufend hast du es mit Leuten zu tun, denen etwas Schlimmes zugestoßen ist, die bestohlen oder verletzt wurden. Ab und zu darfst du mal einen retten oder von einer Dummheit abhalten – das tut dann richtig gut. Nicht zu vergessen die Gefahren, denen unsereins ausgeliefert ist. Davon macht sich da draußen kaum jemand einen Begriff. Nimm nur dein Bein …«

Ja, mein Bein.

Im vorletzten Jahr hatte ich auf eigene Faust in einem ungelösten Fall ermittelt und war auf die Schnapsidee verfallen, meine Verdächtigen bis nach Namibia zu verfolgen. Es war mir tatsächlich gelungen, die beiden zu stellen, war dabei aber lebensgefährlich angeschossen worden. Die Wunde im Bauchraum ist mittlerweile verheilt. Mein Knie, das die erste Kugel abbekommen hatte, will einfach nicht. Wegen meiner Behinderung wurde ich letzten Sommer in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Im Oktober bekam ich schließlich ein künstliches Gelenk. Heute, fünf Monate später, bin ich immer noch nicht richtig auf dem Damm. Für meine Eigenmächtigkeit habe ich bitter bezahlt.

Wegen Krankenhausaufenthalt und Reha war ich wochenlang nicht zu Hause gewesen. Seit einer gefühlten Ewigkeit sitze ich endlich mal wieder mit Ecki in der Kneipe. Mein Freund ist bei den Uniformierten. Er hat den Dienst satt, nur muss er noch ein paar Jahre. Meine eigene Ausstiegsstrategie sollte er sich nicht zum Vorbild nehmen.

»An meinem kaputten Knie trage ich eine Portion Mitschuld. Gestümpert habe ich.«

»Trotzdem …«

Guido, der Wirt, kehrt aus den Tiefen seiner Gaststätte zurück und sieht zu uns herüber. »Noch’n Pilschen, die Herren?«

Ecki und ich nicken ihm synchron zu. Guido nimmt zwei Gläser vom Abtropfbrett und hält sie mit geübtem Schwung nacheinander unter den Zapfhahn. Unser Gastgeber stellt die perfekt gezapften Pilstulpen vor uns hin. »Wohl bekommʼs.«

Ecki hebt sein Glas auf Augenhöhe und schaut mich über den Rand hinweg an. Stumm spiegele ich seine Geste und wir trinken einen großen Schluck.

»Ich weiß noch, wie wir hier gesessen haben, auf ebendiesem Fleck, und du mir die Ermittlungen geschildert hast. Schlimme Geschichte.«

»Ja. Tieftraurig. Das fing schon an, als wir auf den Friedhof kamen und dieses Häufchen Elend auf der Parkbank vorfanden. Den Tatort hatten die Kollegen da bereits abgesperrt.«

*

Lotte und ich saßen am Frühstückstisch, als das Diensthandy mit diesen bescheuerten Martinshörnern auf sich aufmerksam machte. Na klar, am Feiertag. Den Klingelton hatte Erich aufgespielt, mein junger Kollege, den ich um die Inbetriebnahme des Teils gebeten hatte. Mir war es bisher nicht gelungen, die entsprechende Einstellung zu finden und einen gefälligeren Ton einzustellen. Scheiß Technik.

Unsere Tochter Lucy lag noch im Bett. Mit Eintritt in die Oberstufe hatte sie diese Unart an schulfreien Tagen angenommen. Mir passte das gar nicht. Aber richte einer was gegen ein eingespieltes Mutter-Tochter-Gespann aus. »Lass das Kind doch.« »Warst du nie jung?« »Lucy muss ihren eigenen Weg finden.« Da bist du ständig der Buhmann und auf diese Rolle im Familientrio habe ich überhaupt keinen Bock.

Das Diensthandy befand sich in der Jackentasche im Flur. Genervt stand ich vom Tisch auf und bequemte mich dorthin. Ich drückte die grüne Taste. Die Martinshörner gaben endlich Ruhe. »Siebert.«

Lotte kam wissbegierig dazu.

Die Zentrale war am anderen Ende. Zum Zeichen, dass ich meinen Auftrag verstand, wiederholte ich die Schlüsselwörter. »Eine Leiche. Auf dem Friedhof.«

»Ist das was Besonderes? Wo sonst sollten Leichen liegen, wenn nicht auf dem Friedhof?«, quasselte mir Lotte dazwischen.

Ich registrierte die Abgebrühtheit, mit der meine Frau dem Tod im Berufsleben ihres Mannes begegnete. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie selbst merkte, wie unangebracht ihr Kommentar war.

»In Haarzopf. Evangelischer Gemeindefriedhof. Aha. Wir kommen.« Rote Taste. »Ich muss los, Schatz.«

»War nicht anders zu erwarten. Schließlich haben wir bloß einen Feiertag.«

Ich verzog das Gesicht. War es meine Schuld, dass in meinem Job jederzeit ein Einsatz drohte und ich Bereitschaft hatte?

