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In Essen wird die Leiche eines jungen Schwarzen im Treppenabgang zu einer U-Bahn-Haltestelle gefunden. Seine Identität und die Todesursache bleiben zunächst unklar. Im Slum von Benin-City, Nigeria, sprechen eine Weiße und eine Einheimische eine Teenagerin an. Sie versprechen ihr eine großartige Zukunft in Europa. Bei der Kripo in Essen herrscht Hochbetrieb. Neben dem Fall des jungen Schwarzen bearbeiten die Beamten zeitgleich den Mord an einer Prostituierten, deren Leiche in der Nähe des Mülheimer Wasserbahnhofs abgelegt wurde. Oberkommissarin Thea Terschüren ahnt: Irgendwie hängt alles zusammen. Und mit Voodoo …
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Klaus Heimann
Voodoo an der Ruhr
Kriminalroman
Ruhrkrimi-Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2024 Klaus Heimann, Essen
© 2024 Ruhrkrimi-Verlag, Mülheim
Taschenbuch: ISBN 978-3-911633-00-0
Auch als e-Book erhältlich
Originalausgabe /10/2024
Titelbild: ©www.freepik.com
nachbearbeitet von Uwe Wittenfeld
Alle Personen, Namen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Namen und Ereignissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Klaus Heimann
Schon als Jugendlicher liebte ich es, Märchen vorzulesen oder aus dem Stegreif erfundene Geschichten zu erzählen. Mit fünfzehn versuchte ich mich an meinem ersten Roman - eher aus Freude an der manuellen Tätigkeit des Schreibens -, mit Stahlfeder und Tinte in Sütterlin. An die Handlung dieses Frühwerks erinnere ich mich heute mit einem versonnenen Schmunzeln ...
Meine Lust am literarischen Erzählen war durch diese Übung geweckt. Sie begleitete mich ins Erwachsenenalter.
Inhalt
Prolog8
8
Deutschland, Essen, September9
Kapitel 19
9
Oktober26
Kapitel 226
26
Kapitel 345
45
Kapitel 457
57
Nigeria, Benin City, Januar71
Kapitel 571
71
Februar88
Kapitel 688
88
Deutschland, Essen, Oktober97
Kapitel 797
97
Kapitel 8106
106
Juni118
Kapitel 9118
118
Oktober137
Kapitel 10137
137
Kapitel 11152
152
Juli168
Kapitel 12168
168
Oktober182
Kapitel 13182
182
August197
Kapitel 14197
197
Oktober208
Kapitel 15208
208
September222
Kapitel 16222
222
Oktober227
Kapitel 17227
227
Kapitel 18233
233
Kapitel 19247
247
Kapitel 20256
256
Kapitel 21265
265
Kapitel 22277
277
Kapitel 23293
293
November310
Kapitel 24310
310
Belgien, Lüttich, Dezember318
Kapitel 25318
318
Prolog
Während er die Treppe hinunterstürzte, spürte er nichts mehr von den Verletzungen, die er sich bei jedem erneuten Aufprall auf eine Stufe zuzog. So hielt ihn das Delirium schon in seinen Fängen. Dann kam sein Körper zur Ruhe, taumelte nicht mehr, eckte nirgendwo mehr an.
Plötzlich erschien ihm ein Gesicht. Eine Frau. Sie kam ihm bekannt vor - und wieder nicht. Er streckte die Hand nach ihrer Wange aus. Als er sie berührte, spürte er Eiseskälte. Erschrocken zog er die Hand zurück.
Das Gesicht entfernte sich. Im nächsten Moment sah er die Frau ganz. Dort, wo er ihre Beine vermutet hätte, trug sie einen Fischschwanz. Ein Wasserweib. Die Kälte ihres Lebenselements steckte noch in seinen Fingern. Sie zog von dort unaufhaltsam in sein Herz.
Die Nixe griff hinter sich und holte aus dem Nichts einen Koffer hervor. Metallisch blitzte er im Lichtkranz auf, der sie plötzlich umgab. Die Nixe stellte den Koffer vor ihm hin und öffnete den Deckel. Er war randvoll gefüllt mit Geldnoten.
Ohne nachzuzählen wusste er, dass es 50.000 Euro waren.
Unmittelbar danach nahmen ihn die Ahnen ins Totenreich auf.
Deutschland, Essen, September
Kapitel 1
Es war ein seltsamer Zeuge, der vor ihnen im Anhörungsraum saß. Obwohl er nur einen dünnen Haarkranz besaß, hatte er die verbliebenen fusseligen Strähnen lang wachsen lassen, und sie hinter dem Kopf mit einem simplen Gummiband als Zopf fixiert. Seine Gesichtszüge erinnerten stark an die von Keith Richards. Die Haut war runzelig wie die eines überlagerten Apfels. Sein Körperbau war sehnig, regelrecht hager. Die nikotingelben Finger passten ins Bild.
Oberkommissarin Theodora Terschüren - von den meisten Kollegen wegen ihrer langen, lockigen Wuschelmähne in entsprechender Farbstellung Möhrchen genannt -, saß dem Mann etwas ratlos gegenüber. Er war der neunte und letzte Zeuge, der sich aufgrund eines Zeitungsartikels mit dem reißerischen Titel »Cold Cases an der Ruhr« bei der Kripo gemeldet hatte. Der Report über ungelöste Fälle im Ruhrgebiet war den Beamten im Polizeipräsidium Essen ungelegen gekommen. Die Verfasser hatten sich nicht mit ihnen abgestimmt. Einige Details waren darin irreführend dargestellt. Jedenfalls was den Fall anging, der in ihre Zuständigkeit fiel. Es ging um eine Frauenleiche aus dem Jahr 2023.
Kommissar Korkmaz Kurt, der neben ihr saß, hatte die Personalien des Zeugen bereits aufgenommen. Ihr Kollege war einer der wenigen im Polizeipräsidium, der Möhrchen mit Thea ansprach. Sie nahm das als ein Zeichen von Respekt entgegen und freute sich darüber. Von vielen anderen hätte sie sich diese Geste auch gewünscht.
Letzten Monat war Korkmaz Kurt dreißig geworden. Damit war er ein gutes Dutzend Jahre jünger als Möhrchen. Die Familie besaß türkische Wurzeln, sein Nachname bedeutete »Wolf«.
Im Polizeipräsidium wurde er ausschließlich so angeredet. Nicht auffällig groß und optisch eher ein schmales Hemd, erinnerte nichts an dem Kollegen an ein Raubtier. Höchstens, dass er Kampfsport betrieb und ziemlich gut darin war. »Kurt« ging den meisten einfach glatter über die Lippen. Wer ihn duzte, nannte ihn Kurt, wer ihn siezte Herr Kurt. Korkmaz hatte nichts dagegen. Er war in keiner Weise kompliziert.
»Nun zu dem, was Sie beobachtet haben«, wandte sich Möhrchen an den Zeugen. »Beschreiben Sie bitte den Mann und das Boot.«
Der Zopfträger strich sich über die Kahlstelle seines Schädels. »Tja, was soll ich dazu sagen? Ein normales Boot halt.«
»Ein Sportboot? Ein Tretboot? Eine Yacht? Das eines Anglers?«
Die Miene des Zeugen klarte auf. »Ja. Das beschreiben Sie richtig!«
»Was?«, fragte Möhrchen, schon etwas ungeduldig.
