Gefangen zwischen den Welten - Sara Oliver - E-Book

Gefangen zwischen den Welten E-Book

Sara Oliver

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Beschreibung

EINE REISE IN EINE ANDERE WELT. EINE ENTSCHEIDUNG, DIE DEIN SCHICKSAL VERÄNDERT UND EINE LIEBE ÜBER ALLE GRENZEN HINWEG. "Bevor sie reagieren konnte, wurde die Tür aufgerissen. Erschrocken fuhr Ve hoch. Und stieß einen entsetzten Aufschrei aus, genau wie die Person, die ihr plötzlich gegenüberstand. Es war sie selbst." Ve und Nicky gleichen sich bis aufs Haar. Doch Ve und Nicky sind keine Zwillingsschwestern. Zwischen ihnen liegen sprichwörtlich Welten! Eine mysteriöse Apparatur hat Ve in ein Paralleluniversum katapultiert – mitten hinein in das Leben ihrer Doppelgängerin. Um in ihre eigene Welt zurückkehren zu können, muss Ve sich mit Nicky verbünden, mutiger sein, als sie es jemals zu träumen wagte, und eine große Liebe opfern … Wer hat sich nicht schon einmal gefragt, wer wäre ich in einem anderen Leben? Die Antwort darauf findet Ve als sie aus ihrer Welt herausgerissen wird und plötzlich in einer Parallelwelt landet. Dort trifft sie nicht nur ihre Doppelgängerin, sondern auch den Jungen ihrer Träume. Sie muss sich entscheiden, für ihr altes Leben oder für ihre große Liebe. Gefangen zwischen den Welten ist der Auftakt der mitreißenden und romantischen Welten-Trilogie von Sarah Oliver. Du kannst von Mystery nicht genug bekommen? Dann könnten dir diese Titel aus dem Hause Ravensburger auch gefallen: - DER FLUCH VON CLIFFMORE von Laura Foster - THE INNOCENTS von Lili Peloquin - MYSTIC CITY von Theo Lawrence

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Seitenzahl: 368

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2016Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2016 Ravensburger Verlag GmbHText © Sara OliverVermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, MünchenUmschlaggestaltung: Geviert, Christian OttoVerwendete Motive von © Skreidzeleu/Shutterstock, © Maria Sbytova/Shutterstock, © Stephen Cullum/Shutterstock und © Raffaela SchütterleInnenlayout: Ulrike SchneiderSkizze auf S. 80 © Raffaela SchütterleAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47776-0www.ravensburger.de

Für meine Doppelgängerin Ruth

Flughafen München, Sonntagabend, 17 Uhr 15. Ve hatte es geschafft. Sie war tatsächlich angekommen. Vor ziemlich genau vierundzwanzig Stunden war sie in Los Angeles ins Flugzeug gestiegen. Ein Direktflug von L.A. nach München dauerte keine elf Stunden – aber Ves Flug hatte zwei Zwischenstopps in New York und in Moskau. INMOSKAU!

»Das ist ein Witz, oder?«, hatte Ve gefragt, als ihre Mutter ihr das Flugticket gegeben hatte.

»Tut mir leid, Mäuschen, es war ein bisschen kurzfristig. Aber der Rückflug geht über Amsterdam.«

Ve passierte die Ausweiskontrolle und machte einen großen Schritt auf das Rollband, das die Passagiere zur Gepäckabfertigung brachte. Ein bisschen kurzfristig. Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Vor einer knappen Woche hatte ihre Mutter beschlossen, dass sie dringend nach Kuala Lumpur fliegen musste, um dort eine Firmenfusion vorzubereiten oder irgendeinen anderen Businessdeal einzufädeln. Und weil Ve Sommerferien hatte, sollte sie für diese Zeit nach Deutschland zu ihrem Vater. »Das ist doch ideal. Hier in L.A. kennst du niemanden. Und außerdem hast du deinen Vater schon ewig nicht mehr gesehen.«

Das Rollband war plötzlich zu Ende, Ve wäre fast gestolpert. Sie war total übermüdet. Während des Flugs hatte sie so gut wie überhaupt nicht geschlafen. Der Kerl neben ihr hatte nach Knoblauch und Schweiß gestunken und zu allem Überfluss auch noch laut geschnarcht.

