Gebetslogik -  - E-Book

Gebetslogik E-Book

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Beschreibung

Hilft Beten? Christen gehen davon aus, dass sie Gott nicht umsonst anrufen. Wirkt Gott in uns oder ist das Gebet als ein selbstreflexiver Vollzug des inneren Menschen anzusehen? Darf das Gebet von seiner Erhörung abhängig gemacht werden, muss es davon unabhängig gemacht werden? Diese Anfragen an das Gebet betreffen nicht nur die Glaubwürdigkeit einer der wesentlichsten christlichen Praktiken, sondern den Kern des Glaubens und des Gottesbegriffs. Soll die Logik des Gebets verstanden werden, ist somit die innere Systematik der Theologie zu befragen, liturgie- und frömmigkeitsgeschichtliche Zugänge sind zu bedenken und die äußere Begründbarkeit zu erörtern. Dieser Band zum Gebet umfasst Beiträge aus unterschiedlichen Konfessionen. Die große Mehrzahl ist im Rahmen der Jahrestagung des Interkonfessionellen Theologischen Arbeitskreises im Januar 2014 zu diesem Thema entstanden. Einige weitere wurden gezielt als Ergänzung aufgenommen. Der Schwerpunkt des Bandes ist systematisch-theologischer Art, da die Reflexionen auf die Denkmöglichkeiten des Betens zugeschnitten sind. Mit Beiträgen von Stefanos Athanasiou, Christoph Böttigheimer, Gregor Etzelmüller, Teresa Forcades i Vila, Ottmar Fuchs, Johann Ev. Hafner, Martin Hailer, Andreas Krebs, Ulrike Link-Wieczorek, Michael Nausner, Denis Schmelter, Volker Spangenberg. [Logic of Prayer Reflections From an Interdenominational Perspective] Do prayers help? Christians believe that they do not pray in vain. Does God work in us or is prayer rather to be understood as a self-reflective performance of the inner person? Why should one persevere in prayer if he or she doesn't experience God's answer? Theologians from seven different denominations present their view on forms and intentions of their specific tradition. Those enquiries do not only touch the credibility of one of the most essential Christian practices, but they also concern the heart of the Christian faith and understanding of the Divine. In order to understand the logic of prayer, one has to discuss the underlying systematic theology, differentiate between liturgical and historical approaches and justify its external reasonableness.

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Beihefte zur Ökumenischen Rundschau Nr.103

Gebetslogik

Reflexionen aus interkonfessioneller Perspektive

Herausgegeben von Johann Hafner, Julia Enxing und André Munzinger

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2016 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz: Steffi Glauche, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-04600-3

www.eva-leipzig.de

Vorwort

Das Gebet provoziert. In seiner stillen Form entkommt es der außenstehenden Beobachtung, in seiner liturgischen Form entspricht es oft nicht individuellen Bedürfnissen. Beten bleibt trotz vielfältiger Infragestellung eine liturgische und private Konstante der Religionen im Allgemeinen und christlicher Bekenntnisse im Besonderen: Im Gebet werden Deutungsangebote verschiedener Traditionen in die Gegenwart des Alltags überführt, und im Gebet erleben Menschen Entlastung und solidarischen Zusammenhalt. Außerhalb und innerhalb der Religionsgemeinschaften wirkt diese intime Form des Kultes auch in der Moderne nach, indem Momente des Über-sich-Hinausgreifens mit Dank und Klage, Bitte und Andacht verbunden werden. Betende werden jedoch auch durch die neuzeitlichen, religionskritischen Anfragen an den Sinn und die Wirkung dieser Glaubenspraxis herausgefordert. Das Bittgebet erscheint manchen als naive, vormoderne Vorstellung eines interventionistischen Gottesbildes; das Dankgebet wirkt für andere wie eine subjektive Projektionsfläche gelungenen Lebens. Für manche setzen Bitt- und Dankgebet zudem ein zutiefst ungerechtes Gottesbild voraus, für andere dagegen führt das Gebet dazu, Ungerechtigkeit ertragen und gestalten zu können.

Wie steht es also mit der Logik des Gebets aus der Sicht der Theologinnen und Theologen christlicher Glaubensweisen der Gegenwart? Können sie die weiterhin hohe Anziehungskraft des Gebets systematisch entschlüsseln und nach innen und außen plausibel begründen? Antworten sie auf die religionskritischen Fragen bezüglich der Wirkung des Gebets? Gibt es Unterschiede in der Gebetslogik aus der Perspektive verschiedener Konfessionen? Passen Gebet und Logik überhaupt zusammen?

Die Beiträge dieses Bandes stehen nicht jenseits der schwierigen Anfragen. Sie stellen sich der Kritik, die sich am Gebet in exemplarischer Weise entfacht. Durch die kritischen Fragen hindurch wird die Logik des Gebets gesucht und erörtert. Dabei ist der vielfältige Zugang zu dieser Praxis in den folgenden Beiträgen charakteristisch für die Fülle der Antworten und Umgangsweisen in der gegenwärtigen Theologie. Verschiedene Konfessionen kommen zu Wort. Um nur einige Beispiele zu nennen: Aus der baptistischen Gebetskultur stellt Volker Spangenberg Denkweisen des individuellen und gemeinschaftlichen Betens im Gottesdienst vor; aus der griechisch-orthodoxen Theologie heraus erklärt Stefanos Athanasiou das Gebet als ein ökumenisches Ereignis, weil es einen gemeinschaftsstiftenden Sinn beinhaltet; die Benediktinerin Teresa Forcades i Vila entwickelt Überlegungen zum Gebet im Horizont der Vorsehung Gottes; aus der protestantischen Liturgie und Theologie antwortet Gregor Etzelmüller auf die Frage, ob das Gebet heute in einer Krise steckt; bezogen auf das wesleyanisch-methodistische Verständnis des Betens lässt sich nach Michael Nausner das Gebet als vorsprachliches Beziehungsgeschehen erklären.

Die Differenzen sind aber nicht vornehmlich auf die unterschiedlichen Traditionen bezogen. Es werden ebenfalls verschiedene Praktiken des Gebets zum Thema gemacht. Neben dem persönlichen Bittgebet werden Interzession, das freie Beten, Doxologie und Klage erörtert. Auch die Zugangsweisen und Fragestellungen sind in den folgenden Texten vielfältig. Neben fundamentaltheologischen Arbeiten stehen materialdogmatische Fragen, neben biblisch-theologischen und kontemplativ ausgerichteten Überlegungen sind systematisch-argumentativ und forschungsgeschichtlich aufgebaute Vorgehensweisen zu erkennen. Eine übergreifende Systematisierung dieser Unterschiede ist nicht intendiert. Denn die Verschiedenheiten der Ausführungen markieren die Weite des Gesprächsfeldes und der systematisch-theologischen Herausforderung, die sich mit dem Thema des Gebets ergibt.

Zugleich werden Gemeinsamkeiten deutlich, vor allem hinsichtlich der zentralen theologischen Stellung des Gebets. Dementsprechend wird in den Ausführungen unter vielen anderen auf Augustinus, Thomas von Aquin, Johannes Calvin, John Wesley, Karl Rahner und Karl Barth, aber auch auf die gegenwärtige universitäre Theologie verwiesen, um die grundlegende Bedeutung des Gebets für den Vollzug des Glaubens und das Verständnis der Theologie insgesamt zu betonen. Daraus entstehen eindrucksvolle Formulierungen: Als »Pulsschlag des Glaubens« bezeichnet Etzelmüller im Anschluss an Martin Luther das Gebet, während andere Beitragende auf die prägnante Aussage Walter Kaspers aufmerksam machen, das Gebet sei der »Ernstfall des Glaubens«.

Wichtig ist es deshalb, die Beiträge nicht nur konfessionsbezogen zu lesen. Vielmehr wird an den Sachfragen gearbeitet, zum Teil mit Diskursabgrenzungen innerhalb der jeweiligen Konfession und teils mit konfessionsübergreifenden Fragen. Einige Gravitationszentren sollen zu Anfang kurz benannt werden.

