Spiel des Schneemörders - Klaus Heimann - E-Book

Spiel des Schneemörders E-Book

Klaus Heimann

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Beschreibung

Winter 2010/2011. Einsam räumt ein Schneepflug frühmorgens die Straße nach Essen Kettwig. Plötzlich entdeckt der Fahrer etwas Auffälliges am Straßenrand. Als er nachsieht, findet er eine Frauenleiche auf dem Gehweg. Das Team um Hauptkommissar Sigi Siebert nimmt die Ermittlungen auf. Je mehr sie nachforschen, desto frustrierter werden die Polizeibeamten. Das Tatmotiv bleibt unklar, vom Täter keine Spur. In der Nacht zum ersten Weihnachtstag wird Sigi aus dem Bett geholt. Eine neue Frauenleiche. Die Tat weist viele Ähnlichkeiten mit der ersten auf. Das Team denkt ab jetzt an einen Serienmörder.

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Spiel desSchneemörders

Klaus Heimann

edition oberkassel

Inhaltsverzeichnis

Alles nur ein Spiel

Schnee im Pott

ErsteSchritte

Gestörter Feierabend und der Tag danach

Hängepartie

Sprich nie mit Frauen über Männer!

Kaputte Typen

Gedanken über Mordwaffen und Weihnachtsbäume

Ein Strohhalm

Es weihnachtet sehr

Heilige Nacht

Festtage voller Arbeit

Oh du Fröhliche

Eine Art Rausschmiss

Die Arbeit reißt nicht ab

Dienst amTelefon

Bleiernes Warten

Es wird ernst

Schlussbetrachtungen bei Guido

Wieder gilt es, Dank zu sagen

Klaus Heimann

Dank an die LeserInnen

Impressum

Alles nur ein Spiel

Wieder einmal saß er vor dem Computer.

Er lächelte, als er an die ahnungslosen Gehversuche dachte, die er im ersten Level bei der Bewältigung der Aufgaben unternommen hatte. Es hatte ihn einige Zeit gekostet, die Machart der Fallen zu begreifen, die ihm auf dem Weg zur Lösung gestellt worden waren, und hinter die Schliche zu kommen, die sich die Macher des Spiels überlegt hatten. Schließlich hatte er den aufzuspürenden Plan unter einer Bodenplatte im Turm von Notre-Dame gefunden. Auf dem Weg dorthin war er Dutzende Male virtuell gestorben. Diejenigen, von denen die Ideen zu diesem Computerspiel stammten, hatten eine wunderbare Welt erschaffen, eine Welt, die den Spieler mit Haut und Haaren in ihren Bann zog.

Das präsentierte Szenario war im Grunde einfach. Die Kulisse bildete ein schmutziges, verlottertes Paris in unbestimmter historischer Zeit. Der Spieler sah aus einer Kameraperspektive auf das Geschehen, als wäre er selbst in der Stadt unterwegs. Die Aufgabe, den Plan zu suchen, hatte er zu Beginn des ersten Levels von einem jungen Burschen in löchriger Kleidung als mündliche Nachricht erhalten. Auf die Gefahren, die seinen Weg begleiteten, hatte es keinerlei Hinweise gegeben. Ahnungslos war er in die erste Falle getappt. Ein grober Kerl hatte ihn an der Schulter gepackt und beschuldigt, ein Brot gestohlen zu haben. Im Nu war er vom Pöbel umringt gewesen, und Frauen und Männer hatten ihn verprügelt. Endlich hatte ihn der Faustschlag des Kerls, der ihn angehalten hatte, ins erste virtuelle Aus befördert. Der Bildschirm war für einen Moment hell geworden und das Spiel startete mit der Überbringung der Nachricht von vorn.

Im Laufe der Zeit hatte er gelernt, wie man die vorbestimmten Konfliktsituationen umgehen konnte. Wichtig war, dass man sich möglichst im Schatten aufhielt, in dunklen Ecken und Verstecken. Da der Spieler ohnehin in der Nacht unterwegs war, bot die spärliche Beleuchtung ausreichend Möglichkeiten dazu. Und wenn es keinen Schatten gab, suchte man die Deckung von Mauern, Gebüschen oder einem durch die Straßen rumpelnden Ochsenkarren. Manchmal war es sogar notwendig, über Dachfirste zu balancieren oder sich ins Kanalsystem abzuseilen. Dort lungerten Ratten herum. Die Biester waren zwar ekelig anzusehen, blieben aber ungefährlich. Für den einen oder anderen Bettler, der sich hier aufhielt, galt das nicht. Die Wesen der Unterwelt von Paris waren verschlagene Kreaturen, vor denen man auf der Hut sein musste.

Bald hatte er herausgefunden, wie man unterwegs Punkte in Form von Franc-Münzen sammelte, für die man bei dubiosen Händlern verschiedene Waffen erhielt. Kam es trotz aller Vorsicht zu Auseinandersetzungen, konnte man sich mit ihrer Hilfe wehren. Bereits im zweiten Durchgang des ersten Levels erwarb er einen Dolch und setzte ihn prompt gegen einen der Bettler im Kanal ein. Das kostete ihn zwar das Messer, denn jede Waffe durfte nur einmal benutzt werden, rettete ihn aber bei seiner Durchquerung der Pariser Unterwelt.

