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Chris Tulleken

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Beschreibung

Der Nr.1- Sunday-Times -Bestseller

Warum weiß unser Körper genau, wieviel Wasser wir brauchen, wie viel Sauerstoff wir benötigen – aber beim Essen scheinen unsere Systeme zu versagen? Woran liegt es, dass seit einigen Jahrzehnten Übergewicht und Fettleibigkeit auf der ganzen Welt zu einem ernsthaften Problem geworden sind, das mit jedem Jahr schwerwiegender wird?

Chris van Tulleken zeigt einen einzigen Grund auf, der hierfür verantwortlich ist: hochverarbeitete Lebensmittel – sie sind allgegenwärtig und selbst für ernährungsbewusste Menschen nicht ohne Weiteres vermeidbar. Hochverarbeitete Lebensmittel manipulieren unsere Körper – und das ist von der Industrie durchaus gewollt. Ihre Produkte sollen uns süchtig machen und uns dazu verführen, immer mehr zu kaufen und zu essen.

Anhand zahlreicher Studien und mit Hilfe eines dramatischen Selbstversuchs zeigt der Arzt, Wissenschaftler und Familienvater, wie verheerend hochverarbeitete Lebensmittel in unseren Körpern wirken, wie sie rücksichtslos und ungehindert vermarktet werden – und wie wir die Kontrolle über unser Essverhalten und unsere Gesundheit zurückgewinnen.

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Zum Buch:

Warum weiß unser Körper genau, wieviel Wasser wir brauchen, wie viel Sauerstoff wir benötigen – aber beim Essen scheinen unsere Systeme zu versagen? Woran liegt es, dass seit einigen Jahrzehnten Übergewicht und Fettleibigkeit auf der ganzen Welt zu einem ernsthaften Problem geworden sind, das mit jedem Jahr schwerwiegender wird?

Chris van Tulleken zeigt einen einzigen Grund auf, der hierfür verantwortlich ist: hochverarbeitete Lebensmittel – sie sind allgegenwärtig und selbst für ernährungsbewusste Menschen nicht ohne Weiteres vermeidbar. Hochverarbeitete Lebensmittel manipulieren unsere Körper – und das ist von der Industrie durchaus gewollt. Ihre Produkte sollen uns süchtig machen und uns dazu verführen, immer mehr zu kaufen und zu essen.

Anhand zahlreicher Studien und mit Hilfe eines dramatischen Selbstversuchs zeigt der Arzt, Wissenschaftler und Familienvater, wie verheerend hochverarbeitete Lebensmittel in unseren Körpern wirken, wie sie rücksichtslos und ungehindert vermarktet werden – und wie wir die Kontrolle über unser Essverhalten und unsere Gesundheit zurückgewinnen.

Zum Autor:

Chris van Tulleken ist Arzt für Infektionskrankheiten am Hospital for Tropical Diseases in London. Er wurde in Oxford ausgebildet und hat zum Thema molekulare Virologie am University College London promoviert, wo er auch als außerordentlicher Professor tätig ist. Seine Forschung konzentriert sich auf die Frage, wie Unternehmen die menschliche Gesundheit beeinflussen, insbesondere im Zusammenhang mit der Ernährung von Kindern. Zu diesen Themen arbeitet er mit UNICEF und der Weltgesundheitsorganisation zusammen. Als einer der bekanntesten Moderatoren für Kinder- und Erwachsenenprogramme der BBC wurde seine Arbeit mit zwei BAFTAs ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in London. Auf Twitter und Instagram können Sie ihm unter @DoctorChrisVT folgen.

Chris van Tulleken

Gefährlich lecker

Wie uns die Lebensmittelindustrie manipuliert, damit wir all die ungesunden Dinge essen – und nicht mehr damit aufhören können

Aus dem Englischen von Daniel Müller und Sven Scheer

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Ultra-Processed People: Why Do We All Eat StuffThat Isn’t Food  … and Why Can’t We Stop?« bei Cornerstone Press.

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die in diesem Buch vorgestellten Informationen und Empfehlungen sind nach bestem Wissen und Gewissen geprüft. Dennoch übernehmen der Autor und der Verlag keinerlei Haftung für Schäden irgendwelcher Art, die sich direkt oder indirekt aus dem Gebrauch der hier beschriebenen Anwendungen ergeben. Bitte nehmen Sie im Zweifelsfall bzw. bei ernsthaften Beschwerden immer professionelle Diagnose und Therapie durch ärztliche Hilfe in Anspruch.

Deutsche Erstausgabe 2023

© Christoffer van Tulleken 2023

© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch, nach einer Idee von Henry Petrides, unter Verwendung der Motive von Shutterstock.com (Big Pants Production, Branding, urfin)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-30115-6V001

www.heyne.de

Für Dinah, Lyra und Sasha

Inhalt

Einleitung

Teil 1Wie bitte, ich esse was?

Kapitel 1 – Warum ist da Bakterienschleim in meinem Eis? Die Erfindung der hochverarbeiteten Lebensmittel

Kapitel 2 – Mehr Coco Pops, bitte: Der Eroberungszug der HVL

Kapitel 3 – »Hochverarbeitete Lebensmittel«, das klingt schlimm. Aber sind sie wirklich ein Problem?

Kapitel 4 – Kohle zu Butter. Das ultimative HVL

Teil 2Was ich esse, bestimme immer noch ich. Oder nicht?

Kapitel 5 – Die drei Zeitalter des Essens

Kapitel 6 – Wie unser Körper den Kalorienverbrauch tatsächlich steuert

Kapitel 7 – Warum nicht der Zucker schuld ist

Kapitel 8 –  … und auch nicht der Bewegungsmangel

Kapitel 9 –  … und auch nicht unsere Willenskraft

Kapitel 10 – Wie HVL die Kontrolle über unser Gehirn übernehmen

Teil 3Ach, darum bin ich so unruhig und habe Bauchschmerzen!

Kapitel 11 – HVL sind vorgekaut

Kapitel 12 – HVL riechen komisch

Kapitel 13 – HVL schmecken eigenartig

Kapitel 14 – Zusatzstoff-Angst

Teil 4Aber das habe ich doch schon bezahlt!

Kapitel 15 – Deregulierte Körper

Kapitel 16 – Das Ende traditioneller Ernährungsformen

Kapitel 17 – Was uns Pringles wirklich kosten

Teil 5Und was zum Henker soll ich jetzt tun?

Kapitel 18 – Übermaß ist ein Muss bei HVL

Kapitel 19 – Was unsere Regierungen tun können

Kapitel 20 – Wie schaffen Sie den Absprung?

Anhang

Danksagung

Quellen

Index

Einleitung

An meiner ehemaligen Arbeitsstelle, einem Labor am University College London (UCL), gab es an den Mittwochnachmittagen eine Veranstaltung namens Journal Club. Das Wort »Club« lässt die Angelegenheit unterhaltsamer klingen, als sie tatsächlich war. Es handelte sich um ein Ritual, das überall auf der Welt in derartigen Laboren praktiziert wird, und es lief wie folgt ab: Ein Mitglied der Belegschaft präsentierte eine aktuelle Veröffentlichung aus der einschlägigen Wissenschaftsliteratur mit Relevanz für die Arbeit des Labors, und der Rest der Gruppe sezierte, kritisierte und verriss sie. Genügte der vorgestellte Fachartikel nicht den Ansprüchen, wurde auch der Unglückselige zur Schnecke gemacht, der ihn angeschleppt hatte.

Das von Greg Towers geleitete Labor befindet sich immer noch am UCL und ist in einem umgebauten viktorianischen Krankenhaus untergebracht – ein wunderschönes altes Gemäuer voller Mäuse und Ritzen, entworfen vom Architekten des Natural History Museum. Als ich 2011 dort eine Promotionsstelle antrat, schien es ganz und gar nicht wie ein Ort, an dem internationale Spitzenforschung in Sachen Molekulare Virologie betrieben wird, aber es war so.

In diesem Journal Club lehrten mich Greg Towers und sein Stab, dass Wissenschaft keine Sammlung von Regeln und Fakten ist, sondern eine laufende Diskussion mit offenem Ausgang. Towers stürzte sich vehementer in die Diskussion beliebiger Daten aus beliebigen Fachartikeln als irgendjemand anders, den ich kannte oder kenne. Es gab nichts, was nicht untersucht wurde. Es war das beste Wissenschaftstraining, das ich mir hätte wünschen können.

Das Labor war spezialisiert auf den ständigen Wettlauf zwischen Viren wie HIV einerseits und den Zellen, die sie zum Zwecke ihrer Reproduktion infizieren müssen. Im Grunde gleicht dieser Wettlauf einem militärischen Wettrüsten. Alle Zellen besitzen Abwehrmechanismen gegen virale Angriffe, und alle Viren verfügen über Waffen, um diese Abwehr zu überwinden. Während die Zellen immer ausgefeiltere Abwehrmechanismen entwickeln, verbessern die Viren konstant ihr Waffenarsenal, was dann wieder zu einer Evolution der zellulären Abwehr führt und so weiter und so fort.

Der Großteil unserer Forschergruppe beschäftigte sich mit HIV sowie seinen viralen Verwandten und trug damit zu spannenden Zielen wie der Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe bei. Doch es gab eine Fraktion unter den Forschern in unserem Labor, die eine andere Art Virus studierte – eine Art Virus, die kaum wie ein Virus wirkte. Fast die Hälfte der DNA in den Zellen unseres Körpers besteht aus uralten toten Virusgenen. Lange Zeit als »Junk-DNA« bezeichnet, schien dieses Thema ein wissenschaftlicher Nebenschauplatz, bis ein Forscher aus besagter Fraktion im Oktober 2014 im Journal Club einen Beitrag aus der Fachzeitschrift Nature vorstellte. Der kryptische Titel lautete: »An evolutionary arms race between KRAB zinc-finger genes ZNF91/93 and SVA/L1 retrotransposons« (»Das evolutionäre Wettrüsten zwischen KRAB-Zinkfingergenen ZNF91/93 und den SVA/L1-Retrotransposons«).1

Ich überflog den Beitrag vor unserem Treffen, verstand allerdings nur Bahnhof. Von zehn im Journal Club vorgestellten Artikeln wurden für gewöhnlich sieben verrissen, während zwei der Prüfung standhielten und brauchbare neue Informationen lieferten und einer Anzeichen schamlosen Betrugs enthielt. In welche Kategorie dieser Artikel fiel, konnte ich nicht sagen.