Ve gähnte. Sie hätte sich gerne die Zähne geputzt. Und die Haare gewaschen. Vor ein paar Tagen hatte sie sie schneiden lassen. Die coole Friseurin in L.A. hatte sie zu einem stylishen, schulterlangen Bob überredet, der jetzt unter Garantie nicht mehr stylish aussah, sondern total daneben. Eine Dusche und dann ins Bett – das wär’s, dachte Ve. Aber sie war noch lange nicht am Ziel. Ihr Vater wohnte schließlich nicht mehr in der Stadt, sondern in irgendeinem winzigen Kaff weit oben in den Bergen.

Ve kannte das neue Haus ihres Vaters noch nicht und eigentlich wollte sie es auch nicht kennenlernen. Sie erinnerte sich mit Grausen an die vollgestopfte, stickige Münchener Dachgeschosswohnung, in der sie im letzten Jahr zwei endlose Ferienwochen verbracht hatte. Tagsüber hatte sie in Cafés abgehangen oder war shoppen gegangen, während ihr Vater über seinen Formeln gebrütet hatte. Nach dem Abendessen hatten sie den Tisch zur Seite geschoben, so dass sie das Gästesofa ausklappen konnten. Ve war jedes Mal mit dem Gefühl der Erleichterung eingeschlafen, dass wieder ein Tag überstanden war.

In dem Bergkaff, in dem ihr Vater jetzt lebte, war es bestimmt noch langweiliger. Mit etwas Glück hatte sie wenigstens ein Zimmer für sich allein.

Ve gähnte wieder. Hoffentlich wartete ihr Vater hinter der Zollabfertigung auf sie. Im letzten Jahr war er nämlich zwei Stunden zu spät gekommen, weil er sich die Ankunftszeit falsch notiert hatte.

Sie folgte dem Strom der Passagiere in eine große Halle. Wie riesige Zungen streckten sich die Gepäckbänder in den Raum. Auf einem der Displays blinkte ihre Flugnummer, darunter glitten bereits die ersten Koffer heran.

Die Passagiere stürzten sich auf das Band, fuhren dabei die Ellenbogen aus und schubsten und drängelten, als ginge es um ihr Leben. Ve beschloss, erst mal abzuwarten, bis sich das Gedränge aufgelöst hatte.

Aber bevor sie zurücktreten konnte, versetzte ihr jemand einen Stoß in den Rücken. Sie vermied in letzter Sekunde einen Zusammenprall mit ihrem Vordermann, stolperte zur Seite und knickte mit dem Fuß um. Ein stechender Schmerz jagte durch ihren linken Knöchel. »Fuck!« Auf dem rechten Fuß hüpfend drehte sie sich um und sah dem Typ, der sie angerempelt hatte, dabei kurz in die Augen.

Er war nicht viel älter als sie, siebzehn oder achtzehn. Und er sah ziemlich gut aus. Das Gesicht war markant geschnitten und braun gebrannt, die Haare kurz und blond. Aber das Auffälligste waren seine Augen: Er hatte eine strahlend blaue Iris, die von einem grünen Ring umgeben war. Der Typ kam Ve bekannt vor, aber die Erinnerung passte irgendwie nicht zu dem Schmerz in ihrem Knöchel. Weil es eine angenehme Erinnerung war. Wo hatte sie den Jungen schon mal gesehen? Vorhin im Flugzeug? Oder in L.A.?

Jetzt wandte sich der Typ von ihr ab und dem Gepäckband zu.

»Hey, you hurt me!«, rief Ve.

»Was?« Er drehte sich nicht mal mehr um.

»Du hast mich …« Gestoßen, wollte sie hinzufügen, aber nun bemerkte der Junge eine Lücke im Gedränge vor sich. Er ließ Ve einfach stehen und schlängelte sich durch die Menge nach vorn.

»Idiot!«, murmelte Ve. Warum kam er ihr so vertraut vor? Vielleicht spielte ihr übermüdetes Hirn ihr ja nur einen Streich und sie kannte ihn gar nicht. Obwohl er nun wirklich kein Allerweltsgesicht hatte.