Erich würde das als Nächster spüren. Meine Geduld wurde arg geprüft, ehe er endlich an den Apparat kam. »Ja?«

Seiner Stimme nach zu urteilen war er gerade erst ins Bett gekrochen. Ich wusste, dass er seit einem Monat auf Schürzenjagd war. Seine Lebensabschnittsfee hatte ihm den Laufpass gegeben. Erichs Pech mit dem anderen Geschlecht war im Präsidium bereits Legende. Er stürzte immer mit Vollgas in eine neue Beziehung hinein, vermochte jedoch nicht, eine Frau längere Zeit zu halten. Sein bisheriger Rekord lag gemäß Selbstauskunft bei anderthalb Jahren. Murrend sagte er zu, mich in einer halben Stunde einzusammeln.

Fünfunddreißig Minuten und zwei Scheiben Stuten mit Marmelade später stand mein junger Kollege bei uns vor der Haustür und hupte. Ich stand auf, drückte Lotte einen flüchtigen Kuss auf die Wange, der etwas klebte, denn ich hatte noch Marmelade auf den Lippen, streifte im Flur meine Jacke über und öffnete die Wohnungstür.

»Kommst du pünktlich zum Mittag?«, rief mir Lotte nach.

Ich winkte ab, obwohl mich meine Angetraute vom Essplatz aus nicht sehen konnte. Diese Frage nach so langer Ehe und Jahren im Beruf war schlicht überflüssig.

Unten empfing mich ein Erich, dessen Gesicht wegen handbreiter Ränder unter den Augen markant verändert wirkte.

»Tach, Erich. Hast du getrunken?«

»Bisschen nur. Hab doch heute Bereitschaft.«

»Du kennst den Weg zum evangelischen Friedhof in Haarzopf?«

»Klar, Chef. Anschnallen.«

Ich war formal nicht Erichs Chef. Trotzdem hatte er sich diese Anrede angewöhnt, die mir ein wenig schmeichelte. Nun ja, eigentlich verhielt es sich zwischen uns beiden schon so, dass ich die Anordnungen traf und er mehr die ausführende Rolle einnahm. Er schien ganz zufrieden mit dieser Aufgabenteilung zu sein.

Erich war Anfang dreißig. Seit beinahe vier Jahren arbeiteten wir jetzt zusammen. Groß war er und seinen Körper beplankten stahlharte Muskeln. Seine Haltung war normalerweise straff, aber heute hing er hinter dem Steuer seines BMW wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Seinen ohnehin nicht nennenswert intelligenten Gesichtsausdruck unter dem Stoppelschnitt durfte man mit Wohlwollen als apathisch beschreiben.

Kaum zehn Minuten später stellte Erich sein Auto mitten auf der Zufahrt zum Friedhof ab, direkt zwischen Pfarrhaus und Kirche. Die wenigen Parkplätze auf der linken Seite wurden von zivilen Fahrzeugen und zwei Einsatzwagen belegt. Strammen Schrittes erreichten wir das Friedhofsgelände und sahen gleich beim Passieren des schmiedeeisernen Tores das polizeiliche Absperrband in der erstaunlich warmen Herbstluft flattern. Vier Uniformierte standen mit dem Rücken zu uns an der eingekreisten Stelle.

»Hallo Kollegen«, grüßte ich, als wir bei ihnen ankamen. »Was gibt es?«

»Eine Leiche. Männlich. Da.« Der Kollege, der diese Auskunft gegeben hatte, wies mit ausgestrecktem Arm auf die Stelle.

»Sigi, ich heute nicht.« Mir war Erichs Manko, dass er sich schwer tat mit Leichen, bekannt. Wieder einmal fragte ich mich, was ihn ausgerechnet zur Mordkommission getrieben hatte.

Ich holte tief Luft, kletterte über das Absperrband und sah mir den Toten an. Er lag auf dem Rücken, ausgestreckt auf einer geräumten Grabstelle, die mit dem Herbstlaub der großen Linden nebenan bedeckt war. Seine Augen waren geschlossen, seine Hände gefaltet. Fast sah er aus, als ob er schliefe, wenn sein Mantel und seine Hose nicht derart durchfeuchtet gewesen wären. So klitschnass legte sich niemand schlafen.

»Komm her, Erich. Ist harmlos.« Vielleicht gewöhnte sich der Bursche angesichts derart unspektakulärer Leichen an den Anblick. Meistens war es härter.

Erich reagierte nicht.

»Der sieht verdammt übernächtigt aus. Sollen wir den mal pusten lassen?«, fragte mich einer der uniformierten Kollegen gespielt fürsorglich, um Erich ein wenig zu necken. Von dessen Seite kassierte er dafür einen mordlüsternen Blick.

Das hätte mir gerade gefehlt, Erich ohne Lappen. Wer würde mich dann kutschieren? Ich selbst hatte das Fahren nämlich vor Jahren aufgegeben. Es war mir einfach lästig. Außerdem bewegte ich mich gerne. Und ich machte mir nichts aus Autofahren. Was auch immer. Jedenfalls nahm ich kein Lenkrad mehr in die Hand.

»Hat ’ne schwere Nacht hinter sich. Den braucht ihr nicht pusten lassen.«

Der übereifrige Kollege zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder den anderen zu.

Erst jetzt wurde ich auf das Paar aufmerksam, das unmittelbar hinter der abgesperrten Fläche auf einer Bank saß, eine apathisch dreinschauende Frau und ein Mann, der beruhigend auf sie einredete. Kam mir unbekannt vor, der Knabe. Jedenfalls keiner von uns.