Während wir das Datenmaterial durchsprachen, bemerkte ich eine Veränderung der allgemeinem Stimmung. Köpfe hoben sich, Blicke wurden ausgetauscht. Die Daten des Artikels legten nahe, dass diese alten, toten Viren im menschlichen Genom keineswegs tot waren, sondern funktionierende Gene besaßen, die mehr Viren produzieren konnten. Jede Zelle im menschlichen Körper ist eine potenzielle Virenfabrik, aber irgendetwas hält diese viralen Gene im Zaum. Wie sich herausstellte, werden sie von anderen Genen in der Zelle unterdrückt.

Die Autoren des Artikels behaupteten, ein Teil unseres Genoms führe ununterbrochen Krieg gegen einen anderen Teil unseres Genoms.

Die Bedeutung des Ganzen war allen sofort klar, da jeder in unserem Labor bestens mit dem Wesen eines Wettrüstens vertraut war. Ganz gleich, ob es um den Wettkampf zwischen Viren, globalen Supermächten oder Sportmannschaften, um Nachbarschaftsfehden oder Wahlkämpfe geht, jede Art Wettrüsten entwickelt irgendwann Komplexität. Wenn die aufständischen Kräfte sich weiterentwickeln, muss es die Aufstandsbekämpfung auch tun. Auf Spionage folgt Spionageabwehr mit Doppel- und Dreifachagenten. Die Entwicklung immer leistungsfähigerer Waffen treibt die Evolution immer komplexerer Abwehrsysteme an.

Da sich das menschliche Genom in einem internen Wettrüsten befindet, bei dem ein Teil der DNA gegen einen anderen kämpft, wird es unaufhaltsam zu einer immer größeren Komplexität gezwungen. Über Tausende Generationen hinweg haben sich diese alten, »toten« Viren weiterentwickelt, daher musste sich in der Folge auch der Rest unseres Genoms weiterentwickeln, um sie im Zaum zu halten.

Dieses Wettrüsten innerhalb unserer Gene tobt seit der Entstehung des Lebens, möglicherweise ist es sogar die Triebkraft für die Evolution der Komplexität selbst. Der Hauptunterschied zwischen dem menschlichen Genom und dem eines Schimpansen liegt nicht in den Anteilen, die für das Codieren der Proteine verantwortlich sind (von denen rund 96 Prozent ähnlich sind), sondern in den Bereichen, die anscheinend von den alten, toten Viren stammen.2

Zugegeben, ich brauchte eine Weile, um mich mit der Vorstellung anzufreunden, dass ich zumindest teilweise eine Ansammlung von alten Viren bin, die mit meinen anderen Genen Krieg führen. Insofern könnte man also sagen, dass der Artikel mein Selbstverständnis verändert hat. Möglich, dass er auch Ihre Sicht auf sich selbst verändert. Niemand schaut bei diesem Wettrüsten verschiedener Gene einfach nur zu – ein jeder von uns ist das Produkt dieses Prozesses, das Produkt eines schwierigen Bündnisses miteinander wetteifernden Genmaterials.

Diese Bündnisse und Wettkämpfe betreffen jedoch nicht nur unsere Gene. Wo »ich« aufhöre und »die Außenwelt« beginnt, ist keinesfalls klar. Wir alle tragen Mikroorganismen in und an uns, die uns am Leben erhalten und genauso Teil von uns sind wie unsere Leber oder andere Organe. Doch diese Mikroorganismen können uns ohne Weiteres töten, wenn sie an oder in den falschen Bereich unseres Körpers gelangen. Der menschliche Körper ist eher als eine komplexe Gesellschaft denn als eine Ansammlung mechanischer Einheiten zu verstehen: Er besteht aus Milliarden von Bakterien, Viren und anderen Mikroorganismen, aber nur aus einem Primaten, und wird von einer Unzahl zäh ausgehandelter und seltsamer Kompromisse und Unzulänglichkeiten im Gleichgewicht gehalten. Das dabei ablaufende Wettrüsten lässt die Grenzen verschwimmen.

Nach sechs Jahren im Labor von Greg Towers begann ich wieder als Arzt zu arbeiten. Doch der Gedanke an das Wettrüsten in unseren Körpern, an die dadurch bedingten komplexen Systeme und die verwischten Grenzen, wurde zu einem zentralen Bestandteil meiner Sicht auf die Welt. Ich blieb in der Forschung tätig, beschäftigte mich fortan aber nicht mehr mit Viren, sondern untersuchte wissenschaftliche Arbeiten, die tendenziös oder glattweg betrügerisch waren. Mein neuer Schwerpunkt: die Lebensmittelindustrie und ihr Einfluss auf die menschliche Gesundheit. Meine Laborerfahrungen erwiesen sich als grundlegend für die Arbeit in diesem Feld – das Thema des Wettrüstens und seine Konsequenzen werden in diesem Buch oft auftauchen.

Es ist wichtig zu begreifen, dass die Nahrungsaufnahme selbst ein seit Jahrmilliarden laufendes Wettrüsten ist. Unsere Welt bietet nur eine mehr oder weniger fixe Menge verfügbarer Energie; gleichzeitig befindet sich alles Leben mit anderen Lebensformen in einem kontinuierlichen Wettkampf um diese Energie. Unterm Strich geht es allen Organismen nur um zwei Dinge: Reproduktion und Energie für diese Reproduktion.

Raubtiere zum Beispiel konkurrieren nicht nur untereinander um Beute, sondern befinden sich auch in einem Wettstreit mit der Beute selbst, da diese im Allgemeinen die in seinem Fleisch enthaltene Energie nicht bereitwillig hergeben mag. Beutetiere wiederum konkurrieren einerseits miteinander um pflanzliche Nahrung, befinden sich andererseits aber auch mit den Pflanzen selbst im Wettstreit, die sich mit Giften, Dornen und anderen Mechanismen dagegen wehren, gefressen zu werden. Pflanzen konkurrieren um Sonne, Wasser und Boden. Bakterien, Viren und Pilze greifen permanent alle anderen Organismen des Ökosystems an, um ihnen so viel Energie wie irgend möglich abzuringen. In diesem Wettrüsten hält ein Vorsprung meist nicht sehr lange an. Wölfe zum Beispiel mögen gut angepasst für die Jagd auf Hirsche sein, aber Hirsche sind bestens gerüstet, um nicht als Futter von Wölfen zu enden, und können sie manchmal sogar töten.

In der wissenschaftlichen Literatur ist in signifikantem Umfang dokumentiert, dass Wölfe von ihrer Beute getötet werden. Einer Analyse zufolge wiesen 40 Prozent der untersuchten Wolfsschädel von Beutetieren verursachte Verletzungen auf. Es gibt vielfache Beweise, dass Wölfe von Elchen, Moschusochsen und Hirschen getötet wurden.3,4

Wenn wir Nahrung aufnehmen, tun wir das also als Teil eines alle Organismen verbindenden Wettrüstens, eines Kampfes um die zwischen den verschiedenen Lebensformen fließende Energie. Wie jedes Wettrüsten hat auch dieses zu einer ungeheuren Komplexität geführt, und so sind auch alle Bereiche der Nahrungsaufnahme äußerst komplex.

Unser Geschmacks- und Geruchssinn, unser Immunsystem, unsere manuelle Geschicklichkeit, unsere Zahn- und Kieferanatomie, unser Sehvermögen: Es gibt wohl kaum einen Aspekt der menschlichen Biologie, Physiologie oder Kultur, der nicht in erster Linie durch unseren seit Anbeginn bestehenden Energiebedarf geprägt ist. Im Laufe der Evolution haben sich unsere Körper hervorragend an den Verzehr einer breiten Palette von Lebensmitteln angepasst.

Aber in den vergangenen 150 Jahren haben sich die Lebensmittel entwickelt  … und zwar zu Nicht-Lebensmitteln.

Irgendwann begannen wir Stoffe zu uns zu nehmen, die aus neuartigen Molekülen konstruiert und mittels unserer Evolutionsgeschichte vollkommen fremden Verfahren hergestellt werden; Stoffe, die man eigentlich gar nicht als »Lebensmittel« bezeichnen kann. Unsere Kalorien stammen zunehmend aus modifizierter Stärke, aus Invertzucker, hydrolysierten Proteinisolaten und Pflanzenölen, die zuvor raffiniert, gebleicht, desodoriert, hydriert und umgeestert wurden. Und diese Kalorienträger wurden zusammengemischt mit anderen, unseren Sinnen ebenfalls unbekannten Molekülen: synthetischen Emulgatoren, kalorienarmen Süßungsmitteln, stabilisierenden Pflanzengummis, Feuchthaltemitteln, Aromastoffen, Farbstoffen, Farbstabilisatoren, Kohlensäurebildnern, Festigungsmitteln und Füllstoffen sowie Anti-Füllstoffen.

Diese Substanzen hielten ab Ende des 19. Jahrhunderts sukzessive Einzug in unsere Nahrung und drangen von den 1950er-Jahren an massiv vor. Heute stellen diese Lebensmittel den Großteil des Speiseplans der Menschen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten und sind ein signifikanter Bestandteil der Ernährung fast aller Gesellschaften weltweit.

Mit dem Eintritt in dieses andersartige Ernährungsuniversum haben wir uns in ein neues, paralleles Ökosystem begeben; ein Ökosystem mit einer ganz eigenen Art des Wettrüstens, das nicht mehr durch den Fluss von Energie, sondern durch den Fluss des Geldes angetrieben wird: das System der industriellen Lebensmittelproduktion. In diesem System sind wir die Beute, die Quelle des Geldes, das die Maschinerie antreibt. Der Wettbewerb um dieses Geld geht mit zunehmender Komplexität und Innovationen einher und wütet in einem vielschichtigen Ökosystem sich ständig weiterentwickelnder Unternehmen – riesige transnationale Konzerne sind dort ebenso aktiv wie Tausende kleinerer Firmen. Der Köder, mit dem sie alle nach dem Geld jagen, sind hochverarbeitete Lebensmittel, kurz HVL. Diese Lebensmittel haben über viele Jahrzehnte hinweg einen evolutionären Ausleseprozess durchlaufen – einen Prozess, bei dem nur die Produkte auf dem Markt überleben, die in großen Mengen gekauft und verzehrt werden. Um dies zu erreichen, werden die hochverarbeiteten Lebensmittel ständig weiterentwickelt. Und zwar so, dass sie die Systeme im Körper, die das Gewicht und viele andere Funktionen regulieren, unterlaufen.