So wird in einigen Überlegungen deutlich, dass das Gebet vom Forum der Vernunft aus befragt werden kann und muss. Dabei geht es vornehmlich um das Bittgebet. Christoph Böttigheimer stellt sich der theologischen Herausforderung, die Bitte nachvollziehbar und »intellektuell redlich« auf ihre Schwierigkeiten hin zu befragen, um auf diese Weise der »Not des Bittgebetes« gerecht zu werden. Für Denis Schmelter geht es in der Frage nach der Wirkung dieser Form des Betens um die Vernunft des theistischen Glaubens selbst und letztlich um »die existenzielle Tragfähigkeit christlichen Glaubens« insgesamt. Im Aufsatz von Johann Hafner wird deutlich, wie weitreichend die Anfragen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen an die Praxis und Logik des Gebets sind: Das Gebet wird aus diesen Kritiken heraus als »unsichtbar«, »unwirksam« oder »stumm« dargestellt. Die Schwierigkeiten einer angemessenen Erforschung der Funktion und Wirkkraft des Betens werden allerdings ersichtlich, wenn die historischen, phänomenologischen und soziologischen Fragestellungen aufeinander bezogen werden, denn ein gemeinsamer Gegenstandsbereich und eine Übereinkunft hinsichtlich der Bedingungen, unter denen die Forschungen durchgeführt werden, lassen sich nicht als selbstverständlich voraussetzen.

Das Gebet wird zwar zu Recht mit den Mitteln kritischer und diskursiver Analyse untersucht. Es kommt aber auf die Kontur, den fixierten Gegenstand und die Denkrichtung der Fragestellungen an. In einigen Beiträgen wird deshalb von der Praxis des Gebets her das theologische Denken befragt und die Theorie aus den Praktiken heraus entwickelt. Martin Hailer macht in seinen Überlegungen zur Interzession grundlegend darauf aufmerksam, dass Dogmatik nicht nur über das Gebet spricht, sondern dass sie selbst aus »dem Reden zu Gott« stammt und somit zu Gott führt. Insofern wäre die Dogmatik lediglich als Gebetsakt möglich. Ottmar Fuchs zeigt, dass wir durch die Doxologie in besonderer Weise lernen können, Gott wirklich Gott sein zu lassen. Denn die Doxologie verzichtet auf kausale Erklärungszusammenhänge und lässt Mensch und Gott frei. Dementsprechend wird die Weise des Betens für die Qualität des Glaubens und des Handelns relevant und nicht umgekehrt.

Aus dieser Logik heraus ergibt sich in einigen Beiträgen auch die Frage nach der Angemessenheit des Wirklichkeitsverständnisses, welches uns das Gebet überhaupt problematisieren lässt. Mehr als eine Verteidigung vor der säkularen Vernunft ist geboten, denn im Gebet erschließt sich die Möglichkeit, die Grenzen der eigenen Wirklichkeitswahrnehmung zu Tage treten und zum Thema werden zu lassen. Auf diese Weise kann Andreas Krebs in einer Auslegung zu Psalm 77 das Beten als einen Akt des Antwortens darstellen, um Gott selbst die Verantwortung zu überlassen. Die Anfechtung des Gebets wird zum Gebet. Für Michael Nausner ist in ähnlicher Denkrichtung das Gebet selbst ein Grenzgang, in dem die Hoffnung auf Verwandlung in existenzieller und vorsprachlicher Weise zur Äußerung kommt. Die Grenze ist erkenntnistheoretisch und existenziell betrachtet ein anspruchsvoller Ort, an welchem dem schlechthin Unverfügbaren Raum gelassen wird.

Indessen wird auch das Verständnis der Wirklichkeit Gottes zum Thema. Wiederholt wird das interventionistische Gottesbild auf dessen Schlüssigkeit hin befragt – in unterschiedlicher Ausprägung zum Beispiel bei Teresa Forcades i Vila, Christoph Böttigheimer, Gregor Etzelmüller, Denis Schmelter und Volker Spangenberg. Können wir die Art der Einwirkung Gottes besser verstehen, wenn wir sie im Horizont der Kooperationsverbundenheit zwischen Mensch und Gott einordnen? Ist die Vorstellung des Eingreifens Gottes in innerweltliche Abläufe zu verabschieden? Ist das Einwirken Gottes eher indirekt als eine Veränderung der menschlichen Handlungsmöglichkeiten zu verstehen, oder wird damit eine problematische Begrenzung des göttlichen Wirkens auf das Innerliche impliziert? Wie lassen sich die biblischen Hoffnungen artikulieren, dass Gott in der Welt wirke, Kranke gesund mache und Recht spreche? Diese Fragen werden keineswegs übereinstimmend beantwortet, sie machen vielmehr die theologischen Konsequenzen der jeweiligen Gebetslogik ersichtlich.

Der vorliegende Band umfasst Beiträge, die in der Mehrzahl im Rahmen der Jahrestagung des Interkonfessionellen Theologischen Arbeitskreises (ITA) im Januar 2014 zu diesem Thema entstanden sind. Einige weitere wurden gezielt als Ergänzung aufgenommen. Dabei verdeutlicht die Publikation die Arbeitsweise dieses Kreises in charakteristischer Weise. Ziel ist es, die Vielfalt und Differenz der verschiedenen theologischen Traditionen und Perspektiven als eine Bereicherung anzusehen und zugleich die Herausforderung anzunehmen, kritische Fragestellungen über die Grenzen der eigenen Perspektive hinaus zuzulassen. Bewusst wird ein experimentierfreudiger Arbeitsstil gefördert. So wird der Arbeitskreis als eine Alternative zu den wissenschaftlich-theologischen Gesellschaften verstanden, die vornehmlich die eigene konfessionelle Entwicklung verfolgen, und zugleich soll er eine Ergänzung zu ökumenisch-theologischen Zusammenkünften bieten, die gemeinsame Stellungnahmen entwickeln. In dieser Publikation lassen sich somit eher Prozesse und Fragestellungen identifizieren, die eine transkonfessionelle Arbeit erkennbar machen: Die verschiedenen Perspektiven und Konfessionen werden vorausgesetzt, diese können, müssen aber nicht, selbst zum Thema werden, weil die gemeinsamen Sachfragen im Mittelpunkt stehen.

Wir haben für die Möglichkeit der Veröffentlichung dieses Bandes vielen zu danken. Zunächst sei den Autorinnen und Autoren unsere Freude bekundet, dass sie mit ihren anspruchsvollen Fragestellungen und gehaltvollen Beiträgen dem Band eine hochwertige Kontur verleihen. Für Druckkostenzuschüsse möchten wir uns sehr herzlich bei dem Erzbistum Berlin, dem Bistum Münster und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland bedanken. Zudem hat Julia Enxing dankenswerterweise einen finanziellen Beitrag zu den Druckkosten aus Geldern ihres Dissertationspreises (von der Universität Münster vergeben) geleistet.

Wir freuen uns, dass die Herausgeberinnen und Herausgeber der Ökumenischen Rundschau der Aufnahme in die Reihe Beihefte zur Ökumenischen Rundschau zugestimmt haben. Frau Dr.Annette Weidhas und Herrn Jan-Christian Buchwitz von der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig danken wir für die konstruktive Zusammenarbeit bei der Drucklegung. Frauke Bohge und Kadir Sanci, Mitarbeiterin und Mitarbeiter von Johann Hafner an der Universität Potsdam, sind wir für die redaktionelle Überarbeitung der Texte sehr zu Dank verpflichtet.