Ich gab Erich ein Zeichen, mir um die Absperrung herum zu folgen. Wir stiefelten zu den beiden hinüber, ich auf direktem Wege, das Absperrband an der anderen Seite überkletternd, Erich im weiten Bogen um die abgesperrte Fläche herum.

Das Zücken des Dienstausweises und meine Begrüßung verschmolzen zum eingeübten Ritual. »Guten Morgen. Siebert von der Kripo Essen. Das ist mein Kollege, Herr Terschüren.«

»Von einem guten Morgen dürfte wohl kaum die Rede sein.«

Es war der Mann, der meinen Gruß ins Zweifelhafte zog. Zwei vertrauenswürdige graue Augen fixierten mich.

»Unsere Umgangsformen kennen keinen schlechten Morgengruß. Recht haben Sie allemal.«

»Darf ich Ihnen einen Rat geben?«

Was kam denn jetzt? »Nur zu.«

»Sperren Sie den Friedhof ab. Wir haben Allerheiligen und gleich wird es hier wimmeln von Angehörigen.«

Wirklich mitgedacht, der Mann. »Danke für den Tipp. Gibt es hier mehrere Eingänge?«

»Zwei. Den Haupteingang und den Weg links davon entlang einen Seiteneingang.«

Ich formte die Hände um meinen Mund zum Trichter. »Hey, Jungs, sperrt mal das Gelände ab. Das Tor da unten und den Nebeneingang da drüben. Je ein Posten.«

Gemächlich setzten sich zwei der Uniformierten in Bewegung, um meine Anordnung auszuführen.

Ich sah mir den Grauäugigen genauer an. Ich schätzte ihn gleichaltrig, wie ich um die fünfzig. Sein Körperbau war etwas fülliger als meiner, eher gesetzt. So wie er dort neben der Frau auf der Bank saß, strahlte er irgendwie etwas Offizielles aus.

»Wie war gleich Ihr Name?«

»Kirch-Mann. Ich bin der Pfarrer dieser Gemeinde.«

»Erich, schreib mal auf: Herr Kirchmann.«

Mein junger Kollege zückte willig einen Block und blätterte umständlich eine neue Seite auf. Dann klopfte er die Taschen seiner Jacke ab. »Hast du ’nen Stift, Sigi? Hab ich wohl vergessen.«

Seufzend griff ich in die Innentasche meiner Jacke. Ein Kindergarten war das manchmal. »Hier, fang.« Ich warf Erich einen Kugelschreiber zu. Immerhin schnappte er ihn einigermaßen geschickt auf.

»Kirch-Mann – mit Bindestrich«, stellte der Pfarrer richtig. Erst jetzt fiel mir auf, wie er den Namen aussprach und wie bezeichnend sein Nachname zu seinem Broterwerb passte. »Großartiger Name für einen Vertreter der Kirche.«

»Finde ich auch. Als meine Frau bei unserer Hochzeit darauf bestand, ihren Namen ‚Mann‘ zu behalten, lag es nahe, dass ich meinen Familiennamen ‚Kirch‘ voranstellte. Viele glauben, ich würde sie auf den Arm nehmen, wenn ich mich vorstelle.«

Das sprach für eine gewisse Selbstironie. Sympathisch.

Doch ich ging nicht weiter auf den Humorfaktor, den deutsches Namensrecht ermöglicht, ein und wandte mich an die Frau. »Und Sie sind bitte?«

Es antwortete wieder der Pfarrer. »Das ist Frau Zeuner. Sie hat die Polizei informiert, als sie die Leiche gefunden hat. Ihr geht es gar nicht gut. Darf ich sie vielleicht mit zu mir nach Hause nehmen? Einen Arzt verständigen?«

Ich sah mir die Frau genauer an. Sie sah wirklich unerhört mitgenommen aus. Ein Bündel Elend. Im Grunde sprach nichts gegen den Vorschlag. »Wo wohnen Sie?«

»Sie sind wahrscheinlich am Pfarrhaus vorbeigekommen. Direkt gegenüber der Kirche.«

»Ach ja. Gehen Sie nur. Wir melden uns später bei Ihnen. Erich, besorge doch mal einen Arzt, der sich um die Zeugin kümmert.«

Pfarrer Kirch-Mann redete wieder mitfühlend auf Frau Zeuner ein und überredete sie, ihm zu folgen. Er hakte sie unter und schob sie mehr, als dass sie ging, auf Nebenwegen vom Friedhofsgelände herunter. Erich führte mit dem Handy ein kurzes Gespräch und nickte mir zu. Auftrag erledigt.

Mein Blick fiel auf die Abfallcontainer gegenüber der Bank mit der Wasserzapfsäule daneben. An einem ähnlichen Platz waren wir am Haupteingang vorbeigekommen.

»Kann mal jemand nachschauen, ob es da was für uns gibt?«, rief ich den beiden verbliebenen Polizisten über den Tatort hinweg zu und deutete mit ausgestreckter Hand auf die metallenen Müllbehälter.

»Die SpuSi kommt gleich. Sollten die nicht lieber …«

Der uniformierte Kollege hatte Recht. Natürlich ist das Aufgabe der Spurensicherung. Manchmal bin ich zu ungeduldig.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Erich.

»Wir inspizieren das Gelände. Ganz für uns. Atmosphäre schnuppern.«

Widerwillig folgte mir Erich.