Eine seltsame Umkehr herkömmlicher Ökosysteme, in denen die Arten, die am wenigsten gefressen werden, am ehesten überleben.

Hochverarbeitete Lebensmittel machen in Großbritannien und den USA mittlerweile durchschnittlich bis zu 60 Prozent des Speiseplans aus.5,6,7 Viele Kinder, meine eigenen eingeschlossen, decken den Großteil ihres Kalorienbedarfs über diese Produkte. Hochverarbeitete Lebensmittel sind eine definierende Säule unserer Ernährungskultur, das Zeug, aus dem unsere Körper bestehen. Für Menschen aus Australien, Kanada, Großbritannien oder den USA stellen sie mittlerweile de facto die Landesküche dar.

Für hochverarbeitete Lebensmittel gibt es eine lange wissenschaftliche Definition, die sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Wenn es in Plastik verpackt ist und mindestens eine Zutat enthält, die man nicht in einer normalen Haushaltsküche findet, handelt es sich um ein HVL. Vieles davon ist als Junkfood bekannt, aber es gibt auch jede Menge hochverarbeitete Lebensmittel mit Siegeln und Zertifikaten für biologischen Anbau, Freilandhaltung und »ethische« Produktion, die als gesund, nahrhaft, umweltfreundlich oder nützlich für die Gewichtsabnahme verkauft werden. (Das ist übrigens eine weitere Faustregel: Fast jedes Lebensmittel mit einem Versprechen über seine gesundheitsförderliche Wirkung auf der Verpackung ist ein HVL.)

Bei der Verarbeitung von Lebensmitteln denken die meisten von uns an die mechanischen Verfahren, die manche Lebensmittel durchlaufen – Frittieren, Extrudieren, Mazerieren, mechanisches Separieren und so weiter. Zur Hochverarbeitung gehören aber auch andere, indirektere Prozesse – irreführendes Marketing zum Beispiel, gegenstandslose Klagen, geheime Lobbyarbeit, betrügerische Forschung –, allesamt unerlässlich für die Konzerne auf ihrer Jagd nach dem Geld.

Eine brasilianische Forschergruppe formulierte im Jahr 2010 erstmals eine offizielle Definition für hochverarbeitete Lebensmittel. Seit dieser Zeit wurde eine überwältigende Menge an Studien und Daten publiziert, die die These unterstützen, dass HVL-Produkte den menschlichen Körper schädigen und die Krebsraten steigern, dass sie zu metabolischen und psychischen Erkrankungen beitragen, dass sie gesellschaftlichen Schaden anrichten, indem sie unsere traditionellen Ernährungskulturen ablösen, zu Ungleichheit, Armut und vorzeitiger Sterblichkeit führen und die Umwelt zerstören. Das für HVL notwendige System der Lebensmittelproduktion ist der vorrangige Grund für die abnehmende Biodiversität und leistet den zweitgrößten Beitrag zu den weltweiten Treibhausgasemissionen. Somit sind hochverarbeitete Lebensmittel für eine synergistische Pandemie mit Problemen wie Klimawandel, Mangelernährung und Adipositas verantwortlich. Der letztgenannte ist der am eingehendsten untersuchte Aspekt, aber auch das schwierigste Thema aus diesem Paket, da Debatten rund um Nahrung und Körpergewicht – ganz gleich, wie wohlmeinend sie sein mögen – bei vielen Menschen Schuldgefühle auslösen.

Viele der mit Adipositas assoziierten Gesundheitsauswirkungen sind direkte Folge einer Stigmatisierung: Untersuchungen zeigen, dass Vorurteile gegen höhergewichtige Menschen bei Ärzten und anderen Berufsgruppen des Gesundheitswesens stärker ausgeprägt sind als Vorurteile gegen fast jede andere Form der körperlichen Andersartigkeit. Dieser Umstand ist ein großes Hindernis bei der Behandlung und Pflege.

Einige Kapitel dieses Buches werden sich mit dem Thema Gewicht befassen, da ein Großteil der Erkenntnisse über hochverarbeitete Lebensmittel mit ihren Folgen für das Körpergewicht zusammenhängt. HVL verursachen jedoch auch mannigfaltige Probleme, die nichts mit ihren Auswirkungen auf das Körpergewicht zu tun haben. Dass sie zu Herzkrankheiten, Schlaganfällen und einer vorzeitigen Sterblichkeit beitragen, hängt nicht einfach nur mit der durch diese Lebensmittel verursachten Gewichtszunahme zusammen. Derartige Gesundheitsrisiken steigen mit der verzehrten Menge an HVL, unabhängig von einer möglichen Gewichtszunahme. Menschen, die trotz HVL-Konsum nicht zunehmen, haben dennoch ein erhöhtes Risiko, an Demenz und entzündlichen Darmleiden zu erkranken – allerdings geben wir diesen Patienten in der Regel nicht die Schuld für diese Probleme. Adipositas ist also deshalb so hervorzuheben, weil sie unter den ernährungsbedingten Krankheiten – und eigentlich sogar unter fast allen Krankheiten – in dem Sinne einzigartig ist, dass die Ärzte die Betroffenen dafür verantwortlich machen.

Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz auf das Thema Adipositas eingehen. Momentan sind wir noch im Begriff, eine geeignete Sprache für diese Debatten zu finden. Worte wie Adipositas oder Fettleibigkeit werden von vielen Menschen zu Recht als problematisch und beleidigend empfunden, und sie im Kontext von Krankheiten zu verwenden, ist sicherlich stigmatisierend. Viele Menschen sehen die eigene Adipositas nicht als Krankheit, sondern als Bestandteil ihrer Identität. Für andere ist es einfach eine Eigenschaft und zwar eine zunehmend normale. Ein höheres Gewicht ist nicht zwangsläufig mit einem erhöhten Risiko für gesundheitliche Probleme verbunden. Tatsächlich ist das Sterberisiko bei vielen Menschen mit Übergewicht sogar geringer als bei Personen mit einem »Normalgewicht«. Dennoch werde ich Worte wie Adipositas oder Fettleibigkeit verwenden und dieses Phänomen gelegentlich als Krankheit beschreiben. Einerseits, weil beim Stichwort »Krankheit« Gelder für Forschung und Behandlung fließen. Andererseits, weil das Etikett »Krankheit« in einigen Fällen das Stigma zu reduzieren vermag: Eine Krankheit ist weder ein Lifestyle noch frei gewählt, und so kann die Verwendung des Worts dazu beitragen, betroffenen Personen einen Teil der Verantwortungslast abzunehmen.

Das ist wichtig, weil die Debatten über Gewichtszunahme – ganz gleich, ob in der Presse oder unseren Köpfen – vor Schuldzuweisungen gegen die damit lebenden Personen nur so triefen. Die Vorstellung, dass diese Menschen selbst schuld sind, hat sich wegen ihrer Einfachheit bislang allen wissenschaftlichen und moralischen Gegenargumenten zum Trotz gehalten. Behauptet wird, das Ganze basiere auf einem Mangel an Willenskraft, die Menschen müssten sich nur zusammenreißen und sich mehr bewegen oder weniger essen. Wie ich in diesem Buch immer wieder zeigen werde, hält diese Argumentation einer näheren Prüfung nicht stand. Studien der US-amerikanischen Gesundheitsbehörden haben seit 1960 genaue Daten zum Gewicht der Bevölkerung des Landes erhoben. Sie belegen, dass ab den 1970er-Jahren ein dramatischer Anstieg in puncto Adipositas zu verzeichnen war – bei weißen, Schwarzen und hispanischen Männern und Frauen aller Altersgruppen.8 Die Annahme, dass all diese Menschen gleichzeitig und schlagartig die Verantwortung für sich selbst aufgegeben hätten, scheint nicht plausibel. Wenn Sie mit Adipositas leben, liegt das nicht an mangelnder Willenskraft; es ist nicht Ihre Schuld.

Tatsache ist: Wir sind in geringerem Umfang für unser Gewicht verantwortlich als ein Skifahrer für eine Fraktur seines Beins, ein Fußballer für eine Verletzung seines Knies oder ein in Höhlen steigender Fledermausforscher für eine Pilzinfektion seiner Lungen. Ernährungsbedingte Krankheiten entstehen durch das Aufeinanderprallen einiger uralter Gene und eines neuen, auf übermäßigen Konsum ausgelegten Nahrungsmittel-Ökosystems, das wir gegenwärtig scheinbar nicht verbessern können oder vielleicht sogar nicht verbessern wollen.

Politiker, Wissenschaftler, Ärzte und Eltern haben in den letzten 30 Jahren genau beobachten können, wie die Adipositas-Rate in rasantem Tempo zugenommen hat. In diesem Zeitraum wurden allein in England insgesamt 14 staatliche Strategiepapiere mit 689 weitreichenden Richtlinien veröffentlicht.9 Gleichzeitig ist bei Kindern am Ende der Grundschulzeit die Rate der von Fettleibigkeit Betroffenen um mehr als 700 Prozent gestiegen, die Rate derer mit schwerer Adipositas (BMI ≥ 40) sogar um 1600 Prozent.10

Die Kinder in Großbritannien und den USA, aktuell die Länder mit dem höchsten HVL-Konsum, sind nicht nur schwerer als ihre Altersgenossen in nahezu allen westlichen Ländern mit hohem Durchschnittseinkommen, sie sind auch kleiner.11,12 Diese Wachstumshemmung geht weltweit Hand in Hand mit Adipositas, was die Annahme zulässt, dass es sich eher um eine Art der Mangelernährung handelt als um ein durch übermäßigen Konsum bedingtes Problem.

