Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger - E-Book

Gefallener Mond E-Book

Ruth Schneeeberger

4,6

  • Herausgeber: edition a
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Anna Walter kämpft für Kinder, denen Schreckliches widerfahren ist. Sie ist die Beste darin, doch dann führt ein Fall auch sie an ihre Grenzen: Ein Mädchen verschwindet und kehrt erst nach zwanzig Stunden zurück. Ihr Entführer hat ihr die blonden Haare abgeschnitten und sie will nicht mehr sprechen. Sie zeichnet nur noch, und immer nur blaue Fische.

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Seitenzahl: 380

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Ruth Schneeberger: Gefallener Mond

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: JaeHee Lee

Gestaltung: Hidsch

Lektorat: Maximilian Hauptmann

1   2   3   4   5   —   19   18   17   16

»Wem Unrecht widerfuhr, dem bietet die Rache gewöhnlich zweierlei: Genugtuung oder das Gefühl von Sicherheit für die Zukunft.«

Seneca, De vita beata

DIE BEUTE

Das Zielband bewegt sich im Wind. Rosa Buchstaben auf weißem Hintergrund heißen die Siegerin willkommen. Auf beiden Straßenseiten applaudieren Zuschauer, ihre Anfeuerungsrufe übertönen die Stimme des Moderators, der die führende Läuferin angekündigt hat, als Vanessa um die letzte Kurve gebogen kommt. Als sie über die Ziellinie läuft, schlingt sich das Band um ihren Bauch und seine losen Enden flattern um ihren Körper, als wären Vanessa Flügel gewachsen. Jemand legt ein Handtuch über ihre Schultern. Hinter den Absperrungen warten Reporter mit Kameras und Mikrofonen. Unter dem Beifall des Publikums stemmt Vanessa die Hände in die Hüften und holt tief Luft.

»Warte«, keuchte sie. Ihre Beine schmerzten wie im Turnunterricht nach den Kletterübungen auf den Tauen. Morgen würden blaue Flecken leuchten, wo die Schultasche bei jedem Schritt auf ihren Rücken geprallt war. Doch für den Moment zählte das nicht, sie hatte ihre Freundin doch noch eingeholt.

Nadja blieb stehen und drehte sich um. »Was willst du?«, fragte sie und verschränkte die Arme.

»Darf ich dich begleiten?«, fragte Vanessa und schnappte ein weiteres Mal nach Luft.

»Aber nur, wenn du trägst«, antwortete Nadja und ließ ihren rosa Rucksack in Vanessas ausgestreckte Hände gleiten, »und wenn du brav hinter mir her trippelst wie das Hündchen von Frau Windbichler.«

»Das ist ein Chihuahua«, sagte Vanessa, während sie durch die Träger des Rucksackes schlüpfte. Er drückte unangenehm auf ihre Rippen und war deutlich schwerer als ihre Tasche. Schulbücher waren teuer und nicht immer notwendig, zumindest hatte das ihre Mutter gesagt. Vanessa umklammerte den Rucksack, als sie ein weiteres Mal zu ihrer Freundin aufschloss, die bereits die Straße überquerte. Die Villa von Nadjas Eltern lag in der Nähe ihrer Schule, von dort fuhr Vanessa vier Stationen mit dem Bus. Sie war die Einzige in der Klasse, deren Eltern kein eigenes Haus besaßen. »Chihuahuas stammen aus Mexiko und sind die kleinsten Hunde der Welt«, erklärte sie.

»Diese blöden Köter haben nur Flöhe«, sagte Nadja und betrachtete sich in einem Schaufenster. Sie zog an ihrer rosa Jacke und lächelte ihr Spiegelbild an.

Vanessa hätte schwören können, Nadjas Mutter vor sich zu haben. Ihre Freundin hatte heute sogar Lidschatten aufgetragen. Lediglich der rote Lippenstift und die Abdeckcreme fehlten. »Es gibt Flohhalsbänder«, sagte Vanessa und biss sich auf die Lippen. Sobald sich die passende Gelegenheit ergab, würde Nadja sie vor der ganzen Klasse bloßstellen. Nadja hasste es, wenn jemand sie belehrte.

Nadja kniff den Mund zusammen. »Miss Bücherwurm weiß offenbar immer alles besser«, sagte sie.

»Was ist daran schlecht?«, hätte Vanessa gerne gefragt, doch sie wollte ihre Freundin nicht weiter verärgern. Sie kannte das boshafte Lächeln, das Nadja mittlerweile aufgesetzt hatte.

»Manchmal bringt mich Miss Bücherwurm auf ausgezeichnete Ideen«, meinte Nadja und richtete ihren perfekt sitzenden Kragen. »Wenn du mich das nächste Mal nach Hause begleitest, kannst du beweisen, ob du dich auch wie ein Hund benehmen kannst. Ich bringe eine Leine mit, binde sie dir um den Hals und füttere dich mit Keksen. Ich bin gespannt, ob du sie vom Boden isst.«

»Ist deine Jacke neu?«, fragte Vanessa.

»Gestern bekommen. Moncler.«

»Bekomme ich auch zu Weihnachten.«

»Wurde auch Zeit«, sagte Nadja, »das alte Ding, das du trägst, geht gar nicht.«

»Ich bekomme eine blaue.«

»Na hoffentlich. Rosa ist keine Farbe, die dir stehen würde.«

»Nicht jeder ist so hübsch wie du.«

Nadja lächelte und fuhr sich mit den Fingern durch die Locken.

»Gehen wir noch bei der Tierhandlung vorbei?«, fragte Vanessa.

»Hast du noch nicht genug von diesen miauenden Biestern?«

»Letzte Woche hast du ihnen sogar Namen gegeben.«

»Das war letzte Woche«, sagte Nadja und schaute auf ihre lackierten Fingernägel. »Was bekomme ich dafür, wenn ich dich begleite?«

»Möchtest du morgen die Mathematikaufgaben abschreiben?«

»Das ist ein faires Angebot«, antwortete Nadja und bog in die Seitenstraße ein, in der sich die Tierhandlung befand.

Vanessa folgte ihr und fragte sich, warum Nadja für alles eine Gegenleistung verlangte. Sie wusste, dass Tiere eine ebenso große Anziehungskraft auf ihre Freundin ausübten wie auf sie. Derzeit wollte Nadja Meeresbiologin werden. Ihre Eltern waren reich und verbrachten die Ferien in der Karibik. Vanessa kannte Strände und Palmen nur aus Erzählungen. Nadjas Vater war Rechtsanwalt, ihre Mutter Journalistin. Dass sie einmal studieren würde, war vorbestimmt. Für Vanessa würde es immer ein Traum bleiben. Sie wusste, ihre Mutter hatte für sie eine Karriere als Friseuse geplant, sie sollte sich später einmal nicht mit Putzen ihr Geld verdienen müssen. Deshalb bestand ihre Mutter darauf, dass sie ihr rotes Haar jeden Tag wusch und anschließend kämmte, bis es glänzte. Vanessa sehnte sich nach einem Kurzhaarschnitt, doch sie hatte noch nie jemandem von ihrem Wunsch erzählt.

»Träumst du?«, fragte Nadja, »wir sind da.«

Vanessa wollte etwas erwidern, doch ihre Freundin schenkte ihr schon keine Beachtung mehr.

»Wie heißt der dort?« Nadjas Augen glänzten, als sie auf einen dunkelblauen Fisch zeigte, der sich zwischen Schlingpflanzen hindurchschlängelte.