Wir schritten die Friedhofswege entlang, einen nach dem anderen, und ich grübelte, welche Spuren ein Täter hier hätte zurücklassen können. Gesetzt den Fall, es handelte sich um Mord und gesetzt den Fall, er war hier verübt worden. Grab an Grab, auf vielen eine brennende Kerze, herbstlicher Blumenschmuck – so wie ein Friedhof um diese Jahreszeit eben aussieht. Mich wunderte, dass nicht mehr Laub auf den Wegen lag, denn hier standen stattliche Bäume. Schließlich hatte ich genug vom Lustwandeln.

Als wir zum Fundort zurückkehrten, waren die Spezialisten eingetroffen. Doktor Frohmann, einer der Rechtsmediziner, beugte sich über die Leiche. Hartmut Dreute, das Spurengenie, ließ seinen Blick durch die massive Brille, die wie ein Aushängeschild für seine Profession auf seinem breiten Nasenrücken thronte, über die angrenzenden Gräber schweifen. Die Brillengläser erinnerten stark an Lupen.

Ich begrüßte die Neuzugänge.

»Morgen, Hartmut, hallo, Herr Doktor Frohmann. Gibt es schon was für uns?«

»Genickbruch. Verursacht durch einen Schlag mit einem harten Gegenstand oder einen Stoß. Die Leiche wurde bewegt. Der Mann starb höchstwahrscheinlich nicht hier.«

»Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«

»Fünfzehn Stunden plus/minus zwei.«

Sachlich war der Tonfall des Arztes, seine Feststellungen Ergebnis langjähriger Berufserfahrung. Er zog ein Diktiergerät unter seinem weißen Fliesoverall hervor und murmelte die Ergebnisse der ersten Untersuchung hinein. Mit uns war er fertig. So kannten wir ihn.

»Nicht hier am Fundort ums Leben gekommen – war ja zu vermuten. So wie der daliegt. Na, Hartmut, dann weißt du ja, was zu tun ist. Sucht mal schön.«

Der SpuSi-Mann strich sich mit der flachen Hand über die ausgeprägte Glatze, die von einem schwarzen Haarkranz umfriedet wurde, den erste Silberfäden durchzogen. »Der Feiertag ist im Eimer«, hörte ich ihn noch meckern. Dann schnappte ich mir Erich und wir gingen zum Pfarrhaus hinüber.

Am Haupttor, das der abgestellte uniformierte Kollege großzügig mit Absperrband dekoriert hatte, trafen wir auf eine neugierige Menschentraube. Hälse wurden gereckt, was es Geheimnisvolles auf dem Friedhof gäbe. Gerade wehrte der Polizist aufdringliche Fragen ab. »Gehen Sie nach Hause. Der Friedhof bleibt vorerst geschlossen. Ich darf Ihnen keine Auskünfte erteilen. Gehen Sie heim.«

Ohne weiter auf die Leute zu achten, drängelten Erich und ich durch die Meute hindurch. Ich ließ meinem jungen Kollegen den Vortritt, denn mit einer Größe von gewiss eins neunzig besaß er eindeutig die besseren Eisbrecher-Qualitäten. Neugierige Blicke folgten uns. »Die sind bestimmt von der Kripo«, bemerkte eine feiertäglich herausgeputzte reifere Dame mit Perlenkette um den faltigen Hals gerade, als wir an ihr vorbeizogen.

»Möchten Sie eine Aussage machen?« Ich sah die Schlaubergerin scharf an, meine strengste Beamtenmiene aufsetzend. Gaffer provozieren mich regelmäßig.

Entsetzt fuhr die Frau zurück. »Nein, nein. Ich habe ja nichts gesehen.«

»Dann leisten Sie jetzt der Aufforderung des Polizisten dort drüben unverzüglich Folge und räumen den Zugang zum Friedhof!«

Mäuschengleich zupfte die Perlenkettenträgerin eine andere Dame, die offensichtlich zu ihr gehörte, am Ärmel und suchte gemeinsam mit ihr das Weite.

Direkt hinter Erichs BMW parkte ein Opel Astra. Ein Schild klemmte hinter der Windschutzscheibe: Arzt im Einsatz. Das war schnell gegangen.

Erich klingelte am Pfarrhaus. Einen Moment später streckte ein auffällig hübsches Mädchen, schätzungsweise vierzehn Jahre alt, ihren Kopf zwischen Tür und Rahmen hindurch. Das freudige Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb, als sie uns sah. »Ja bitte?«

Wieder übernahm ich unsere Vorstellung. »Guten Morgen. Siebert und Terschüren von der Kripo. Wir haben gerade mit Herrn Kirch-Mann gesprochen. Ist der hier?«

»Kripo? Aufregend. Papa sitzt mit Frau Zeuner im Büro. Ich glaube, ein Doktor ist auch da. Kommen Sie.«

Der Teenager ließ Erich und mich herein und zeigte uns im Flur rechts eine Tür, hinter der gemurmelt wurde. »Da müsste er stecken.«

Erich klopfte an.

»Hallo Simone. Da bin ich!«

Eine Mädchenstimme in unserem Rücken hatte das gerufen. Ich drehte mich um. Da lag das hübsche Pfarrer-Kind ihrem Besuch bereits um den Hals. Mir schwante, dass ihr Lächeln bei unserer Begrüßung der freudigen Erwartung dieser Freundin gegolten hatte und unser Erscheinen für sie eine Enttäuschung gewesen war. Die Teenager verschwanden im Haus, ohne uns weiter zu beachten.