Wenn diese mit Adipositas lebenden Kinder erwachsen sind, werden so viele ihrer Altersgenossen ihrem Weg gefolgt sein, dass der Anteil der mit Adipositas Lebenden ein Drittel der Bevölkerung beträgt. Die Chancen eines Erwachsenen mit schwerer Adipositas, ohne Hilfe durch Fachleute ein gesundes Körpergewicht zu erlangen und zu halten, liegen unter 0,1 Prozent. Für das Gros der Betroffenen ist schwere Adipositas also ein ohne Medikamente oder Operationen nicht zu ändernder Zustand. Mehr als ein Viertel der Kinder und die Hälfte der Erwachsenen in Großbritannien sind momentan von Übergewicht betroffen.13

Die Politik in Großbritannien (und in fast allen anderen Ländern) hat es nicht geschafft, das Problem der Fettleibigkeit zu lösen, weil sie sie nicht als eine kommerziogene Krankheit betrachtet – eine Krankheit, die durch die Vermarktung und den Konsum von suchterzeugenden Substanzen entsteht. Vergleiche mit Drogen und Zigaretten bergen die Gefahr einer weiteren Stigmatisierung, aber ich werde sie mit der gebotenen Vorsicht trotzdem ziehen. Wie alle ernährungsbedingten Krankheiten hat auch die Adipositas tiefergreifende Ursachen als den bloßen HVL-Konsum; dazu zählen genetisch bedingte Anfälligkeit, Armut, Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Trauma, Erschöpfung und Stress. So wie das Rauchen die Ursache Nummer eins für Lungenkrebs ist, ist Armut die Ursache Nummer eins für das Rauchen. Die Raucherquote in Großbritannien ist unter den am stärksten benachteiligten Menschen viermal so hoch wie unter den Reichsten der Gesellschaft, und die Hälfte der Differenz bei den Todesraten von Arm und Reich kann durch das Rauchen erklärt werden.14

Ganz ähnlich wie Zigaretten enthalten auch HVL-Produkte eine ganze Reihe von Stoffen, über die sich diese tieferliegenden Gesellschaftsprobleme schädlich auf den Körper auswirken. Die genannten Ungerechtigkeiten manifestieren sich auf diese Weise sehr konkret und direkt – Trauma und Armut werden offenbar; Gene, die andernfalls unauffällig im Verborgenen bleiben würden, werden von der Kette gelassen. Wenn wir das Problem der Armut lösen, wird es sehr viel weniger Lungenkrebs und auch weniger Adipositas geben. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dieses Buch beschreibt die Systeme, die uns mit Nahrung versorgen und uns sagen, was wir essen sollen. Ich möchte Sie bitten, sich kurz eine anders aufgebaute Welt vorzustellen, eine Welt mit mehr Möglichkeiten und Wahlfreiheit für alle. Eine Welt ohne Strafbesteuerung oder Verbote für bestimmte Produkte – aber mit mehr und besseren Informationen über hochverarbeitete Lebensmittel und breitflächigem Zugang zu echter Nahrung.

Gefährlich leckerist kein Buch über das Abnehmen. Erstens gibt es noch keine Methode, mit der man sicher und nachhaltig abnehmen kann, zweitens weiß ich nicht, ob Sie überhaupt abnehmensollten. Ich selbst habe keinen »richtigen« Körper, und ich wüsste noch nicht einmal, wie dieser aussehen sollte. Ich habe auch keine Meinung darüber, welche Lebensmittel Sie essensollten – das bleibt ganz allein Ihnen überlassen. Ich treffe ständig Entscheidungen, die nicht »gesund« sind, gehe gefährlichen Sportarten nach und esse Junkfood. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Grundlage unserer Entscheidungen genaue Informationen über die möglichen Risiken unserer Lebensmittel benötigen und dass in diesem Zusammenhang die Masse an aggressivem, oft irreführendem Marketing reduziert werden sollte.

Auf diesen Seiten finden Sie also keine Ratschläge, wie Sie Ihr Leben führen oder Ihre Kinder ernähren sollten. Einerseits geht mich das nichts an, und andererseits glaube ich vor allem, dass derartige Ratschläge in gewissem Maße sinnlos sind. Was wir zu uns nehmen, wird durch die in unserer Umgebung verfügbaren Lebensmittel sowie deren Preis und Vermarktung bestimmt. Das muss sich ändern.

Aber ich habe eine Empfehlung, wie Sie dieses Buch lesen sollten. Wenn Sie mit dem Gedanken spielen, hochverarbeitete Lebensmittel von Ihrem Speiseplan zu streichen, tun Sie es nicht. Essen Sie sie erst einmal weiter.

Lassen Sie mich das kurz erklären. Gegenwärtig nehmen Sie an einem Experiment teil, dem Sie nicht zugestimmt haben. An uns allen werden ständig neue Stoffe ausprobiert, um herauszufinden, mit welchen sich am besten Geld verdienen lässt. Kann ein synthetischer Emulgator anstelle eines Hühnereis verwendet werden? Kann ein Pflanzenöl ein Milchfett ersetzen? Kann ein bisschen 2,3-Epoxy-3-Phenylbuttersäureethylester anstelle einer Erdbeere verwendet werden? Durch den Kauf von HVL-Produkten treiben wir ihre ständige Weiterentwicklung voran. Bei diesem Experiment tragen wir das Risiko, während die HVL-Produzenten die Profite einstreichen und einen Großteil der Ergebnisse – und der Auswirkungen auf unsere Gesundheit – vor uns geheim halten.

Mein Vorschlag: Für die Dauer der Lektüre dieses Buches setzen Sie das Experiment fort und essen hochverarbeitete Lebensmittel, allerdings tun Sie es für sich selbst und nicht für die HVL-Hersteller. Sicherlich kann ich Ihnen eine Menge über diese Produkte erzählen, aber glauben Sie mir, wenn ich sage, dass das Zeug selbst Ihr größter Lehrmeister sein wird. Nur wenn Sie es essen, werden Sie sein wahres Wesen verstehen. Woher ich das weiß? Nun, ich habe das Experiment selbst gemacht.

Bei der Erforschung der Auswirkungen des HVL-Konsums habe ich mich mit Kollegen des University College London Hospital (UCLH) zusammengetan. Ich war der erste Proband in der von uns ersonnenen Studie. Zunächst ging es darum, eine Reihe grundlegender Daten zu erheben, um dann in einem zweiten Schritt Mittel für eine Studie viel größeren Umfangs (die wir gegenwärtig durchführen) zu beantragen. Die Idee war einfach: Ich sollte einen Monat lang keine hochverarbeiteten Lebensmittel konsumieren, um anschließend gewogen und auf jede erdenkliche Weise vermessen und untersucht zu werden. Im Folgemonat sollten dann 80 Prozent meines Kalorienkonsums aus hochverarbeiteten Lebensmitteln stammen – so wie es momentan bei jedem fünften Menschen in Großbritannien und den USA der Fall ist.

In diesem zweiten Monat, der 80-Prozent-HVL-Diät, habe ich nicht absichtlich zu viel gegessen, sondern mich genauso ernährt, wie ich es sonst auch tue: Ich aß, wann immer mir danach war und was auch immer gerade zur Hand war. In dieser Zeit sprach ich mit den weltweit führenden Experten für Lebensmittel, Ernährung, Esskultur und Hochverarbeitung aus Wissenschaft, Landwirtschaft und vor allem der Lebensmittelindustrie selbst.

Eigentlich hätte mein 80-Prozent-HVL-Monat eine Wonne sein sollen, da ich Dinge aß, die ich mir normalerweise versage. Aber es passierte etwas sehr Eigenartiges. Je mehr Fachleute ich sprach, desto mehr widerte mich das Essen an. Ich musste an Allen Carrs BestsellerEndlich Nichtraucher!denken, der aus dem Selbsthilfegenre heraussticht, da sein Ansatz vielfach untersucht und für ziemlich gut befunden wurde. Die zugrunde liegende Idee: Man raucht weiter, während man darüber liest, wie schlecht das Rauchen eigentlich ist. Irgendwann widern einen die Zigaretten von ganz allein an.

Also: Geben Sie auf. Erleben Sie den Schrecken hochverarbeiteter Lebensmittel in seinem vollen Ausmaß. Ich meine damit nicht, dass Sie sich Exzessen hingeben und übermäßig essen sollten. Es geht lediglich darum, dass Sie Ihren Widerstand gegen HVL-Produkte einstellen. Ich habe es vier Wochen lang getan. Wenn Sie es probieren wollen, dann versuchen Sie es doch so lange, wie Sie für die Lektüre dieses Buches brauchen. Die ethischen Fragen, die mit dieser Aufforderung einhergehen, bereiten mir kein großes Kopfzerbrechen. Zum einen werden Sie ohnehin schon tagein, tagaus zum Konsum von hochverarbeiteten Lebensmitteln aufgefordert. Zum anderen beziehen Sie, sofern Sie den durchschnittlichen Ernährungsgewohnheiten folgen, auch jetzt schon rund 60 Prozent Ihrer Kalorien aus diesen Produkten; eine Steigerung auf 80 Prozent macht da keinen großen Unterschied.

Ich hoffe, dass Sie parallel zur Lektüre dieses Buches auch die Zutatenlisten auf den Verpackungen der Lebensmittel studieren, die Sie essen. Sie werden dort sehr viel mehr Stoffe finden, als ich auf diesen Seiten abhandeln kann. Doch ich hoffe auch, dass Sie spätestens am Ende dieses Buches verstehen, wie das alles – angefangen bei den Marketingkampagnen bis hin zum seltsamen Ausbleiben eines Sättigungsgefühls nach dem Essen – zu einer schlechten Gesundheit führt. Darüber hinaus werden Sie vielleicht erkennen, dass viele Probleme in Ihrem Leben, die Sie bisher auf das Älterwerden, die Kinder oder den Stress im Beruf zurückgeführt haben, ihre Ursache in der Nahrung haben, die Sie zu sich nehmen.

Ich kann nicht versprechen, dass hochverarbeitete Lebensmittel während der Lektüre zu einer bizarren und widerwärtigen Angelegenheit für Sie werden. Die Chancen stehen jedoch nicht schlecht. Falls Sie in der Lage sein sollten, daraufhin HVL-Produkte von Ihrem Speiseplan zu streichen, so wird das – und das ist vielfach belegt – gut für Ihren Körper, Ihr Gehirn und unseren Planeten sein. Viele Menschen, die an diesen Seiten mitgearbeitet haben, sind diesen Weg gegangen. Vor Gefährlich lecker habe ich einen Podcast gemacht, der einen ganz ähnlichen Effekt hatte. Nun bin ich gespannt, ob es Ihnen auch so ergeht.

Teil 1

Wie bitte, ich esse was?

Kapitel 1

Warum ist da Bakterienschleim in meinem Eis? Die Erfindung der hochverarbeiteten Lebensmittel

Am ersten Wochenende meiner 80-Prozent-HVL-Diät spielte das Wetter mal wieder verrückt. Mitten im Herbst gab der Sommer ein kurzes Comeback. Wir machten einen Spaziergang zum Park, wo ich meiner Familie und mir ein Eis spendierte. Dinah, meine Frau, nahm ein türkisblaues Wassereis von Swizzels namens Freeze Pop, ich ein Twister von Langnese. Unsere dreijährige Tochter Lyra entschied sich für eine Riesenkugel Pistazie der Marke Hackney Gelato. Ihre einjährige Schwester Sarah musste sich damit begnügen, reihum an unserem Eis zu lecken.