Ihr dunkelgrüner Schalenkoffer war das letzte Gepäckstück, das seine Runden auf dem Band drehte. Als sie ihn herunterhievte, fuhr ihr wieder ein so stechender Schmerz durch den Knöchel, dass sie den Koffer fallen ließ. Er plumpste wie ein Felsbrocken auf ihren rechten Fuß. »Aaahh, verdammt!«

Es war ein Gefühl, als ob sämtliche Knochen in ihrem Fuß zu Brei zerquetscht würden. Wieso war der Koffer bloß so schwer? In Los Angeles hatte ihre Mutter ihn mühelos vom Taxistand zur Gepäckaufgabe getragen. Aber die ging ja auch jeden Morgen ins Gym, im Gegensatz zu Ve. Mit ihren Puddingmuskeln würde sie den Koffer keine fünf Meter schleppen können. Und das Ding hatte leider keine Räder. Sie brauchte sofort einen Trolley.

Der Ständer mit den Gepäckwagen war jedoch so gut wie leer. Ein einsamer Trolley war noch übrig, den würde sie sich sichern. Ve ließ ihren Koffer stehen und hinkte auf den Gepäckwagen zu. Aber kurz bevor sie den Wagen erreicht hatte, überholte sie der Rempler von vorhin und löste den letzten Trolley aus der Verankerung.

»He!«, schrie Ve. »Spinnst du? Das ist meiner!«

Der Typ würdigte sie wieder keines Blickes, sondern steuerte den Trolley zu einem Berg von Gepäckstücken, neben dem ein unglaublich hübsches, unglaublich dünnes, unglaublich blondes Mädchen wartete. Gemeinsam beluden sie den Wagen.

Ve schaffte immer genau sieben Schritte mit dem Koffer. Dann musste sie ihn absetzen und ihre Arme ausschütteln. Warum zum Teufel war das Ding so schwer? Sie hatte doch so gut wie keine Klamotten eingepackt. Ihr Laptop und ein Paar Bergwanderschuhe steckten im Gepäck, darauf hatte ihre Mutter bestanden. Wahrscheinlich sorgten die für das unglaubliche Gewicht. Bergwanderschuhe, so ein Schwachsinn. Ve würde ganz bestimmt nicht allein in den Bergen herumklettern und ihr Vater würde mit noch größerer Sicherheit nicht mit ihr wandern gehen. Joachim Wandler hasste jede Form von Sport, er fühlte sich an seinem Schreibtisch am wohlsten, neben sich ein Glas Rotwein, im CD-Player ein Violinkonzert von Beethoven und vor sich seine Berechnungen.

Er wünschte sich so sehr, dass Ve seine Begeisterung für Physik teilte. Aber genauso gut konnte er davon träumen, dass man sie als Primaballerina im New Yorker Balletthaus einstellte. Ve war eine absolute Null in Naturwissenschaften. Und daran würde sich niemals etwas ändern.

Ve wuchtete den Koffer durch die Zollkontrolle.In der Ankunftshalle ließ sie ihn entkräftet fallen. Ihre Hände brannten, ihre Arme schmerzten, wahrscheinlich waren sie nach der Schlepperei zehn Zentimeter länger als vorher. Sie blickte sich um. Strahlende Gesichter, so weit das Auge reichte. Eltern umarmten ihre Kinder, Ehemänner ihre Gattinnen, Liebhaber die Geliebten. Nur auf Ve wartete niemand. Von ihrem Vater war weit und breit nichts zu sehen.

Sie ließ sich auf den Koffer sinken.

Nicht schon wieder!

Leise fluchend kramte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. Sie wählte seine Nummer und hörte es in der Leitung tuten. Einmal, zweimal, dreimal. Dann meldete sich die Mailbox. Ve hinterließ eine wütende Nachricht, die er vermutlich nie hören würde. Ihr Dad stand mit seinem Handy auf Kriegsfuß, er hatte bestimmt keine Ahnung, wie man seine Mailbox abfragte. Kommunikationstechnisch lebte er in der Steinzeit. Er verschickte lieber ein Fax als eine SMS und hielt WhatsApp für eine Popband.

Wenn ihr Vater nicht zu erreichen war, musste eben ihre Mutter herhalten. Man konnte nur hoffen, dass sie nicht schon im Flieger nach Asien saß. Ve wählte die Nummer und lauschte in den Hörer.