»Das ist ein Blauer Perusalmler, er kommt in den Gewässern des Amazonas vor«, zitierte Vanessa aus dem Kopf. Seit zwei Wochen las sie jeden Nachmittag in dem Buch über Fische, das sie sich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Es war schrecklich langweilig, doch seit sie Nadjas Fragen beantworten konnte, duldete Nadja ihre Anwesenheit auf dem Nachhauseweg. Fasziniert verfolgte Vanessa zwei Katzenbabys, die einem Ball nachjagten. Es musste tröstlich sein, die beiden zu kraulen und die Nase in ihrem Fell zu versenken. Wenn sie ihre Mutter überreden konnte, die beiden zu kaufen, würde sie ihnen Stoffmäuse nähen. Einmal mehr überlegte Vanessa, woraus sie ein Katzenklo basteln konnte. Zumindest die Katzen sollten über den Luxus verfügen, die Toilette nicht mit den Nachbarn auf dem Gang teilen zu müssen.

»Wo liegt der Amazonas?«, fragte Nadja.

»In Südamerika«, antwortete Vanessa und wandte ihren Blick von den Katzen ab. Auch wenn sie die scheinbare Schwerelosigkeit der Fische bewunderte, übten sie im Gegensatz zu den umhertollenden Fellknäueln keinerlei Faszination auf sie aus. Vanessa hätte alles dafür getan, die Katzenbabys unter dem Christbaum in die Arme zu schließen, doch sie wusste, dass es ein Traum bleiben würde. Auch im heurigen Jahr würde sie stattdessen ein Schminkset aus dem Geschenkpapier wickeln. Eine Friseuse sollte ihre Kundinnen auch in dieser Hinsicht beraten können, hatte ihre Mutter gemeint.

Vanessa sah auf, als Nadja sie an der Hand zog.

»Ich habe dich gefragt, ob du diesen Mann kennst«, fragte Nadja leise. Ihre Finger waren warm und weich.

»Welchen Mann?« Instinktiv flüsterte auch Vanessa.

»Dreh dich nicht um. Schau in die Scheibe. Sein Gesicht spiegelt sich darin.«

Vanessa hätte schwören können, dass Nadjas Stimme noch nie so hoch gewesen war. Wie das Fiepen einer Maus, die ängstlich vor der Katze Schutz suchte. »Warum sollte ich den Mann kennen?«, fragte Vanessa.

»Ich habe ihn heute schon gesehen. Am Schulhof. Er hat uns beobachtet«, antwortete Nadja.

»Bist du dir sicher?«, fragte Vanessa. Noch nie hatte sie ein vergleichbares Gespräch mit Nadja geführt. Als wären sie ebenbürtig. Auf Augenhöhe. Für sie zählte Nadjas Aufmerksamkeit um vieles mehr als ein verzerrtes Gesicht im Glas. Im Gegensatz zu Nadja hatte sie keine Angst. Den Mann faszinierten wahrscheinlich die blonden Locken und das zauberhafte Lächeln ihrer Freundin. »Lass uns nach Hause gehen«, sagte Vanessa und zog Nadja mit sich. Sie fragte sich, wie lange Nadja ihre Hand in ihrer eigenen dulden würde. Doch für den Moment spürte sie nichts anderes als Nadjas Finger in den ihren, den sanften Druck, mit dem sich ihre Hände ineinander verschränkten, und den Wind, der durch ihre Haare fuhr. Selten war Vanessa so stolz gewesen.

DER JÄGER

Stille war eingekehrt. Er liebte diese Stunden, wenn alle schliefen und jeder Raum nur sich selbst gehörte. Wenn niemand erwartete, dass er im richtigen Augenblick in ein Gespräch eingriff. Wenn sein Herzschlag den Rhythmus der Zeit vorgab. Wenn er keine Maske aufsetzen musste, um als liebevoller Vater, als besorgter Ehemann oder als erfolgreicher Geschäftsmann zu gelten. Wenn niemand fragte, warum er sich eine Zigarette anzündete. Das Streichholz zischte, als er es über die Reibfläche zog. Die Flamme erhellte sein Arbeitszimmer, bevor er seine Hand schüttelte und das verglühte Holz in den Aschenbecher gleiten ließ. Während er tief inhalierte, trat er ans Fenster. Der Ahorn hatte die Blätter verloren. Der Sommer war nicht mehr als ein letzter Hauch von Blütenduft, der bloß in seiner Erinnerung existierte. Hätten sich nicht Nebelschwaden um die Straßenlaternen gelegt und einen Teil des Lichtes verschluckt, hätte er zwischen den kahlen Ästen die Eisenstäbe des Zaunes erkennen können, der den Garten einschloss und sein Reich vom Rest der Welt trennte. Ein dunkler Fleck huschte den Stamm hinab und bewegte sich über den Rasen. Als würde jemand an der Linse einer Kamera drehen, gewann die Gestalt an Schärfe, je näher sie dem Haus kam. Von Zeit zu Zeit schlich die Nachbarskatze auf ihrem Beutezug durch seinen Garten. Als er gegen die Scheibe klopfte, zuckte das Tier zusammen und ergriff mit langen Sprüngen die Flucht. Er duldete keinen Eindringling in seiner Welt. Ganz besonders nicht, wenn es sich um andere Jäger handelte.

Er kniff die Augen zusammen, als er ein letztes Mal an der Zigarette zog. Die Katze war verschwunden. Als ein Windstoß durch den Baum fegte, wiegten sich die Zweige im Takt, als würden sie ein Lebewohl anstimmen. Er drehte sich um, ging zu seinem Schreibtisch und schaltete die Lampe ein. Der Silberrahmen des Fotos reflektierte das Licht und Großvater schaute ihn fragend an. Was er von dem Weg halten würde, den sein Enkel eingeschlagen hatte? Er konnte nicht sagen, ob die Farben über die Jahre verblasst waren oder seine Erinnerung ihn täuschte, doch er hätte geschworen, dass Großvaters blaue Augen um vieles intensiver geleuchtet hatten. Unvermittelt war er wieder neun Jahre alt. Sein Vater war im Winter beerdigt worden. Er verbrachte die Ferien am Land. Die Burschen aus dem Dorf arbeiteten auf den Höfen und waren größer und kräftiger als er. Im Gegensatz zu seiner war ihre Haut gebräunt. Sommersprossen überzogen seine Nase und dünne Waden ragten aus seinen Hosen. Seine Schuhe waren abgetreten und Steine drückten auf seine Fußsohlen, wenn sie an den Abenden die Hügel erforschten. Er hasste die Kälte des Baches und ekelte sich vor den Käfern, die sie in Marmeladegläsern fingen. Bei jedem Streifzug kämpfte er um den Anschluss in der Gruppe. Er errötete, wenn sie die Mädchen beim Baden beobachteten. Er hatte keine Ahnung, wie man ein Lagerfeuer entzündete. Er wagte es nicht, die Äskulapnattern anzufassen, die sich auf Steinen sonnten und ihre gespaltenen Zungen zeigten. Die anderen lachten über ihn. Er sehnte sich nach der Stadt, nach der Umarmung seiner Mutter und nach der Zeit, als er seine Nachmittage nicht in Krankenhäusern hatte verbringen müssen, um seinem Vater beim Sterben zuzusehen. Das Wort Krebs konnte er nicht einordnen. Den Sarg, der in das dunkle Grab hinabgelassen wurde, sehr wohl. Er hatte keine Vorstellung davon, wie er Abschied nehmen sollte. Er hatte kein Rezept, wie er seine Mutter trösten konnte. Er hatte nur Großvater, der sich um ihn kümmerte. Eines Abends erzählte er von den anderen Kindern. Von ihrem Hochmut, ihrem Unverständnis und ihrem Lachen. Der alte Mann starrte in das Kaminfeuer. Schließlich trocknete er mit seinem Taschentuch die Tränen des Enkels und meinte: »Morgen wird alles anders.«