Kurz darauf entdeckte Lyra zwei Freundinnen und hockte sich mit ihnen und ihrem Eis in die pralle Sonne. Die drei beredeten, was Dreijährige so zu bereden haben, bevor sie schließlich zu den Schaukeln abzogen. Doch zuvor drückte Lyra mir noch ihren Becher in die Hand. Ihr Eis war mehr oder weniger noch unberührt, eine perfekte pistaziengrüne Kugel. Es dauerte einen Moment, bis mir aufging, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Wieso hatte das Eis noch diese wunderbare Kugelform? Der Becher war handwarm. Hätte es nicht schmelzen müssen?

Ich probierte einen Löffel. Das Eis entpuppte sich als lauwarmer gallertartiger Schaum. Irgendetwas hatte das Eis am Schmelzen gehindert.

Ich schlug die Zutaten im Internet nach: »Frischmilch, Zucker, Pistazienmasse (Bronte-Pistazien 4 %, Mandeln 2 %, Zucker, Sojaprotein, Sojalecithin, Kokosöl, Sonnenblumenöl, Chlorophyll, natürliche Aromen einschließlich Zitrone), Dextrose, frische Crème double, Glucose, Magermilchpulver, Stabilisatoren (Johannisbrotkernmehl, Guarkernmehl, Carrageen), Emulgatoren (Mono- und Diglyceride von Speisefettsäuren), Maldon-Meersalz«.

Stabilisatoren, Emulgatoren, Pflanzengummis, Lecithin, Glucose, verschiedene Öle  … das alles sind Kennzeichen von hochverarbeiteten Lebensmitteln. Die HVL-Definition (die ziemlich lang ist und mit der ich mich im folgenden Kapitel ausführlich beschäftigen werde) beschränkt sich zwar bei Weitem nicht auf die bloße Beimengung von Zusatzstoffen. Für den Moment soll jedoch der Hinweis genügen, dass Inhaltsstoffe, die Sie nicht in Ihrer Küche finden, ein unzweifelhaftes Indiz dafür sind, dass Sie ein HVL vor sich haben. Was allerdings die Auswirkungen auf den Körper betrifft, spielen andere Aspekte der Verarbeitung eine mindestens ebenso große Rolle wie die Zusatzstoffe, wenn nicht sogar eine noch größere. Doch dazu später mehr.

Hackney Gelato ist beileibe nicht der einzige Hersteller, der derartige Zutaten verwendet – sie finden sich in so gut wie allen im Supermarkt erhältlichen Eissorten, jedoch nicht in einer normalen Küche. Mir war nicht klar, weshalb die Hersteller sie für unverzichtbar hielten. Wäre es nicht sehr viel einfacher und preiswerter, weniger Zutaten zu verwenden?

Um zu verstehen, warum HVL auf diese Weise hergestellt werden und sie derart allgegenwärtig sind, vereinbarte ich ein Treffen mit Paul Hart, einem Insider der Lebensmittelindustrie. Hart war direkt nach der Schule als Auszubildender zu Unilever gegangen und dem Unternehmen mehr als 20 Jahre treu geblieben. Nach seiner Ausbildung zum Biochemiker entwickelte er Produktionssysteme für Lebensmittel. Es gibt eigentlich nichts, was er über HVL und die Industrie dahinter nicht wüsste. Außerdem ist er ein echtes Unikum: »Ich bin als unbedarfter Jüngling in die Lebensmittelindustrie gegangen. Und inzwischen bin ich zu alt, um noch jung zu sterben!«

Hart baut immer wieder derartige kleine Bonmots in seine Ausführungen ein, irgendwelche Zitate oder Aphorismen, die wie Kürzel für tiefere Gedanken wirken. Als würde sein Gehirn so schnell arbeiten, dass sein Mund nicht hinterherkommt und er deswegen seine Gedanken mit einem Minimum an Worten ausdrücken muss (obwohl das immer noch ein Haufen Worte sind). Wenn man Hart eine Frage stellt, ist das, als würde man den Korken aus einer gut geschüttelten Sektflasche ziehen. Auf meine Bitte um ein kurzes Gespräch hin schickte er mir fünf Seiten Text zur Vorbereitung.

Ich traf Hart und seine Frau Sharon bei McDonald’s in der Pentonville Road, London. Er war gerade zurück von der riesigen Messe für Lebensmittelzusatzstoffe in Frankfurt und zog stapelweise Broschüren von Unternehmen hervor, von denen ich noch nie gehört hatte. Er breitete sie auf dem klebrigen Plastiktisch aus. »Beweisstück A. Du meine Güte! Grauenvoll! Furchtbar! Schauen Sie sich den Trinkjoghurt hier mal an.«

Hart deutete auf ein Etikett mit reißerischen Behauptungen zu Präbiotika, Probiotika und Omega-3-Fettsäuren. Er erklärte mir, dass der Joghurt nur ein Vehikel für die Behauptungen über die sonstigen Inhaltsstoffe sei: »Man ködert die Kunden mit dem Versprechen, sie könnten irgendeinen Mangel in ihrer Ernährung beheben, indem sie einen Joghurt voller Zusatzstoffe schlucken.«

Hart driftet in Unterhaltungen gern einmal auf höchst unterhaltsame Weise ab. Doch Joghurt erschien mir als gutes Stichwort für meine Frage, weshalb Lyras Eis nicht geschmolzen war. Er erwiderte: »Speiseeis ist ein hervorragendes Beispiel, um so gut wie alles zu erklären, was es über HVL zu wissen gibt.«

Das klang großartig. Wir verließen den McDonald’s, um entlang des Regent’s Canal zu dem Bahnhof zu schlendern, an dem das Ehepaar Hart den Zug nach Hause nehmen wollte. Die zwei sind seit 40 Jahren verheiratet. Mit ihnen Zeit zu verbringen, ist ein wahres Vergnügen, da sich beide bis heute für die Gedanken des jeweils anderen interessieren. Sharon Hart war früher Krankenschwester und ist inzwischen in Rente. Wenn ich etwas anscheinend nicht verstanden hatte, erklärte sie es mir bereitwillig. Ideale Voraussetzungen, um sich in das Thema Speiseeis zu vertiefen  … also begann Paul von einer Tortilla-Messe zu erzählen: »Eine Firma hat im Scherz damit geprahlt, dass ihre Produkte im Grunde wie einbalsamiert wären und sich jahrelang halten würden«, berichtete er. Offenkundig sah man mir meinen Abscheu an, denn er stellte sofort klar: »Alle waren begeistert!«

Auf unserem Weg am Kanal entlang passierten wir unzählige kleine Brücken und mussten immer wieder Fahrradfahrern ausweichen. Die strahlende Sonne lieferte mir einen Vorwand, um das Gespräch wieder auf mein eigentliches Thema zu lenken. Während ich den beiden alles über die Sehenswürdigkeiten am Wegesrand erzählte, erzählte Hart mir alles über Speiseeis. Im Supermarkt bei uns um die Ecke hatte ich die Eissorten studiert. Sie enthielten beinahe ausnahmslos Xanthan, Guarkernmehl, Emulgatoren und Glycerin. Ich fragte Hart, weshalb. »Es geht nur um den Preis und die Kosten. Diese Inhaltsstoffe sparen bares Geld.«

Das ist ein wichtiges Argument für die britischen Konsumenten, die 2017 – also noch vor der aktuellen Krise durch die steil ansteigenden Lebenshaltungskosten – lediglich acht Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Lebensmittel ausgaben, weniger als die Menschen in beinahe sämtlichen anderen Ländern, abgesehen von den Vereinigten Staaten, wo nur sechs Prozent auf Lebensmittel entfielen. In anderen europäischen Ländern wie Deutschland, Norwegen, Frankreich und Italien wendeten die Menschen rund 11 bis 14 Prozent ihres Budgets für Lebensmittel auf. In Ländern mit geringem Einkommen mussten die Haushalte sogar 60 Prozent oder mehr für Nahrung aufbringen.15,16

In Großbritannien (ebenso wie in vielen anderen Ländern) liegen die Ausgaben für Wohnung, Heizung und Verkehr extrem hoch, sodass kaum finanzieller Spielraum für Lebensmittel bleibt. Für die wohlhabende Bevölkerung ist das kein Problem. Doch wenn die ärmsten 50 Prozent der Haushalte die nationalen Richtlinien für gesunde Ernährung befolgen wollten, müssten sie einer Analyse der gemeinnützigen Organisation Food Foundation17 zufolge knapp 30 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Bei den 10 Prozent der Haushalte mit dem geringsten Einkommen steigt dieser Anteil sogar auf knapp 75 Prozent. HVL sind beinahe durchgehend billiger, schneller und vermeintlich genauso nahrhaft oder sogar noch nahrhafter als selbst zubereitete Lebensmittel und Speisen. Die Kombination aus geringem Einkommen, Zeitaufwand und dem Versprechen eines schmackhaften Essens dürfte der Grund für den großen Anteil von HVL an unserer Ernährung sein. Wenig überraschend sind sie insbesondere in Ländern wie Großbritannien und den Vereinigten Staaten beliebt, in denen die wirtschaftliche Ungleichheit stärker ausgeprägt ist als in Ländern mit vergleichbar hohem Einkommen.

Hart erklärte mir, welche Aufgaben Inhaltsstoffe wie Emulgatoren und Pflanzengummis (zum Beispiel Guarkernmehl, Johannisbrotkernmehl oder Xanthan) bei der HVL-Produktion erfüllen – und wie sie dabei helfen, die Kosten zu reduzieren. Beim Speiseeis sorgen sie dafür, dass es weniger wärmeempfindlich und damit leichter transportierbar wird. Zwischen Fabrik und Lkw, Lkw und Supermarkt, Supermarkt und heimischem Kühlschrank schwankt die Temperatur von Speiseeis immer wieder zwischen minus 18 und minus 5 Grad Celsius. Pflanzengummis, Glycerin und Emulgatoren binden das Wasser und verhindern so die Bildung von Eiskristallen. Dadurch kann das Eis in riesigen Mengen in einer Fabrik hergestellt und dann quer durchs Land verfrachtet werden. Das reduziert auf jeder Etappe der Lieferkette ein wenig den Zeitdruck und sorgt dafür, dass nicht permanent extrem niedrige Temperaturen erforderlich sind. Hart sagte: »Die Kunden möchten cremiges Eis, keine Eisblöcke!« Die zentrale Produktion ermöglicht es den Herstellern zudem, mit Handelsketten einen einheitlichen Preis für Geschäfte im gesamten Land auszuhandeln, sodass sie ihre Gewinnmarge noch einmal erhöhen können.