Das Gespräch hinter der Tür verstummte. »Herein«, rief der Hausherr. Wir traten ein.

Die linke Wand des Raums war komplett mit Bücherregalen bedeckt, gut gefüllt. Geradeaus stand ein betagter Schreibtisch, der bereits Pfarrer Kirch-Manns Vor-Vorgänger Dienste geleistet haben mochte. Auf dem Stuhl dahinter saß die Frau vom Friedhof und presste ein Stück Mull auf den entblößten Oberarm. Augenscheinlich hatte der neben ihr stehende Mann – das musste der Arzt sein – ihr eine Beruhigungsspritze verpasst.

»Guten Morgen«, begrüßte ich den Weißkittel, der zur Erwiderung des Grußes nur die Augen zusammenkniff.

Der Pfarrer bestätigte mir, was ich mir zusammengereimt hatte. »Herr Doktor Remigius hat Frau Zeuner gerade behandelt. In einer Viertelstunde bringe ich sie nach Hause. Bis dahin soll die Spritze wirken.«

»Erich, notierst du bitte die Adresse von Frau Zeuner. Darf ich Sie kurz vor der Tür sprechen, Herr Doktor Remigius?«

Wortlos folgte mir der Arzt in den Flur. Sorgfältig schloss ich die Tür hinter uns und sprach mit gedämpfter Stimme weiter. »Ich bitte Sie um Ihren ersten Eindruck: Was könnte diese starke Reaktion bei Ihrer Patientin ausgelöst haben? Ganz spontan?«

»Ein Schockzustand«, gab sich der Weißkittel wortkarg, ohne meine Frage richtig zu beantworten.

»Ein Schockzustand wegen der Entdeckung der Leiche oder, nun ja, weil sie etwas getan hat, was ihr vielleicht leid tut?«

»Keine Ahnung. Ihr Job.«

Wenig kooperativ, dieser Mensch. Ich setzte ihn in Gedanken auf die Liste der Weißkittel, denen ich möglichst nicht an Tatorten wiederbegegnen wollte. »Danke, Herr Doktor Remigius«, presste ich mir noch ab, da war der Wortkarge bereits wieder im Büro verschwunden.

Durch die geöffnete Tür sah ich, wie er seinen Utensilien-Koffer schnappte und zum Abschied an seine Schläfe tippte. Er war draußen, ehe einer von uns ihm ein Wiedersehen zurufen konnte. Wäre es nicht seine Pflicht gewesen, die Patientin zu beobachten?

Ich ging ebenfalls zurück ins Büro. Diesmal fiel mir der Geruch nach altem Papier auf. Den hatte das Desinfektionsmittel, das der Arzt verwendet hatte, vor der Verabreichung der Spritze vorhin verdeckt.

»Hast du alles, Erich?«

»Jawoll, Chef.«

»Was kann ich noch für Sie tun, meine Herren?«, meldete sich Pfarrer Kirch-Mann zu Wort.

»Bringst du bitte Frau Zeuner nach Hause, Erich? Und bleibe ruhig ein bisschen bei ihr. Ich möchte gerne mit dem Herrn Pfarrer reden.«

»Jawoll, Chef.«

Erichs aufgesetzt zackiger Ton karikierte die Anrede »Chef«. Das ärgerte mich. »Sieh zu, dass du Land gewinnst!«

Ohne lange Umschweife packte Erich Frau Zeuner unter den Achseln und stellte sie auf die Beine. Sie schwankte etwas, fing sich dann aber. Ich wusste, dass sie bei meinem jungen Kollegen in guten Händen war. Mit Frauen pflegte er einen höflichen Umgang. Da war er besser sortiert als ich.

Langsam trottete Frau Zeuner, von ihm gestützt, neben Erich her. Hinter ihnen fiel die Bürotür ins Schloss, dann hörten wir die Eingangstür zuschlagen.

»Ich kann es gar nicht begreifen. Ein Mord. Auf unserem Friedhof«, stellte der Kirchenmann in den Raum.

»Ob es ein Mord war, muss sich erst herausstellen«, dämpfte ich die voreilige Feststellung des Pfarrers. »Dazu ist zunächst eine Obduktion erforderlich. Müssten Sie eigentlich nicht in der Kirche sein? Wir haben doch einen Feiertag.«

Er lächelte das erste Mal, seit ich ihn kannte. »Nein. Heute sind nur die katholischen Priester dran. Wir Evangelischen haben frei.«

Sollte man sowas wissen?, schoss es mir durch den Kopf.

»Ein paar Leute stehen vor dem Haupteingang zum Friedhof. Da dachte ich, anschließend ginge man zur Kirche.«

»Mittlerweile gehen alle an Allerheiligen zum Friedhof. Sie zünden Kerzen an auf den Gräbern, wie es ihnen die Katholiken vorgemacht haben. Unser Gottesacker ist seit Langem für alle Konfessionen geöffnet. Wenn einer der Hinterbliebenen einer christlichen Kirche angehört, beerdigen wir hier. Und Sie glauben nicht, wie viele Ausgetretene Trost darin finden, für ihre Verstorbenen ein Licht anzuzünden. Brauchtum – Kultur – Glaube – Inszenierung – Event: Das fließt doch heutzutage alles nahtlos ineinander.«

Ich dachte daran, dass wir das Grab meiner Eltern in Pflege gegeben hatten und ich nur ganz selten zum Friedhof ging, obwohl sie in Essen bestattet waren. Sie waren vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Mir gab es nichts, vor ihrem Grabstein zu stehen. Meinem Kopf gelang es einfach nicht, diese kleine Parzelle mit zwei lebensfrohen, fitten Endsechzigern in Verbindung zu bringen.