Als der alte Mann sich über ihn beugte und seinen Namen flüsterte, öffnete er schlaftrunken die Augen. Mondlicht fiel durch das Dachfenster und malte einen hellen Fleck auf den Zimmerboden. Großvater hüllte ihn in eine warme Jacke und reichte ihm Regenstiefel. Gemeinsam gingen sie zum See. Nebel hing über der Wasseroberfläche und Dampf stieg auf, als würden sich Nixen erheben und einen Tanz vollführen. Sie lagen im feuchten Laub, das nach abgestandenem Wasser roch, und lauschten in die Dunkelheit, die nicht weichen wollte. Großvater reichte ihm süßen Tee, den er in einer Thermoskanne mitgebracht hatte. Endlich färbte ein gelber Streifen den Himmel. Als er den Horizont betrachtete und hoffte, die Sonne möge ihn wärmen, zeigte Großvater Richtung Wald. Seine schläfrigen Augen tränten vom Wind und er hatte Mühe, in der Ferne Einzelheiten zu erfassen. Zuerst erkannte er das Geweih zwischen den Bäumen. Dann sah er den Kopf des Tieres, der sich Richtung See schob. Es bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit, als würde es den Wald besitzen. Während der Hirsch aus dem See trank, reichte Großvater ihm das mitgebrachte Gewehr und nickte. Die letzten Wochen hatte der Alte ihm beigebracht, auf Blechdosen zu zielen. Endlich war der Moment gekommen, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Ohne zu zögern legte er an und drückte ab. Lautlos ging das Tier zu Boden. Er biss sich auf die Lippen, um nicht zu zeigen, wie sehr seine Schulter schmerzte, der Alte hätte es ihm nicht verziehen. Gemeinsam näherten sie sich der Beute. Als der Hirsch sich ein letztes Mal aufbäumte, schoss ihm Großvater in den Kopf. Dann legte er dem Enkel seine Hand auf die Schulter und erklärte ihm, dass er eben zum Mann geworden war. Sein eigener Stolz spiegelte sich in den wässrigen Augen seines Gegenübers, als Großvater nickte und ihm zum Zeichen, dass er sein Nachfolger geworden war, sein Gewehr schenkte. Noch am selben Tag machte die Geschichte im Dorf die Runde. Die anderen lachten nie wieder über ihn. Sie respektierten ihn. Ein einzelner Schuss hatte sein Leben verändert und die Welt auf den Kopf gestellt.

Gedankenverloren strich er über die Stelle oberhalb des Schlüsselbeines, wo ihn der Rückstoß der Waffe getroffen hatte. Viele Jahre erinnerte sie ihn daran, wie einfach es war, sich über andere zu erheben. Doch mit der Zeit verblasste das berauschende Gefühl, das ihn beim Drücken des Abzuges durchströmte. Die erlegten Tiere wurden zahlreicher, doch der Funken Glück, den er dabei verspürte, schwächer. Wenn er nach einer erfolgreichen Nacht am Hochstand erwachte, dominierten Gleichgültigkeit und Enttäuschung. Statt des berauschenden Gefühls der Macht schmeckte er die Galle durchzechter Stunden und roch den schalen Gestank eines ungelüfteten Raumes, der von zu vielen Zigaretten und halb gefüllten Weingläsern zeugte. Das Töten war zur Gewohnheit geworden.

Er öffnete die Schreibtischlade, löste das Brett aus der Halterung, das den dahinter befindlichen Hohlraum verschloss, und holte die sicher verborgene Holzschatulle aus ihrem Versteck. Ob Großvater gewusst hatte, dass es Formen der Jagd gab, die kaum vorstellbare Sphären der Realität eröffneten? Dass ein von der Ferne erlegtes Tier ein schaler Abglanz dessen war, was die Wirklichkeit noch zu bieten hatte? Er hob den Deckel und drückte seine Nase in die Öffnung. Manchmal glaubte er, ihren Geruch noch einzuatmen. Mit dem Zeigefinger strich er über den Zopf. Über die Jahre hatten die Haare an Weichheit verloren und an Glanz eingebüßt. Trotzdem gelang es ihm bei der Berührung, die alten Bilder heraufzubeschwören. Er war wieder in der Höhle und lauschte in die Dunkelheit. Er hatte erwartet, ihre Arme würden sich um ihn schließen und ihre Tränen seine Wange benetzen. Er hatte gehofft, sie würde voll Erleichterung zu ihm aufschauen und für ihre Erlösung danken. Stattdessen forderte sie ihn heraus, suchte ihr Heil in der Flucht und raubte ihm die Stunde des Triumphes. Als er sich in Bewegung setzte, um ihr zu folgen, waren seine Instinkte geschärft wie nie zuvor. Er hörte ihren keuchenden Atem. Er roch ihre Angst. Er spürte ihre Verzweiflung. Er entschied nicht über das Schicksal eines Tieres. Er entschied zum ersten Mal über das Schicksal eines Menschen.

Als sie in den Abgrund stürzte und vor ihm lag, gab sie keinen Laut von sich. Sie hatte mit ihm gespielt, Lolita im roten Rock, unschuldig und provokant, ein kleines Mädchen, das noch so weit davon entfernt war, anderen den Kopf zu verdrehen und doch genau das tat. In diesem Moment erkannte er, dass er dazu auserkoren war, ihre geheimen Wünsche zu erfüllen. Mit jedem Schritt, den er auf sie zuging, wuchs dieses Gefühl der Macht, mit nichts zu vergleichen, dessen Existenz er immer geahnt, aber nie zu erreichen vermocht hatte. Er war berauscht und schwebte. Als er vor ihr stand, flehten ihre Augen um Erlösung. Auch sie konnte es kaum erwarten, dass er zu Ende brachte, was unausweichlich geworden war. Er vollendete, was das Schicksal für sie beide vorgesehen hatte. So nahm er zuerst ihre Unschuld. Dann ihren Zopf.

In Gedanken schloss er den Eingang der Höhle hinter sich, öffnete die Augen, versperrte die Schreibtischlade und mit ihr die Erinnerung. Während er sich eine weitere Zigarette anzündete, genoss er die Vorfreude, die sich in seinem Magen aufbaute. Ein wohlmeinendes Schicksal hatte ihn heute zum richtigen Schulhof geführt. Beim Läuten der Pausenglocke waren die Kinder ins Freie gedrängt und hatten um den besten Platz auf dem Klettergerüst gekämpft. Zwei Mädchen hatten sich abseits gehalten und waren keinen Meter von ihm entfernt gestanden. Die Größere der beiden hatte eine rosa Daunenjacke und Wildlederstiefel getragen. Ihre blonden Locken waren beim Schnurspringen auf- und abgewippt. Ihre Freundin hatte ein Buch an die Brust gedrückt und zu Boden gestarrt. Ihre Hosen endeten an den Waden, obwohl die Temperatur keine zehn Grad betragen hatte. Als sich das Seil zwischen den Beinen des Lockenkopfes verfangen hatte, fragte sie: »Kannst du nicht aufpassen?«

»Was meinst du?«, hatte ihre rothaarige Freundin erwidert.