»Ein Boot zum Angeln. Wissen Sie, ein Kumpel von mir ist Petrijünger. Der hat auch so eins.«
»Länge? Farbe? Trug es einen Namenszug?«
»Vielleicht vier, fünf Meter. Weiß, würde ich sagen. Zumindest ziemlich hell.«
»Warum ist es Ihnen aufgefallen?«
Der Zopfträger lachte trocken auf. »Na, wegen der Uhrzeit. Wer schippert schon um Mitternacht auf der Ruhr herum?«
»Lassen Sie uns das gleich präzisieren«, meldete sich Kurt zu Wort. »Wir reden vom Pfingstmontag 2023, ungefähr vierundzwanzig Uhr.«
»Exakt.«
»Warum erinnern Sie sich so genau?«
»Na, ich war doch auf dem Pfingst Open Air, unten in Werden. Ich kenne den Drummer der Band ganz gut, die zuletzt aufgetreten ist. Wir haben früher mal zusammen gespielt. Waren schöne Zeiten …«
»Gewiss«, unterbrach ihn Möhrchen, »Sie sind sich also ganz sicher, was die zeitliche Einordnung Ihrer Beobachtung angeht?«
»Exakt«, bestätigte der Zeuge, dessen Gesichtsausdruck darauf hinwies, dass er mehr an seine Musikbekanntschaften dachte als an seine Aussage.
Kurt machte weiter. »Besaß das Boot einen Motor?«
»Nein. Er hat es gerudert.«
»Wer?«
»Na, der Mann, der drin saß.«
»Nur einer?«
»Ja.«
»Und es war ein Mann?«
»Zuerst dachte ich, es wäre eine Frau.«
Möhrchen seufzte leise in sich hinein. »Dann beschreiben Sie uns bitte denjenigen, der das Boot gerudert hat.«
»Schwer zu sagen, nach so langer Zeit … Darf ich hier rauchen?«
»Bitte nicht.«
»Ich brauche aber jetzt eine. Sonst kann ich mich nicht konzentrieren.«
»Vorschlag zur Güte«, schaltete sich Kurt ein, der Möhrchens Ungeduld zu bemerken schien. »Sie gehen jetzt vor die Tür eine rauchen und wir treffen uns in zehn Minuten wieder hier. Ich begleite Sie.«
»Rauchen Sie auch?«
»Das nicht. Aber ich weiß, wie wir am schnellsten an die Luft kommen.«
»Na dann los.«
Der Bezopfte stand überraschend geschmeidig auf und stand schon an der Tür, ehe Kurt reagierte. Möhrchen blieb allein zurück.
Was hatten sie sich zu diesem Fall schon alles anhören müssen!
Die Frauenleiche, um die es ging, war in der Nähe des Wasserbahnhofs in Mülheim gefunden worden. Für die Nachbarstadt zeichnete die Essener Polizei ebenfalls zuständig. Möhrchen war selbst am Fundort gewesen, direkt am Ufer der Ruhr. Mit eingeschlagenem Schädel hatte die Frau dort gelegen, locker eingewickelt in eine grüne Plastikplane. Keine Anzeichen für ein Sexualdelikt.
Beim Opfer handelte es sich nicht gerade um ein unbeschriebenes Blatt. Die Frau tauchte in meterweisen Akten auf als jemand, der sich in Verbrecherkreisen herumgetrieben hatte. Seltene Male war sie bei kleineren Delikten selbst aktiv geworden. Wegen ihrer Leidenschaft für Kriminelle vom schwersten Kaliber, hatte sie jedoch häufig als Zeugin in ebendiesem Raum gesessen.
Zum Tatzeitpunkt war zehn Kilometer ruhraufwärts das traditionelle Pfingst Open Air veranstaltet worden. Im Löwental, direkt an der Ruhr gelegen, auf dem Gelände eines ehemaligen Strandbads. Dort war das Opfer von etlichen Zeugen gesehen worden. Mehr Hinweise hatten sie damals nicht erhalten. Niemand hatte den Mord beobachtet, niemand einen Verdächtigen benannt. Trotz hunderter von Befragungen war nichts herauszufinden gewesen. Und jetzt dieser Zeitungsartikel und dieser seltsame Zeuge. Die Aussagen seiner acht Vorgänger hatten sich sämtlich als Nieten erwiesen. Substanzlos, teilweise ohne Bezug zu Opfer und Tatort. Wenn sich die Beobachtung dieses Letzten als haltbar erwies, ging die ganze Sisyphusarbeit aufs Neue los.
Kurt kehrte mit dem Zopfträger zurück. Sie nahmen ihre Plätze wieder ein. Ihr Kollege informierte Möhrchen über das, was er während zwei Zigarettenlängen auf dem Hof erfahren hatte. »Ein Mann mit breiten Schultern und kräftigen Bewegungen. Er trug ein Kapuzenshirt – deshalb war sein Gesicht nicht zu erkennen. Blonde Haare.«
»Genau«, mischte sich der Zeuge ein. »Eine blonde Strähne guckte aus der Kapuze heraus. Deshalb dachte ich zuerst, es wäre eine Frau. Als er vorbei war, habe ich sein breites Kreuz gesehen. Da wusste ich erst, dass es ein Mann war.«
»Also ein Mann mit langen blonden Haaren«, stellte Möhrchen sicher.
»Exakt.«
»Sie haben am Telefon gesagt, es habe etwas im Boot gelegen.«
»Ja. So’ne lange Plastikwurst.«
»Am Telefon hieß es noch, eine Leiche.«
»Daran musste ich denken, als ich das in der Zeitung gelesen habe.«
Möhrchen drehte die Augen zur Decke. »Der Mann an den Rudern hatte also etwas bei sich im Boot liegen, das in eine Plane eingewickelt war. Dieses Etwas hätte in Größe und Form eine verpackte Leiche gewesen sein können?«
»Exakt.«
»Farbe der Plane?«
»Mmh. Am ehesten grün, würde ich sagen.«
»Das alle haben Sie trotz der Dunkelheit erkennen können? Einen Mann, blondes Haar, die Farbe des Bootes, die der Plane …«
»So dunkel war es nicht. Bei Meckenstock brannte noch Licht.«
»Sie meinen am Staat«, schärfte Möhrchen die Ortsbezeichnung nach, da sie wusste, dass es das Lokal mit dem Namen »Meckenstock« lange nicht mehr gab. Heute hieß es anders.
»Exakt.«
»Oder haben Sie das alles bloß in der Zeitung gelesen?«
»Tja, …« Der Bezopfte verstummte.
Kurt übernahm die Fortführung des Gesprächs. »Lassen wir das mal so stehen. Wo ist Ihnen das Boot aufgefallen?«
»Gegenüber von Meckenstock. Sagte ich das nicht bereits?«
»Was haben Sie dort gemacht?«
»Ich habe damals noch am Schuirweg gewohnt. Vom Pfingst Open Air bin ich an der Ruhr entlang nach Hause gelaufen. Da, wo ich bei Meckenstock abzweigen musste, habe ich den Kahn bemerkt. Platsch, platsch, sind die Ruder eingetaucht. Der hat geackert wie eine Maschine. Ich bin noch stehengeblieben, weil ich das so merkwürdig fand.«
»Hat Sie der Ruderer angesehen?«
»Nöö. Der war wahrscheinlich zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«
Mehr konnten sie wohl nicht herauskitzeln aus dem Mann. Blieb noch eine wichtige Frage zu klären.
»Warum melden Sie sich eigentlich erst jetzt, etliche Monate später? Ich meine, wenn das so auffällig war …«
»Ist wohl damals an mir vorbeigegangen. Wenn ich ehrlich bin: Ich hatte da noch ein Alkoholproblem.«
Vielleicht hatte der Zeuge das alles sogar im besoffenen Kopp nur geträumt , dachte Möhrchen, verzichtete aber auf jedwede Andeutung diesbezüglich. Die Ehrlichkeit, mit der der Zopfträger sein Problem zugab, war anerkennenswert und bestimmt kein Anlass dafür, ihn zu demütigen. Seine Aussage wurde dadurch natürlich relativiert.