Pfarrer Kirch-Mann nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, wo vorhin Frau Zeuner gesessen hatte, und wies auf einen der Stühle davor. Genau hier mochten manchmal Trauernde sitzen, aber genauso Taufeltern oder Hochzeitspaare. Eng war er verbunden mit den Stationen eines Lebens, der Beruf des Pfarrers.

Ich setzte mich. »Haben Sie einen Blick auf die Leiche werfen können?«

»Flüchtig. Ich wurde durch das Blaulicht der Polizeiautos darauf aufmerksam, dass etwas nicht stimmte. Ich ging hinaus und traf vor dem Haus auf Ihre Männer. Sie fragten mich nach dem ältesten Grab auf dem Friedhof – in seiner Nähe sei eine Leiche gefunden worden. Ich ging vor. Den Toten habe ich nur kurz angesehen, denn gleich darauf entdeckte ich Frau Zeuner auf der Bank. Die hatte meine Hilfe dringender nötig.«

»Sie können aber ausschließen, dass Sie den Mann zuvor schon mal gesehen haben? Trotzdem es so schnell ging?«

»Da bin ich mir ziemlich sicher. Sein Gesicht war ja gut zu sehen, so wie er dalag.«

»Hat Frau Zeuner etwas gesagt?«

»Lassen Sie mich nachdenken. Ja, etwa so: Mein Mann liegt da. Er ist wiedergekommen. Als Toter.«

»Ihr Mann? Was soll das bedeuten? Ist das Herr Zeuner?«

»Nein. Natürlich nicht.« Mein Gegenüber sagte das etwas unwirsch.

»Was meint die Frau denn sonst damit?«

»Sie müssen berücksichtigen, dass Frau Zeuner einen Schock erlitten hat. Ihren Mann hat sie damals in Thailand Weihnachten 2004 bei diesem Tsunami verloren. Sie trauert heute noch wie am ersten Tag um ihn. Manche kommen nie darüber hinweg …«

»Was heißt dann: Wiedergekommen?«

»Ich nehme an, sie meint damit die Bilder, die sie unverarbeitet in sich trägt. Ihr Mann in einer Reihe mit dutzenden anderen Leichen. Das Stehen am offenen Grab. Ihre Erinnerung wird wiedergekommen sein.«

»Ach so.« Ich war leicht enttäuscht. Wenigstens an einem Feiertag hätte man ja mal ermittlungstechnisch Glück haben können. »Ist Ihnen denn sonst etwas aufgefallen, was mit dem Toten in Zusammenhang stehen könnte? Heute, gestern oder in den letzten Tagen?«

Ich sah meinem Gesprächspartner an, dass er nur oberflächlich über meine Frage nachdachte. »Nein. Nichts.«

»Können Sie mir einen Tipp geben, wem etwas aufgefallen sein könnte? Etwa jemandem, der oft auf den Friedhof geht, der aus seinem Wohnzimmerfenster draufschaut, jemandem, der dort arbeitet?«

»Tja. Natürlich wohnen wir nebenan. Aber Sie sehen ja selbst«, der Pfarrer deutete mit einer flüchtigen Handbewegung auf das Fenster hinter sich, »die Tannen dort hinten im Garten verstellen uns die Sicht auf den Friedhof. Wir bekommen höchstens mit, wenn die Leute hier vorbeigehen. Das sind täglich viele.«

»Wen könnte man denn dazu befragen? Wer hängt eng mit dem Friedhof oder der Gemeinde zusammen?«

»Unsere Küsterin natürlich und die Friedhofsverwaltung. Das Presbyterium. Wenn Sie wollen, auch der Chor. Die vielen Kreise, der Bibelkreis etwa oder die Frauenhilfe. Die jungen Leute, die in unserem Jugendkeller verkehren. Unser Gemeindeleben ist zum Glück recht lebendig. Ich bin stolz darauf.«

»Können Sie mir bitte die Namen der wichtigsten Kontaktpersonen geben? Und am besten gleich ihre Kontaktdaten?«

»Nehmen Sie einen Gemeindebrief mit. Darin müssten alle erwähnt sein, die für Sie interessant sind.«

Pfarrer Kirch-Mann nahm ein schmales Heft vom Schreibtisch und schob es mir über die Platte zu. Ich steckte es in die Gesäßtasche meiner Jeans. »Danke.«

Die Augen des Pfarrers wurden nachdenklich. Er versank so sehr in sich, dass er bestimmt nicht bemerkt hätte, wenn ich den Raum verließ. Was ging in ihm vor?