»Vanessa, ich kann nicht springen, wenn du so schaust«, hatte die Blonde geantwortet, »manchmal hast du diesen Blick. Wie eine Hexe. Eine böse noch dazu.«

Vanessa hatte sich auf die Lippen gebissen und das Buch noch fester an sich gepresst. »Tut mir leid«, hatte sie gesagt.

Der Lockenkopf war weitergesprungen.

Vanessa, die Erste. Er hatte die nächste Prinzessin gekrönt. Noch nie hatte er eine Rothaarige gewählt. Sie würde ihm eine neue Erfahrung ermöglichen. Gerne hätte er jemandem von diesem seltenen Moment des Glücks erzählt. Ihn geteilt. Ihn multipliziert. Doch wer hätte ihn verstanden und die gesellschaftlich vorgekauten Normen ebenso als widernatürlich entlarvt, die seine Handlungen verdammten und seine Taten nicht würdigten? In einer Zeit, in der Dummheit regierte und Gesetze von der Masse ungefragt befolgt wurden, war es schwierig geworden, Menschen wie ihn zu verehren. Man hätte auf ihn gezeigt und wäre ihm nicht mehr mit Hochachtung begegnet. Es war besser, diesen Teil im Verborgenen zu halten. Seine Jagd war eröffnet.

ERSTER TEILSCHULD

1

MONTAG

Stille legte sich über den Saal. Die Schriftführerin knackte mit den Fingerknöcheln und schaute erwartungsvoll zur Richterbank. Die Verhandlung war seit über einer Stunde ereignislos dahingeplätschert. Keiner der vom Staatsanwalt befragten Zeugen hatte Entscheidendes zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen können. Der gegnerische Verteidiger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lockerte seine Krawatte, er schien sich eines Freispruches für seinen Mandanten sicher.

Der Richter blätterte in seinen Unterlagen und warf Anna Walter einen gelangweilten Seitenblick zu. »Möchte die Privatbeteiligtenvertreterin noch etwas vorbringen?«, fragte er und schloss den vor ihm liegenden Akt.

Auch nach vielen Jahren im Gerichtssaal konnte Anna nicht verstehen, wie jemand bei einem Delikt wie dem eben verhandelten emotionslos bleiben konnte und versuchte sich einzureden, dass es eine nachvollziehbare, wenn auch schwer zu verstehende Methode war, Grausamkeit zu verarbeiten. Sie selbst konnte die Genugtuung spüren, die sich immer dann in ihrem Magen ausbreitete, wenn sie einem Prozess die entscheidende Wendung geben konnte. Jahrelange Übung ermöglichte es ihr, sich äußerlich nichts von ihrer Erregung anmerken zu lassen. Sie wartete ein weiteres Ticken des Sekundenzeigers der Wanduhr ab, bevor sie ihren Stuhl zurückschob. »Ich habe durchaus noch einige Fragen«, sagte sie, während sie den Angeklagten musterte und ihre Füllfeder neben den aufgeschlagenen Akt legte. Ihre hohen Absätze hallten auf dem Parkettboden des Gerichtssaales wider, als sie auf Robert Pieler zuging.

»Ich möchte vorab klarstellen, dass ich Sie weder anklage noch über Sie richten werde«, sagte Anna zu dem Angeklagten. »Ich bin sicher, Ihr Verteidiger hat Ihnen erklärt, welche Position ein Privatbeteiligtenvertreter in einem Verfahren einnimmt.« Ein fragender Seitenblick auf seinen Anwalt bestätigte Annas Verdacht, dass Pieler keine Ahnung davon hatte, welche Rolle sie spielte. Auch wenn das Gesetz den Rahmen für ihre Vorgehensweise absteckte, hatte sie als Vertreterin des Opfers einen weitaus größeren Spielraum für ihre Befragung und etwaige Anträge als der Staatsanwalt.

»Sie mögen Kinder, richtig?«, fragte sie und schob eine Strähne ihrer langen Haare hinters Ohr.

»Tut das nicht jeder?«, fragte Pieler zurück. Bereits während der Vernehmung durch den Staatsanwalt hatte seine Stimme ebenso bestimmt geklungen. Als Vorstandsmitglied einer Pharmafirma wusste er offenbar sehr genau, wie man Antworten gekonnt vermied.

»Ich fürchte nein«, sagte Anna und ging einen weiteren Schritt auf den Angeklagten zu. Sie hätte ihre Hand ausstrecken und ihn berühren können. Er wich nicht einen Millimeter zurück. »Zumindest scheint es sehr unterschiedliche Auffassungen zu geben, was Zuneigung bedeutet.«

»Frau Kollegin, die Verhandlung ist nicht auf Stunden anberaumt«, warf Pielers Verteidiger ein.

Anna ignorierte den tadelnden Blick des Gegenanwaltes und wandte sich wieder ihrem Gegenüber zu. »Wir haben bereits gehört, dass Sie selbst zwei Kinder haben. Wie heißen denn Ihre Beiden?«

»Aenea«, antwortete Pieler, »und Nele«.

»Eine außergewöhnliche Wahl.«

»Sollte das eine Frage sein?«

»Meine ganz private Meinung«, antwortete Anna.

»Ich fasse sie als Kompliment auf«, sagte Pieler.

»Frau Kollegin …«

Anna nickte dem Verteidiger zu. »Wir haben im bisherigen Verfahren viele Fakten, aber wenig Persönliches über Ihren Mandanten gehört«, sagte sie, »ich halte es für den Sachverhalt für durchaus wichtig, ihn ein wenig näher kennenzulernen. Sie haben ausgesagt, jeden Samstag mit Ihren Kindern auf denselben Spielplatz zu gehen, auf dem sich auch Melanie Salzer gerne aufhält. Kennen Sie das Mädchen?«

Der Angeklagte hob die Schultern. »Wissen Sie, wie viele Kinder dort jedes Wochenende herumtoben? Ich achte nicht auf die anderen. Meine Aufmerksamkeit gilt ausschließlich Aenea und Nele.«

»Wie verbringen Sie denn so die Nachmittage?«

»Die beiden spielen Indianer. Oder Verstecken. Manchmal spielen wir zusammen Fußball.«

»Wie sie selbst ausgesagt hat, ist Fußball Melanies Lieblingsbeschäftigung. Ist Ihnen das Mädchen mit den dunklen Locken nie aufgefallen?«

»Ich könnte nicht einmal attraktive Mütter beschreiben, die wahrscheinlich oft genug neben mir auf den ubequemen Holzbänken gesessen sind«, antwortete Pieler und lächelte entschuldigend.

»Baden Sie gerne mit Ihren Kindern?«

»Frau Kollegin, ich wüsste nicht, wohin diese Fragen führen sollten«, wendete der Verteidiger ein.

»Ich komme bereits zur Sache«, sagte Anna, ohne Pielers Anwalt zu beachten.

»Das Baden übernimmt meine Frau«, antwortete Pieler.

Anna nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass auch der Richter sein Zögern bemerkt hatte. Sie konnte die Blicke in ihrem Rücken spüren, als sie zu ihrem Platz ging, um ein unscheinbares Blatt zwischen ihren Unterlagen hervorzuziehen. »Ich beantrage, ein neues Beweisstück zu den Akten zu nehmen. Eine Kinderzeichnung, gemalt von Melanie Salzer, die der Angeklagte nicht kennen will. Melanie hat den Angeklagten gut getroffen. Er sitzt in einer Badewanne. Nackt. Wir können ihn gerne bitten, sein Hemd zu öffnen, um uns davon zu überzeugen, wie authentisch die Darstellung ist.«

Pieler griff sich instinktiv an die Seite, knapp oberhalb des Ledergürtels, der aus der geöffneten Anzugjacke hervorlugte. Dort musste sich das auffällige Muttermal befinden, das Melanie beschrieben hatte.