»Hello?«

»It’s me, Ve.« Wann war sie eigentlich dazu übergegangen, Englisch mit ihrer Mutter zu sprechen? Vermutlich im letzten Jahr, als sie in Kapstadt gewohnt hatten. In Athen und Sydney war Ve noch auf die Deutsche Schule gegangen, weil ihre Mutter verhindern wollte, dass sie ihre Muttersprache vergaß, aber in Kapstadt hatte sie eine südafrikanische Privatschule besucht.

»Ve? Bist du in München?«

»Yes, ich meine, ja. Aber rate mal, wer nicht da ist.«

Kurze Pause am anderen Ende der Leitung. Dann ein Seufzen. »Hast du ihn schon angerufen?«

»Er geht nicht ans Handy.«

»Super. Wie spät ist es jetzt bei euch?«

»Gleich halb sechs.«

»Warte mal.« Ve hörte, wie ihre Mutter auf einer Computertastatur herumklickte. »Ah, Glück gehabt«, sagte sie.

»Glück gehabt? Hast du Dad erreicht?«

»Nee, wie denn? Aber in zwanzig Minuten geht eine S-Bahn zum Hauptbahnhof. Und dort kriegst du noch den Regionalzug nach Miersbach. Du darfst ihn allerdings nicht verpassen, es ist die letzte Verbindung heute.«

»Wie bitte?«, fragte Ve genervt. »Ich soll jetzt noch mit dem Zug …? Und warum Miersbach? Dad wohnt doch in Winding.«

»Aber da gibt es keinen Bahnhof. Miersbach ist ganz in der Nähe. Wenn du da bist, rufst du ihn an, dann holt er dich ab.«

»Haha, sehr witzig. Er wollte mich eigentlich schon hier am Flughafen abholen, remember? Was ist, wenn er nachher auch nicht ans Telefon geht?«

»Dann nimmst du ein Taxi. Meine Güte, Ve, nun sei doch nicht so kompliziert. Dein Vater weiß Bescheid, dass du kommst. Ich hab schließlich vor ein paar Tagen noch mit ihm telefoniert.«

»Und wenn er doch noch hier aufkreuzt und mich sucht?«

»Dann ruft er dich an. Oder mich. Aber beeil dich. Dein Zug geht um 19 Uhr 32. Gleis 9.« Ihre Mutter machte eine kleine Pause. »Es ist bestimmt herrlich in den Bergen, ich bin richtig neidisch auf dich.«

»Du Arme«, sagte Ve finster. »Wenn ich irgendwann mal angekommen bin, werd ich dich bestimmt bemitleiden.«

Zwischen dem Münchener Hauptbahnhof und Miersbach lagen achtzehn Bahnhöfe. Und an jedem einzelnen von ihnen hielt der Zug an, öffnete zischend sämtliche Türen und schloss sie nach einer Weile wieder, ohne dass irgendein Passagier aus- oder einstieg. Während der Fahrt ging die Sonne unter. Die Dunkelheit schien hinter den Berggipfeln am Horizont hervorzuquellen, breitete sich rasch aus und legte sich schließlich wie ein schwarzes Tuch vor das Zugfenster.

Miersbach war die Endstation. Als sie sie endlich erreicht hatten, war es draußen vollständig dunkel. Ve zerrte ihren Koffer hinter sich her auf den Bahnsteig und hatte das Gefühl, dass er während der Fahrt noch schwerer geworden war.

Es war sehr viel kühler als in München. Die Umrisse der Bergspitzen hoben sich schwarz gegen den Himmel ab. Hier und da blinzelten Sterne wie winzige Augen. In Los Angeles, Kapstadt, Sydney und Athen wurde es niemals richtig Nacht. Immer leuchtete irgendwo eine Straßenlaterne, blinkte eine Neonreklame, strahlte ein Autoscheinwerfer oder ein Schaufenster in die Nacht. In den Bergen war es dagegen stockfinster. Der erleuchtete Bahnhof kam Ve plötzlich vor, wie die letzte Festung der Zivilisation. Dahinter lauerte die Wildnis. Die beiden Bahnsteige waren menschenleer.

Fröstelnd zog Ve ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer ihres Vaters. Natürlich ging er nicht dran.

Und jetzt? Nimmst du ein Taxi, sagte die Stimme ihrer Mutter in Ves Kopf. Nun sei doch nicht so kompliziert.