Wenn er vor dem Computer saß, vergaß er vollständig Zeit und Realität. Er tauchte mit allen Sinnen in das virtuelle Geschehen ab. Die Magie der Bilder auf dem Computerbildschirm ergriff Besitz von ihm. Die Illusion, die Stimmung des alten Paris war so genial getroffen, dass sie ihn jedes Mal gefangen nahm und er zu ihrem Bestandteil wurde. Die Gegenspieler wiederum forderten volle Aufmerksamkeit, um ihr Verhalten vorauszuahnen und sich ihrer in geeigneter Form zu entledigen, sie zu täuschen, abzuschütteln oder, wenn es unbedingt notwendig war, ins Gras beißen zu lassen. Ein faszinierender Kosmos!

Einmal stellte er mitten in der Nacht fest, dass er fünf Stunden lang nichts getrunken hatte. Im Spiel hatte er unterdessen zweimal einen Krug Wasser geleert, denn auch die Nahrungsaufnahme gehörte zur erfolgreichen Mission dazu. Aß und trank man nicht genug, schwächte das die Kraft des Spielers, er wurde langsamer, reagierte verzögert. Etliche Francs gingen für einen Apfel, einen Kanten Brot oder sogar eine komplette Mahlzeit in einer der schmierigen Spelunken drauf. Eine zusätzliche Herausforderung, ständig daran zu denken.

Die Krönung des Spiels war seinen Machern unzweifelhaft beim Gestalten des Abschlusses eines Levels gelungen. Indem er die Bodenplatte im Turm von Notre-Dame angehoben und erkannt hatte, dass er am Ziel angelangt war, erschien eine goldene Schrift, die ihm zur Lösung der ersten Aufgabe gratulierte. Die nächste Perspektive hatte ihn auf einen Kasernenhof geführt. Dorthin waren von stattlich ausstaffierten Soldaten nacheinander die Gegner gebracht worden, die im Level aufgetaucht waren. Lebend, aber in Fußeisen und an den Händen mit groben Stricken gefesselt. Die Soldaten zwangen sie, sich vor einem Gebäude in einer Reihe aufzustellen, das Gesicht dem Spieler zugewandt. Wie Verurteilte, die auf die Vollstreckung ihrer Strafe warteten. Dann eine neue Schrift: Bestimme, wen du nie mehr wiedersehen willst!

Rache! Er als Spieler durfte sich an dem Gesindel rächen! Was für eine herrliche Spielidee!

Er hatte auf den groben Kerl vom Anfang geklickt, der ihn das erste Mal zum virtuellen Tode befördert hatte. Daraufhin war der Fiesling mit vorgehaltenen Bajonetten auf ein hölzernes Podest mitten im Hof gebracht worden, wo ihn zwei der Soldaten an einem Schandpfahl festbanden. Allen anderen Gefangenen wurden Hände und Füße befreit, und sie verschwanden in der Pariser Nacht. Der Ausgewählte blieb allein auf dem Kasernenhof zurück und starrte ängstlich ins Dunkel.

Einige Sekunden vergingen. Dann tauchte hinter dem Gefesselten eine beängstigende Gestalt auf, die sich ihm langsam näherte.

Was für eine Spielfigur! Gewandet in einen schwarzen Umhang, einen Zylinder auf dem Kopf. Vom allgegenwärtigen Schmutz des alten Paris und der anderen Gestalten haftete ihr nichts an. Lautlos trat sie hinter den vor Angst zitternden Delinquenten.

Jetzt konnte er das Gesicht des Schwarzen genauer erkennen. Es trug die Bleiche des Todes, ohne die Kantigkeit eines Schädels. Vielmehr zeigte das Gesicht des Mannes – oder des Jungen? – weiche Züge. Sein Mund verzog sich zu einem verklärten Lächeln. Etwas Irres lag ebenso darin wie etwas Berechnendes, Eiskaltes.

Was dann geschehen war, hatte ihn endgültig aus dem Häuschen gebracht: Der Todesengel legte dem Delinquenten eine Drahtschlinge um den Hals und zog sie mit seinen behandschuhten Händen zu. Ohne Anstrengung, ohne dass sich die Gesichtszüge des Rächers veränderten. Keinerlei Gegenwehr aufbietend, erschlaffte der grobe Kerl. Unter der Schlinge bildete sich eine feine, rote Linie.

Nebel stieg vom Pflaster auf und hüllte die Figuren mehr und mehr ein. Dann entstand eine kurze Pause, und kurz darauf startete der zweite Level.

In diesem Moment hatte er endlich den Titel des Spiels begriffen: Jacques Garrotte. Das war der Name des Vollstreckers, der beim Laden des Spiels in Großbuchstaben auf dem Bildschirm erschien. Jetzt verstand er den Text auf der DVD-Hülle, die den Nachnamen dieses Wesens erklärte, gleichzeitig die Bezeichnung seiner Waffe.

Ihn verzückte dieser kalte Todesengel. Lautlos, emotionslos, elegant: So musste man töten!

Immer häufiger erwischte er sich dabei, dass er der virtuellen Welt des Spiels in seinen Tagträumen nachspürte. Einmal eine solche Drahtschlinge in Händen halten, eine Garrotte, wie sie seinerzeit gerne von berufsmäßigen Mördern benutzt worden war. Einmal die Macht spüren, die davon ausging, eine Waffe zu besitzen. Es war ihm unmöglich, dem Drang zu widerstehen. Aus Zaundraht und zwei Abschnitten eines Besenstiels baute er eine Garrotte anhand von Bildern im Internet nach.