Münster, Potsdam und Kiel, im August 2015

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Die Krise des Bittgebets Diagnostische Rückblicke und systematische Reaktionen

Christoph Böttigheimer

Krise des Gebets? Protestantische Entwicklungen und Perspektiven

Gregor Etzelmüller

Einbruch ins forum internum Wie Phänomenologie, Empirie und Systemtheorie das Gebet erforschen

Johann Ev. Hafner

Providence and Prayer Beyond the Interventionist God

Teresa Forcades i Vila

Die Sprache des Dialoges mit Gott und den Mitmenschen Das hypostatische Gebet als ökumenisches Ereignis

Stefanos Athanasiou

Interzession Dogmatische Erwägungen zum stellvertretenden Fürbittgebet

Martin Hailer

»Christen sollen Beter sein, Baptisten aber ganz besonders.« Anmerkungen zur Gebetskultur im deutschen Baptismus

Volker Spangenberg

Über die Möglichkeit und Unmöglichkeit des Gebets Reflexionen zu Psalm 77

Andreas Krebs

Im Grenzraum der Verwandlung Reflexionen zur partizipatorischen Dimension des Gebets

Michael Nausner

Ist Gott beeinflussbar? Beten im Licht des Open-View-Theismus

Denis Schmelter

Doxologie Anerkennung Gottes in der Differenz

Ottmar Fuchs

Autorin und Autoren

Herausgeberin und Herausgeber

Register

Weitere Bücher

Fußnoten

Die Krise des Bittgebets

Diagnostische Rückblicke und systematische Reaktionen

Christoph Böttigheimer

Abstract

Im Bittgebet verdichten sich die Schwierigkeiten der Gebetstheologie, wird hier doch neben dem Problem der Gebetserhörung zusätzlich die Frage berührt, wie ein Handeln Gottes in der Welt naturwissenschaftskonform gedacht werden kann. Ohne eine verantwortbare rationale Explizierung der Rede vom Handeln Gottes wird jedes Bittgebet obsolet. Der Beitrag geht darum der Frage nach, wie ein Handeln Gottes in der Welt heute gedacht werden kann und welche Konsequenzen sich hieraus für die Theologie des Bittgebets ergeben.

Nach neutestamentlichem Zeugnis gehört das Gebet konstitutiv zu unserem Christsein und besteht in der Erhebung des Gemüts zu Gott, wie Johannes von Damaskus es ausdrückt: »Oratio est ascensus mentis in Deum«1. Wie ein Leben ohne zu atmen nicht möglich sei, so könne nach Romano Guardini auch der Christ ohne zu beten auf Dauer nicht existieren.2 »Betet ohne Unterlaß!«, ermahnt darum Paulus die Christinnen und Christen in Thessaloniki (1 Thess 5,17f.). Wenn die Jetztzeit die Zeit des Heils ist, dann besteht die adäquate Antwort der Glaubenden in ihrer fortwährenden Hinordnung auf die göttliche Gegenwart. »Seid fröhlich in der Hoffnung, geduldig in der Bedrängnis, beharrlich im Gebet!« (Röm 12,12).3

Das Gebet als Grundvollzug christlicher Existenz kann vielfältige Formen annehmen: Dank, Lobpreis, Anbetung, Klage oder Bitte. Während der Lobpreis in charismatischen oder pfingstlerischen Gruppierungen wieder verstärkt praktiziert wird, hat das Bittgebet einen zunehmend schwereren Stand und dies, obgleich die Gebetsunterweisung Jesu v. a. auf das Bitten fokussiert ist (Lk 18,1–8). Genau betrachtet kulminieren im Bittgebet alle anderen Gebetsformen. Nach Karl Barth ist das Gebet »in seiner Mitte, es ist in dem, was es zum Gebet macht, Bitte, und nur als Bitte dann auch Dank, Buße und Anbetung. Es sind alle jene anderen Elemente diesem Einen gegenüber nicht selbständig, sondern sie sind Elemente dieses Einen: des Bittgebetes.«4 Denn, so fragt Barth rhetorisch: »Wie kann man ihn anders ehren, preisen und rühmen, als indem man als Bittender Alles von ihm erwartend, und darum ihn um Alles angehend, zu ihm kommt?«5 Hans-Martin Barth weist überdies darauf hin, dass »Gebet« etymologisch von »Bitten« kommt, es sei allererst »›Gebitte‹, ein Gestammel von Bitten, ein ›Gebettel‹.«6

Im Bitten verdichtet sich das Beten, ja letztlich der christliche Glaube überhaupt, weshalb das Bittgebet gern als »Ernstfall«7, »Testfall«8 oder als »Probe des Glaubens«9 bezeichnet wird. Es ist in seiner Intentionalität ein Präzedenzfall für die Überzeugung, dass in der Immanenz eine Transzendenz am Werk ist, an die Menschen sich wenden können. »Wenn auch sonst niemand das Wirken Gottes voraussetzt, der betende Mensch geht davon aus, er würde überhaupt nicht aufs Beten verfallen, wenn er sich nicht auf ein sehr präzises, bisweilen fast banal-konkretes Handeln Gottes verlassen könnte.«10 Doch hier beginnt das Dilemma11 des heutigen Menschen, welches sich im Nicht-Beten-Können äußert. Die Betenden und nicht das Gebet sind der Grund heutiger Gebetsnot, fällt es doch den Menschen zunehmend schwerer, Gott in der aufgeklärt-technischen Welt einer radikalen Immanenz als gegenwärtig waltend zu erfahren. Zwar ist der Begriff von Gott noch vorhanden, doch wird er in der vom »Tod Gottes« geprägten, empirisch orientierten Lebenswelt nicht mehr als ein personales Gegenüber wahrgenommen. Gebete erscheinen dann als nutzlose Monologe und der Mensch muss zu leben lernen, als ob es Gott nicht gäbe. Er erschließt sich die Wirklichkeit und gestaltet sein Leben nach »den Imperativen der (autonomen) Vernunft […]. Was in der Welt geschieht, ist aus ihr selbst, aus ihren eigenen Entwicklungsgesetzen und Antriebskräften erklärbar.«12

Wenn in der Mitte des Betens die Bitte steht, dann kulminieren im Bittgebet sämtliche Gebetsprobleme und haben die Einwände gegen das Bittgebet maßgeblich zu den heutigen Gebetsschwierigkeiten beigetragen. Wohl nicht von ungefähr hat sich die theologische Gebetsreflexion, die seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts einen enormen Aufschwung erlebt, intensiv mit der Sinnhaftigkeit des Bittgebets auseinandergesetzt und ist die Frage nach der Zuwendung Gottes zur Welt verstärkt in den Fokus theologischer Reflexion getreten.13 Schließlich macht es ja nur Sinn, Gott um etwas zu bitten, sofern dieser den Geschichtsverlauf bestimmt. Wurde bis in die Neuzeit selbstverständlich vom unvermittelten Geschichtshandeln Gottes ausgegangen, ist diese Gewissheit heute abhandengekommen. Dieser Traditionsbruch setzt das Bittgebet und mithin alle Gebetsformen dem Sinn- und Nutzlosigkeitsverdacht aus. Zutreffend konstatiert Gerhard Lohfink: »Die Frage nach der Geschichtsmächtigkeit Gottes ist der Punkt, von dem die meisten der Gebetsprobleme ausgehen, welche die Menschen heute irritieren.«14 Greift Gott »mit starker Hand und hoch erhobenem Arm« (Dtn 26,8) in den Welt- und Geschichtsprozess ein? Wird denen, die inständig bitten, auch tatsächlich gegeben (Mt 7,7; 21,22; Lk 11,9; Joh 16,24, Jak 4,3)? Macht es überhaupt Sinn, Gott um etwas zu bitten? Solche Fragen treffen den Nerv unseres Glaubens und müssen zu denken geben, wenn wir nach einer adäquaten Gebetstheologie suchen.

Im Folgenden werde ich naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Gebetskritik nachgehen, Grundzüge eines theologisch verantwortbaren Sprechens vom Walten Gottes in der Welt entfalten und abschließend nach möglichen Konsequenzen für eine Theologie des Bittgebets fragen. Das bedeutet, die nachfolgenden Ausführungen verfolgen ein dezidiert fundamentaltheologisches Anliegen: Angestrebt wird keine bibeltheologische Entfaltung des Bittgebets, sondern dessen rationale Verantwortung vor dem Forum menschlicher Vernunft. Unter welchen Voraussetzungen erweist sich ein theologisches Verständnis des Bittgebets als mit einer modernen Weltsicht kompatibel?

Naturwissenschaftliche Anfragen

Welcher Raum bleibt für das göttliche Handeln angesichts der von den Naturwissenschaften, Geschichtswissenschaften, Humanwissenschaften, der Soziologie etc. aufgewiesenen innerweltlichen Kausalzusammenhänge? Das »Gefühl der Belanglosigkeit, letztlich der Widersinnigkeit des Betens inmitten einer auf wissenschaftlich-instrumentelle Rationalität ausgerichteten Umwelt«15 greift um sich und führt zu einem »transzendenzlos gewordenen Bewusstsein«16.