Wenn sie nicht so todmüde gewesen wäre, hätte sie laut gelacht. Ein Taxi. In L.A. war das kein Problem. Man stellte sich an den Straßenrand, winkte ein bisschen und fünf Minuten später saß man in einem Wagen.

Aber in Miersbach konnte sie lange winken. Die Bürgersteige waren schon vor Stunden sauber gefegt und dann hochgeklappt worden, die Leute hockten zu Hause vor dem Fernseher oder lagen im Bett und schliefen. Keiner war unterwegs.

Obwohl. Da drüben auf dem Parkplatz neben der Bahnhofshalle stand ein weißer Mercedes. Mit einem Taxischild auf dem Dach. Die Scheinwerfer leuchteten, in dem hellen Lichtkegel waberte Nebel.

»Danke, lieber Gott«, flüsterte Ve. Sie ließ den Koffer einfach stehen, rannte zu dem Auto und riss die Beifahrertür auf. Hinter dem Steuer saß ein dicker Mann mit langem weißen Bart, der aussah wie Heidis Almöhi.

»Sind Sie noch frei?«

Der Öhi musterte sie schweigend, als müsste er über diese Frage erst nachdenken. »Werfel?«, fragte er dann.

Werfel? Was sollte das denn jetzt? War das ein Ort?

»Nein, Winding. Ich muss nach Winding.«

»Winding.« Der Öhi nickte. »Also doch Werfel.«

»Was?«

Jemand tippte Ve auf die Schulter. »’tschuldigung? Aber das ist unser Taxi.«

Sie fuhr herum. Und stieß einen überraschten Schrei aus. Da standen doch tatsächlich der Rempler vom Flughafen und seine wunderschöne Blondine.

»Was wollt ihr denn hier?«, fragte Ve.

»Wir haben das Taxi vorbestellt«, sagte die Blondine.

»Werfel?«, rief der Öhi aus dem Wagen.

»Das bin ich.« Der Rempler schob Ve einfach zur Seite und beugte sich nun selbst in den Wagen. »Wir haben einiges an Gepäck.«

»Komme.« Der Almöhi stieg aus und öffnete den Kofferraum.

»Ich … äh … könnten Sie vielleicht einen Kollegen für mich rufen?«, fragte Ve, während er den Gepäckberg des Pärchens in den Wagen verfrachtete. »Ich muss nach Winding …«

»Gibt keinen Kollegen. Ich bin der einzige Fahrer hier.« Er knallte den Kofferraumdeckel wieder zu. Der Rempler und seine Freundin saßen auf der Rückbank. Die Blondine würdigte Ve keines Blickes, aber der Typ starrte sie neugierig an. Wieder hatte sie das Gefühl, dass sie ihn kannte, aber woher?

»Gleich fährt noch ein Bus.« Der Almöhi deutete auf die Haltestelle auf der anderen Straßenseite, während er gleichzeitig den Wagen anließ.

»Warten Sie mal«, rief Ve. »Wo fahren Sie denn hin? Könnten Sie mich nicht auch …«

Aber das Fenster auf der Fahrerseite hatte sich bereits geschlossen. Der Öhi deutete bedauernd auf seine Ohren, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr los.

Ve überlegte einen Moment, ob sie gegen die Stoßstange treten sollte. Mit etwas Glück hätte sie eine Delle hinterlassen. Aber wie sie den Almöhi einschätzte, hätte er sie danach einfach überfahren.

Der Bus hatte zwanzig Minuten Verspätung, die der Fahrer offensichtlich wieder reinholen wollte, denn er heizte mit einem Höllentempo den Berg hoch. Ve hatte sich ganz nach hinten gesetzt, damit er nicht auf die Idee kam, sich mit ihr zu unterhalten. Leider schwankte das Ende des Busses am stärksten, sodass ihr nach zehn Minuten bereits sterbenselend war. Sie bewegte sich trotzdem nicht nach vorn.

Geschieht Dad recht, dachte sie, wenn mir nachher so schlecht ist, dass ich ihm in den Flur kotze, wenn er die Tür aufmacht.