Oh ja! Sie lag gut in der Hand!

Von nun an führte er die Drahtschlinge ständig bei sich, wenn er zwischen den Spielsessions selten genug das Haus verließ. Sie verlieh ihm ein Gefühl der Überlegenheit, das ihm bisher fremd gewesen war. Er verfolgte Passanten und stellte sich vor, wie es wäre, sie die Schlinge spüren zu lassen. Mit der Zeit stellte er überrascht fest, dass es immer Frauen im Alter zwischen sechzig und siebzig waren, denen er hinterherschlich. Wehrlose, harmlose Frauen. Keine groben Kerle.

***

Er erreichte das Ziel des zweiten Levels, den Bois de Boulogne. Gebannt starrte er auf den Bildschirm. Er stand kurz vor der Lösung. Seine Aufgabe war es, ein Stilett zu übernehmen, das ihm in den nächsten Leveln weiterhelfen sollte. Diese Waffe dürfte er so oft einsetzen, wie er wollte – er würde sie nicht verlieren.

In einem Wäldchen versteckt wartete er auf die angekündigte Botin. Eine dralle, ältere Bürgerin ging vorbei, gestützt auf einen Gehstock. Beim ersten Versuch hatte er angenommen, sie wäre die Botin, und hatte sich aus dem Gebüsch vorgewagt. Mit einem hämischen Grinsen hatte ihn die Dralle mit ihrem Gehstock, aus dessen Spitze eine Klinge vorgeschossen war, niedergestreckt. Er war gezwungen gewesen, von vorn zu beginnen. Die Alte würde er Jacques Garrotte ausliefern, so viel stand fest.

Auf dem Bildschirm kam ein Mädchen auf sein Versteck zu, das sich ängstlich nach allen Seiten umsah. War das die Botin? Er trat einen Schritt aus dem Gebüsch heraus. Das Mädchen entdeckte ihn und lief auf ihn zu. Unter dem mehrfach geflickten Wams zog sie einen in ein schmutziges Tuch eingewickelten Gegenstand hervor – sein Stilett. Er nahm es in Empfang, und bald darauf tauchte der Kasernenhof auf.

Geschafft! Sein Idol konnte sein Werk beginnen!

Er genoss das angstverzerrte Gesicht der drallen Bürgerin, als sie in Jacques Schlinge hing. Solche Macht konnte man über Frauen ihres Formats ausüben!

Ein unwiderstehlicher Gedanke!

Als der dritte Level startete, lehnte er sich einen kurzen Augenblick auf seinem Schreibtischstuhl zurück, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Wie fühlte sich das an, wenn man in einem Wald im Hinterhalt lag? Was machte das mit einem? Wenn man nicht wusste, welcher Passant einem wohlgesonnen und welcher ein Feind war? Konnte man das ausprobieren?

Es hielt ihn nicht länger in der Wohnung. Er streifte seine Winterjacke über und ging hinaus. Die eiskalte Nacht empfing ihn und blies ihm Schnee ins Gesicht. Das dämpfte seinen Elan. Sich bei diesem Wetter irgendwo auf die Lauer legen? Er würde bis auf die Knochen durchfrieren.

Ach was, nur eine halbe Stunde. Bis zum Wäldchen unten an der Hauptstraße im Tal war es nicht weit. Zehn Minuten dort in Deckung gehen und einfach dem Gefühl nachspüren – das ginge schon.

Durchfroren kam er an seinem Ziel an. Er suchte sich eine geschützte Stelle im Busch und verbarg sich hinter dem Stamm einer mächtigen Buche. Von hier aus hatte er die Straße bestens im Blick. Niemand käme vorbei, ohne von ihm bemerkt zu werden.

Von ferne hörte er von einem Kirchturm ein Uhr schlagen. Es war genug. Zurück ins Warme.

Gerade wollte er sein Versteck verlassen, da kam sie die Straße entlang. Die Frau hatte den Kragen hochgeschlagen und kämpfte etwas gebeugt gegen Wind und Schnee an.

Was trieb sie hier? Warum kam sie ihm in die Quere? Freund, neutral oder Feind? Warum versuchte sie ihn durch ihr Aufkreuzen? Spontan schwappte Hass auf diese Person in ihm hoch.

Als die Frau näherkam, konnte er ihr Alter schätzen. Vorne stand bestimmt eine Sechs. Es war nicht nur der dicke Mantel, der sie korpulent erscheinen ließ. Verdächtig machte sie, dass sie sich hier mitten in der Nacht und bei diesem Wetter herumtrieb. Er entschied sich für »Feind«.

Möglichst behutsam trat er aus seinem Versteck und heftete sich an die Fersen der Frau. Schritt für Schritt verkürzte sich sein Abstand zu ihr. In der Tasche seiner Hose spürte er die Garrotte. Sie brannte durch den Stoff hindurch auf der Haut seines Oberschenkels. Leider verfing sie sich in seiner Kleidung, als er sie hervorholen wollte. Einen Moment lang kämpfte er mit dem Stoff, bis sie endlich in seiner Hand lag.

Noch etwa drei Meter. Die Frau hatte ihn bisher nicht bemerkt.