Im 20. Jahrhundert musste die Naturwissenschaft infolge der Krise des mechanistischen Materialismus und aufgrund der Quanten- und Relativitätstheorie lernen, dass das Ideal vollständiger mathematischer Berechenbarkeit aller Naturprozesse nicht aufrechtzuerhalten war. Die Naturwissenschaften würden wohl nie eine umfassende Erkenntnis von der realen Wirklichkeit erlangen, ganz zu schweigen von einer vollständigen Erklärung der Sinnenwelt. Nicht zuletzt ist die Vorstellung eines geschlossenen, deterministischen Weltbildes aufgrund der Heisenberg’schen Unschärferelation endgültig zerbrochen. Gleichwohl prägt noch weithin das Ursache-Wirkung-Schema und damit verbunden die Vorstellung einer kausalen Geschlossenheit des physischen Bereichs unser Bewusstsein. Zudem macht ein rigider Naturalismus17 erneut auf sich aufmerksam.

Selbst wenn eine völlig überzogene deterministische Naturauffassung, wie sie heute u.a. in naturalistisch-reduktionistischen Weltbildern propagiert wird, nicht geteilt und von keinem geschlossenen System innerweltlicher Wirkursachen ausgegangen wird, muss dennoch eingeräumt werden, dass es der Theologie derzeit schwer fällt, ein partikulares Eingreifen Gottes in die Abläufe von Natur und Geschichte einsichtig zu machen, ohne schlechterdings von einer Außerkraftsetzung der Naturgesetze ausgehen zu müssen.18 Negativ gewendet lässt sich sicherlich sagen, dass das göttliche Handeln vom menschlichen gänzlich unterschieden ist. Gott handelt nicht »nach Art einer irdischen Ursache«, noch reißt er »in physische Kausalreihen eine Lücke«19. Doch reichen rein negative Formulierungen aus? Genügt es festzustellen, dass der Begriff von der Interaktion Gottes mit der Welt »positiv nicht mehr vorstellbar« ist bzw. »quer zu allem menschlichen Handeln und quer zu allen physikalischen Kausalketten«20 steht? Bei Paradoxien Zuflucht zu nehmen bedeutet letztlich, die Rationalität des Glaubens preiszugegeben und die Glaubenden zwei Welten auszuliefern, der des Glaubens und der der Naturwissenschaften. Ein Widerspruch zwischen Beten und Denken und damit eine »religiös-wissenschaftliche Bewusstseinsspaltung«21 kann sich aber auf die Dauer nur verhängnisvoll auswirken. »Was vom Physiker Faraday erzählt wird, er habe sein Labor immer sorgfältig hinter sich verschlossen, wenn er in seine Betkammer gegangen sei, und umgekehrt, ist keine Dauerlösung.«22

Die gegenwärtige Gebetsunsicherheit rührt wesentlich davon her, dass sich im Rahmen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nur schwer kognitive Vermittlungsmöglichkeiten bezüglich der Geschichtsmächtigkeit Gottes und seiner spontanen Interaktion in innerweltliche Abläufe aufweisen lassen. Daran ändert auch die von der Quantentheorie aufgezeigte Indeterminiertheit bestimmter physikalischer Prozesse und der damit verbundenen Zufallsverteilungen nur bedingt etwas. Weil die Auswirkung mikrophysikalischer Indeterminationen auf der makrophysikalischen Ebene bislang ungeklärt ist und sich streng genommen Zufall einerseits und intentionales Handeln andererseits gegenseitig ausschließen, stellt eine mögliche Verortung göttlichen Handelns in mikrophysikalischen Indeterminationen keine Lösung dar. Aber auch auf makrophysikalischer Ebene (Chaostheorie) ist ein einzelnes, spontanes Eingreifen Gottes in den Geschichtsverlauf nur schwer plausibilisierbar. Denn weder ist das Chaos völlig indeterminiert, noch lässt sich ein Informationstransfer zwischen der göttlichen Wirklichkeit und chaotischen Prozessen so vorstellen, dass dabei Energieerhaltungssatz und Naturgesetze unangetastet bleiben. All dies bedeutet freilich nicht, dass damit die Möglichkeit eines unvermittelten Eingreifens Gottes naturwissenschaftlich grundlegend widerlegt wäre, wohl aber müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Theologie »derzeit kein zufrieden stellendes Nachfolgemodell für das klassische Konzept des mittels Wunder punktuell in die Geschichte eingreifenden Gottes anbieten kann.«23 So überrascht es auch nicht, dass gegenwärtig kaum Versuche unternommen werden, dieser Inkommensurabilität zu begegnen und eine innerweltliche Wirkweise Gottes wissenschaftskompatibel zu erklären. Wird aber darauf verzichtet, nach einer gemeinsamen Schnittmenge zwischen theologischen Aussagen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu fragen, muss der christliche Glaube zwangsläufig irrelevant werden.

Glaubende bleiben mit der rationalen Explizierung einer interventionistischen Nähe Gottes weithin auf sich gestellt. Sie finden nicht selten bei deistischen Vorstellungen Zuflucht. Tatsächlich meinen »[s]eit einigen Jahren […] Soziologen, bei Jung und Alt eine verstärkte Tendenz zu einem ›deistischen‹ Gottesverständnis beobachten zu können.«24 Gott und Welt werden säuberlich getrennt: »Was die Verkündigung über den Gott der Schöpfung und der Vorsehung sagt (sofern sie überhaupt noch von letzterer redet), versucht man in seine Glaubenswelt einzufügen; was man durch naturwissenschaftliche Informationen erfährt, speichert man in seiner Wissenswelt.«25Ein solches Verhalten impliziert allerdings einen latenten Hang zum praktischen Atheismus und intensiviert das Gebetsdilemma. »Viele empfinden eine naturgesetzlich geordnete Welt wie eine starre Mechanik, die sich zwischen Mensch und Gott schiebt und seinen Einfluß auf unser Leben verhindert: Gibt es kein Wirken Gottes im Sinn eines Eingreifens mehr, sondern nur noch den Lauf der Dinge, die Weltmaschine und ihren fernen Konstrukteur?«26 Warum sollte zu einem solchen Gott noch gebetet werden?

Philosophische und theologische Gebetskritik

Die Sinnhaftigkeit des Bittgebets steht und fällt mit der Geschichtsmächtigkeit Gottes. An sie richten sich nicht nur naturwissenschaftliche Anfragen, sondern auch philosophische. So etwa stellt das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Freiheit eine besondere Herausforderung für das Denken dar. »Wie das Miteinander der Freiheit Gottes und unserer eigenen Freiheit verläuft, wie Gottes Heilswille und unsere Gebete zusammenspielen, ist uns letztlich ›unausforschbar‹ und ›unaufspürbar‹.«27 Wiederum negativ gewendet lässt sich sagen, dass es ohne uns Menschen und an unserer Autonomie vorbei kein Handeln Gottes geben kann. Würde nämlich die Freiheit des Menschen zur eigenständigen Weltgestaltung von Gott außer Kraft gesetzt bzw. manipuliert, würde der göttliche Schöpfungsakt nachträglich beschnitten. Die Freiheit des Menschen markiert demnach eine deutliche Vorgabe für das theologische Verständnis eines besonderen Handelns bzw. Eingreifens Gottes in die Abläufe von Natur und Geschichte.

Theologisch drängt sich die Frage auf, inwiefern es sinnvoll ist, Gott um etwas zu bitten, wenn dieser in seiner Vorsehung schon vor der Zeit um den Gang der Geschichte weiß und diese bestimmt. Warum sollte vor Gott das Herz ausgeschüttet werden, wenn er uns doch immer schon von Grund auf kennt: »Von fern erkennst du meine Gedanken« (Ps 139,2)? Müsste zudem ein allmächtiger und allgütiger Gott nicht stets zum Wohl von Mensch, Welt und Geschichte handeln, ob er nun darum gebeten wird oder nicht? »[E]uer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet.« (Mt 6,8; 6,32) Des Weiteren schließt sich die Frage an, ob die Bitte des Menschen den Gott, bei dem es »keine Veränderung gibt« (Jak 1,17) beeinflussen und umstimmen kann. Nach neutestamentlichem Zeugnis schließt Gottes unveränderlicher Heilsplan die Erhörung und Erfüllung menschlicher Bitten nicht aus, doch findet sich hierzu keine Theorie. Erst in der Theologiegeschichte haben sich diverse Lösungsansätze herausgebildet, wie sich Gottes Allgüte, Allwissen und Unveränderlichkeit zur Bitte des Menschen verhalten. Wie immer sich diese spekulativen Ansätze im Einzelnen ausnehmen, letztlich muss offen bleiben, ob Gott überhaupt aufgrund von Bitten in den Weltlauf lenkend eingreift. Wer diese Frage vorschnell bejaht, muss sich darüber im Klaren sein, sich enormen Schwierigkeiten in Bezug auf die ohnehin äußerst bedrängende Theodizee-Frage auszusetzen: Falls Gott wirklich interventionistisch handelt, weshalb tut er dies dann in dem einen Fall und in einer anderen, vergleichbaren Situation nicht?