Der gegnerische Anwalt drückte seinen Mandanten auf den Stuhl und redete leise auf ihn ein. Als er Anna sein Gesicht zuwandte, glaubte sie, Bewunderung zu erkennen. Auch er wusste, dass er sich zu früh in Sicherheit gewiegt hatte. »Ich spreche mich gegen die Zulassung dieses Beweismittels aus«, sagte er, »die Zeichnung einer Achtjährigen beweist nichts.«

»Das wird ein Sachverständiger beurteilen«, sagte Anna, durchquerte den Saal und legte das Blatt auf den Richtertisch, bevor sie auf ihren Platz zurückkehrte.

»Warum haben Sie das Beweisstück nicht früher vorgelegt?«, fragte der Richter, während er die Zeichnung betrachtete.

»Melanie Salzer hat dieses Bild gestern bei ihrer Therapeutin gemalt. Ihre Mutter hat es mir vor der Verhandlung übergeben«, sagte Anna, »ich bitte die Gegenseite um Entschuldigung, dass sie sich nicht umfassend auf dieses Vorbringen vorbereiten konnte. Bis zur nächsten Tagsatzung bleibt dafür sicherlich ausreichend Zeit.« Sie ordnete ihre Unterlagen und lehnte sich zurück.

Pieler hatte seine Hände zu Fäusten geballt und starrte sie an. Das Blau seiner Augen war um vieles dunkler geworden. Die Pharmaindustrie muss wohl in nächster Zeit auf einen ihrer Mitarbeiter verzichten, dachte Anna, blendete die Stimme des Richters aus, der das Protokoll diktierte, und schaute in den Zuschauerraum, um das Lächeln zu verbergen, das sie nicht länger zurückhalten wollte.

Zu Annas Verwunderung war nicht ein leerer Saal stummer Zeuge ihres Gefühlsausbruchs. Eine junge Frau im Wintermantel saß in der letzten Reihe und schaute in Annas Richtung. Ihre blonden Haare waren zu einem schlichten Knoten aufgesteckt, eine Sonnenbrille bedeckte ihre Augen. Anna hätte erwartet, dass ihre Mitwisserin das Lächeln erwiderte, stattdessen drehte sich die Unbekannte zur Richterbank und holte Anna in die Welt der Gewalt, Verletzung und Demütigung zurück, die sie für einen kurzen Augenblick hinter sich geglaubt hatte. Anna ahnte das blaue Auge, das die Frau zu überdecken suchte. Wahrscheinlich hatte sie im Krankenhaus von einem Unfall erzählt. Vielleicht kannte die beste Freundin die wahre Geschichte. Wenn sie den Mut fand, würde sie sich irgendwann der Polizei oder einem Anwalt anvertrauen.

Jemand räusperte sich. Anna wendete ihren Kopf. Der Richter sah sie tadelnd an. »Ich habe keine weiteren Fragen«, sagte Anna und verstaute den Akt in ihrer Tasche.

»Der Prozess wird vertagt, um das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen. Der Termin für die nächste Verhandlung ergeht schriftlich«, sagte der Richter und verließ mit der Schriftführerin den Saal.

Als Anna ihren Mantel überzog, nickte sie der jungen Frau im Zuschauerraum zu. Die Sonnenbrille verhinderte, das Senken ihres Kopfes als Zeichen der Zustimmung oder Scham zu deuten.

»Gelungene Prozessführung«, sagte der Gegenanwalt.

»Routine«, antwortete Anna.

Der Verteidiger drückte Pieler eine Hand auf die Schulter, um ihn am Aufstehen zu hindern. »Sie hatten die Zeichnung schon die ganze Zeit über vorliegen, richtig?«

»Würde es an der Schuld Ihres Mandanten etwas ändern, wenn es so wäre?«

»Wer sagt denn, dass er schuldig ist?«

»Wir beide müssen nicht darüber entscheiden.«

»Das Kind hat die Geschichte erfunden.«

»Herr Kollege, Sie verschwenden Ihre Kräfte. Sie müssen den Richter überzeugen, nicht mich«, sagte Anna, »kümmern Sie sich um Ihren Mandanten und verhindern Sie, dass er weitere Dummheiten begeht.«

Pieler stand auf, schaute seinen Verteidiger fragend an und wischte dessen Hand wie ein lästiges Insekt von seiner Schulter. »Haben Sie sich mit ihr verbündet?«, fragte er erstaunlich ruhig und kontrolliert. Hätte Anna dem Angeklagten gegenüber nicht dermaßen viel Verachtung empfunden, hätte sie seiner Selbstbeherrschung Respekt gezollt.

»Einen schönen Tag noch, Herr Kollege«, sagte Anna und ging zum Ausgang. Als sie die Tür hinter sich schloss, reduzierte sich die mittlerweile laut geführte Diskussion zwischen Pieler und seinem Anwalt auf ein unverständliches Gemurmel. Vor den Fahrstühlen hatte sich eine lange Schlange gebildet. Anna passierte die Wartenden und eilte die Treppen hinunter. Da ihr niemand entgegenkam, ballte sie triumphierend die Hand zur Faust.

2

Als Anna das zwölfstöckige Gebäude betrat, in dem sich die Kanzlei befand, für die sie seit gut zehn Jahren tätig war, schlug ihr warme Luft entgegen. Die Heizungen liefen auf Hochtouren, um die herbstliche Kühle hinter die hundert Jahre alten Mauern zu verbannen. Ein Mosaik aus Hinweistafeln wies den Weg zu den Büros. Wer mit seinem Firmensitz ein Zeichen setzen wollte, residierte in diesem oder einem der angrenzenden Gebäude entlang der Ringstraße. Anna schlüpfte aus dem Mantel und wartete auf den Fahrstuhl. Als sich die Türen öffneten, strömten Menschen im Einheitsdress von Anzügen und eng sitzenden Kostümen ins Freie, um den Wartenden Platz zu machen. Einmal mehr stach Anna in ihrer beigen Hose und dem dunkelgrünen Pullover aus der Masse heraus. Sie verhinderte mit einem geschickten Ausweichmanöver den Zusammenstoß mit einem jungen Mann, der unvermutet vor ihr stehen geblieben war. Anna schloss sich den anderen Fahrgästen an, die in den Aufzug drängten. Zeit war Geld. Verrechnet in Stundensätzen der Rechtsanwälte, Behandlungskosten der Ärzte oder Honorarnoten der Steuerberater.

In der Kabine war es unangenehm warm und roch nach übertrieben aufgetragenem Parfum. Als Anna sich umdrehte, erhaschte sie zwischen den sich schließenden Fahrstuhltüren einen Blick auf den unbekannten Bewunderer. Er balancierte auf Zehenspitzen, um sie zwischen den anderen Fahrgästen auszumachen. Als er sie erkannte, lächelte er, doch Anna ignorierte ihn, lehnte sich an die Metallwand des Fahrstuhles und betrachtete ihr Spiegelbild. Der kühle Novemberwind hatte ihre Wangen gerötet und ihren Kopf befreit. Die Verhandlung war in weite Ferne gerückt. Geblieben war das dumpfe Gefühl, alles erreicht und doch zu wenig getan zu haben.