***

Schnee, Schnee, Schnee …

Dieser Winter verlangte dem Mann von den Entsorgungsbetrieben eine Menge ab. Er fuhr mit dem Schneepflug die Meisenburgstraße abwärts in Richtung Kettwig. Nur mit Mühe fächerten die Scheibenwischer die auf das Räumfahrzeug eindreschenden, geldstückgroßen Flocken beiseite. Im Kegel der Scheinwerfer tanzten sie wild durch die Luft und reflektierten das Licht. Er fuhr in dieses gleißende Weiß hinein, hoch konzentriert, um nicht zu spät auf ein mögliches Hindernis zu reagieren.

Die Schaufel vorne am Fahrzeug häufte die weggeschobenen Schneemassen am Straßenrand auf. Nach hinten stob das Streumaterial auf die Straße. Ein trostloser Job, ganz früh am Morgen. Ihm schien es, als brächten alle anderen diese Schneetage in ihren vier Wänden zu. Er kam sich vor wie der einsamste Mensch des Ruhrgebiets, mitten in der Großstadt Essen.

Eingangs der Graf-Zeppelin-Straße verbesserte sich die Sicht. Die hohen Bäume auf der rechten Straßenseite brachen den Wind und zähmten dadurch das Schneegestöber etwas. Das gelbe Blinklicht seines Wagens zuckte über die verschneiten Äste und die Hausfassaden auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Doch was war das? Was lag dort auf dem Bordstein? Zwar war dieses Etwas mit Schnee überzogen, doch besaß es unzweifelhaft die Konturen eines Menschen.

Er stieg in die Bremsen, dass sein schwerer Wagen trotz aller Winterausrüstung schräg über die Fahrbahn rutschte. Ohne den Motor auszustellen, hechtete er aus dem Führerhaus, ging vor der Schaufel entlang und kletterte über den Schneewall am Straßenrand. Fünf Schritte weiter stand er vor einer eingeschneiten Person, die auf dem Rücken ausgestreckt mitten auf dem Bordstein lag.

Instinktiv legte er das Gesicht des leblosen Körpers mit den Händen frei. Eine Frau, etwas älter schon. Er versuchte, am Hals ihren Puls zu ertasten. Nichts zu spüren. Er wedelte den Schnee in der Herzgegend von ihrem Mantel. Ohne Handschuhe wurden seine Finger so kalt davon, dass er sie knetete. Dann legte er das Ohr auf die Brust der Frau. Kein Herzschlag zu hören. Ihre Kleidung war bereits steif gefroren. Hier kam jede Hilfe zu spät.

Eilig kletterte er wieder ins Führerhaus zurück. Über Funk löste er einen Notruf aus. Dann schaltete er die Warnblinkanlage ein und drehte den Zündschlüssel in die Null-Position. Gespenstische Ruhe umfing ihn, nur durchbrochen vom tickenden Blinkrelais. Die Frau brauchte vielleicht doch seine Hilfe. Wieder hinaus! Egal, wie kalt es war.

Nach fünf Minuten gab er auf. Es war ihm nicht gelungen, irgendein Lebenszeichen aufzufangen. Die Frau war tot – da war er sich jetzt absolut sicher. Durchgefroren wartete er in seinem Räumfahrzeug auf den Rettungswagen. Bei diesem Wetter noch eine ganze Viertelstunde.

***

Es war schwerer gewesen als gedacht. Die Frau war nicht einfach zusammengesackt, wie er sich das vorgestellt hatte. Sie hatte sich heftig gegen seine Attacke gewehrt, nach hinten gegriffen und ihm die Backe zerkratzt. Beinahe hätte er losgelassen, überrumpelt von der Gegenwehr. Dann hatte er die Schlinge mit aller Kraft zugezogen, fest entschlossen, das einmal begonnene Werk zu Ende zu bringen.

Irgendwann war der Körper vor ihm erschlafft. Er hatte nicht nachgegeben. Bis er spürte, dass alle Kraft aus seinem Opfer gewichen war. Er hatte die leblose Gestalt vor sich niedersinken lassen, war selbst in die Knie gegangen, ohne die Schlinge zu lösen. In dieser Haltung hatte er einige Zeit verharrt, bis er sich sicher gewesen war, zum Vollstrecker geworden zu sein. Zum Todesengel. Wie sein Vorbild …

Er betrachtete die Schramme an seiner Wange im Badezimmerspiegel. Sie war recht heftig. Eine kleine Stelle blutete immer noch. Mit ans Gesicht gepresstem Taschentuch war er nach Hause geeilt, um sie vor den neugierigen Blicken der Passanten zu verstecken. Allerdings war ihm zu dieser frühen Morgenstunde niemand begegnet. In dieses Schneechaos ging nur hinaus, wer es nicht vermeiden konnte.

Er nahm das Desinfektionsmittel aus dem Medizinschrank, der rechts vom Spiegel an der Wand hing. Fast hätte er aufgeschrien, als die braune Flüssigkeit die Wunde benetzte. Er schnitt einen Streifen Mull zurecht und klebte ihn mit Pflaster über die Stelle. Er würde sich eine gute Ausrede einfallen lassen müssen für seine Mutter. Aber darin war er im Laufe der Zeit geübt. Auch diesmal würde er sie irgendwie zufriedenstellen.