Aus naturwissenschaftlicher, philosophischer sowie theologischer Sicht wirft die Annahme eines interventionistischen Handelns Gottes erhebliche Fragen auf. Mit Gewissheit kann hier nur gesagt werden, welche irrigen Gebetsauffassungen auszuschließen sind. So darf etwa Gottes Handeln weder nach Art menschlichen Agierens vorgestellt, noch menschlichen Eigeninteressen untergeordnet werden. Wenngleich das Gebet, wie schon Thomas von Aquin anmerkte, immer auch die Sehnsucht des Menschen interpretiert28, darf das Bitten dennoch nicht als Mittel zur Durchsetzung egoistischer Ziele missverstanden werden. Nicht jedem Bittgebet liegt notwendigerweise ein selbstsüchtiges Streben zugrunde, wie dies u.a. Albrecht Ritschl annahm und darum allein Lob und Dank, keinesfalls aber die Bitte als Gott würdig erachtete.29 Eigensucht darf niemals Inhalt des Bittens sein, ansonsten hätte Feuerbach mit seiner These Recht, dass sich im Gebet lediglich das Selbstverhältnis des Menschen widerspiegle: »Das Gebet ist das Verhalten des menschlichen Herzens zu sich selbst, zu seinem eigenen Wesen – im Gebete vergißt der Mensch, daß eine Schranke seiner Wünsche existiert, und ist selig in diesem Vergessen.«30 In Wahrheit ist das Bittgebet in seiner Tiefe als Grundsehnsucht des Menschen nach der Gegenwart Gottes zu begreifen.

Falsch wäre es ebenso, das Bittgebet gegen die Pflicht, moralisch zu handeln, ausspielen zu wollen, wie dies in Brechts Erzählung »Mutter Courage und ihre Kinder«31 anklingt und unmissverständlich bei Immanuel Kant, einem der schärfsten Gegner des Gebets. Nach ihm handelt es sich beim Gebet um ein »bloßes erklärtes Wünschen«, um ein bloßes Selbstgespräch und mithin um einen »bloße[n] Religionswahn und Afterdienst Gottes«32. Beten ersetzt nach biblischem Zeugnis das ethische Handeln aber gerade nicht und es behält selbst dann noch seine Berechtigung, wenn sich alle Handlungsmöglichkeiten zerschlagen haben.33

Bitten und Gottes Walten

Das Bittgebet basiert auf dem Glauben an ein innerweltliches Wirken Gottes. Als Schöpfer der Welt ist er seiner Schöpfung bleibend zugewandt, ohne dass sein Schöpferwirken unmittelbar erkannt werden könnte. Die bleibende Zugewandtheit Gottes gleicht einer »indirekten Ko-Präsenz Gottes als Schöpfer und Urgrund in allem Weltlichen«34. Als der transzendentale Ermöglichungsgrund wirkt Gott mittelbar in allem Seienden, indem er alles zu sich in Beziehung setzt. Diese Relation ist inhaltlich bestimmt durch Gottes unbedingte Liebe, die darauf wartet, dass sich das Nein des Menschen in ein Ja verwandelt. So betrachtet bindet sich die Allmacht Gottes an die Freiheitsentscheidungen der Menschen, die er als Mit-Liebenden gewinnen möchte. Die göttliche Liebe zu seinen Geschöpfen ist überall zugegen, wo im Dienst für den anderen Selbsthingabe geübt und Güte gewährt wird. Gott interagiert nicht punktuell in den Weltprozess, wohl aber handelt er durch sein Schöpferwort und durch Menschen, die guten Willens sind.35 »Gott verwirklicht seinen Willen durch die Handlungen von menschlichen Tätern, indem er […] sie durch seinen Geist inspiriert, damit sie motiviert sind, seinen Willen zu tun.«36

Wenn sich Menschen am Geist und Willen Jesu orientieren, kann mittels ihres Handelns Gott innerweltlich wirksam werden (Mt 25,40). »Gott handelt […] in der Niedrigkeit und Machtlosigkeit derer, die sich ihm öffnen«37, wodurch die Möglichkeiten der Menschen überstiegen werden, ohne dass die Wirkungen ihrer Handlungen aufhören, Wirkungen menschlicher Handlungen zu sein. Das bedeutet weder, dass menschliches Agieren und göttliches Handeln schlechterdings identifiziert werden dürften, noch dass wir an Gottes Statt handeln, »sondern dass Gott uns mit seinem Wirken befähigt, sein Wirken, das sich in jedem Geschaffenen engagiert, sichtbar zu machen und darin an seinem eigenen Leben teilzuhaben.«38 Im Handeln der Menschen, die sich vom Geist der Liebe leiten lassen, handelt Gott indirekt in der Geschichte. »Gott ermächtigt den Menschen von Beginn an dazu, sich selbst zu dem Bild zu machen, das er als Geschöpf Gottes immer schon ist: zum Bild des Unbedingten, um so Unbedingtes mitten im Bedingten Wirklichkeit werden zu lassen.«39 Gottes Intervenieren ist personal vermittelt zu denken und zwar dort, wo Gottes Geist in uns wohnt (Röm 8,11).

Insofern Gott in und durch menschliche Akteure wirkt, ist sein Handeln von dem der Menschen äußerlich nicht unterscheidbar und letztlich nur für den Glaubenden erkennbar. Das bedeutet, dass ein mögliches Wirken Gottes in der Welt nie sicher erkannt werden kann. »Man spricht von einem göttlichen Handeln im Hinblick auf konkrete Widerfahrnisse, die jedoch stets auch anders zu beschreiben sind, ohne Rückgriff auf Gott. […] Die Erfahrung eines göttlichen Handelns in einem Ereignis läßt sich vor allem nicht mit derselben Unausweichlichkeit einem andern zumuten wie die Wahrnehmung des betreffenden Ereignisses für sich.«40 Demnach handelt es sich bei der Aussage, Gott habe gehandelt, um eine reine Glaubensaussage hinsichtlich eines Ereignisses, welches sich von jedem anderen innerweltlichen Ereignis in nichts unterscheidet. Es ist »das Paradox des Glaubens, daß der Glaube ›dennoch‹ als das Handeln Gottes hier und jetzt ein Geschehen versteht, das völlig verstehbar ist in dem natürlichen oder geschichtlichen Ablauf der Dinge«41 – »[d]as Inkognito Gottes bleibt.«42

Wirkung des Bittgebets

Das Bittgebet verändert nicht das Wesen Gottes. Mit ihrem Bittgebet beeinflussen die Betenden nicht auf magische Weise das Handeln Gottes, noch bewegen sie ihn dazu etwas zu tun, was er zuvor von sich aus nicht getan hätte. Würden die Betenden direkt Einfluss auf Gott ausüben, stünde das Bittgebet in der Gefahr, Gott manipulieren und für eigene Ziele und Zwecke funktionalisieren zu können. Die Projektion menschlicher Wünsche wäre unweigerlich die Folge, und Gott würde nicht mehr um seiner selbst willen angerufen, vielmehr wäre er nur noch »als Vermittlungsmacht interessant. Dieser Vorstellung wird noch dadurch Vorschub geleistet, daß Gott als direkt in den Weltzusammenhang heilend eingreifend begriffen wird. Dieses mythische Bild verdirbt das ganze Gebet und macht Gott zum Lückenbüßer für menschliche Not und menschliches Unvermögen. Gebet wird dadurch zur Ersatzhandlung«43.