»Haben Sie weitere Beobachtungen gemacht, die Sie uns mitteilen möchten?«, kürzte Möhrchen die Anhörung ab.
»Was wollen Sie denn noch wissen?«
»Im Moment sind wir, glaube ich, fertig. Wir danken Ihnen herzlich.«
»Das trifft sich prima. Ich brauch nämlich ´ne Fluppe. Tschüss dann.«
Weg war der Kauz. Sie sahen ihm hinterher, kamen kaum dazu, »auf Wiedersehen« zu sagen.
Möhrchen schaute Kurt über die Schulter an. »Was war das denn jetzt bitte?«
»Ein Zeuge.«
»Nehmen wir an, alles, was er sagt, ist korrekt. Wer bitteschön lädt eine Leiche auf ein Boot und rudert sie von Werden nach Mülheim?«
»Gute Frage. Nächste Frage.«
»Was macht er in Kettwig, am Stauwehr? Lädt er sich die Leiche auf den Ast, schleppt zuerst sie und dann sein Boot auf die andere Seite?«
»Zum Beispiel.«
»Und rudert von dort die nächsten Flusskilometer weiter bis Mülheim?«
»Anders wäre er wohl nicht bis zum Wasserbahnhof gelangt.«
»Stundenlang mit einer Leiche auf der Ruhr? Die Angst vor Entdeckung immer im Nacken?«
»Hört sich komisch an, was?«
»Ziemlich. Warum schmeißt er die Tote nicht gleich ins Wasser, nachdem er sie gehimmelt hat? Mich überzeugt das nicht.«
»Wenn ich ehrlich bin: Mich auch nicht.«
Möhrchen sah in Kurts Augen die eigene Ratlosigkeit gespiegelt. »Gehen wir zu Erich und berichten ihm von unserem Ergebnis«, schlug sie vor.
Kurt stimmte zu. »Bin gespannt, was er dazu meint.«
Erster Hauptkommissar Erich Terschüren, Möhrchens Ehemann und Leiter des KK 11, stand am Fenster seines Büros und schaute auf die Straße. Er hörte, dass jemand die Tür öffnete und wandte sich den Eintretenden zu. Seine Frau, im Schlepptau Kurt. Erich erinnerte sich: Die Anhörung des neunten Zeugen in Sachen Wasserbahnhof war im gemeinsamen Terminkalender eingetragen. Die Protokolle der anderen acht Aussagen hatte er vorhin erst durchgesehen. Kein brauchbarer Hinweis dabei. Ob es diesmal ergiebiger gewesen war?
»Na, ihr zwei. Jetzt kommt endlich der Hammer, oder?«
»Wie man’s nimmt«, meinte Kurt. Möhrchen machte dazu ein verkniffenes Gesicht.
»Dann setzt euch hin und berichtet«, forderte sie Erich auf.
Das Ergebnis der Anhörung des Zopfträgers war schnell erzählt. Überwiegend sprach Kurt. Viel war es ja nicht gerade. »Kurzform: Ein möglicherweise Sturzbetrunkener hat um die Tatzeit herum - nicht weit vom Veranstaltungsort entfernt, wo das Opfer definitiv gesehen wurde -, einen Mann über die Ruhr rudern sehen, der ein verdächtiges Paket in seinem Boot befördert hat«, fasste Erich treffsicher zusammen.
»Genau«, bestätigte Möhrchen. »Was sollen wir jetzt damit anfangen?«
Ja, was sollten sie damit anfangen?
Erich sah Möhrchen in die großen, saphirblauen Augen, in denen er deutlich ihre Zweifel las. Diese beiden tiefen Ozeane, die ihn jetzt musterten und ihm die Frage stellten: Wollen wir diese Aussage ernst nehmen?
»Wir werden dem nachgehen müssen …«, begann Erich vorsichtig.
Möhrchen stöhnte auf. »Weißt du, was das heißt?«
»Ich ahne es. Aber sag du es mir.«
»Zweihundertsiebenunddreißig Zeugenaussagen liegen uns aus 2023 vor. Die alten Protokolle müssten wir alle durchgehen, die Leute erneut aufsuchen, nachfassen. Wenn sie verzogen sind, müssen wir zuvor ihre neuen Adressen herausfinden. Im Moment stehen nur Kurt und ich dafür zur Verfügung. Das kostet uns Wochen!«
Erich wiegte den Kopf. »Ich habe eine klügere Idee. Findet doch erst heraus, ob Pfingstmontag 2023 in Nähe des Veranstaltungsortes ein Boot vermisst wurde. Ich meine, höchst unwahrscheinlich, dass unser Mörder sein eigenes mitgebracht hat, um jemanden umzubringen und mit der Leiche davon zu schippern. Ein Auto, okay, aber ein Boot?« Er sah Möhrchen an, dass er ihr mit seinem Vorschlag den ersten Wind aus den Segeln genommen hatte.
Kurt gefiel der Gedanke. »Das machen wir. Dann sehen wir weiter.«
Möhrchen schüttelte resigniert den Kopf. »Brauchen wir nicht. Eine der Zeugenaussagen von damals betrifft genau diesen Punkt. Ein Boot der vom Zeugen beschriebenen Art ist von seinem provisorischen Liegeplatz verschwunden. An einer zum Tatort passenden Stelle. Ein Ruderboot, wie es Angler benutzen. Scheiße, aber wahr. Es war übrigens mit einer grünen Plane abgedeckt.«
»Ja dann …«, fiel Kurt nur dazu ein.
Eine Weile herrschte betretenes Schweigen in Erichs Büro. Ihnen allen war klar, was das bedeutete.
»Ich sperre mich ja nicht, dem Hinweis nachzugehen«, lenkte Möhrchen ein. »Ich sehe nur diese beschissene Maloche. Mit so geringen Erfolgsaussichten. Wir sind der Sache schon 2023 nachgegangen, aber niemand von den zweihundertsechsunddreißig Zeugen hat das Boot gesehen. Am Ufer nicht und auf dem Wasser genauso wenig.«
»Sagtest du vorhin nicht, zweihundertsiebenunddreißig Zeugen?«, warf Erich ein. Nur, um Möhrchen ein Lächeln abzuringen. Er ließ sich gerne von ihr erwischen, um ihre Laune zu heben.
Sie reagierte, wie erwartet: Möhrchen lächelte. »Du hast nicht aufgepasst, Männe. Nummer zweihundertsiebenunddreißig war der, der das Boot vermisst hat.«
»Ach ja«, schauspielerte Erich absichtlich schlecht.
Möhrchen und Kurt grinsten verhalten. Wenigstens stieg die Stimmung im Raum.
»Wir legen sofort los«, versprach Möhrchen. »Komm Kurt. Ich erzähle dir alles, was du noch wissen musst. Du warst ja damals nicht dabei. Gehen wir rüber in unser Kontor.«
»Liebe Mitarbeitende, das lobe ich mir. Frisch und mit Freude ans Werk«, unkte Erich.
Möhrchen zeigte ihm den Stinkefinger. Aber sie grinste immer noch.
Auf dem Weg zu ihrem gemeinsamen Büro bog Möhrchen zur Damentoilette ab. Die Zahl Zweihundertsechsunddreißig spukte in ihrem Kopf herum. Einen Moment überlegte sie, ob sie die Zeugen einfach anrufen sollten, statt sie persönlich aufzusuchen. Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Die Erfahrung lehrte, dass man als Kripobeamter am Telefon leicht abgewimmelt wurde. Bei Augenkontakt trauten sich das die Leute weniger. Außerdem war die Körpersprache der Zeugen bei persönlichen Befragungen immer eine zusätzliche Informationsquelle, manchmal wichtiger, als das gesprochene Wort. Darin, diese zu lesen, war sie geübt. So schnell band ihr keiner einen Bären auf. Nein, nein – diese Arbeit mussten sie sich schon machen.