Das war natürlich kindisch und dumm, aber wer in einem schlingernden Bus sitzt, der eine Bergstraße hochrast, kann nicht klar denken. Ve verbrachte die ganze Fahrt damit, abwechselnd ihren Vater, ihre Mutter und sich selbst zu verfluchen. Warum zum Teufel hatte sie sich darauf eingelassen, hierherzukommen? Wenn sie ihr gesamtes Erspartes zusammengekratzt hätte, hätte sie sich vielleicht einen Flug nach Kapstadt leisten können, um dort ihre Freundin Amanda zu besuchen. Allerdings hatte Amanda auf ihre letzten sieben Mails nicht geantwortet und war auch seit Wochen nicht mehr auf Skype erreichbar. Wahrscheinlich hatte sie Ve längst vergessen, wie alle ihre früheren Freundinnen.

Ve und ihre Mutter waren einfach zu oft umgezogen. Von München nach Sydney, nach Athen, nach Kapstadt und vor vier Wochen dann nach Los Angeles. Jedes Mal eine neue Wohnung, eine neue Schule, neue Lehrer, neue Klassenkameraden, neue Freunde. Nach dem Aufwachen brauchte Ve oft fünf Minuten, bis sie sich erinnerte, wo sie gerade war. Aber das Umziehen war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass man niemals wusste, wie viel Zeit man an einem Ort hatte. Es ging alles immer so plötzlich. Ves Mutter arbeitete für eine internationale Unternehmensberatung mit Niederlassungen in allen fünf Erdteilen. Meistens bekam sie drei oder vier Monate vor dem Umzug Bescheid, dass es jetzt wieder so weit war.

»Ich verstehe nicht, warum du dich nicht einfach weigerst«, hatte Ve gesagt, als sie vor einem halben Jahr erfahren hatte, dass sie von Kapstadt nach Los Angeles ziehen würden. »Warum musst immer nur du wechseln?«

»Wer Karriere machen will, muss flexibel sein«, hatte ihre Mutter gesagt.

Wer Karriere machen will. Das war ja lächerlich.

»Mir geht es doch gar nicht ums Geld«, wandte ihre Mutter immer ein, wenn Ve sie darauf hinwies, dass ihr Gehalt ja wohl hoch genug war. »Nach einem Jahr wird es mir einfach in jeder Stadt langweilig. Dann brauch ich was Neues.«

Ve legte ihren Kopf an die Fensterscheibe. Der Bus schlängelte sich von Haarnadelkurve zu Haarnadelkurve. Das spürte sie, aber sehen konnte sie es nicht, draußen war alles stockfinster. Ihr Vater war irgendwo in der Gegend aufgewachsen, bevor er zum Studium nach München gezogen war. Warum war er jetzt wieder in die Bergeinsamkeit zurückgekehrt? Für Naturschönheiten hatte er nun wirklich nichts übrig. Vielleicht hatte er sich die teure Miete in München nicht mehr leisten können, er hatte ja kein Einkommen.

Ve seufzte. Ihre Mutter machte jedes Jahr ein Vermögen und ihr Vater nagte am Hungertuch – aber er war viel zu stolz, auch nur einen Cent von seiner Exfrau anzunehmen. Nicht Exfrau, Frau. Die beiden waren immer noch nicht geschieden, obwohl sie seit sieben Jahren getrennte Wege gingen.

Wenn Ve zu Besuch kam, bestand er darauf, für alle ihre Ausgaben zu zahlen. Ich bin schließlich dein Vater. Glücklicherweise war er so zerstreut, dass er es gar nicht merkte, wenn sie mal wieder vom Geld ihrer Mutter den Kühlschrank füllte oder einen neuen Staubsauger kaufte.

Ve starrte in die Dunkelheit hinter dem Fenster. In der Ferne waren Lichter zu sehen. Ob das Winding war? Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Kurz vor elf. Hoffentlich war ihr Vater zu Hause und hatte sich nicht doch noch auf den Weg nach München gemacht. Wenn sie gleich vor verschlossenen Türen stand … – nein, sie wollte gar nicht erst darüber nachdenken.

»Windingendstation!« Der Fahrer zog die beiden Wörter zusammen, als wäre es eines. Ve schob ihren Koffer zum Ausgang und hievte ihn auf die Straße.