Schnee im Pott

»Hallo, Sigi. Ich habe euch den Stammplatz reserviert«, begrüßt mich Guido, als ich hereinkomme. Er weist mit der Hand auf das Planquadrat seiner Kneipe, in dem Ecki, Erich und ich uns gewöhnlich aufhalten. Natürlich steht kein Reserviert-Schild auf der Theke. Tische hält er frei, unser Lieblingswirt, aber kein Segment des hufeisenförmigen Tresens aus dunklem Holz. Da könnte ja jeder kommen. Also tauchen wir nach Möglichkeit so früh auf, dass wir das Innere von Guidos Refugium immer im gewohnten Winkel betrachten können. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

»Grüß dich, Guido. Noch keiner da?«

Suchend schaue ich mich im Lokal um. Ich bin tatsächlich der Erste. Typisch Rentner, würden mir meine Kumpel unter die Weste drücken, wenn sie jetzt kämen.

»Du eröffnest heute den Betrieb, mein Bester. Pilschen?«

Ich verleihe meiner Stimme einen leicht vorwurfsvollen Unterton. »Habe ich dazu schon mal Nein gesagt?«

Guido grinst wissend und macht sich ans Werk. In minutenlanger Fleißarbeit entsteht ein schäumendes Kunstwerk, wie es perfekter kaum einer in Essen hinbekommt. Ich liebe Guido dafür!

Das Pils steht endlich vor mir. Der erste Schluck an einem Abend ist der beste. »Aaaaah!«

»Ich höre, da hat jemand den richtigen Durst mitgebracht. Zapfe ich sicherheitshalber ein paar vor, was?«

Aufmerksam ist er obendrein, der Guido. »Worauf du einen lassen kannst!«

Weitere Gäste trudeln ein. Zwei Männer nehmen mir gegenüber am Tresen Platz, ein Trüppchen Frauen verschwindet weiter hinten im Restaurant-Abteil. Nur von meinen Kumpanen lässt sich niemand blicken.

»Wo bleiben denn Ecki und Erich?«, fragt mich Guido.

»Weiß ich auch nicht. Wenn’s um ein Gelage geht, ist Ecki eigentlich immer früh zur Stelle.«

»Wollte ich sagen. Der Sigi ohne Ecki hier bei mir – das wäre ein Tag, um ihn im Kalender anzustreichen.«

»Die werden schon noch auftauchen. Polizisten halt.«

Das kannte ich gut aus meiner aktiven Zeit bei der Kripo. Nie war man sicher, dass nicht irgendetwas dazwischenkam. Frau und Tochter haben das oft genug zu spüren bekommen. Die Notwendigkeit, im Dienst spontan eingreifen zu müssen, schwebt über allen privaten Plänen. Nun ja, für mich war damit seit Jahren Schluss. Mit der Kugel, die man mir in Namibia ins Knie geschossen hatte, war mein Ausscheiden aus dem Arbeitsleben besiegelt worden.

Zwei weitere Pils später werde ich langsam doch ungeduldig. Eigentlich ist auf die beiden immer Verlass.

Guido bemerkt meine Unruhe. »Ein Sauwetter ist das heute, was?«, bietet er mir einen Small Talk zwecks Ablenkung an.

»Nasskalt. Uuuh. Auf dem Weg hierhin habe ich sogar einen nassen Fuß bekommen. Wird ein Loch in der Sohle sein, oder sie schlappt. Muss ich mir zu Hause mal angucken.«

»Unser Herbstwetter ist nun mal häufig so. Mir ist ja Schnee lieber, wie in den Bergen. Bei uns die Ausnahme, sieht man mal von diesem Februar ab. Oder weißt du noch 2010? Als wir schon im November den vielen Schnee hatten?«

Ich erinnere mich gut. Etliche Winter im Ruhrgebiet bestehen aus einem einzigen Vormittag weißer Pracht. Die ist dann zum Abend hin bereits geschmolzen. 2021 war die große Ausnahme. Eine Kältewelle im Februar mit Blitzeis und Schnee hatte dem Leben im Revier einen ruhigeren Puls verordnet. Noch ruhiger als ohnehin schon wegen dem Corona-Lockdown.

Das war 2010 anders gewesen. In jenem Jahr, dem Jahr der Kulturhauptstadt Ruhr.2010, hatte es der Winter zu Beginn und zum Ende hin wirklich ernst gemeint. Tief »Daisy« hatte bereits die Eröffnungsfeier der Ruhr.2010 im Januar zu einem sportlichen Durchhalteerlebnis gemacht. Den geladenen Gästen hatte man ein Carepaket geschnürt mit Wärmedecke, Sitzkissen, Schutzcape und chemischem Handwärmer. Schließlich fand das Event im Außengelände der Zeche Zollverein statt. Herbert Grönemeyer, in langem Wollmantel und Schal, Fahnen von Atem vor dem Gesicht, hatte den Frierenden mit seiner eigens komponierten Hymne wenigstens das Herz gewärmt.

Im November war es wieder richtig kalt geworden und es hatte geschneit. Die Entsorgungsbetriebe der Stadt waren vor echte Herausforderungen gestellt worden, denen sie nicht immer gewachsen gewesen waren. Viele Pendler mussten sich Tag für Tag durch das reinste Verkehrschaos quälen. Der Busverkehr war häufig ganz zusammengebrochen. Am Ende war den Essenern sogar das Streusalz ausgegangen.

Ich erinnere mich aber auch noch an anderes im Dezember dieses Jahres. An einen Mörder, der die Essener Kripo mächtig in Atem gehalten hatte. Das heißt Möhrchen, Erich und mich.