Sie hasste nervtötende Endlosbefragungen!
Möhrchen sah beim Händewaschen in den Spiegel. Sie streckte ihren Sommersprossen, die selbst jetzt zu Herbstbeginn noch sommerlich dunkel waren, die Zunge heraus. Sie sah immer noch aus, als habe sie in einen Kuhfladen genießt. Immerhin: Der Winter würde die Sprenkel verblassen lassen. Ganz verschwanden sie natürlich nie.
Möhrchen erwischte sich selbst dabei, dass sie ihre schlechte Laune mit neuer Nahrung versorgte.
Schluss damit! Ab an die Aktenberge, alte Zeugenaussagen studieren!
Kurt stand wegen ganz anderer Dinge unter Druck. Er fluchte gepresst in sich hinein. Probleme mit dem Imbisswagen, den er seit dem Frühjahr betrieb. Zu einem angeblichen Sonderpreis übernommen von einem »Freund«. Ständig gab es Schwierigkeiten damit. Die Kollegen zogen ihn deswegen schon auf. Aber Lamentieren brachte ihn nicht weiter.
Immer schon hatte in Kurt der Wunsch geschlummert, ein Geschäftsmann zu sein. Er hatte leider keine Vorstellung davon gehabt, was es bedeutete, einen Imbiss zu betreiben. Die erste Hürde war die Unterweisung bei der IHK gewesen. »Nachweis über eine Gaststättenunterrichtung«, wie das im sperrigen Amtsdeutsch hieß. Lebensmittelhygiene, gesetzliche Grundlagen, Zusatzstoffe und Kennzeichnungspflichten, Warenkunde, rechtliche Aspekte und dergleichen mehr. Dann die Anmeldung beim Gewerbeamt. Eine Gaststättenkonzession hatte er zum Glück nicht gebraucht, da er auf den Verkauf alkoholischer Getränke verzichtete. Dafür aber ein polizeiliches Führungszeugnis. Lachhaft für einen Kripomann! Oh deutsche Gründlichkeit!
Heute musste er dringend sein Personalproblem lösen. Nur eine Bedienung im Wagen, das haute nicht hin.
Mist, Mist, Mist!
Ihm fiel plötzlich ein, er könnte Ünal anrufen, einen entfernten Bekannten. Der hatte kürzlich geheiratet und soweit sich Kurt erinnerte, meinte er gehört zu haben, dass der Supermarkt, in dem seine Frau arbeitete, kurz danach dicht gemacht hatte. Die frisch Vermählten könnten ein bisschen Zusatzkohle sicher gut gebrauchen.
Er traute sich nicht, vom Büro aus anzurufen, und verschwand in einen leerstehenden Besprechungsraum. Dort suchte Kurt die Nummer Ünals im Kontaktverzeichnis seines Smartphones heraus und bimmelte ihn an. Nach viermaligem Tuten meldete sich sein Bekannter mit: »Hallo?«
»Ünal, mein Freund. Lange nicht mit dir gesprochen. Hier ist Korkmaz. Wie geht es dir?«
Ein kurzes Stutzen auf der anderen Seite der Verbindung. Dann: »Korkmaz? Was für eine Überraschung. Sag nicht, du rufst mich bloß an, um mich zu fragen, wie es mir geht.«
»Geht dir doch sicherlich ausgezeichnet! So frisch verheiratet«, verklausulierte Kurt, dass er hören wollte, es sähe schlecht mit Ünals Finanzen aus.
»Klaro. Könnte nicht besser sein.«
Das hörte Kurt allerdings weniger gerne. Er kam zum Punkt. »Weshalb ich anrufe, Ünal: Ich habe mitbekommen, deine Frau braucht einen Job.«
»Was ihr bei der Polente so alles mitbekommt. Tatsächlich ist Dilek seit Juli ohne Arbeit.«
»Und? Hätte sie vielleicht Interesse an was Neuem?«
»Erzähl. Ich stehe hier gerade an der Fräse. Ich habe nicht lange Zeit.«
Ünal arbeitete bei einer alteingesessenen Schreinerei. Das war auch unschwer an den Hintergrundgeräuschen zu hören. Eine Säge kreischte.
»Ich habe jetzt einen Imbisswagen. Da ist mir eine Mitarbeiterin stiften gegangen.«
»Würste braten und Pommes ins Fett schubsen? Nee, lass mal. Den Gestank kriegt Dilek nie runtergeschrubbt. Das will ich ihr und mir ersparen.«
»Halb so wild. Hab doch einen Abzug im Wagen«, der nur noch auf Stufe eins funktioniert, fügte Kurt in Gedanken an. Aber das musste Ünal nicht unbedingt wissen.
»Was zahlst du denn?«
»Acht Euro die Stunde.«
»Was? Du spinnst wohl. Das ist weit unter Mindestlohn.«
»Bar auf die Kralle. Ohne Finanzamt und so.«
»Unter zehn ist da nix drin.«
Kurt knirschte mit den Zähnen. »Neun. Weil du es bist.«
»Zehn und ich gebe dir einen Tipp.«
Was sollte das wohl sein?
»Erst der Tipp.«
»Also gut. Letzte Woche hat hier im Industriegebiet eine Bude dichtgemacht. Da könntest du einspringen. Ne Goldgrube ist das. Die ganzen Mitarbeiter und so. Mittags haben sie in Zweierreihen angestanden. Du solltest dir den Standplatz sichern. Und am Wochenende kannst du zusätzlich Veranstaltungen außerhalb klarmachen. Dann ist hier nix los.«
Das hörte sich unerwartet gut an.
»Bleibt bei Neun. So gut ist der Tipp auch wieder nicht. Aber kein Wort zur Kollegin im Wagen, hörst du! Die will sonst auch mehr.«
»Halsabschneider! Okay. Ich werde Dilek fragen.«
»Wann kannst du mir Bescheid geben? Sie müsste morgen schon anfangen.«
»Ich melde mich in den nächsten zwei Stunden. Jetzt muss ich aber Schluss machen.«
»Bis später. Tschüss Ünal.«
Wenigstens ein kleiner Hoffnungsschimmer. Aber die verfluchten Akten, die nahm ihm keiner ab.
Kurt setzte sich zurück zum Büro in Marsch. Möhrchen saß bereits vor ihrem Bildschirm. »Schöne Scheiße, was«, warf er ihr hin.
Seine Kollegin stieg nicht darauf ein. Sie hatte den Frust scheinbar bereits hinuntergeschluckt. »Ich habe mir Nummer eins bis zwanzig vorgenommen. Mach du mit einundzwanzig bis vierzig weiter. Wenn wir in solchen Häppchen vorgehen, kommen wir uns wenigstens nicht in die Quere.«
Ohne weitere Erwiderung machte sich Kurt ans Werk.
Keine Stunde später stürmte Kriminalrat Hund in ihr Büro. Wie immer ohne anzuklopfen und grußlos. »Ah, da habe ich ja gleich die Richtigen beisammen. Neuigkeiten im Wasserbahnhof-Fall, habe ich von Ihrem Mann gehört, Frau Terschüren?«
Hunds blassgraue Augen funkelten hinter den Gläsern seiner randlosen Brille. Vom Körperbau eher ein Pinscher, hielt sich der Leiter der Kriminalinspektion 1 – und damit ihr großer und Erichs direkter Chef -, selbst für einen Mastiff. Dabei war er mit einer Selbstverliebtheit ausgestattet, wie sie der Rasse nicht nachgesagt wurde. Hinter vorgehaltener Hand sprachen sie von ihm nur unter Verwendung von Spitznamen, wie »Bello« oder »Wauwau«.