Nach seiner Ausbildung führte eine von Harts ersten Stationen im Unternehmen ihn in das Entwicklungslabor für Speiseeis. Er schilderte mir das ehrgeizige Projekt, an dem man dort gearbeitet hatte: Schaumblöcke, die bei Raumtemperatur eine feste Konsistenz hatten. Diese sollten dann weltweit ausgeliefert und vor Ort tiefgekühlt werden. Das hätte zu immensen Einsparungen geführt. Und wie mir im Park aufgegangen war, sind viele Eissorten gar nicht mehr allzu weit davon entfernt. Hart sagte: »Das einzige noch ungelöste Problem sind die Keime. Keime lieben Speiseeis. Deswegen muss es immer noch tiefgefroren werden.«

Hart kam auf einen handwerklichen Eisproduzenten zu sprechen, Cream o’Galloway. Das Vanilleeis der Firma enthält mehr oder weniger dieselben Zutaten, mit denen man auch zu Hause Eis herstellen kann: Milch, Sahne, Zucker, Magermilchpulver, Eigelb, Vanilleessenz. Das ist großartig, allerdings kann das Unternehmen seine Produkte nicht landesweit vertreiben, da sich sein Eis beim Transport ein wenig empfindlicher verhält. Die Zutaten schlagen sich auch im Preis nieder: 500 Milliliter Vanilleeis von Cream o’Galloway kosten 3,60 GBP. Damit liegt der Preis rund 14-mal so hoch wie bei der Tesco-Eigenmarke Ms Molly’s Vanilla, deren Zweiliterpackung Vanilleeis lediglich ein britisches Pfund kostet. Wenig überraschend verwendet Ms Molly vollkommen andere Zutaten: rekonstituiertes Magermilchkonzentrat, teilweise rekonstituiertes Molkenpulver (Milch), Glucosesirup, Zucker, Dextrose, Palmstearin, Palmöl, Palmkernöl, Emulgatoren (Mono- und Diglyceride von Speisefettsäuren), Stabilisatoren (Guarkernmehl, Natriumalginat), Aromen, Farbstoffe (Carotine).

Hart zufolge ist einer der Gründe, weshalb sich mit diesen Zutaten Geld sparen lässt, dass viele von ihnen echte und teure Zutaten wie Milch, Sahne und Eier imitieren, etwa das Palmstearin, das Palmkernöl, die rekonstituierten Milchprodukte oder die Emulgatoren. Dieser Austausch auf molekularer Ebene ist ein Schlüsselmerkmal der HVL. Traditionelle Lebensmittel (oder wie wir sie vielleicht passender nennen sollten: Lebensmittel) bestehen aus drei großen Molekülgruppen, auf denen ihr Geschmack, ihre Textur und ihr Kaloriengehalt basieren: Fette, Proteine und Kohlenhydrate.

Bei Lebensmitteln können die Hersteller nicht einfach beim Personal, bei den Fertigungsgemeinkosten oder den Energiekosten sparen. Wegen des Wettbewerbs mit anderen Unternehmen haben sie diese Posten bereits maximal reduziert. »Die einzige Stellschraube, an der die Buchhalter noch drehen können, sind die Zutaten«, erklärte mir Hart. Das verdeutlicht, wie schwierig es ist, den Siegeszug der HVL aufzuhalten: Diese niedrigeren Produktions- und Distributionskosten werden nämlich an uns weitergegeben, zumindest manchmal.

Traditionelles Speiseeis verdankt seine Textur einer komplexen Anordnung von Eiskristallen, flüssigem Wasser (das flüssig bleibt, weil es gelösten Zucker enthält), Milchprotein und Milchfettkügelchen sowie den in diese Masse eingeschlossenen Luftbläschen. Speiseeis ist ein Schaum mit einem Luftanteil von normalerweise rund 50 Prozent. Deswegen wird es selbst in gefrorenem Zustand nicht vollkommen hart. Doch aus genau diesem Grund ist es so schwierig selbst herzustellen. Denn während die Masse gefriert, muss sie ununterbrochen gerührt werden.

Die Produktion von fabrikgefertigtem Speiseeis nahm in den Vereinigten Staaten in den 1850er-Jahren an Fahrt auf, um überschüssige Milch nicht entsorgen zu müssen. Die Absatzmenge an schnell verderblicher Frischmilch war und ist schließlich begrenzt. Die Verwandlung von überflüssiger Milch in Speiseeis verlängert nicht nur die Haltbarkeit, sondern demonstriert auch, wie Verarbeitungsprozesse zu höherer Wertschöpfung beitragen. Wir werden im Folgenden noch oft sehen, dass die Umwidmung von Abfallprodukten ein wesentlicher Bestandteil der HVL-Produktion ist. Das ist einer der Gründe, weshalb das Aufkommen von hochverarbeiteten Lebensmitteln teilweise als positive Entwicklung, nicht als Problem betrachtet wurde und wird.

Das Geheimnis von hochverarbeitetem Speiseeis ist, dass es wie alle HVL aus den billigst möglichen Varianten der drei Makronährstoffe – also von Fetten, Proteinen und Kohlenhydraten – hergestellt wird.

Gelegentlich entstehen auf diese Weise komplett neue Produkte mit neuartiger Textur, etwa Fruchtgummis oder Linsenchips. Doch in der Regel geht es bei HVL darum, die üblichen Zutaten traditioneller und beliebter Lebensmittel durch billigere Alternativen und Zusatzstoffe zu ersetzen – mit dem Ziel, ihre Haltbarkeit zu erhöhen, die zentralisierte Auslieferung zu erleichtern und, wie sich herausstellt, einen übermäßigen Konsum zu fördern.

Pasteten, Chicken Wings, Pizza, Butter, Pfannkuchen, Gebäck, Soßen, Mayonnaise – sie alle waren ursprünglich einmal echte Nahrungsmittel. Doch in der nicht hochverarbeiteten Version sind sie teuer, daher werden die traditionellen Zutaten oftmals durch billige, teils zu 100 Prozent synthetische Alternativen ersetzt. Üblicherweise handelt es sich bei diesen Alternativen um Moleküle, die aus in manchen Ländern massiv subventionierten Futterpflanzen gewonnen werden. Die Moleküle werden verfeinert und modifiziert, bis sich aus ihnen mehr oder weniger alles herstellen lässt, wie Hart erklärte.

»Fast jede Zutat lässt sich durch eine billige modifizierte Alternative ersetzen«, stellte er fest. »Ich will es Ihnen anhand von Stärke und Butter erklären. Das ist ziemlich einfach.« Nun, ganz so einfach war es dann doch nicht. Während wir vor dem Eingang zum Islington Tunnel beobachteten, wie sich zwei paarende Libellen im Schilf niederließen, setzte Hart zu einer fesselnden, allerdings ziemlich komprimierten Erklärung der Chemie synthetischer Kohlenhydrate an.

Er begann mit Ausführungen zur Stärke. Pflanzen speichern überschüssige Energie in Form von Stärke – entweder wie beim Getreide im Samen als Nährstoff für den Sämling oder wie bei anderen Pflanzen in Knollen als Nährstoff für neue Triebe. Getreidesamen oder eingepflanzte Kartoffeln verzehren sich im Grunde selbst, um Wurzeln und Blätter hervorzubringen.

Stärke besteht aus mikroskopisch kleinen Körnern, die sich aus kettenförmig angeordneten Glucosemolekülen zusammensetzen. Die Organisation und die Form der Verknäuelung dieser Ketten bestimmt zum einen das Verhalten der Stärke beim Erwärmen oder Gefrieren und zum anderen, wie sie sich in unserem Mund anfühlen. Das ist komplexe Chemie. Doch auch ohne die Natur dieser Moleküle vollends zu verstehen, hat der Mensch im Verlauf der vergangenen 10000 Jahre beim Kochen und bei der Domestizierung von Nutzpflanzen die praktische Stärkewissenschaft perfektioniert.

Nehmen wir etwa die Kartoffel. Festkochende Kartoffelsorten wie Linda haben robuste Stärkekörner, wodurch sie beim Kochen fest bleiben und im Kartoffelsalat ihre Struktur behalten. Mehligkochende Kartoffelsorten wie Agria dagegen enthalten weniger fest verbundene Zuckermolekülketten. Daher eignen sie sich zwar hervorragend für Pommes oder Chips, zerfallen jedoch im Kartoffelsalat und lassen ihn zur Mayonnaise-Pampe werden. Und dann gibt es Kartoffelsorten wie die Marabel, die vom Stärkegehalt genau dazwischen liegen und daher für so gut wie alles verwendbar sind.

Die Stärke der verschiedenen Pflanzen hat unterschiedliche Eigenschaften. Mischt man die extrahierte Stärke mit Wasser, lässt sich eine große Bandbreite an Gels und Pasten herstellen, die bei unterschiedlichen Temperaturen unterschiedliche Texturen aufweisen. Im 19. Jahrhundert entdeckten Forscher, dass sie durch die chemische Modifizierung von Stärke exakt die erwünschten Eigenschaften erzeugen konnten. Modifizierte Stärken, eine Standardzutat von hochverarbeiteten Lebensmitteln, können Fette und Molkereierzeugnisse ersetzen, beim Gefrieren Wasser binden und Soßen sämiger machen. Durch die Zähmung der Stärke ließen sich mit billigen Nutzpflanzen Riesenprofite erzielen.

In den 1930er-Jahren begann das Unternehmen Kraft, für die Herstellung von Mayonnaise eine Paste aus Mais- und Pfeilwurzstärke zu nutzen – Zutaten, die sehr viel billiger als Eier oder Öl waren und dennoch dasselbe cremige Mundgefühl erzeugten. In den 1950er-Jahren hatten sich modifizierte Stärken schließlich endgültig durchgesetzt, dank Wissenschaftlern mit solch klingenden Namen wie Carlyle »Corky« Caldwell, Moses Konigsberg und Otto Wurzburg.18

Sobald man eine Stärke gezielt modifizieren kann, öffnet sich ein Füllhorn der Möglichkeiten. Verdünnt man die Stärke mit Säure, lässt sie sich bei Textilien und in Reinigungen einsetzen. Behandelt man sie mit Propylenoxid, erhält man die sämige Struktur von Salatdressings. Mit Phosphorsäure gemischt, erhöht sie die Stabilität bei mehrfachem Einfrieren und Auftauen – ideal für Fertiggerichte. Und Maltodextrine (kurzkettige Glucosepolymere: eine Art der modifizierten Stärke) verleihen jenen Produkten, die manche Menschen für »Milchshakes« halten, ihre schimmernde Oberfläche und ihren cremigen Geschmack. Diese Stärkearten machen teure Milchfette überflüssig: Sie stammen aus Nutzpflanzen, die sich in großem Maßstab und zu einem Bruchteil der Kosten anbauen lassen.