***

Erich hatte mich zu Hause eingesammelt, und wir waren in seinem Auto gemeinsam nach Kettwig aufgebrochen. Diesmal war Möhrchen, die Kleine mit dem ausgeprägten Hüftgold, vor uns am Tatort. Theodora Schmittkowski war ihr eigentlicher Name, den sie selbst nicht mochte. Sie war unserem Spuren-Genie Hartmut Dreute geradezu dankbar dafür gewesen, dass er ihr den Spitznamen verpasst hatte, wegen ihrer möhrenfarbigen, wuscheligen Haarpracht. Den benutzten mit ihrer Zustimmung heute alle im Polizeipräsidium.

Ich sah Möhrchens Klapperkiste in der Nähe unseres Ziels vorm Schneewall am Straßenrand stehen. Dann entdeckte ich auch die kleine Rote, mit der ich mich ausgezeichnet verstand. Sie sprach mit einem Kollegen in Uniform.

Es war nicht leicht für Erich, ebenfalls einen Parkplatz am Straßenrand zu finden. Die Schneemassen verengten den zur Verfügung stehenden Raum massiv.

Endlich fand mein Chauffeur eine geeignete Möglichkeit. Zuerst ließ er mich aussteigen, denn die Schneeverwehungen hätten die Beifahrertür blockiert, wenn er gleich an den Rand gefahren wäre.

Dann parkte Erich ein und schaltete den Motor aus. Wir gingen zu den beiden Kollegen hinüber.

Möhrchens Lockenpracht, die um ihr Gesicht herum aus der Kapuze ihres Anoraks quoll, war gesprenkelt mit Schneeflocken.

»Morgen zusammen«, grüßte ich sie und den Polizisten. Erich nickte ihnen nur zu.

»Hallo Sigi. Die SpuSi ist gerade mit der Leiche beschäftigt. Doktor Fröhlich hat sie schon untersucht.«

»Hat der Doc sich zur Tatzeit geäußert?«

»Von Mitternacht an bis kurz vor dem Auffinden. Das war gegen zwei Uhr heute Morgen.«

»Hast du sonst noch etwas für uns?« Hätte mich gewundert, wenn nicht.

Zwei saphirblaue, große Augen sahen mich an. Ich bemerkte ein wenig Entsetzen darin. Anmerken ließ sich die kleine Rote nichts. Ihr Tonfall blieb geschäftsmäßig. »Es ist eine Frau. Zweiundsechzig Jahre alt. Ihr Hals weist kreisrunde Blutspuren auf. Sie wurde wahrscheinlich erdrosselt.«

Erich schüttelte sich. Er war noch weniger abgebrüht als Möhrchen, wenn es um Leichen ging.

»Spuren einer Vergewaltigung? Raub?«, fragte ich.

»Vergewaltigt wurde sie nicht. Ob ihr etwas entwendet wurde, lässt sich schlecht sagen. Außer ihrem Ausweis, den wir in ihrer Manteltasche entdeckt haben, konnten wir keinerlei Wertsachen finden. Ob sie Wertgegenstände oder eine Handtasche dabeihatte, wissen wir noch nicht. Aus den Papieren kennen wir ihr Alter und ihren Namen. Helena Schreiber. Wohnte ganz in der Nähe.«

»Wissen wir schon etwas über Angehörige?«

»Gemäß meiner Anfrage in der Zentrale soll die Frau alleine unter der im Ausweis angegebenen Anschrift gewohnt haben. Alles Weitere müssen wir noch klären.«

»Zeugen?«, machte Erich zum ersten Mal den Mund auf.

»Keine. Irrwitzigerweise wurde sie vom Fahrer eines Räumfahrzeugs gefunden.«

»Kann ich mit ihm sprechen?«, fragte ich.

»Da hinten sitzt er im Einsatzwagen. Kommt mit«, übernahm Möhrchen die Führung.

Auf dem kurzen Weg erklärte uns die Kollegin, dass die Entsorgungsbetriebe einen Ersatzmann geschickt hatten, der das Spezialfahrzeug abgeholt hatte. Bei dieser Wetterlage war man um jedes schwere Gerät verlegen.

Wir klopften an die Autoscheibe. Der Polizist auf dem Fahrersitz kurbelte die Scheibe herunter. »Steigt hinten ein.«

Ich ließ Möhrchen den Vortritt und kletterte ihr auf die Bank im Fond nach. Erich quetschte sich neben mich und schlug die Tür zu.

Vorne auf dem Beifahrersitz saß der Zeuge. Er trug die typische Warnkleidung. Der Mann drehte sich zu uns um. War er so blass wegen der Kälte oder wegen des unvermuteten Auffindens einer Toten?

Ich eröffnete die Befragung: »Siebert, mein Name. Kripo. Guten Morgen. Können Sie uns kurz berichten, wie Sie die Leiche gefunden haben?«

Der Mann kam nur mühsam ins Sprechen. Er schilderte uns seine nächtliche Fahrt und das Entsetzen über den grausigen Fund.

»Ist Ihnen in der Nähe des Opfers jemand aufgefallen?«

»Nein. Niemand.«

»Auch nicht, als Sie sich dem Fundort genähert haben?«

»Nein.«

»Ist Ihnen sonst etwas merkwürdig vorgekommen?«

»Zum Beispiel?«

»Gute Frage.« Mir fiel nichts ein, was ich ihm als Beispiel hätte nennen können. An Möhrchen gewandt fragte ich: »Hast du die Personalien des Herrn notiert?«

»Ja. Habe ich.«

»Dann kann er gerne gehen, was, Kollegen?« Ich schaute in die Runde. Einträchtiges Kopfnicken.

»Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus. Ich habe den Eindruck, die Sache hat Sie ganz schön mitgenommen. Und verdammt müde scheinen Sie zu sein. Wären Sie so freundlich, ihn zu fahren, Kollege?«

Der Fahrer des Wagens nickte. Wir stiegen aus und er fuhr mit dem Mann davon.

Etwas ratlos standen wir am Straßenrand im Schnee. Ich wandte mich an Möhrchen. »Gibt es weitere Zeugen?«

»Leider nein.«

»Irgendetwas, was wir uns hier vor Ort ansehen sollten?«

»Höchstens Tatort und Leiche.«

»Bei dem Schnee ist bestimmt nicht viel zu finden. Lass die SpuSi ihre Arbeit machen. Die Tote kann ich mir immer noch in der Rechtsmedizin anschauen. Im Warmen.«

»Da ist es doch nicht warm«, wunderte sich Erich.

»Wärmer als hier! Wie gehen wir weiter vor?«, fragte ich in die Runde.

Die kleine Rote war wie gewöhnlich die Fixere.

»Das sieht ganz nach der langen Tour zu Fuß aus. Umfeld des Opfers abklopfen, den Weg der Frau rekonstruieren, mögliche Motive erörtern, später dann die Ergebnisse der Kriminaltechnik und Rechtsmedizin auswerten, Verdächtige herauskristallisieren und aufsuchen, Alibis überprüfen. Wie teilen wir uns auf?«

»Erich und ich klappern die Nachbarschaft des Opfers ab. Du fährst ins Präsidium und informierst Manni. Schließlich warst du als Erste am Tatort.«

»Ich soll zu Manni? Alleine?« Die kleine Rote war spürbar geschmeichelt. Normalerweise hielt ich den Kontakt zum Chef.

»Warum nicht? Der schätzt uns als Team und weiß, dass er sich auf jeden von uns verlassen kann.«

»Wie du meinst.«

Möhrchen schob ab. Ich bildete mir ein, sie ging ein wenig aufrechter als sonst.

Erich durfte man viel nachsagen, nur keine Eifersucht in dienstlichen Angelegenheiten. Ihm machte es nichts aus, dass ich seine Kollegin zum Chef geschickt hatte, obwohl er mehr Dienstjahre vorweisen konnte als sie. Von mir ganz abgesehen.

»Worauf warten wir. Los geht’s!«

Wir gingen zügigen Schrittes zu Erichs BMW, und ich stieg auf den Beifahrersitz. So waren die Rollen verteilt: Mein junger Kollege kutschierte mich überall hin, denn ich versagte mich dem Autofahren seit Jahren. Aus Gründen, die mir selber nicht ganz transparent sind.

Erich fand einen Parkplatz in der Nähe der Wohnadresse des Opfers »Im Blumenfeld«. Wir stiegen aus. Ein Haus, nicht alt, nicht wirklich neu. Acht Parteien.

Wir studierten die Namen an den Klingeln, die in zwei Reihen nebeneinander angeordnet waren. Helena Schreiber tauchte in der linken Reihe als Zweite von oben auf. Ihre Flurnachbarin hieß Mechthild Küppersbusch. Ich versuchte es bei ihr. Zunächst hatte ich keinen Erfolg. Wohl kaum ein Wunder, zu dieser frühen Stunde. Es war noch nicht mal fünf Uhr.

Ich betätigte den Taster noch einmal und ließ es eine halbe Minute klingeln. Wir schienen die Nachbarin erfolgreich aus dem Bett geschmissen zu haben. Der Türsummer brummte, und wir gelangten in ein nüchternes Treppenhaus, wie es in Deutschland Hunderttausende gibt. Zwei Stockwerke höher erwartete uns eine feuerrot gefärbte, vollschlanke Frau, die ich auf Mitte sechzig schätzte. Obwohl sie in einen Bademantel gekleidet war, stand sie selbstbewusst im Türrahmen.

»Sie müssen einen verdammt guten Grund haben, mich zu wecken, meine Herren!«

»Leider haben wir den. Ich heiße Siebert und komme von der Kripo Essen. Das hier ist mein Kollege, Herr Terschüren.«

Das Selbstbewusstsein der Dame bröckelte. »Kriminalpolizei? Ist was passiert?«

»Ja, unglücklicherweise. Dürfen wir hereinkommen?«

»Erst die Ausweise«, forderte die Frau resolut. »Heutzutage ist man ja vor nichts mehr sicher. Und dann um diese Zeit!«

Wir reichten ihr unsere Dienstausweise, und die Frau studierte sie wie ehemals ein Grenzer der DDR bundesdeutsche Pässe. Wiederholt verglich sie die Fotos mit unseren Gesichtern. Dabei war ich sicher, dass sie nie zuvor in ihrem Leben einen Polizeiausweis in Händen gehalten hatte. Es hätte auch der Mitgliedsausweis des lokalen Taubenzuchtvereins gereicht.

Endlich beschloss Mechthild Küppersbusch, dass unsere Papiere echt waren. »Also gut. Kommen Sie herein.«

Wir betraten den Korridor und folgten der Frau in ihr Wohnzimmer.