Möhrchen bemühte sich um eine scheißfreundliche Erwiderung, obwohl ihr beim Auftreten des Kriminalrats jedes Mal etwas anderes in den Sinn kam, wie Kurt wusste. Beim Schießen auf der Kirmes hätte der ruhig mal die Benimm-Blume treffen können -, war noch ihre freundlichste Bemerkung zu Hunds Auftreten gewesen. »Einen wunderbaren guten Morgen, Herr Hund. Sie sind richtig informiert. Eine mehr als dürftige Aussage von einem fragwürdigen Zeugen.«
»Ich möchte, dass der Cold Case mit absoluter Priorität behandelt wird! Dieser Zeitungsartikel, eine Katastrophe für unsere Truppe. Das muss ausgebügelt werden. Und wenn es unsere Kräfte Tag und Nacht bindet. Ich möchte, dass Sie zur Not bis an Ihre Grenzen gehen, Frau Terschüren, Herr Kurt. Wir bleiben hart am Fall Wasserbahnhof«, sprach der Kriminalrat und verschwand ebenso unvermittelt, wie er aufgetaucht war.
Sie sahen sich über die Schreibtische hinweg an. Schon platzte Möhrchen los. »Der ist spitz darauf, den Orden für die Lösung eines angeblichen Cold Case ans Revers seines kleinkarierten Anzugs geheftet zu bekommen, wie Nachbars Lumpi auf die Pudeldame nebenan. Wenn ich aus Heb-das-Beinchens Mund das Wörtchen ›wir‹ höre, schrillen bei mir sämtliche Alarmglocken. Der wird sich doch hoffentlich nicht einbilden, mitmischen zu dürfen.«
»Hoffentlich hat er genug Arbeit, damit er dazu keine Zeit findet«, meinte Kurt nur dazu. Dann vertiefte er sich weiter in Nummer einundzwanzig bis vierzig.
Der September schleppte sich mit den Mühen des Falls dahin. Jeder Tag glich dem nächsten. Nur die Wochenenden brachten eine Unterbrechung.
Mit für sie ungewöhnlicher Geduld, klopfte Möhrchen alte Protokolle ab. Nicht ein einziges Mal entdeckte sie Verwertbares, das einigermaßen zur Schilderung des Bezopften passte. Sie sortierte die Kandidaten hin und her, bis sie die Aussichtsreichsten für den Tag zusammengestellt hatte. Dann zog sie los, stand vor verschlossenen Türen, musste feststellen, dass Zeugen fortgezogen waren oder sogar verstorben. Und wenn sie jemanden antraf, kam nichts dabei herum. Komplett zwecklos.
Kurt erging es ebenso. Er tauchte meistens eine Stunde nach Möhrchen im Büro auf. Mehr als einen »guten Morgen« brachte er in dieser Zeit kaum über die Lippen. Gewöhnlich war er ein munterer Gesprächspartner. Seine Veränderung war ein Indiz für Möhrchen, dass er genauso unter dem Mühlrad litt, wie sie.
Drei Wochen verstrichen auf diese Weise. Am Sonntag des letzten Septemberwochenendes klagte Möhrchen Erich endlich ihre Zermürbung. Sie brach mit der Absprache, im privaten Umfeld nicht über die Arbeit zu sprechen. Das hatten sie sich geschworen, damit der Dienstalltag außerhalb der eigenen vier Wände blieb. Heute ging es nicht anders. Sie erzählte von ihren Besuchen bei den Zeugen, von der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen.
Erich hörte einfach nur zu. Er rügte Möhrchen nicht, dass sie ihre gegenseitige Absprache überging. Erich sah sie verständnisvoll an, nickte leise an den richtigen Stellen. Ihr Mann tat ihr gut, so wie er sich verhielt. Langsam beruhigte sie sich und setzte einen Punkt.
Möhrchen betrachtete Erichs weiche Gesichtskonturen, die in seltsamem Kontrast zu seinem durchtrainierten Körper standen. An Armen, Beinen und auf dem Rücken spielten die Muskeln bei jeder seiner Bewegungen unter der Haut, das Ergebnis regelmäßigen Trainings. Stark war ihr Mann, und groß. Überragte seine Frau, die die Mindestgröße für eine Polizistin mit eins dreiundsechzig gerade eben erreicht hatte, um Haupteslänge.
Im November wurde Erich fünfzig. Damit hatte er schwer zu kämpfen. So lange sie ihn kannte, raspelte er sich die Haare millimeterkurz, damit seine ausgeprägte Glatze nicht allzu sehr auffiel. Möhrchen dachte unwillkürlich an ihr Hüftgold. Jeder focht einen anderen Kampf mit seinen Problemzonen aus. Jeder für sich. Einsam.
Vor ihnen stand ein Teller mit Handkäs, angemacht mit Essig und Öl. Zwiebelringe und Kümmel waren darüber gestreut. In einem Brotkorb lag eine aufgeschnittene Roggenstange. Erich trank Bier dazu, sie ein Glas trockenen Weißwein. Ein Essen, das sich ihr Mann gewünscht hatte. Möhrchens Geschmack war solche Hausmannskost nicht unbedingt. Aber manchmal musste man den Wünschen des Partners nachgeben. Das gehörte dazu.
Die Katzenklappe ploppte. Kater Sigi kehrte von seinen nachmittäglichen Streifzügen heim. Möhrchen hatte die Glückskatze nach einem Ex-Kollegen getauft, längst pensioniert.
Kater Sigi tappte gemächlich zum Tisch und strich Möhrchen schnurrend um die Beine. Ob er ein Gespür dafür besaß, dass es um Frauchens Verfassung nicht zum Besten bestellt war? Gefüttert wurde er um diese Zeit normalerweise nicht, und das wusste er.
Eigentlich stimmte ja alles. Sie waren beide gesund, ihre Finanzen waren geordnet, sie konnten sich beinahe alles leisten, was ihnen durch den Kopf schwirrte, ihre Beziehung war stabil und glücklich. Es war zurzeit leider etwas mühsam auf der Arbeit. Das sollte vorkommen. Jammern auf hohem Niveau.
Möhrchen holte tief Luft und blies sie in einem langen Strom aus. »Man soll so etwas ja nicht sagen. Aber ich wünschte, wir bekämen eine neue Leiche herein.«
Erich schüttelte den Kopf über diese Bemerkung. Dann nahm er einen großen Schluck Bier.
Oktober
Kapitel 2
Möhrchen war - wie meistens - früh ins Bett gegangen. Erich hatte noch eine Sportübertragung sehen wollen und war erst später unter die Bettdecke gekrochen. Seitdem schnarchte er ihr die Ohren voll und hielt sie wach. Bestimmt ein, zwei Bier zu viel. Halleluja!
Irgendwann schien sie doch eingenickt zu sein. Jedenfalls warf sie das Klingeln des Diensthandys ziemlich aus der Bahn. Die Einsatzzentrale meldete sich.
»Frau Terschüren? Wir haben einen Toten. U-Bahn-Haltestelle Philharmonie. Die SpuSi ist schon dort.«
Na prima. Dann war die Nacht, nicht einmal begonnen, endgültig zu Ende.
»Ich komme!« Sie drückte das Gespräch weg.
Spontane Einsätze waren in ihrem Beruf nichts Ungewöhnliches. Feste Arbeitszeiten galten für einen Kriminalpolizisten in frischen Fällen nicht. Es war umgekehrt. Die Fälle verfügten über die Zeit der Ermittler.