Das Bittgebet verändert zwar nicht den Willen Gottes, wohl aber lässt sich dieser von den Bitten der Menschen betreffen. Mehr aber noch ändert das Bittgebet die Betenden selbst und das nicht nur im psychologischen Sinne. Indem sich die Bittenden Gott anheim geben, verstehen sie nicht nur sich selbst und die Welt auf Gott hin neu, sondern sie werden für die Gabe Gottes empfänglich und geben dadurch Gottes Handeln in der Welt Raum. Die größte Wirkung des Bittgebets sieht Augustinus seitens der Bittenden: »Uns also sind Worte notwendig, damit wir durch sie uns selbst ermahnen und auf den Gegenstand des Gebetes achten, nicht aber als ob wir glauben, wir müßten den Herrn durch sie belehren oder erweichen. Wenn wir also sprechen: ›Geheiligt werde Dein Name‹, so ermahnen wir uns zur Sehnsucht.«44 Diese bittende Selbstermahnung ist als solche immer schon von Gottes Geist ermöglicht und getragen (Röm 8,12–27; Gal 4,6) und damit mehr als ein bloßes therapeutisches Selbstgespräch. Sie verändert die Selbsterkenntnis, Einstellung und Empfänglichkeit der Menschen. Im Sinne des Letzteren ist das Bittgebet selbst die Weise seiner Erfüllung: »Alles, um was ihr betet und bittet – glaubt, dass ihr es empfangen habt, und es wird euch zuteil werden.« (Mk 11,24)

Das Bittgebet, das sich an Gott richtet, hat zunächst eine »selbsttransformative Wirkung auf den Betenden«45. Durch das von Gott Gewährte (Liebe, Freude, Friedfertigkeit, Geduld, Nachsichtigkeit etc.) verändert sich die Grundbefindlichkeit der Bittenden, was ohne die Voraussetzung des Bittgebets nicht geschehen wäre. »Im Gebet vollzieht sich also etwas am Menschen, was ohne das Gebet (oder ›außerhalb‹ der Gebetspraxis) nicht geschehen würde […]; das Erbetene geht ganz auf Gottes Handeln zurück, sowohl in der Hervorbringung der Gabe als auch in dessen Empfang«46. Der Bittende erkennt »seine persönliche Abhängigkeit von Gott auf eine Weise an, die es Gott ermöglicht, ihm zu geben, was er ihm ohne diese Anerkenntnis nicht hätte geben können.«47 Das bedeutet zum einen, dass die Allwissenheit Gottes nicht im Sinne eines Determinismus begriffen werden darf, und zum anderen dass das Bittgebet, wie schon Augustinus sagt, nichts anderes zum Gegenstand haben kann als Gott selbst: »Nolite aliquid a Deo quaerere; nisi Deum«.48 Nur wenn Gott um Gott selbst gebeten wird, wird er weder funktionalisiert, noch seiner Göttlichkeit beraubt. »Denn nicht dazu wird das Bittgebet an Gott gerichtet, daß der ewige Plan der Vorsehung abgeändert werde, dies ist ja unmöglich: sondern damit einer das, was er wünscht, von Gott erlangt.«49 So betrachtet kommt dem Gebet nicht nur eine selbsttransformative Wirkung zu, sondern auch eine die Wirklichkeit verändernde Wirkung. Das Gebet verändert die einzelnen Menschen, ihre Wahrnehmung und Handlungsorientierung und dadurch das Gefüge und die Struktur der Wirklichkeit.

Das Bittgebet ist eine notwendige, wenngleich keine hinreichende Bedingung für das Walten Gottes, das die Betenden und ihre Wirklichkeit verändert. »Dabei ist vorausgesetzt, dass das Gebet weder den Sinn noch die Funktion hat, Gott zu irgendeinem (anderen) Wirken zu veranlassen, dass aber (obwohl Gott nichts tut, was er ohne Gebet nicht getan hätte) doch etwas (beim Menschen) geschieht, was ohne das Gebet nicht geschähe oder geschehen wäre.«50 Damit ist das Bittgebet, wenn es auch keinen verändernden Einfluss auf den göttlichen Willen hat, keineswegs sinn- und wirkungslos. »Das Gebet bewirkt nicht, dass Gott das Erbetene gibt, sondern im Gebet empfängt der Mensch das, was Gott ihm geben will. Umgekehrt gilt jedoch: Die Unterlassung des Gebets verhindert, dass Gott dem Menschen das Verheißene gibt, weil der Mensch nicht empfängt, was Gott ihm geben will.«51 Im Bittgebet geht es also darum, das, was Gott immer schon zum Heil der Menschen beschlossen hat, in der Hinwendung zu und in der Selbstübereignung an Gott bittend zu empfangen. So gesehen braucht »Gott […] unsere Gebete nicht, aber er will sie«, damit wir in seinen Liebeswillen eintreten.52

Ausblick

Wenn das Gebet für den Glaubensvollzug konstitutiv ist und in seinem Zentrum die Bitte steht, gerade diese aber als Ursache heutiger Gebetsschwierigkeiten auszumachen ist, kommen wir nicht umhin, uns der Not des Bittgebets intellektuell zu stellen. Das bedeutet dann aber auch damit ernst zu machen, dass ein spontanes Geschichtshandeln Gottes weder philosophisch noch naturwissenschaftlich plausibilisierbar ist. Wohl aber kann auf Gottes andauernden Schöpfungsakt, d.h. seine verborgene Gegenwart in der Schöpfung, Bezug genommen werden, ebenso wie auf die Handlungsfreiheit des Menschen, die durchaus von der unbedingten Liebe motiviert sein kann.

Wenn Gottes Handeln nicht als ein mechanisch-kausales Eingreifen in den Geschehenszusammenhang der Welt gedacht werden kann, macht es keinen Sinn, ihn um ein solches interventionistisches Handeln zu bitten. (Für-)Bittgebete wären daraufhin kritisch zu überprüfen. Würde in der Verkündigung der Kirche in rein personalen Kategorien vom Handeln und Wirken Gottes in der Welt gesprochen, könnten manche Gebetsprobleme, die die Gläubigen heute irritieren, entschärft werden. Gründet die Gebetsnot nicht in einer enttäuschten Gebetspraxis? In der Regel bewahrheitet sich doch die biblische Einladung: »Bittet, dann wird euch gegeben« (Lk 11,9) nicht. Die größte Not des Bittgebets ist die Erfahrung der Nicht-Erhörung. Das Bittgebet sitzt, wie Rahner es ausdrückte, auf der Anklagebank: »Wir haben gebetet, und Gott hat nicht geantwortet. Wir haben geschrien, und Er ist stumm geblieben. Wir haben Tränen geweint, die unsere Herzen verbrannten. Wir wurden nicht vor sein Antlitz vorgelassen.«53

Intellektuell redlich und verantwortbar erscheint das Bittgebet dann, wenn es sich nicht auf ein interventionistisches Eingreifen Gottes in innerweltliche Abläufe richtet, sondern auf den Geist Gottes, auf dass sich Menschen diesem Geist öffnen und er durch ihr Tun indirekt wirken möge. Da sich so Menschliches und Göttliches vereint, kann Gott nicht anders als verborgen gegenwärtig sein, notfalls gar inmitten menschlicher Schwachheit und Ohnmacht (1 Kor 1,25; 2 Kor 12,9f.; Phil 3,7f.). Er ist »ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.«54

Letztlich lässt sich das Geheimnis des Bittgebets theologisch nicht aufheben. So kommt es darauf an, sich vom Geist Gottes ins Gebet einführen zu lassen (Röm 8,26) und sich dabei der eigenen Geschöpflichkeit bewusst zu werden, der restlosen Bezogenheit auf jenen Gott, der seiner Schöpfung bleibend zugewandt ist. Sich von der Wirklichkeit des Lebens und der Schöpfung ansprechen zu lassen bedeutet, dem uns ansprechenden Gott Raum zu geben. Ihm im Gebet zu antworten, ist Basis allen Gottvertrauens. So konnte Karl Rahner einmal provozierend sagen: »Ich glaube, weil ich bete!«55

Krise des Gebets?