Au weia! So viel Nippes konzentriert an einem Ort hatte ich bislang höchstens an den vollgepackten Marktständen südeuropäischer Souvenirhändler gesehen. Eine Vitrine war vollgestopft mit Porzellanfigürchen, die von einem eher kitschigen Geschmack zeugten. Die tüllumgürtete Ballerina stand mit ausgestreckten Armen auf einem Bein neben einer gefleckten Kuh mit ihrem Kalb – nur ein augenfälliges Beispiel der chaotischen Anordnung der Exponate, die weder thematisch noch geografisch irgendeinem Sortierkriterium folgte. Hineingestopft, wie sie die Dame des Hauses zusammengekauft hatte. Von der Fensterbank winkte uns zwischen üppigen Topfpflanzen eine chinesische Glückskatze zu. Den Couchtisch zierte ein goldener Buddha, akkurat auf die Mitte einer blutroten Häkeldecke platziert.

Als Gegenpol zu diesen Ziergegenständen von zweifelhaftem Geschmack waren die Wände übersät mit Bildern und Bildchen – gemalt, gezeichnet, einige Fotos. Vielleicht hätte es noch Platz für wenige gerahmte Briefmarken gegeben. Die Motive entsprachen den Porzellanfigürchen. Auf die Schnelle entdeckte ich auch darunter eine Ballerina. Ein Albtraum, diese Bude!

»Ich reise viel«, erklärte uns Mechthild Küppersbusch stolz, die meinem Blick gefolgt war.

»Eine, ehem, ansehnliche Sammlung«, beeilte ich mich zu sagen, ehe mir anderes herausrutschte.

Die stolze Besitzerin des internationalen Kuriositätenkabinetts deutete auf ein plüschiges, kariertes Sofa. »Setzen Sie sich doch, meine Herren.«

Wir leisteten der Einladung Folge. Mechthild Küppersbusch blieb stehen. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

»Nein, danke«, erwiderte ich schnell. »Bei dem, was wir mit Ihnen zu besprechen haben, nehmen auch Sie lieber Platz.«

Die Miene unserer Gesprächspartnerin versteinerte. In Zeitlupe ließ sie sich auf den Sessel uns gegenüber nieder. »Was ist passiert?«

»Es geht um Ihre Nachbarin.«

»Helena?«

»Genau. Helena Schreiber. Stehen Sie ihr nahe?«

»Wir sind allerbeste Freundinnen. Ist ihr etwas zugestoßen?«

»Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihre Freundin heute Morgen tot aufgefunden wurde.«

Mechthild Küppersbusch erblasste. Unsere Mitteilung ging ihr sichtlich nahe. Erste Tränen kullerten über ihre Wangen. »Helena … Wie …?«

Sie beendete ihre Frage nicht, aber ich wusste auch so, was sie bewegte.

»Ihre Nachbarin ist wahrscheinlich ermordet worden. Jedenfalls legen die Spuren an ihrem Leichnam diesen Schluss nahe.«

Ein Gesichtsausdruck voller Entsetzen. »Nein. Das glaube ich jetzt nicht! Wer sollte Helena …«

»Das herauszufinden, sind wir hier. Sagen Sie offen, wenn Sie sich nicht in der Lage fühlen, uns ein paar Auskünfte zu geben.«

Lautes Schluchzen. Mechthild Küppersbusch zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Dann zerknüllte sie es in der Hand. »Fragen Sie. Das Schwein müssen Sie drankriegen! Versprechen Sie mir das?«

»Wir werden alles Erdenkliche dafür tun. Nur wüssten wir gerne mehr über Frau Schreiber.«

»Sie war eine herzensgute Frau. Die beste Freundin, die man sich als alleinstehende Dame wünschen kann.«

Erich wurde munter. Jetzt, wo das Schlimmste heraus war. »Nach unseren Informationen wohnte sie alleine?«

»Ja.«

»In der Wohnung gegenüber?«

»Ja. Wir sind beinahe zur selben Zeit hier eingezogen. Gute zehn Jahre müsste das her sein.«

»Ist sie damals auch alleine eingezogen?«

»Ja. Sie hatte sich frisch von ihrem Mann getrennt. Ich war nie verheiratet, müssen Sie wissen. Ich habe mich ein wenig um Helena gekümmert in der ersten Zeit. So wurden wir Freundinnen.«

Ein neuer Schwall Tränen. Wir unterbrachen die Befragung für eine Weile. Als sich Mechthild Küppersbusch etwas beruhigt hatte, nahm ich das Gespräch wieder auf.

»Besitzen Sie einen Schlüssel zur Nachbarwohnung?«

»Hängt im Flur. Soll ich ihn holen?«

»Später. Erzählen Sie uns bitte zunächst, was Sie über die Trennung von Frau Schreiber und ihrem Mann wissen.«

»Gesoffen hat er. Keine Arbeit. Sie musste das Geld verdienen. Als er dann anfing, sie zu schlagen, ist sie ausgezogen.«

»Sind die beiden mittlerweile geschieden?«

»Helena hat gleich alles in die Wege geleitet, als die Fristen verstrichen waren.«

»Hat ihr Mann sie hier besucht?«

»Am Anfang. Gegen die Tür getreten hat er und sie beschimpft. Aber sie ist nicht weich geworden. Hat ihm nicht geöffnet und die Polizei gerufen. Nach einer Weile hat er es drangegeben.«

Erich stellte die nächsten Fragen.

»Sie wissen nicht zufällig, wo Helena Schreibers Mann heute wohnt?«

»Vor einiger Zeit hat mir meine Freundin gesteckt, dass er auf der Straße lebt.

---ENDE DER LESEPROBE---