Als eine blecherne Stimme die Ankunft im sechsten Stock verkündete, deutete Anna zur Tür. Ein grau melierter Mittvierziger drückte sich an die Fahrstuhlwand, um Platz zu machen. Anna nickte mechanisch, doch ihre Gedanken kreisten bereits um das nächste Opfer, dessen Geschichte sie bald vor Gericht in Worte fassen würde. Ein neuer Akt, ein neuer Prozess. Neuerliche Gewalt, die allgegenwärtig war und wie ein schwarzes Loch Materie anzog und unerbittlich verschlang.

Während Anna den Wartebereich der Kanzlei durchquerte, zählte sie aus Gewohnheit die siebzehn Schritte bis zur Glastür, die das Foyer von den Arbeitsplätzen trennte. An ihrem ersten Arbeitstag hatte sie jeden einzelnen davon staunend zurückgelegt. Die lederne Sitzgarnitur strahlte in Kombination mit dem darüber hängenden Miró Eleganz und Macht aus. Als die Wolkendecke aufbrach, färbte die Sonne die Marmorfließen gelb, durchzogen von den Schatten der deckenhohen Fenstereinfassungen. Anna lauschte der vertrauten Klangwolke aus läutenden Telefonen und surrenden Kopiergeräten, die gedämpft durch die Glasscheibe drang. Ihre Welt. Trotzdem hätte sie heute gerne umgedreht, um auf einer einsamen Parkbank die letzten Sonnenstunden zu genießen. Um umhertollende Kinder zu beobachten und den Krähen zuzuhören, die mit ihren Schreien vom Winter erzählten, der sich bereits mit Nebel, Frost und braunen Blättern auf den Gehwegen ankündigte. Um bei einem Spaziergang die vorbeiziehenden Wolken zu beobachten und ihren Träumen nachzuhängen. Um in einem kleinen Café einen Cappuccino zu trinken und eine Zeitschrift durchzublättern. Doch als sie die Tür öffnete, konnte sie nicht mehr tun, als ihre Arme um den Stapel Akten zu schließen, den ihr eine der Schreibkräfte an die Hüfte drückte. In ihrer Welt war kein Platz für sonnenbeschienene Parkbänke.

Lukas erwartete sie lächelnd auf ihrem Schreibtischsessel. »Man darf gratulieren?«, fragte er.

»Was machst du in meinem Büro?«, entgegnete Anna frostig.

»Du wirst deine Verurteilung bekommen. Ist es nicht das, was zählt?«, fragte er, »du solltest stolz auf dich sein. Ich würde mir an deiner Stelle anerkennend auf die Schulter klopfen.«

Nun musste auch Anna lächeln. »Das hat sich aber schnell herumgesprochen«, sagte sie, ließ den Papierberg auf den Parkettboden gleiten und las die Notizzettel ihrer Sekretärin. »Wie hast du davon erfahren?«

»In Wien funktionieren Buschtrommeln ausgezeichnet.«

»Kann es sein, dass ein wenig persönliches Interesse dahintersteckt?« In ihrem Kopf reihte sie die Nachrichten bereits nach ihrer Dringlichkeit. Es würde Stunden dauern, sie abzuarbeiten. Doch sie war überzeugt, dass jede einzelne Minute gut investiert war und irgendwann belohnt wurde.

»Wir sollten feiern. Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen?«

»Lukas, wir kennen uns seit zwei Wochen. Mein Schreibtisch geht über mit Akten.«

»Ich habe andere Frauen schon nach zwei Stunden zu einem Abendessen überreden können. Die Akten werden auch morgen noch auf deinem Schreibtisch liegen.«

»Lass uns in fünf Minuten anstoßen, ich möchte mir einen Überblick verschaffen, was mich in den nächsten Stunden erwartet.«

»Das ist immerhin ein Anfang. Ich bin gleich zurück.«

Anna wartete mit zwei Gläsern, von denen sie eines Lukas reichte. »Auf die Gerechtigkeit«, sagte sie und nippte an der Flüssigkeit.

Lukas schaute angewidert auf sein Glas. »Was ist das bitte? Moët sicher nicht.«

»Champagner wäre reine Verschwendung. Du trinkst Vitamin C-Brause. Hilft beim Denken und wirkt gegen Erkältungen«, erwiderte Anna. »Soll ich dir noch eine Tablette auflösen?«

»Ich hätte es wissen müssen«, sagte Lukas und schüttelte den Kopf, »du machst dir nichts aus deinem Erfolg.«

»Würdest du das als Erfolg bezeichnen? Ein Mann wird wahrscheinlich für das verurteilt, was er einem kleinen Mädchen angetan hat, das nicht einmal wusste, was mit ihr geschieht. Wenn mein Auftreten heute überzeugend war und der Sachverständige ein Gutachten erstellt, das meine Behauptungen stützt, logiert er auf Staatskosten eine Zeit lang in einem Einzelzimmer, isst ausgewogene Mahlzeiten, liest die Bücher, die er immer schon lesen wollte und trainiert intensiver, als er es die vergangenen Jahre über konnte, weil ihn seine Geschäftstermine vom regelmäßigen Besuch eines Fitnessstudios abgehalten haben. Ihr Leben ist im schlimmsten Fall zerstört. Sie kann vielleicht nie wieder Vertrauen zu einem Mann aufbauen und durchlebt in ihren Albträumen jede Nacht aufs Neue, was mit ihr passiert ist. Ich zweifle, ob Erfolg das passende Wort ist.«

Lukas zögerte, bevor er nach einer Pause fragte: »Du bist intelligent und zielstrebig. Warum hast du keine andere Richtung gewählt? Hättest du dich auf Wertpapierrecht spezialisiert, wärst du bereits eine reiche Frau. Du könntest den ganzen Laden hier übernehmen, wenn die dich auf die Börse loslassen.«

»Vielleicht bedeutet mir Geld nicht so viel wie dir, lieber Wertpapierspezialist. Was sollte ich deiner Meinung nach mit einem gut gefüllten Konto tun?«

»Du könntest einen alten Bauernhof kaufen und dir ein Paradies fern von der Großstadt schaffen, einen netten Partner suchen, eine Babypause einlegen und deine Kinder in der Natur aufwachsen sehen. Stattdessen kämpfst du jeden Tag aufs Neue für Frauen, die du in der Notaufnahme des Krankenhauses aufliest, für Kinder, deren Leben durch Gewalt zerstört wurde, für Menschen, die kaum dein Honorar bezahlen können. Du musstest lang auf deine Partnerschaft warten, weil du der Kanzlei nicht ausreichend Gewinn einbringst. Du hättest mehr Anerkennung verdient.«

»Hast du Erkundigungen über mich eingeholt?«, fragte Anna.

»Die Partner nehmen sich diesbezüglich kein Blatt vor den Mund.«

»Ich mache mir nichts daraus, was andere über mich sagen. Außerdem profitieren beide Seiten davon, dass mein Name auf dem Briefpapier der Kanzlei als Partnerin aufscheint. Für mich haben sich dadurch Türen geöffnet, die mir als Einzelkämpferin verschlossen blieben. Die Kanzlei schätzt das regelmäßig geäußerte Lob der Presse, dass sich eine Partnerin einer Wiener Nobelkanzlei für Mandanten einsetzt, die an anderen Türen abgewiesen wurden. Falsch verstandene Eitelkeit würde jedem von uns das Erreichen seiner Ziele erschweren.«

Lukas setzte sich auf die Schreibtischkante. »Klingt plausibel. Nichtsdestotrotz würde ich gerne erfahren, warum du kein anderes Spezialgebiet gewählt hast.«

Anna stellte ihr Glas ab, drehte ihm den Rücken zu, stützte ihre Hände auf das Fensterbrett und starrte auf die Silhouette Wiens, die in oranges Herbstlicht getaucht vor ihr lag. Die Kastanienbäume zu ihren Füßen hatten die Blätter verloren. Anna schloss die Augen und blendete Lukas Anwesenheit ebenso wie die Geräusche aus. Sie glaubte, Pilze und Himbeeren zu riechen. Reifen Weizen zu sehen, der sich im Wind wiegte. Die Sonne auf ihrer Haut zu spüren. Das Rufen der anderen Kinder zu hören. Über eine Wiese zu laufen und einen Drachen steigen zu lassen. Warme Kekse aus dem Ofen zu stehlen. Wieder ein kleines Mädchen zu sein. Sie atmete tief ein, drehte sich um und verschränkte die Arme, als könnte sie auf diese Weise Abstand gewinnen. »Einmal Anwalt, immer Anwalt, oder? Ergreifen wir nicht alle diesen Beruf, um Antworten zu bekommen?«

»Was ist passiert?«, fragte Lukas.