Erich stellte das Schnarchen ein und rieb sich die Augen. »Wer war das?«
»Die Zentrale. Eine Leiche. In Nähe der Philharmonie.«
»Hat der die Mucke nicht vertragen?«
Ihr Mann zählte eindeutig zu den Kulturbanausen. Kurz nach ihrer und Erichs Hochzeit hatte Möhrchen ihn zum Neujahrskonzert mitgeschleift. Beethovens Neunte. Auf der Heimfahrt hatte er ihr die Ohren vollgejammert. Pickel bekäme man von solcher Beschallung. Sie möge ihn nie wieder zu so etwas mitschleppen. Dafür müsste man Geld herausbekommen, nicht bezahlen. Und so weiter. Der Alfried-Krupp-Saal, von internationalen Künstlern wegen seiner akustischen Qualitäten gerühmt, war seitdem ein rotes Tuch für ihn.
»Sind ja nicht alle so penetrant kulturscheu wie du. Kannst weiterschlafen. Ich glaube, ich komme alleine klar.«
Erich wälzte sich auf die Seite und fing sofort wieder an, zu schnarchen.
Möhrchen schälte sich aus dem Bettzeug, nahm ihre Klamotten von der Stuhllehne, wo sie sie zu Beginn der verkorksten Nacht hingeschmissen hatte, und ging ins Bad. Vor dem Spiegel bürstete sie sich die Knoten aus der roten Lockenpracht. Sie zog sich an, verließ das Haus und startet ihren Smart.
Die Straßen des nächtlichen Essen waren an einem Werktag wie heute wie gewohnt leer. Möhrchen erreichte die Huyssenallee, das Ziel ihres Einsatzes, nach wenigen Minuten. Eine vierspurige Straße mit einem schmalen Grünstreifen in der Mitte. Leben fand um diese Zeit auch hier, so nah der City, nicht mehr statt. Umso auffälliger war der Trubel um die Fundstelle des Opfers herum. Vier Einsatzwagen, deren Blaulicht über Fassaden und in den Kronen der Straßenbäume zuckte, mindestens vier uniformierte Polizisten und die weißen Gespenster der SpuSi, die im Umfeld herumwuselten. Ein paar Leute lehnten über dem Geländer der Haltestelle und spähten neugierig in den Untergrund. Schaulustige oder Zeugen?
Möhrchen bog nach rechts in die Zufahrt zu einem Parkplatz ab und brachte den Smart hinter einem Polizeifahrzeug zum Stehen. Sie stieg aus und ging zum Ort des Geschehens hinüber – ein paar Schritte nur. Der Zugang zur U-Bahn lag ein Stück von der namensgebenden Lokalität entfernt. Bäume behinderten den Blick auf die beleuchtete Eingangshalle der Philharmonie, die ein großzügiger Vorplatz von der Straße trennte. Den im rechten Winkel dazu abzweigenden, mächtigen Kuppelbau, der seine Stirnseite mit einer bogenförmigen Fensterreihe der Huyssenallee zuwandte, konnte Möhrchen immerhin erahnen. Gegenüber wusste sie ein erst kürzlich fertiggestelltes Wohn-Hochhaus. Als jemand ihr von den horrenden Mieten dort erzählt hatte, war sie regelrecht baff gewesen. Niemals wäre es ihr eingefallen, für solches Geld mitten in die Stadt zu ziehen.
Sie begrüßte die Beamten, die am Eingang zur U-Bahn-Haltestelle vor einem Absperrband standen. Eine Kollegin zeigte die Treppe hinunter. Gerade kniete der Rechtsmediziner neben der Leiche, die unnatürlich verrenkt vor ihm lag. Ein starker Scheinwerfer tauchte die Szenerie in Schlachthoflicht.
»Gibt es schon Erkenntnisse, was hier passiert ist?«, fragte Möhrchen die Kollegin.
»Wir wurden um etwa halb zwölf von einem Zeugen angerufen. Unser Wagen war als erster hier. Wir fanden den Mann dort unten und haben alles in die Wege geleitet.«
»Steht der Zeuge hier noch irgendwo herum?«
»Nein. Der Junge ist noch nicht volljährig. Wir haben ihn nach Hause gebracht und einen Seelsorger verständigt.«
»Haben Sie seine Personalien aufgenommen?«
»Sicher.«
»Darf ich mal sehen?«
Die Kollegin griff in die Brusttasche ihrer Uniformjacke und holte einen Block hervor. Sie reichte ihn Möhrchen. Sechzehn Jahre war der Knabe alt. Möhrchen fotografierte den Zettel mit ihrem Smartphone ab.
»Was wollte er hier, mitten in der Nacht?«
»Er hat angegeben, auf dem Heimweg gewesen zu sein. Der Junge wohnt auf der anderen Seite des Stadtparks in der Brunnenstraße.«
Die grüne Lunge der Innenstadt zog sich hinter dem Gebäudekomplex an der Huyssenallee entlang. Eingangs, von ihrem Standpunkt aus hinter der Philharmonie, lag das Aalto-Theater, ein weiterer Musentempel der Stadt. Essen besaß schöne Gebäude für die Kultur, wie Möhrchen fand. Schade, dass sie so wenig davon hatte.
Sie wischte den Gedanken weg. Darum ging es hier im Augenblick nicht. Sie nahm sich vor, den Zeugen an einem der nächsten Tage persönlich zu befragen.
»Was machen die hier?« Möhrchen hob ihr Kinn und zeigte der Kollegin damit, dass sie die Leute an der Brüstung der Haltestelle meinte.
»Die meisten sind Gaffer. Leider eine Unsitte, die immer mehr einreißt. Nur der da in der Lederkluft hat wirklich etwas gesehen.«
»Dann wollen wir die Leutchen mal ein bisschen erschrecken. Folgen Sie mir bitte. Und Sie auch.« Der zweite Kollege, den sie ansprach, sah aus wie der Türsteher von einem halbseidenen Club. Mit dem Mann im Schlepptau würde sie sich Respekt verschaffen.
Tatsächlich wichen die Schaulustigen etwas zurück, als sie zielstrebig auf sie zumarschierten. Zwei Pärchen und ein Mann, der im Aussehen dem Polizisten, der sie begleitete, in Nichts nachstand. Er unterstrich seine respekteinflößende Gestalt, indem er eine Lederjacke mit Nietenbesatz trug.
»Terschüren, Kripo Essen«, stellte sich Möhrchen vor. »Wer von Ihnen hat etwas beobachtet, was für uns wichtig sein könnte?«
Eingeschüchtert schüttelten die Gaffer ihre Köpfe. Nur der Rocker-Verschnitt sah sie unbeeindruckt an.
»Was machen Sie dann noch hier?«
»Wir sind freie Bürger. Wir dürfen stehen, wo wir wollen«, antwortete die Lederjacke. Er lallte etwas. Der Geruch nach billigem Fusel streifte Möhrchens Nase.
»Was, wenn ein Freund oder Verwandter von Ihnen dort unten läge. Fänden Sie es gut, wenn er von Sensationslustigen belagert würde?«
Die Pärchen wurden nachdenklich, wie Möhrchen aus den Augenwinkeln bemerkte.
Der Angetrunkene nicht. »Meine Verwandten habe ich alle in die Wüste geschickt.«
»Und wenn Sie selbst dort lägen?«
Der Mann entblößte ein Raubtiergebiss. »Würde mir nichts ausmachen. Wäre ja tot!«
Möhrchen hatte genug. »Sie geben jetzt alle den Kollegen hier Ihre Personalien und dann verschwinden Sie, aber zack zack.«
»Meine Personalien können sie haben. Aber verschwinden werde ich nicht.«
Möhrchen trat nah an den Kerl heran. Er war sogar noch ein Stück größer als Erich. Sie wusste selbst nicht, woher sie den Mut nahm. Manchmal ging es eben mit ihr durch. »Sie tun jetzt, was ich angeordnet habe. Sonst lasse ich Sie in die Ausnüchterungszelle bringen«, zischte sie durch die Zähne.