Protestantische Entwicklungen und Perspektiven

Gregor Etzelmüller

Abstract

Der Beitrag zeichnet zunächst die Entwicklungslinien der evangelischen Liturgiereformen und die Gebetspraxis der evangelischen Kirchenmitglieder nach. Es lässt sich erkennen, dass es dem Protestantismus scheinbar nicht mehr gelingt, eines seiner Kernthemen, die Vergebung der Sünden, wirklichkeitserschließend zu vermitteln. In der Theologie des Gebets hat sich in den letzten Jahren ein Konsens herausgebildet, nach der Menschen primär um innerliche Gaben bitten und sich bei ihrem Gebet an der Haltung Jesu in Gethsemane orientieren sollen. Dieser (dezidiert bürgerliche) Konsens wird kritisch diskutiert. Er verkennt nicht nur die elementare Verkörperung aller sog. innerlichen Prozesse, sondern wird auch alttestamentlichen und kreuzestheologischen Einsichten nicht gerecht. Biblisch fundiertes Gebet zielt nicht auf die Akzeptanz der Wirklichkeit, wie sie ist, sondern darauf, dass sich in ihr ereigne, was Gottes Willen entspricht.

Für Martin Luther ist das Gebet der Pulsschlag des Glaubens1, nach Calvin ist das Gebet »das vornehmste Stück« der Gottesverehrung (Inst. III, 20, 29). Eine Krise des Gebets ist deshalb immer auch eine Krise des Glaubens, der Gottesverehrung, der Religion als solcher. Doch lässt sich im Blick auf den Protestantismus des 20. und 21. Jahrhunderts von einer Krise des Gebets reden? Im Blick auf das öffentliche Gebet lassen sich meines Erachtens eher Transformationsprozesse als Krisenphänomene beobachten. Selbst die Entwicklungen auf der Ebene des persönlichen Gebets brauchen meines Erachtens nicht dramatisiert zu werden. In der gegenwärtigen Theologie des Gebets sehe ich freilich Tendenzen, die kritisch befragt werden müssen.

1 Das öffentliche Gebet – Entwicklungen der liturgischen Praxis des Protestantismus im 20. Jahrhundert

Aus der Perspektive anderer Konfessionen erscheint der protestantische Gottesdienst insbesondere durch den Subjektivismus gefährdet. Von der liturgiewissenschaftlichen Forschung des frühen 20. Jahrhunderts an bis hin zu Joseph Ratzingers Buch Der Geist der Liturgie sieht man »die Tragik von Luthers Reformbemühen« darin, dass Luther verkannt habe, dass die Liturgie nicht gemacht werde, sondern »unter der Führung des Heiligen Geistes« gewachsen sei2. Im Gegensatz zu den vermeintlich organisch gewachsenen Liturgien des römischen Katholizismus und der orthodoxen Kirchen erscheinen die reformatorischen Ordnungen als »beliebige Schöpfung(en) […] menschlicher Willkürtätigkeit«3.

Die evangelischen Liturgiereformen des 20. Jahrhunderts lassen ein zweischichtiges Verfahren erkennen, wie der kirchliche Protestantismus auf diese Kritik de facto reagiert hat. Zum einen wurde argumentiert, dass auch die reformatorischen Ordnungen Teil der organischen Liturgieentwicklung seien. So haben einflussreiche lutherische Liturgiker – etwa Peter Brunner, einer der Väter der Agendenreform nach dem Zweiten Weltkrieg, und sein Schüler Hans-Christoph Schmidt-Lauber, einer der Väter der Erneuerten Agende – Luthers Messreform als Rückkehr zur altkirchlichen Form interpretiert4. Entsprechend hat William D. Maxwell behauptet, dass Calvins Genfer Gottesdienstordnung als Variante der Straßburger Tradition zu verstehen sei, die ihrerseits in der Messtradition wurzle5. Diese These Maxwells hat die Gottesdienstreformen vieler reformierter Kirchen geprägt. So lässt sich auch in reformierten Kirchen eine zunehmende Adaption der Messform beobachten6.

Zum anderen teilt man die Überzeugung, der evangelische Gottesdienst sei durch den Subjektivismus gefährdet, doch führt man diesen nicht mehr auf die Reformatoren zurück, sondern auf die, wie man im Kirchenkampf sagte, theologischen und kirchlichen Entwicklungen der letzten zweihundert Jahre. So will das reformierte Kirchenbuch von 1941 »der Willkür wehren, die in den reformierten Gemeinden Deutschlands weithin herrscht« und unter der man »200 Jahre hindurch […] gelitten habe«7.

Demgegenüber ist es durch die Liturgiereformen des 20. Jahrhunderts innerhalb der evangelischen Kirchen Deutschlands zu einer Homogenisierung des gottesdienstlichen Lebens gekommen. 1999 erscheinen sowohl das Evangelische Gottesdienstbuch, das in der VELKD und der EKU in Geltung steht, als auch die Reformierte Liturgie. Letztere will explizit »der Neigung zu ungutem Subjektivismus« entgegenwirken. Denn dieser »würde die Gemeinden denen ausliefern, die den Gottesdienst ›halten‹«8. Auch das EGB will zunächst dazu ermutigen, »das Beständige zu pflegen« – und erst dann, »das Neue zu wagen«9.

Dass das Evangelische Gottesdienstbuch dabei als Grundform I des evangelischen Gottesdienstes eine Form ausweist, in der der volle eucharistische Gebetszusammenhang wiederhergestellt ist, hat zwar innerevangelisch zu scharfen Auseinandersetzungen geführt10, dürfte aber aus einer ökumenischen Perspektive von katholischen und orthodoxen Kirchen positiv gewürdigt werden.

Insofern ließen sich die evangelischen Liturgiereformen des 20. Jahrhunderts sowohl aus einer externen Perspektive, sei sie katholischer oder orthodoxer Provienz, als auch aus der Perspektive der beteiligten evangelischen Liturgiker nicht als Krisenphänomen, sondern als Überwindung eines Krisenphänomens verstehen.

Im Blick auf das Thema des Gebets sind zwei Neuerungen innerhalb der liturgischen Praxis des Protestantismus von Bedeutung. Zum einen wird in vielen Ordnungen vorgeschlagen, innerhalb der Eingangsliturgie ein Psalmgebet von der Gemeinde (im Wechsel mit der Pfarrerin) sprechen zu lassen. Diese Neuerung ist auf erstaunlich positive Resonanz gestoßen: Das gemeinsame Psalmgebet ist in vielen Regionen heute ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil evangelischen Gottesdienstes. Da man die Psalmen ablesen kann, ist die Schwelle, sich an diesem Gebet öffentlich zu beteiligen, äußerst gering. Man findet im Psalter eine Gebetssprache, derer man sich öffentlich und gemeinsam bedient. Das ist im Blick auf das vermeintliche Verstummen öffentlicher Gebete ein beachtenswerter Vorgang.

Eine andere bedeutende Verschiebung lässt sich im Blick auf das Eingangsgebet erkennen. Dieses war in Teilen der lutherischen Reformation, vor allem aber in den reformierten Kirchen als gemeinsames Sündenbekenntnis gestaltet. Das Evangelische Gottesdienstbuch betont dagegen, dass »sich mehr und mehr gezeigt [habe], dass das Vorbereitungsgebet zu Beginn des Gottesdienstes erst einmal die Menschen, die von draußen zum Gottesdienst kommen, abholen muss«. Entsprechend verliert das Vorbereitungsgebet seinen prinzipiellen Charakter als Bußgebet11. Hinter dieser Verschiebung der Akzente verbirgt sich die Absicht, den Gottesdienst nicht mehr nach dem ›Leitritus‹ von Buße und Absolution zu gestalten12. Man wird diese Verschiebung vor allem dann kritisch zu deuten haben, wenn es im evangelischen Gottesdienst überhaupt nicht mehr gelingt, Sünde – auch bekennend – zur Sprache zu bringen.

2 Das private Gebet

Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft hat auch die Gebetspraxis der Kirchenmitglieder erfragt13. Dabei gaben etwa 70% der Mitglieder an zu beten (71% der Mitglieder im Westen, 68% der Mitglieder im Osten). Die meisten beten freilich nur gelegentlich; regelmäßig beten laut Selbstaussage 35% der Mitglieder im Westen und 41% der Mitglieder im Osten. Auffällig sind dabei die Inhalte der persönlichen Gebete. Größte Zustimmung findet die Aussage: »In schwierigen Situationen bete ich, dass Gott mir hilft« (71W/​69O), gefolgt von der Aussage: »Ich bete für das Wohl meiner Angehörigen und Freunde« (58W/​62O). Dank für alles Gute und Schöne und die Bitte um innerliche Ruhe folgen dann auf den Plätzen 3 und 4. Die Bitte um Vergebung, aber auch Klage und explizites Lob finden nur wenig Resonanz.