Ich gönnte meinem Gesprächspartner die kleine Auszeit. Es geschah häufiger, dass Zeugen plötzlich etwas einfiel, was ihnen vorher nicht aufgefallen war. Nach bestimmt einer Minute verlor ich die Geduld. »Was ist mit Ihnen los?«

Meine Hoffnung, einen sachdienlichen Hinweis zu erhalten, versickerte in der Antwort. »Mir geht gerade auf, dass hier bei uns, im Schatten des Kirchturms sozusagen, ein Verbrechen begangen worden ist. Damit muss ich erst fertig werden. Meine Schäfchen – ich übernehme gerne das Bild vom guten Hirten, müssen Sie wissen –, werden mich auf der Straße darauf ansprechen, werden neugierig sein, werden tuscheln. Wer ist der Mörder? Was ist das für ein Mensch? Hat er aus Not getötet oder in geistiger Umnachtung? Wollte er sich bereichern, wollte er sich rächen? Besteht Gefahr für uns? Warum lässt Gott so etwas zu? Gerade auf Letzteres werde ich nur unzureichende Antworten für sie haben. Aus ihrer Sicht.

Und sie werden misstrauisch werden, meine Schäfchen. Vielleicht ist der Täter ja einer von ihnen? Der Nachbar? Der Vereinsfreund? Ein Angestellter der Gemeinde gar? Keine schöne Aussichten, einen Monat vor der Adventszeit.«

»Ich sagte Ihnen bereits: Dass es um Mord geht, steht keinesfalls fest.«

Die grauen Augen des Pfarrers ruhten auf mir. »Herr Siebert, Sie glauben doch selbst an ein Verbrechen. Machen wir uns nichts vor. So wie dieser Mensch dalag, ausgestreckt auf dem Rücken, die Augen geschlossen, die Hände gefaltet: So sieht kein Verunglückter aus. So fällt man nicht tot um. Man hat ihn regelrecht aufgebahrt, diesen Unbekannten. Sowas mache ich nicht, wenn jemand neben mir stürzt und sich dabei ernsthaft verletzt. Dann greife ich zum Handy und hole Hilfe. Vor allen Dingen bleibe ich bei ihm. Geben Sie es ruhig zu: Sie gehen von Mord aus.«

Ich erkannte meine Gedanken wieder, als ich vor dem Toten gestanden hatte. Aufgebahrt – besser konnte man es kaum ausdrücken. »Ich stimme Ihnen zu, Herr Kirch-Mann. Es bleibt jedoch ein rein persönlicher Eindruck. Bis die Untersuchungen zu einem offiziellen Ergebnis kommen.

Da es nun ausgesprochen ist, machen wir gleich auf theoretischer Basis weiter. Wenn es ein Mord war: Wissen Sie von Spannungen in der Gemeinde, von Eifersüchteleien, Neid, Streit um irgendetwas, von besonders jähzornigen Menschen oder solchen, die zu Gewalt neigen?«

»Sie meinen, ich soll einen Verdacht aussprechen, wer zu einem Mord fähig wäre? Verzeihen Sie, dazu werde ich Ihnen bestimmt keine Auskunft geben. Selbst wenn ich etwas wüsste, wenn sich mir vielleicht sogar eines meiner Schäfchen anvertraut hätte: Ich werde meine Schweigepflicht nicht brechen. Wo kämen wir da hin, wenn sich die Leute in Notlagen selbst ihrem Pfarrer nicht mehr anvertrauen können.«

Seine Augen nahmen einen harten und entschlossenen Ausdruck an. Ich spürte, dass ich einem konsequenten Menschen gegenübersaß, der seinen Beruf und seine Aufgabe ernst nahm, der beides verkörperte. Auch wenn mir das nicht passte: Damit stand er unwidersprochen auf der richtigen Seite. Von ihm aus betrachtet.

Im Moment fiel mir nichts mehr ein, wonach ich fragen konnte. Ich erhob mich. »Das wär’s fürs Erste. Ich werde bestimmt wieder auf Sie zukommen. Danke für die Auskünfte.«

Der Pfarrer stand ebenfalls auf. »Auf Wiedersehen, Herr Siebert. Wenn ich Sie zum Schluss um einen kleinen Gefallen bitten dürfte?«

»Schießen Sie los.«

»Die Sache wird Staub aufwirbeln. Sie bringt Unruhe in unsere Reihen. Gehen Sie bitte behutsam vor, damit der Argwohn nicht zu sehr in unserer Gemeinde tobt. Schlimm genug, dass bei uns so etwas passieren musste.«

Ich verstand den Pfarrer gut. Um Diskretion wurden wir in unserem Beruf immer wieder gebeten. Aber schließlich waren wir hier, um unsere Arbeit zu machen.

Ich speiste ihn mit einem Routinespruch ab. »Wir gehen so unauffällig wie möglich, dabei so konsequent wie nötig vor.«

Der Pfarrer rümpfte die Nase. Er hatte verstanden, dass wir bei unseren Ermittlungen keine Rücksichten auf das besondere Umfeld nehmen würden. Trotzdem bedankte er sich für meinen Spruch.

Er begleitete mich zur Haustür. Ein kräftiger Händedruck, ein letzter Blick in die Augen, dann trennten wir uns.

Vorne an der Straße sah ich Erich auf einem freigewordenen Stellplatz einparken. Ich ging ein paar Schritte auf seinen Wagen zu. Erich stieg aus, entdeckte mich und kam mir entgegen. »Na, Sigi, fertig mit dem Heiligen?«

Ich ärgerte mich ein wenig über Erichs respektlose Frage, schluckte den Ärger aber hinunter. »Komm. Wir gehen zurück zur Fundstelle. Mal sehen, was die SpuSi herausgefunden hat.«

Vor dem Haupteingang standen immer noch Leute herum. Einige gingen, andere kamen neu dazu. Wir wurden schief angesehen, als uns der uniformierte Kollege auf das Gelände ließ. Hinter uns hörten wir Geraune.