»Du würdest früher oder später doch wieder fragen.«

»Das würde ich wohl.«

»Meine Cousine wurde als Kind schwer verletzt. Die Familie hat geschwiegen. Niemand hat davon erfahren. Der Täter musste sich nie vor Gericht verantworten.«

Lukas schwieg, Anna konnte ihm nicht in die Augen sehen, als sie weitersprach. »Wir haben den Sommer am Land verbracht. Ferien bei der Großmutter, fern von der Stadt. Eine Horde Kinder, sich selbst überlassen. Dorfbewohner, Feriengäste, wir haben jeden Tag aufs Neue die Umgebung erkundet. Die Tage waren endlos. Wir waren frei. Niemand hat gefragt, was wir taten, wir mussten nur zum Abendessen erscheinen. Unter den Kindern gab es strenge Hierarchien. Es gab die, die bestimmten, und die, die geduldet wurden. Die Burschen machten die Regeln. Wir Mädchen mussten Mutproben bestehen. Sie haben meine Cousine in eine Höhle gesperrt und in der Dunkelheit zurückgelassen. Nach Stunden ist einer von ihnen wieder gekommen und hat sie durch die Gänge gejagt. Sie ist auf der Suche nach einem Versteck in einen Abgrund gestürzt. Ich fürchte, der Täter hat sie auch vergewaltigt. Nur der Dorfarzt durfte zu ihr, nachdem der Suchtrupp sie gefunden hatte. Ich habe nie erfahren, was genau geschehen ist.« Als Lukas einen Schritt auf Anna zuging, wandte sie sich wieder dem Fenster zu. Ein Spatz ließ sich auf dem Fensterbrett nieder. Als er die Gestalt hinter der Scheibe entdeckte, flog er auf. »Ich war damals noch sehr klein. Ich habe nicht begriffen, was mit ihr passiert ist. Nur, dass es etwas ganz Schreckliches sein musste. Mein Vater hat verboten, Fragen zu stellen. Die Familie hat nie wieder darüber gesprochen. Doch es hat alles zerstört. Nichts war danach so, wie es einmal war.«

»Konnte dein Vater eine solche Entscheidung alleine treffen?«

»Mama war zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre tot«, sagte Anna. Auch nach so vielen Jahren veränderte sich ihre Stimme, wenn sie über ihre Mutter sprach, als wäre sie wieder vier Jahre alt. »Brustkrebs. Sie hat viel zu spät einen Arzt aufgesucht.«

»Das tut mir leid«, sagte Lukas.

»Das muss es nicht«, antwortete Anna, »es ist lange her. Irgendwann verblasst der Schmerz. Großmutter hat sich um uns Kinder gekümmert. Wir haben sie geliebt. Sie hat meiner Cousine geholfen, darüber hinwegzukommen.«

»Hat deine Cousine auch einen Namen?«

»Luna.«

»Luna?«

»Das muss dir reichen. Ich muss sie schützen. Auch ich gehöre zur Familie«, sagte Anna.

»Danke, dass du es mir erzählt hast«, sagte Lukas.

Anna nickte ihm zu und griff nach dem obersten Akt auf ihrem Schreibtisch. »Wir finden einen Termin für ein gemeinsames Abendessen.«

Es klopfte an ihrer Tür.

»Wie wäre es mit morgen?«, fragte Lukas.

Anna lächelte. »Bist du immer so hartnäckig?«

»Bist du das nicht auch?«

Ein dunkler Pagenkopf tauchte im Türrahmen auf. Susanne war alleinerziehende Mutter, chaotisch, vergesslich, stets fröhlich und zutiefst loyal. Aus diesen Gründen hatte Anna ihre Sekretärin vor zehn Jahren eingestellt. »Deine neue Klientin …«, sagte sie und hob entschuldigend die Hand, als sie Lukas bemerkte.

»Lukas wollte gerade gehen«, sagte Anna.

Susanne wartete ab, bis er sich außer Hörweite befand. »Deine neue Klientin ist da«, sagte sie.

»Habe ich einen Termin?«, fragte Anna.

»Sie sagt, du hättest versprochen, sie einzuschieben«, antwortete Susanne.

»Schick sie rein«, sagte Anna.

Verwundert betrachtete Anna die kobaltblaue Handtasche mit aufgedruckten Sonnen, die ihre Besucherin an sich presste. Dann fiel ihr Blick auf die Schwellung um ihr Auge, die im Licht der Neonlampen größer wirkte, als Anna es aus der Entfernung vermutet hatte. Gekonnt verbarg sie ihre Überraschung, die Frau aus dem Gerichtssaal so schnell wiederzusehen.

»Willkommen«, sagte Anna.

JULI 1988

Luna sitzt auf der Schaukel und beobachtet die Erwachsenen. Heute ist Großmutters Geburtstag, das ganze Dorf ist eingeladen. Ihre Freundinnen decken die Tische, hängen Lampions in die Bäume und schmücken die Tanzfläche mit bunten Bändern. Der Garten ist ein Farbenmeer aus blühenden Pflanzen und bunten Papiersternen, die sie in den vergangenen Tagen gemeinsam gebastelt haben. Luna stößt sich ab und gibt mit ihren Beinen das Tempo der Schaukel vor. Wenn sie am höchsten Punkt für einen Moment stehen bleibt, fühlt sie sich wie ein Vogel, der auf alles herabsieht. Das Seil knarrt auf dem Ast, so hoch schwingt sie sich zum Himmel. Warum kann es nicht jede Woche so große Feste geben, Teller voller Leckereien, Musik und Tanz, lachende Gesichter und eine Nacht, die nie endet? Doch vielleicht ist es gut so, so kann sie sich ein weiteres Jahr darauf freuen. Als Luna glaubt, nie mehr den Boden zu erreichen, sieht sie Onkel Hans kommen. Er hat ein Päckchen in der Hand. Immer sucht er ganz besondere Dinge aus. Luna schaukelt weiter, bis der Himmel ganz nah scheint und ihr Magen sich hebt. Dann ist er da und lächelt sie an, als wäre auch er sieben Jahre alt und könnte sich nichts Schöneres vorstellen, als mit ihr zu plaudern.

»Luna.« Seine rechte Hand verbirgt er hinter seinem Rücken.

»Onkel Hans. Was hast du mir mitgebracht?«

»Hast du Zauberaugen und kannst durch mich hindurch sehen?«

»Ich kann nicht zaubern, Onkel Hans. Unser Dorfarzt Doktor Forster kann es. Er kann Menschen gesund zaubern.«

»Jede Frau kann zaubern. Du bist nur nicht alt genug, das zu verstehen.«

»Ich bin schon sieben.«

Onkel Hans reißt erstaunt die Augen auf. »Das wusste ich nicht«, sagt er, »ich dachte, du wärst fünf.«

»Du bist schon fast so vergesslich wie Großmama«, kichert Luna.