Der Rocker-Verschnitt zeigte sich unbeeindruckt. Er fasste Möhrchen ans Brustbein und schubste sie zurück. Damit war zu rechnen gewesen. »Festnehmen den Meister. Tätlicher Angriff auf eine Polizistin.«
Der Kollege im Türsteher-Format trat vor, und fixierte den verblüfften Schubser mit geübtem Polizeigriff. Seine Kollegin nahm die Handschellen von ihrem Gürtel und legte sie ihm hinterrücks an.
»Abführen«, grinste Möhrchen überlegen.
Den beiden Pärchen war es unterdessen zu mulmig geworden. Ehe sich jemand um sie kümmern konnte, waren sie die Huyssenallee hinuntergeflüchtet. So schnell würden sie nicht mehr gaffen, war sich Möhrchen sicher. Der Querulant wurde zum Einsatzwagen gezerrt. Unflätig lamentierte er in die Nacht hinein. Der käme morgen an die Reihe.
Sie wartete noch einen Moment vor dem Absperrband, bis der Rechtsmediziner seine Untersuchungen abgeschlossen hatte. Gemächlich stieg er die Treppe hoch. Sie kannte ihn. Ein Mann mit einem ziemlich skurrilen Humor.
»Guten Abend Herr Dr. Böhm. Hat man Sie auch aus dem Bett geklingelt?«
»Hallo Frau Terschüren. Ich war noch gar nicht drin. Unser Hund hat die Scheißerei. Ich musste halbstündlich mit ihm vor die Tür.«
»Oh. Wer kümmert sich jetzt um das Tier?«
»Das hat meine Frau übernommen. Die war auch noch wach.«
»Können Sie was zu der Leiche sagen?«
»Nun, der Mann wird jedenfalls nie mehr unter Diarrhö leiden, haha.« Das war wieder so einer von den merkwürdigen Scherzen des Mediziners. »Was darf ich Ihnen sonst noch verraten?«
»Die Todesursache natürlich.«
Dr. Böhm kratzte sich im Nacken. »Tja, das ist nicht ganz eindeutig. Es sieht aus, als ob der Mann die Treppe heruntergefallen ist. Etliche Schürfwunden an Armen, Händen und im Gesicht. Ob Knochenbrüche vorliegen, konnte ich noch nicht feststellen. Jedenfalls keine, an denen er gestorben ist.«
»Woran ist er dann gestorben?«
»Seine Augen zeigen merkwürdige Veränderungen. Drogen vielleicht.«
»Also keine Fremdeinwirkung? Ein Schuss? Stiche?«
»Ich konnte nichts dergleichen feststellen.«
»Könnte eine natürliche Ursache zum Tod geführt haben?«
»Möglich. Auch wenn sein Alter dagegenspricht. Da ist noch manche Nuss zu knacken.«
»Danke, Herr Dr. Böhm. Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht. Und dass Ihr Hund den Darm mittlerweile geleert hat.«
»Der wird ausgeschissen haben, haha.« Weg war er, der Scherzbold.
»Kann ich runter kommen?«, rief Möhrchen den weißen Gespenstern im Schacht zu.
»Wir sind hier fertig. Kommen Sie«, rief eine der Gestalten zurück.
Sie streifte Latexhandschuhe über, die sie stets bei sich trug, hob das Absperrband an, kroch darunter hinweg und stieg die Treppe bis zum ersten Absatz hinab. Dort war der Tote zum Liegen gekommen.
Als Möhrchen direkt vor der Leiche stand, wunderte sie sich. Ein Schwarzer. Das war von oben nicht zu erkennen gewesen. Warum überraschte sie das? So ungewöhnlich war das auf Essens Straßen nicht. Und doch machte es sie stutzig. Ein Umstand, der für die Lösung des Falls wichtig war? Wenn es überhaupt ein Fall war, kein Unfall. Erstaunlich, dass das bisher nicht zur Sprache gekommen war. Niemandem, den sie bisher gesprochen hatte, war es eine Bemerkung wert gewesen. Sie kannte das anders.
»Hat er Papiere bei sich gehabt?«, fragte sie eine der beiden herumstehenden SpuSi-Gespenster.
»Nichts. Kein Pass, kein Kassenbon, kein Geld, kein Handy.«
»Dann wissen wir also nicht, um wen es sich handelt?«
»So ist es.«
Möhrchen kniete sich neben die Leiche. Sie hob das Kinn etwas an. Ein junger Mann. Keine zwanzig, schätzte sie. Seine Augen standen offen. Dr. Böhm hatte Recht. Sie besaßen einen merkwürdigen Ausdruck. Deuten konnte sie ihn nicht.
Die typischen Fragen am Fundort einer Leiche durchzuckten ihren Kopf. Was hatte der Mann hier gewollt? War er auf dem Weg nach Hause gewesen? Der Fundort wies darauf hin. Wo war er hergekommen? Wer erinnerte sich an ihn? Der ganze Strauß, der jedes Mal abzuarbeiten war. Außer, die Sache war eindeutig.
Möhrchen ging wieder hinauf. Am Eingang zur U-Bahn-Haltestelle sammelte sie alle verbliebenen Kolleginnen und Kollegen ein, die Uniformierten und die SpuSi.
»Hat noch jemand spontan etwas beizutragen?«, fragte Möhrchen in die Runde.
Allgemeines Kopfschütteln.
»Dann machen wir den Laden schnellstmöglich dicht. Das schaffen wir noch, ehe der morgendliche Berufsverkehr losgeht. Sobald der Staatsanwalt hier war, wandert die Leiche in die Rechtsmedizin. Wer nicht unbedingt gebraucht wird, soll gerne abziehen. Ich warte, bis alles erledigt ist. Meine Nacht ist sowieso kaputt.«
Die Routine beim Aufräumen hinter einem Leichenfund nahm ihren Lauf. Als endlich auch die Letzten verschwunden waren, schaute Möhrchen auf die Uhr. Kurz vor fünf. Da lohnte es nicht mehr, nach Hause zu fahren. Sie ging zu ihrem Smart und begab sich direkt zum Polizeipräsidium. Es war nicht weit – zu Fuß wäre man in kaum einer halben Stunde dort gewesen.
Der Pförtner sah sie groß an, als sie das ehrwürdige Portal des alten Kastens durchschritt. »Aus dem Bett gefallen, Frau Terschüren?«
»Die Toten werden immer unverschämter. Nehmen keinerlei Rücksicht auf unsereiner Bettruhe«, flachste Möhrchen zurück.
Der Mann, kurz vor der Rente, lachte.
Im Büro machte sie sich zunächst an die Inbetriebnahme der Kaffeemaschine. Ein altmodisches Modell mit Wassertank und Tütenfilter. Darauf schwor sie. Zuhause goss sie ihr Lebenselixier sogar noch per Hand auf oder mittels einer Cafetiére. Wenn Zeit dafür war, wurden in den eigenen vier Wänden sogar Bohnen gemahlen, mittels eines manuell betriebenen Erbstücks. Die Ehre, die man dem Kaffee damit erwies, schmeckte man deutlich – wie Möhrchen fand.
Am Arbeitsplatz musste es praktischer zugehen. Aber eines hatte sie sich trotzdem geschworen: Den Männern würde sie niemals das Regiment über das Kaffeekochen überlassen. Sie schienen das Schwarzgebräu ohne Genuss hinunterzukippen, rein mechanisch. Zumindest die in ihrem Umfeld. Anders war es nicht zu erklären, dass sie die richtige Mischung aus Wasser und Kaffeemehl nie hinbekamen. Ehe sie so eine Plörre serviert bekam, nahm Möhrchen das lieber selbst in die Hand. So viel Zeit musste selbst im Büro sein.