Modifizierte Stärken waren in beinahe allen frühen HVL der 1950er-Jahre zu finden. Daneben werden sie auch im Bergbau und bei der Ölförderung eingesetzt. Dort wird mit ihnen die Viskosität von Bohrschlamm reguliert, damit er nicht zu dick oder zu dünn ist, um an die Oberfläche gepumpt oder gedrillt zu werden.

Von den Stärken ging Hart nahtlos über zu den Pflanzengummis, die mir auf der Zutatenliste von Lyras Eis aufgefallen waren.

Einige der Namen kommen Ihnen vielleicht bekannt vor: Guarkernmehl, Johannisbrotkernmehl, Carrageen und das beinahe allgegenwärtige Xanthan. Letzteres ist, ekelhafterweise, ein bakterielles Exsudat: ein Schleim, durch den Bakterien an Oberflächen haften. Wenn Sie das nächste Mal die schmierige Schicht von Ihrem Spülmaschinenfilter kratzen, sollten Sie an Xanthan denken. 

Wie mit den modifizierten Stärken kann man mit diesen Pflanzengummis kostenaufwendigere Moleküle ersetzen und Lebensmittel länger haltbar machen. Hart verfügt über einschlägige Erfahrungen mit diesen Stoffen. In den 1980ern fing er bei Unilever in einem Team führender Fachleute an, deren Forschung zu Pflanzengummis gewaltige Fortschritte bei der Textur fettarmer und sogar fettloser Produkte ermöglichte, etwa bei Dressings und Brotaufstrichen. Vermutlich sind die Moleküle, mit denen er sich beschäftigte, auch bei Ihnen bereits viele Male auf den Tisch gekommen.

Die fettarmen Produkte entsprachen den Empfehlungen der 1970er-Jahre, denen zufolge die Menschen weniger Fett zu sich nehmen sollten. Inzwischen dürften in vielen Köpfen Kohlenhydrate die Fette als Problem Nummer eins abgelöst haben. Dennoch sind fettarme Dressings nach wie vor ein Riesengeschäft.

Das kommerzielle Labor Centre for Industrial Rheology – die Rheologie befasst sich mit dem Verformungs- und Fließverhalten von Materie, den Eigenschaften also, die für die Textur von Lebensmitteln in unserem Mund zuständig sind – verglich die unterschiedlichen Strategien der beiden großen Mayonnaise-Produzenten Hellmann’s und Heinz, mit denen sie in ihren fettarmen Produkten das Fett ersetzen.19 Ein nahezu ausschließlich aus Fett bestehendes Produkt wie Mayonnaise ohne Fett herzustellen, ist alles andere als trivial. Traditionelle Mayonnaise verdankt dem Fett nicht nur ihren Geschmack, sondern auch ihre sehr spezifische Konsistenz: Sie ist sowohl fest (im Ruhezustand) als auch flüssig (beim Gebrauch).

Die beiden Unternehmen entschieden sich bei ihren Produkten für unterschiedliche Wege: Hellmann’s nutzt Pflanzengummis und Stärke als Verdickungsmittel, Heinz dagegen ausschließlich modifizierte Stärken. Während das fettarme Hellmann’s-Produkt sehr viel fester ist als die Vollfettversion, ähnelt die fettarme Heinz-Mayonnaise im Fließverhalten dem Original. Pflanzengummis bergen die Gefahr, dass das Ergebnis ein wenig zähschleimig wird, und wenn man eines nicht will, dann Mayonnaise, die an Schnodder erinnert. In der richtigen Dosis jedoch verleihen die Pflanzengummis der Mayonnaise eine geschmeidige Konsistenz – ein erwünschter Effekt, da die Mayonnaise auf diese Weise im Mund wie Öl anmutet. Beide Methoden helfen den Produzenten indes, die Herstellungskosten zu senken, während sie zugleich auch noch für sich reklamieren können, etwas für die Gesundheit der Konsumenten zu tun.

Ich sage keineswegs, dass jeder seine eigene Mayonnaise herstellen sollte. Allerdings sollte man sich klar sein, dass die fettarmen Varianten höchstwahrscheinlich keinen gesundheitlichen Nutzen haben. Die Meinung der Experten zu fettarmen Ersatzprodukten fällt inzwischen ziemlich einhellig aus. So wie künstliche Süßungsmittel offensichtlich nicht dazu führen, dass wir insgesamt weniger Kalorien zu uns nehmen, und auch nicht vor Erkrankungen schützen (dazu später mehr), scheint auch die Verwendung von neuartigen synthetischen Molekülen bei der Produktion der fettarmen Mayonnaise-Varianten und unzähliger anderer Lebensmittel nicht den gewünschten Effekt zu haben. Unabhängige Studien zeigen einen engen Zusammenhang zwischen derartigen HVL-Produkten, Gewichtszunahme und ernährungsbedingten Erkrankungen (wie wir im folgenden Kapitel sehen werden). Darüber hinaus ist die Adipositas-Rate seit der Einführung und dem verbreiteten Konsum fettarmer Produkte kontinuierlich gestiegen. Das könnte daran liegen, dass wir von diesen Produkten mehr essen (da wir von ihnen nicht die erwünschte Fettmenge geliefert bekommen). Es könnte aber auch daran liegen, dass allem Anschein nach manche der Ersatzmoleküle eine Reihe von unmittelbar schädlichen Folgen haben (auch dazu später mehr, sehr viel später  …).

Mit dem Vortrag über Mayonnaise beendete Paul Hart seine Ausführungen zu Stärken und Pflanzengummis. Allerdings brannte ihm noch das Thema der Fette unter den Nägeln. Das Licht der spätnachmittäglichen Sonne wurde vom Kanal reflektiert und brachte das blumenübersäte Ufer zum Leuchten. Davon unbeeindruckt setzte Hart zu seinen Erläuterungen über Schmelzpunktprofile und die Sättigung von Kohlenstoffketten an.

Dass wir beim Essen einen Geschmack wahrnehmen, verdankt sich den aromatischen Molekülen in den Lebensmitteln. Sie verflüchtigen sich auf der Zunge und ziehen dann aus der Mundhöhle in die Nase. Fast alle von ihnen sind fettlöslich. Deshalb ist Fett so wichtig. Brot wird erst durch die Butter darauf so lecker, und Salat wäre ohne ölhaltige Dressings nicht genießbar. Eigentlich ist kaum ein Lebensmittel vorstellbar, das nicht durch irgendeinen cremigen Dip oder einen fettigen Aufstrich noch köstlicher würde. Und es existieren genaue Mischungsverhältnisse von Fett und Zucker, die offensichtlich besonders wohlschmeckend sind.

Doch Fette sind nicht nur schmackhaft und eine Kalorienquelle. Sie verleihen Nahrungsmitteln auch Struktur. Hierfür sind feste Fette besonders zweckmäßig, wie jeder Bäcker weiß. Insbesondere Butter hat für viele Speisen ein perfektes Schmelzprofil. Zu ihrer Herstellung wird der Rahm von Milch geschlagen, wodurch das Fett zu Klumpen verklebt. Auf diese Weise bleiben die fettlöslichen Vitamine vollständig erhalten, während Zucker und Proteine von der Masse getrennt werden.

Hart erklärte mir den Vorteil von Butter gegenüber Milch, die eine flüssige Fett-in-Wasser-Emulsion ist (das heißt, dass die Fette, Zucker und Proteine in Wasser gelöst sind): »[In der Milch] können sich Keime problemlos bewegen. Sie haben genügend Nahrung und reproduzieren sich. Milch ist ein nahezu perfektes Medium für Bakterienkulturen. Butter dagegen  …«, er legte eine kurze Pause ein, um meine volle Aufmerksamkeit zu gewinnen, » … Butter ist eine invertierte Emulsion.«

Das bedeutet, dass Butter hauptsächlich aus Fett besteht, mit einem geringen Anteil gelösten Wassers. Da Butter nicht flüssig ist, können sich die Bakterien in ihr nicht bewegen. Daher ist sie auch außerhalb des Kühlschranks längere Zeit haltbar, außerdem enthält sie große Mengen fettlöslicher Vitamine und essenzieller Fettsäuren. »Butter ist ein fantastisches Nahrungsmittel«, erklärte Hart. »Durch sie haben sich die frühen menschlichen Gesellschaften verändert.« Damit hatte er vollkommen recht. Genau das war geschehen.

***

Einige der frühesten Hinweise auf die Herstellung von Butter finden sich an einem unerwarteten Ort, nämlich im Grenzgebiet von Libyen, Algerien und Niger, inmitten des riesigen gelben Sandmeers der Sahara. Geben Sie Messak Mellet oder Tadrart Acacus in Ihre Suchmaschine ein. Ersteres ist ein mächtiges Sandstein-Hochplateau, letzteres ein Felsgebirge. Beim Anblick der Satellitenbilder würde man an diesen Orten nicht unbedingt Höhlen mit Malereien und Felsritzungen von Krokodilen, Elefanten und Giraffen vermuten.20 Noch erstaunlicher sind jedoch die Darstellungen von Rindern, teilweise sogar, während sie gerade gemolken werden. Die Bilder genau zu datieren, ist schwierig, doch Knochenfunde in der Nähe belegen, dass es in der Gegend bereits vor 8000 Jahren Kühe, Schafe und Ziegen gab und sie vor 7000 Jahren weitverbreitet waren. Im Jahr 2012 schließlich stieß man auf den unwiderlegbaren Beweis, dass damals bereits Milchwirtschaft betrieben wurde. Ein Team der Universität Bristol fand am Felsüberhang Takarkori Spuren von Milch an Tonscherben, die sich ungefähr auf das Jahr 5000 vor unserer Zeit datieren lassen.21 Analysen legen nahe, dass die Milch zu Käse oder einem butterähnlichen Produkt verarbeitet worden war.