»Ist man mit sieben nicht zu alt für ein Geschenk?«

»Nicht einmal Großmama ist zu alt für Geschenke«, sagt Luna, »und sie wird heute zweiundsiebzig.«

Endlich zieht er das Päckchen hinter seinem Rücken hervor, es ist viel größer als die Jahre zuvor.

»Hast du mir eine Krone mitgebracht?«

»Mach es auf.«

»Ich will schaukeln.«

»Vielleicht ist es tatsächlich eine Krone?«

»Kronen sind doch nur für kleine Mädchen, Onkel Hans.«

»Vielleicht ist es ein Kätzchen?«

»Das könnte ich doch hören.«

»Bist du nicht neugierig?«

Luna liebt es, Onkel Hans an der Nase herumzuführen, sie weiß, er kann es kaum erwarten, dass sie sein Geschenk in Händen hält. Doch sie will sich noch ein kleines bisschen länger freuen und fliegt noch zwei Mal, bevor sie von der Schaukel springt und vor ihm steht. Der große Mann mit den blonden Haaren lächelt und will sie umarmen, doch Luna mag es nicht, wenn er sie allzu fest an sich presst. So streckt sie ihm ihre Hand entgegen und für einen Augenblick berühren sich ihre Finger. Luna kann spüren, wie warm die seinen sind. Als er die Hand ausstreckt, um ihre Wange zu berühren, wendet Luna sich ab und reißt das Papier auf.

»Wie schön!«, ruft Luna, während sie den roten Stoff vor die Sonne hält. Sie glaubt, der Rock wäre von Flammen durchzogen, so glüht er. Er ist so leicht, dass er im Wind flattert. Kleine aufgenähte Glasperlen blitzen auf und reflektieren das Licht. Dazu hat Onkel Hans eine passende Spange für ihre langen Haare gekauft. Jetzt hätte sie Onkel Hans am liebsten doch umarmt.

»Du wirst beim Fest die Schönste sein«, sagt Onkel Hans.

»Rot ist meine Lieblingsfarbe«, sagt Luna.

»Das hat mir ein kleines Vögelchen verraten.«

»Heißt das Vögelchen Großmutter?«

Onkel Hans lacht. »Du bist ein ziemlich schlaues Mädchen.«

»Darf ich ihn gleich anziehen?«

»Noch ist der Rock unser Geheimnis. Warte bis zum Fest.«

»Ich würde ihn so gerne anprobieren.«

»Bekommst du immer, was du willst?«

»Meistens«, antwortete Luna, »Oma sagt, ich bin hartnäckig.«

»Da muss ich deiner Großmutter recht geben«, sagt Onkel Hans und zieht einen Fotoapparat aus der Jackentasche.

Luna hört das Klicken, als er auf den Auslöser drückt. Sie dreht sich in dem Rock, die Arme zum Himmel gestreckt.

»Kann ich gut tanzen?«, fragt Luna.

»Wie eine Ballerina«, antwortet Onkel Hans.

»Tanzt eine Ballerina nicht auf einer Bühne?«

»Eine Ballerina tanzt vor Publikum.«

»Bist du mein Publikum?«

»Heute Abend werden alle Gäste dein Publikum sein«, antwortet Onkel Hans, dreht sich um und kehrt zum Haus zurück. Rasch schlüpft Luna wieder in die Hosen und setzt sich auf die Schaukel. Ein weiterer Tisch vor Großmutters Haus ist gedeckt. Noch mehr Lampions hängen in den Bäumen. Nun dauert es nicht mehr lange, bis die Gäste kommen.

3

Anna stand auf und umrundete den Schreibtisch. »Anna Walter«, sagte sie.

»Julia Hofstetter«, antwortete ihre Besucherin und presste ihre Tasche noch fester an sich. Ihr Händedruck war schwach und leblos.

»Etwas zu trinken?«, fragte Anna.

»Wasser, bitte«, antwortete Julia und schaute sich in Annas Büro um, bevor sie zwei Schritte zu der gerahmten Urkunde neben dem Türrahmen machte. »Sie sind so jung«, sagte sie, während sie Annas Zulassungsurkunde zur Rechtsanwältin las, »und trotzdem so selbstsicher.«

»Selbstsicherheit ist eine der Grundanforderungen meines Berufes. Wie könnte ich sonst meine Gegner beeindrucken?«

»Haben sie diese Bücher alle gelesen?«, fragte Julia und fuhr mit der Fingerspitze über die gelben Buchrücken, die in gerader Reihe in Augenhöhe im Regal neben Annas Schreibtisch standen.

»Kodizes enthalten Gesetzestexte«, antwortete Anna, »ich schlage in ihnen nach.«

Julia stieß gegen den Aktenstapel auf dem Parkettboden. Lose Blätter glitten aus den Deckeln. »Das wollte ich nicht«, stammelte sie, kniete nieder und schob wahllos Papiere zusammen.

»Kommen Sie«, sagte Anna, umfasste Julias Oberarm und deutete auf die Couch, die ihrem Schreibtisch gegenüberstand. Anna hatte das Grün bewusst gewählt. Die Farbe der Hoffnung. Um denen, die sie längst verloren hatten, ein wenig davon zurückzugeben. Julia nickte und schlüpfte aus ihrem Mantel. Sie trug ein Wollkleid und Stiefel, die einmal beige gewesen sein mussten. Sie stellte ihre Tasche auf den Boden, ließ sich in den weichen Stoff fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Anna füllte zwei Gläser mit Wasser.

»Ich wollte Sie persönlich erleben«, sagte Julia, während sie auf ihre Handflächen starrte, »ich musste wissen, ob Sie die Richtige sind.«

»Wenn Sie mir Ihre Geschichte erzählt haben, werde ich ebenso beurteilen, ob ich die Richtige bin«, erwiderte Anna und setzte sich.

Julia schaute erschrocken auf. »Sie müssen meinen Fall übernehmen.«

»Die Entscheidung, ob ich Ihr Mandat übernehme, liegt bei mir«, sagte Anna ruhig, aber bestimmt.

Julia nippte an dem Wasser. Ihre Hand zitterte, als sie das Glas abstellte. »So habe ich das nicht gemeint. Natürlich entscheiden Sie. Es tut mir leid.«

»Ich gehe davon aus, dass Sie nicht hierhergekommen sind, um sich zu entschuldigen«, sagte Anna, »ich wollte nur unsere Rollen klar definieren, um Missverständnisse zu vermeiden.«

Julia nickte. »Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, ob Sie einen Fall übernehmen?«

»Ich übernehme nur Fälle, bei denen ich eine Chance sehe, für meine Mandanten das Bestmögliche zu erreichen.«

»Was ist das Bestmögliche?«

»Das ist von Fall zu Fall verschieden.«

»Wer erfährt davon, wenn Sie eine Vertretung übernehmen?«, fragte Julia.

»Das hängt von der notwendigen Vorgehensweise ab«, antwortete Anna, »vorerst wird nichts von dem, was Sie mir erzählen, diesen Raum verlassen. Jedes Wort unterliegt dem Anwaltsgeheimnis. Er kann Ihnen hier keinen Schaden zufügen.«

Julia nickte und schaute Anna direkt an. »Glauben Sie, dass es Menschen gibt, die nur nehmen und nicht geben können?«

»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es.«