Sie setzte sich mit der ersten Tasse Kaffee des Tages an ihren Schreibtisch, kramte einen Block und einen Kugelschreiber aus der Schublade und machte sich Notizen über das, was sie in der Nacht gesehen und herausgefunden hatte. Die frischen Eindrücke waren oft die beste Quelle für spätere Ermittlungen. Schließlich schaffte Möhrchen bereits siebzehn Jahre in diesem Schuppen. Da konnte sie auf eine gewisse Routine bauen, die sie sich im Laufe der Zeit angeeignet hatte.
Als sie ihre Notizen halbwegs rund fand, schrieb sie einen Bericht über die Auseinandersetzung mit dem Rocker-Verschnitt. Sicher, sie hatte seine Reaktion provoziert. Sollte es zu einer Anhörung kommen, käme das bestimmt zur Sprache. Sollte es doch. Wenigstens hatte der Typ eine Nacht auf der Pritsche verbracht und durch Gitter gefilterter Luft geatmet. Vielleicht war ihm das eine Lehre und verpasste seiner großen Schnauze einen Dämpfer.
Beschäftigt mit ihrer Arbeit, schritt der Morgen schnell voran. Möhrchen war geradezu überrascht, als ihr Kollege erschien.
»Morgen Kurt. Kaffee?«
»Hi, Thea. Gerne!«
Ihr Kollege war nicht gut drauf, das merkte sie gleich. Er informierte sie ungefragt, wo ihn der Schuh drückte: »Scheiß Inflation. Die haben wieder was draufgeschlagen beim Frittenfett.«
Ach ja, die Pommesbude!
Ständig gab es neue Hiobsbotschaften, was Kurts Nebentätigkeit anging. Im Juni war der Grill ausgefallen, eine ungeplante Investition. Den Schaden am Dach des Campinganhängers hatte Kurt notdürftig selbst repariert. Mit Silikon und Gewebeband. Wie lange das hielt, darüber liefen im Kommissariat bereits Wetten. Im September hatte Kurt tagelang mit Personalproblemen gekämpft. Er hatte versucht, das vor ihr zu verbergen, war zum Telefonieren aus ihrem Büro verschwunden. Aber ihm waren Bemerkungen herausgerutscht, auf die sie sich einen Vers machte. Ihr Kollege träumte allzu blauäugig vom leicht zu verdienenden Geld, von einer Villa an der türkischen Adria mit einem Ferrari vor der Tür, oder was auch immer. Inwiefern ihn seine Eltern dazu animierten, blieb für Möhrchen auch nach etlichen Gesprächen mit ihm diffus.
Sie holte Kurt einen Kaffee und schob ihm den gefüllten Becher hin. Er nahm zwei Stücke Würfelzucker aus seiner Schreibtischschublade und kippte einen Schuss Kondensmilch in die Tasse. Dann rührte er mit lautem Klingeln um und leckte den Löffel ab. Möhrchen, die ihren Kaffee seit sie denken konnte, schwarz trank, schüttelte sich innerlich.
»Meinst du nicht, die Pommesbude war eine Schnapsidee«, tastete sie sich unverblümt an den Kern des Problems heran.
Kurt brauste auf. »Das sind nur Anlaufschwierigkeiten.«
Möhrchen bohrte nicht weiter. Das hatte sowieso keinen Zweck. Der Imbisswagen war Kurts Problem – sollte er es lösen.
Sie kam lieber auf Dienstliches zu sprechen. »Wir haben unter Umständen übrigens einen neuen Fall.«
»Ach? Schieß los!«
Möhrchen erzählte ihrem Kollegen, was in der Nacht vorgefallen war.
Kurt hörte aufmerksam zu. »Ein kleiner Dealer, der zu viel selbst konsumiert hat?«, schlug er eine Lösung vor, als sie geendet hatte.
»Warum? Nur, weil er ein Schwarzer ist?«
»Ich meine ja nur«, zog sich Kurt gleich zurück. Er wusste zu gut, dass Vorurteile eher hinderlich für Polizeiarbeit waren.
Gegen neun kam endlich Erich herein. Zwei Minuten später saß sie ihrem Mann in seinem Büro gegenüber. Erich ließ sich von Möhrchen über die Ereignisse der Nacht informieren. Nachdenklich saß er über seiner Tasse. »Was hältst du davon? Tötungsdelikt oder Unfall?«
Möhrchen zog die Nase kraus. »Nehmen wir an, so ein junger Kerl stolpert. Ist doch merkwürdig, wenn er sich nicht fangen kann. Zumindest schützt er seinen Körper mit den Armen, macht Ausweichbewegungen. Für mich sah es so aus, als wäre ein alter, gebrechlicher Mann gestürzt.«
»Vielleicht war er behindert?«
»Glaube ich, ehrlich gesagt, nicht.«
»Besoffen? Mit Drogen vollgepumpt?«
»Hier denken alle gleich, was? Kurt hat Ähnliches geäußert. Der Doc hat zwar so etwas angedeutet, ich bin mir aber nicht sicher. Wenn, dann ist er zumindest keiner gewesen, der lange abhängig ist. Seine Haut, seine Gesichtszüge – das sah für mich nicht nach gewohnheitsmäßigem Drogenkonsum aus.«
Erich strich sich mit der Hand über das Kinn. »Sicher wissen wir das erst, wenn der Doc mit ihm fertig ist. Und der Typ, der dir an die Wäsche wollte?«
»Verhören, entlassen. Den Rest entscheidet der Staatsanwalt.«
Erich schmunzelte. »Hast du die Situation herausgefordert?«
Ihr Mann kannte sie halt gut nach so langer gemeinsamer Zeit im Job.
»Er ist meinen, sagen wir, Empfehlungen nicht gefolgt und hat mich angegriffen. Zwei von uns sind Zeugen. Befrag sie und entscheide. Ist mir schnurzpiepegal, was ihr mit dem Riesenross macht. Mir brennt eine andere Frage unter den Nägeln: Was soll ich jetzt mit der neuen Leiche anfangen?«
»Nichts zunächst. Warten wir ab, was Kriminaltechnik und Rechtsmedizin herausbringen. Und, ob ihn jemand vermisst. Wir müssen ja nicht unnötig im Nebel herumstochern.«
»Dann gehe ich mal wieder die Protokolle der Wasserbahnhof-Zeugen wälzen«, grollte Möhrchen.
»Seit wann bist du denn auf den Beinen?«, erkundigte sich Erich fürsorglich.
»Du hast den Anruf doch mitbekommen.«
»Genau. Und deshalb gebe ich dir für den Rest des Tages frei. Acht Stunden hast du dicke voll und dein Überstundenkonto quillt über.«
»Du bist ein Schatz«, lächelte Möhrchen ihren Mann an. »Vorher werde ich aber noch diesen Jungen aufsuchen. Den sie gestern Nacht schon nach Hause geschickt hatten, als ich eintraf.«
Sie gab Erich einen Kuss und beeilte sich, aus dem Polizeipräsidium zu verschwinden.
Möhrchen fuhr in die Brunnenstraße. Die Eltern würden den Jungen nach einem solchen Erlebnis hoffentlich nicht zur Schule schicken. Im nächsten Moment plagte sie das schlechte Gewissen, dort vor zehn aufzukreuzen. Vielleicht schlief der Junge noch.
Warum sollte sie nicht auch an sich denken? Dieses Gespräch noch und dann ab nach Hause.