Meines Erachtens sind diese Zahlen zweifach zu deuten: Wenn das Gebet die vornehmste Übung des Glaubens ist, gilt es zu überlegen, wie die Kirchen mehr Glieder zum Gebet verlocken können. Umgekehrt sind diese Zahlen aber – selbst im Vergleich über Jahrhunderte hinweg – nicht zu dramatisieren. Kurz gefasst: Herausforderung: Ja – Krise: Nein.

Dass das Lob im persönlichen Gebet einen relativ kleinen Raum einnimmt, ist meines Erachtens sachlich nachvollziehbar. So formuliert der Alttestamentler Patrick Miller: »Praise is a public act; it is an act of worship; and it is a corporate act«14. Umgekehrt entspricht die geringe Präsenz der Klage im persönlichen Gebet einer allgemeinen Verdrängung der Klage über Jahrhunderte hinweg. Sie zeigt freilich auch, wie wenig die theologischen Bemühungen um eine Wiedergewinnung der Klage15 bisher gefruchtet haben. Hier besteht ein bleibender Vermittlungsbedarf der Kirchen. Die geringe Bedeutung der Bitte um Vergebung entspricht dem weitgehenden Verzicht auf die Offene Schuld im Gottesdienst. Beides weist darauf hin, dass es dem Protestantismus scheinbar nicht mehr gelingt, eines seiner Kernthemen, die Vergebung der Sünden, wirklichkeitserschließend zu vermitteln.

3 Ein Konsens in der Theologie des Gebets – kritisch betrachtet

»Wie Menschen beten sollen und dürfen«, das sei, so die Zürcher Systematikerin Christiane Tietz, »die eigentliche theologische Frage nach dem Gebet«16. Die Antworten, die in neueren systematischen Arbeiten auf diese Frage gegeben werden, lassen einen bestimmten Konsens erkennen: Erstens sollen Menschen primär oder ausschließlich um solche Gaben bitten, »die [sie] ›innerlich‹ angehen«17. Zweitens sollen sich alle Bitten an der Haltung Jesu in Gethsemane orientieren: »Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe« (Lk 22,42 parr)18. Dieser Vers ist der entscheidende biblische Bezugstext der neueren Gebetstheologien. Auffällig wenig wird auf Alttestamentliches, auch auf den Psalter, Bezug genommen19.

3.1 Umstellung des Gebets auf innerliche Gaben

Es lohnt sich die beiden systematischen Entscheidungen genauer in den Blick zu nehmen. Die neueren Entwürfe zu einer Theologie des Gebets arbeiten mit der Unterscheidung eines innerlichen und äußerlichen Wirkens Gottes an dem und für den Menschen. Obwohl auch »Gebete um äußerliche Dinge«20 von einigen Autoren, etwa von Wilfried Härle und Christiane Tietz, als legitim angesehen werden, sollten sich die Bitten primär auf innerliche Gaben konzentrieren, wie etwa »Geduld«21, »Kraft und neuen Mut zum Leben«22. Dieses Anliegen von Härle und Tietz aufgreifend formuliert Hartmut von Sass: »›Gott lässt bitten‹– aber er lässt sich nicht um dieses oder jenes, sondern nur um Bestimmtes bitten, nämlich um das, was unabhängig von jeder menschlichen Bitte schon als Heilshandeln des Menschen beschlossen ist und im Gebet angenommen wird.«23 Letztlich solle jedes Gebet darauf zielen, sich von neuem als von Gott gerechtfertigten Menschen zu verstehen. Nach von Sass kann »das Bittgebet im Kern überhaupt nur eine einzige Bitte haben […]: sich coram deo – d. i. als sündiges und gerechtfertigtes Geschöpf Gottes – verstehen zu können!«24 Eben deshalb ziele das Bittgebet (zumindest primär) nicht auf die Veränderung der Situation des Beters, sondern darauf, dass der Beter sich im Vollzug des Gebets neu zu verstehen lerne. Weil dieses Sich-neu-Verstehen im Gebet »als ein Widerfahrnis erlebt [werde], das dem Menschen als Geschenk (von Gott her) zuteil wird«25, wird das Gebet selbst zum »Ort und Mittel der Erhörung«26. Das Gebet ist »Mittel, durch das Gottes Wirken den Menschen erreicht und in ihm zur Wirkung kommt.«27

Betrachtet man diese Gebetstheologie in einer zugleich sozialgeschichtlichen und ökumenischen Perspektive, dann tritt ihre dezidierte Bürgerlichkeit in den Blick. Dass das Gebet auf das Sich-Neu-Verstehen konzentriert werden kann, setzt eine Gesellschaftsform voraus, in der für die elementaren Bedürfnisse verlässlich gesorgt ist. Ganz anders stellt sich das in jenen Weltgegenden dar, in denen die Pfingstbewegung rasant am Wachsen ist. Ein wichtiger Faktor dieses Wachstums ist das wirkmächtige Gebet um Heilung28. In einer Situation, in der eine adäquate Gesundheitsversorgung nur denen offen steht, die sich diese finanziell leisten können, wenden sich die vom Gesundheitssystem Exkludierten der Religion als Quelle der Heilung zu29. Diesen Menschen geht es nicht um ein Sich-neu-Verstehen, sondern ganz elementar um die Erhaltung des Lebens. Ein ökumenisches Bewusstsein, das um die Nöte und Gebete dieser Menschen weiß, wird den sich einstellenden Konsens in der protestantischen deutschsprachigen Theologie problematisieren müssen.

Dabei verweist die ökumenische Kritik auf ein systematisches Problem der neueren Gebetstheologien: Meines Erachtens ist die in diesen zugrunde gelegte Unterscheidung zwischen einem innerlichen und einem äußerlichen Handeln Gottes sowie die Konzentration auf das innerliche Wirken Gottes schlicht unterkomplex. Es wird weder unserem gegenwärtigen Wissen um den Menschen gerecht noch den biblischen Überlieferungen und der kirchlichen Tradition.

Unser gegenwärtiges Wissen um die Verkörperung alles Geistigen, sowohl unserer Emotionen und unserer Gefühle als auch unserer Kognition30, weist auf die elementare Verbundenheit von so genannten innerlichen und äußerlichen Prozessen hin. Als Beispiel für eine innerliche Gabe, um die man zurecht bitten dürfe, nennt Härle die »Geduld«, die man brauche, »um eine schwere Krankheit oder Behinderung zu ertragen«31. Eine solche Geduld kann sich aber nur auf der Grundlage einer Fülle neurologischer und physiologischer Prozesse unseres Körpers einstellen. Sie ist keine geistige Gabe, die man von körperlichen Prozessen lösen könnte32. Ein Gott, der einem diese Gabe schenkt, muss ebenso auf körperliche Prozesse wirken, wie ein Gott, den man um die äußerliche Gabe bittet, von der Krankheit als solcher geheilt zu werden. Entsprechend ist auch das Verstehen ein verkörperter Prozess, der nicht nur den Aufbau und Erhalt einer Fülle körperlicher Funktionen voraussetzt, sondern auch den Aufbau und Erhalt eines Kommunikationszusammenhanges, der mir jene materialen Texte überliefert und erschließt, die es mir überhaupt ermöglichen, mich als ein vor Gott gerechtfertiger Mensch zu verstehen. Kurzum: Kein innerliches Verstehen ohne Aufbau und Erhalt einer sichtbaren Kirche.

Doch auch die neutestamentliche Rede vom inneren Menschen steht der genannten Aufspaltung des Menschen entgegen. Sowohl für Paulus als auch für die Kirchenväter war der innere Mensch eben das Innere des äußeren Menschen und deshalb ohne den äußeren nicht zu denken. Die Kirchenväter benutzten zur Beschreibung des inneren Menschen deshalb das Adverb endon, das nicht einfach die lokale Verortung des inneren Menschen bezeichnet, sondern seine Zugehörigkeit zum äußeren Menschen. »Ist jemand in einem Haus endon, dann bedeutet dies in der Regel, ich gehöre diesem Haus zu und zähle zur Familie«33