Auf dem Friedhof waren reichlich Gestalten in den typischen weißen Overalls der Spurensicherung unterwegs. Anscheinend hatte Hartmut Dreute Verstärkung angefordert. Doktor Frohmann war inzwischen gegangen, dafür hatte der Staatsanwalt hergefunden. Die Leiche lag unverändert an ihrem Platz.

Der Staatsanwalt kam auf mich zu. Seinem Aussehen nach hätte jeder gedacht, dass er längst in Rente wäre. Damit tat man Herhaus unrecht. Er war ein wacher Geist, der uns Ermittlern wenige Umstände bereitete. Ich tauschte mit dem Vertreter von Justitia die Notwendigkeiten aus und er verschwand wieder vom Ort des Geschehens.

»Kann ich dich kurz sprechen, Hartmut?«, rief ich dem SpuSi-Mann zu, der sich immer noch innerhalb der abgesperrten Fläche aufhielt.

»Komme. Augenblick.«

Erich und ich mussten nicht lange warten, bis Hartmut über das Flatterband kletterte. Sein Gesicht drückte wenig Begeisterung aus. Ich wusste aus dem langjährigen Umgang mit ihm: Das bedeutete nichts Gutes.

»Wir haben bis jetzt nix für euch«, bestätigte Hartmut meine Vermutung.

»Lass mich raten: keine Papiere, keine persönlichen Wertgegenstände, keine verwertbaren Spuren, keine Tatwaffe.«

»Exakt.«

»Der Doc hat vorhin angemerkt, der Mann sei nicht hier gestorben. Gibt es wenigstens Schleifspuren oder sowas?«

»Nichts. Es hat gestern Abend ziemlich stark geregnet. Der Tote liegt mindestens seit dreizehn Stunden auf dem Grab. Das wäre nach Aussage des Docs die kürzeste anzunehmende Frist. Lange genug, dass der Regen mögliche Spuren auf den Aschewegen hier wegwaschen konnte. Ein paar Fußabdrücke haben wir im aufgeweichten Lehm der Fundstelle sichergestellt. Außer denen vom Doc die von einem zweiten Mann. Ihr seid nicht draufgelatscht?«

»Sind wir Anfänger?«

»Ich frag ja nur.« Bei seiner Feststellung schaute Hartmut durch seine Lupenbrille linkisch zu Erich hoch. Wegen seiner benebelten Birne entging dem der Blick.

Ich überspielte das. »Wie wollt ihr weiter vorgehen?«

»Wir suchen den gesamten Friedhof nach weiteren Spuren ab. Dann geht die Leiche in den Kühlkeller und wir nach Hause. Die Fundstelle bleibt einstweilen abgesperrt.«

»Alles klar, Hartmut. Wir sehen uns morgen im Präsidium.«

»Da hab ich frei. Ausgleichstag. Schick dir heute noch einen Kurzbericht per E-Mail ins Büro. Den Tag morgen gönne ich mir – ist ja keine Gefahr im Verzug, würde ich sagen. Bis Montag hat der Rest Zeit.«

»Okay. Schönes Wochenende.«

»Tschüss dann.« Hartmut kletterte über die Absperrung zurück.

Wir verließen das Gelände diesmal durch den Seiteneingang zur benachbarten Straße Rottmannshof hin. Hier lungerten weniger Gaffer herum als vor dem Haupttor. Ihre Blicke klebten uns im Nacken.

An einer unverputzten Ziegelmauer entlang, die den Pfarrgarten zum Rottmannshof hin abschloss, gingen wir Richtung Hauptstraße. Mitten im Garten stand eine mächtige Blutbuche, wie ich trotz des ausgedünnten Herbstlaubs erkannte. Ihre Zweige streiften die Dachrinne des Pfarrhauses. Im Sommer waren die Räume auf dieser Seite mit Sicherheit recht dunkel.

Am Ende der Mauer bogen wir links ab. Ich warf einen kurzen Blick auf den dort angebrachten Schaukasten, der auf Veranstaltungen der Gemeinde hinwies. Wenige Schritte weiter erreichten wir Erichs Auto. Mein junger Kollege angelte den Schlüssel aus seiner Hosentasche. Die Zentralverriegelung klickte und wir stiegen ein.

»Das ist nicht mein Morgen, Sigi.«

»Ach was. Sag mir nur noch, ob was bei dieser Zeuner war, was uns weiterhilft – dann fährst du mich nach Hause und bist für den Rest des Tages entlassen.«

»Die Jacke musste ich ihr ausziehen und dann musste ich sie auf die Couch bugsieren. Die Spritze hat sie von den Socken gehauen. Deshalb bin ich einen Moment länger bei ihr geblieben. Das wäre eigentlich Sache des Arztes gewesen, oder?«

»Nun ja. Brechen wir auf. Du haust dich in die Koje und ich komme pünktlich zum Mittagessen. Gut für die Stimmung daheim.«

Identität unbekannt

Sie wusste nicht, wann alles angefangen hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---