Vor 12000 Jahren, nach dem Ende der letzten Eiszeit, war die Sahara ein grüner Ort mit üppiger Pflanzenwelt. Eine dort ansässige Jäger-, Fischer- und Sammlerpopulation änderte vor etwa 10000 Jahren ihre Lebensweise und führte fortan eine halbnomadische Hirtenexistenz mit Rindern, Schafen und Ziegen.22

Bis dahin hatten die Menschen, wie alle anderen Säugetiere, nach dem Abstillen keine Milch mehr getrunken. Daher produzierten sie keine Lactase, das Enzym, das es den meisten von uns ermöglicht, Lactose (das wichtigste Kohlenhydrat in der Milch) zu verdauen. Wie eine kürzliche Studie zeigte, hatte die fehlende Lactase jedoch erstaunlich wenig Einfluss auf den Genuss von Milch.23 Hinter der Verarbeitung von Milch dürfte ursprünglich der Wunsch nach längerer Haltbarkeit gesteckt haben: Joghurt (ein Produkt der Verstoffwechselung des Milchzuckers durch Lactobacillus-Bakterien zum natürlichen Konservierungsmittel Milchsäure) und Butter halten sich sehr viel länger als Milch. Im Laufe der folgenden Jahrtausende wurde Butter überall auf der Welt zu einem zentralen Bestandteil unterschiedlicher Essenskulturen.

Das Problem bei der Butter sind die hohen Herstellungskosten. Bevor eine Kuh gemolken werden kann, muss sie schließlich erst einmal aufgezogen werden. Im Vergleich dazu sind Pflanzenfette sehr viel weniger kostenintensiv. Allerdings handelt es sich hierbei zumeist um flüssige Öle. Diese sind schwieriger zu lagern und eignen sich weniger dazu, Lebensmitteln Textur zu verleihen. Gegen Butter haben sie keine Chance. Daher dürfte es nicht überraschen, dass die Suche nach einem festen Fett als preiswertem künstlichen Butterersatz bereits 1869 eingeläutet wurde.

In jenem Jahr lobte Napoleon III. – der Neffe des berühmtesten Napoleons – einen Preis aus für denjenigen, der eine Lösung für diese fettige Alchemie fände. Einheimsen konnte die stattliche Belohnung schließlich der französische Chemiker und Apotheker Hippolyte Mège-Mouriès, der einige Jahre zuvor wegen seiner Verbesserungen bei der Brotherstellung in die Ehrenlegion aufgenommen worden war. Seine Beschreibung der Produktionsmethode eines Butterersatzes dürfte wohl die erste Darstellung eines hochverarbeitenden Prozesses sein.24,25,26,27

Napoleon III. war der Neffe von Napoleon I. (dem mit der Hand in der Weste, der aus der Verbannung nach Elba zurückkam, um die Schlacht bei Waterloo zu verlieren). Er war im Allgemeinen recht beliebt und förderte in seiner Regierungszeit etliche Projekte zur Verbesserung der Lebensumstände der arbeitenden Klasse. So gestand er etwa den französischen Arbeitern das Recht ein, zu streiken und sich zu organisieren, und erlaubte den Frauen den Zugang zur Universität. Er hatte keinen Handfimmel, allerdings trat er in mindestens zweierlei Hinsicht in die Fußstapfen seines Onkels: indem er eine Schlacht verlor (Sedan) und im Exil starb (in England, nicht auf St. Helena).

Mège-Mouriès nahm billiges Rinderfett (Talg), schmolz es (indem er es mit ein wenig Wasser erhitzte) und verstoffwechselte es mithilfe von Enzymen aus dem Schafsmagen, um das Zellgewebe aufzubrechen, von dem das Fett zusammengehalten wurde. Dann gab er die Masse durch ein Sieb, ließ sie sich absetzen, extrudierte sie, indem er zwei Platten gegeneinander presste, bleichte die Masse mit Säure, wusch sie mit Wasser, erwärmte sie und mischte schließlich Natrium, Milcheiweiß, Kuheutergewebe und Annatto (einen gelben Lebensmittelfarbstoff aus den Samen des Orleanstrauchs) darunter.28 Das Ergebnis war ein überzeugender, streichfähiger Butterersatz.

Mège-Mouriès nannte seine Schöpfung Oleomargarine. Doch Ihnen dürfte kaum der kleine Haken an der Geschichte entgangen sein: Für die Original-Margarinerezeptur war nach wie vor tierisches Fett erforderlich. Erst durch bahnbrechende Entwicklungen in der industriellen Chemie des späten19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde es möglich, Margarine aus Pflanzenölen herzustellen.

Um 1930 konnte man eine feste Margarine aus flüssigem Walöl herstellen. Der Schmelzpunkt des Aufstrichs lag bei 30 Grad Celsius, daher schmolz er im Mund. Um 1960 machte Walöl 17 Prozent der bei der Margarineproduktion verwendeten Fettmenge aus.29

Das entscheidende Problem war die Härtung der Pflanzenöle. Gelöst wurde es an der Wende zum 20. Jahrhundert dank des Prozesses der Hydrierung. Durch die Erhitzung von Öl unter Wasserstoff-Druck wird seine chemische Struktur modifiziert, wodurch sich seine Schmelzeigenschaften verändern. Bei vollständiger Hydrierung des Öls entsteht Fett, das so hart wie Eis ist. Doch durch die nur partielle Hydrierung lässt sich jedes beliebige Schmelzprofil erzeugen. Auf diese Weise kann man ein Fett herstellen, das bei Raumtemperatur fest bleibt und dennoch streichbar ist, wenn es aus dem Kühlschrank kommt.

Allerdings gibt es einen unerwünschten Nebeneffekt: Durch den Prozess entstehen Transfette, die mit Herzerkrankungen und weiteren Gesundheitsproblemen in Zusammenhang gebracht werden. Heute wird die partielle Hydrierung oftmals durch die Vermischung unterschiedlicher Öle ersetzt. Dabei werden durch Erwärmung unterschiedliche Molekülgrößen getrennt (Fraktionierung) und mithilfe von Enzymen Kohlenwasserstoffketten zwischen verschiedenen Fetten ausgetauscht (enzymatische Umesterung). Doch ungeachtet der weitverbreiteten Bedenken gegen Transfette nutzen manche Hersteller nach wie vor das Verfahren der Hydrierung. In Großbritannien stellte sich 2010 der damalige Gesundheitsminister Andrew Lansley gegen ein Verbot von Transfetten. Sowohl Lansley als auch sein Referent hatten zuvor für Beraterfirmen gearbeitet, zu deren Klienten viele Unternehmen gehörten, die von einem Verbot betroffen gewesen wären, etwa Pizza Hut, Kraft und Tesco. Wenn man will, könnte man darin einen Interessenkonflikt erkennen.

Der nächste Schritt bestand darin, das billigste Öl zu finden. Fündig wurde man bei der Baumwolle. Deren Samen waren lange ein wertloses Abfallprodukt der Textilindustrie. Fabriken zur Baumwollentkörnung wurden an Flussufern errichtet, damit die Samen direkt im Wasser entsorgt werden konnten. Doch 1907 gelang es dem seinerzeit noch jungen Unternehmen Procter & Gamble (das später Pringles entwickeln sollte), aus Baumwollsamenöl festes Speisefett herzustellen. Vorher war jedoch das Problem zu lösen, dass das Öl neben dem Giftstoff Gossypol, der die Pflanzen gegen Insekten schützt und die Fruchtbarkeit von Männern beeinträchtigt, auch eine Reihe anderer Verunreinigungen enthält, die einen leicht fauligen Geschmack verursachen.30 Die Lösung war ein Verfahren, das heute kurz als RBD bekannt ist: die Raffinierung, Bleichung und Desodorierung von Ölen.

Mark Twain gibt in Leben auf dem Mississippi eine wunderbare Schilderung der noch jungen Industrie: »Verstehen Sie, in jeder Gallone Baumwollsamenöl ist nur ein winziger Tropfen einer Essenz oder so was, was ihm Geruch oder Geschmack oder was auch immer gibt – wenn Sie den rauskriegen, ist alles gut – dann können Sie ohne Schwierigkeit jede Sorte Öl, die Sie nur wollen, draus machen, und kein Mensch wird das echte vom falschen unterscheiden können. Nun, wir wissen, wie man diesen kleinen Bestandteil rauskriegt – und unsere Firma ist die einzige, die das kann. Und wir stellen ein Olivenöl her, das einfach tadellos ist – bei dem sich nichts nachweisen läßt! Wir machen auch ein Bombengeschäft, wie ich Ihnen leicht in meinem Auftragsbuch von dieser Fahrt zeigen könnte. Vielleicht werden Sie schon bald Butter auf jedermanns Brot schmieren, aber wir werden vom Golf bis nach Kanada jedermanns Salat mit Baumwollsamenöl anmachen, das ist todsicher.«

Nehmen wir zum Beispiel Palmöl. Frisch gepresst ist es von beinahe leuchtend purpurroter Farbe, hocharomatisch, würzig und geschmacksintensiv, außerdem reich an Antioxidantien wie Tocotrienolen. Doch für HVL-Produzenten sind der intensive Geschmack und die Farbe nicht etwa ein Plus, sondern ein Problem. Ein würziges, purpurrotes Öl ist für Nutella schlicht nicht geeignet. Für hochverarbeitete Lebensmittel benötigt man ein farbloses, neutrales, geschmackloses Öl, denn nur aus diesem lässt sich jedes beliebige essbare Produkt herstellen. Genau ein solches Öl liefert der RBD-Prozess. Für die Raffination wird das Pflanzenöl erst erhitzt, dann entfernt man mit Phosphorsäure die Pflanzengummis und Wachse, bevor das Öl schließlich mit Natriumhydroxid neutralisiert wird. Anschließend bleicht man es mit Bentonit und desodoriert es zum Schluss mit Wasserdampf unter hohem Druck. Mit diesem Verfahren werden nicht nur Sojaöl, Palmöl, Rapsöl und Sonnenblumenöl hergestellt, die zusammen 90 Prozent des weltweiten Pflanzenöl-Marktes ausmachen, sondern jedes beliebige nicht »native« oder »kaltgepresste« Öl.

Das Antioxidans Tocotrienol der Palmpflanze wird im RBD-Prozess entfernt, um anschließend zur Vorbeugung des Ranzig-Werdens wieder hinzugefügt zu werden. Wie Hart sagte: »So etwas kann man sich nicht ausdenken!«