Hinter ihr schlossen sich zischend die Türen. Sie schauderte. Hu, hier war es noch kälter als auf dem Bahnhof in Miersbach. Die Straßenlaternen standen in einem so großen Abstand voneinander, dass der Weg dazwischen in der Dunkelheit versank. Der Himmel war heller als die Erde, am Firmament glitzerten, funkelten und leuchteten mehr Sterne, als Ve jemals gesehen hatte. Wenn sie nicht so todmüde gewesen wäre, hätte sie den Kopf in den Nacken gelegt und sie bewundert.

Der Bus fuhr ab, und als er um die Ecke bog und verschwand, überkam Ve ein furchtbares Gefühl der Einsamkeit.

Sie holte ihr Handy aus der Tasche und wollte die Nummer ihres Vaters wählen, aber diesmal erreichte sie nicht mal die Mailbox. Weil sie kein Netz hatte. Verdammt! Ihr Vater wohnte im Forstweg, das wusste sie, aber ohne Netz konnte sie die Adresse auch nicht mit ihrem Smartphone suchen. Sie musste irgendwo klingeln und nach dem Weg fragen, wenn sie nicht auf der Straße übernachten wollte.

In dem großen Fachwerkgebäude neben der Kirche brannte zumindest noch Licht. Vielleicht war es ja das Pfarrhaus. Oder das Quartier einer Mädchenhändlerbande, dachte Ve, während sie darauf zuging.

Sie klingelte und wartete eine ganze Weile, bis endlich eine ältere Frau in einer geblümten Kittelschürze öffnete.

»Guten Abend«, sagte Ve. »Entschuldigen Sie die Störung.«

»Der Doktor ist nicht da.« Die Frau schüttelte ihre Dauerwelle.

»Ich … äh … brauche nur eine Auskunft. Ich suche den Forstweg.«

»Forstweg?« Die Frau schüttelte den Kopf. »Gibt’s hier nicht.«

»Was? Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich mir sicher. Hier gibt es nur die Hauptstraße und dann die Kirchgasse und die Häuser am Bach. Aber Forstweg …« Noch ein Kopfschütteln. »Kenn ich nicht.«

In Ves Kopf begann sich alles zu drehen. Kein Forstweg. Wahrscheinlich gab es zwei Windings in der Nähe von München und ihre Mutter hatte sie ins falsche Dorf geschickt und nun stand sie hier, mitten in der Nacht, der letzte Bus war weg und kein Hotel weit und breit …

»Zu wem willst du denn?«, fragte die Frau.

»Zu meinem Vater.« Ves Stimme klang belegt, weil sie kurz davor war loszuheulen. »Er heißt Wandler. Joachim Wandler.«

»Warum sagst du das denn nicht gleich? Herr Wandler wohnt im Schloss.«

»Im Schloss?« Was war das hier – ein Horrorfilm?

»Das ist aber nicht hier im Dorf, sondern oben am Berg. Knapp zwei Kilometer hinter dem Ort.«

»Zwei Kilometer von hier?«, flüsterte Ve. Hörte dieser Albtraum nie auf? Zwei Kilometer zu Fuß den Berg hoch, in dieser Dunkelheit, noch dazu mit dem schweren Koffer. Das war undenkbar, das schaffte sie nicht.

»Herr Wandler ist dein Vater, sagst du?«, fragte die Frau. »Willst du ihn anrufen, damit er dich abholt?«

»Mein Handy funktioniert nicht.«

»Du kannst unseren Apparat benutzen.« Die Frau runzelte die Stirn. »Ich weiß gar nicht, ob es da oben ein Telefon gibt.«

Ve schluckte. Sie war im finsteren Mittelalter gelandet.

»Weißt du was?«, fragte die Frau. »Ich sag dem Doktor Bescheid, der soll dich eben hochbringen.« Sie wollte sich abwenden, dann hielt sie noch einmal inne. »Ich bin übrigens Frau Huber. Die Frau vom Doktor.«

Dann drehte sie sich um und verschwand im Hausflur, bevor Ve sie darauf hinweisen konnte, dass der Doktor doch gar nicht da war. Zumindest hatte Frau Huber das vorhin noch behauptet.

Der Doktor fuhr einen uralten Ford und hatte einen noch rasanteren Fahrstil als der Busfahrer. Er bretterte einen schmalen Feldweg entlang, dass die Stoßdämpfer ächzten. Hin und wieder peitschten Zweige gegen die Seitenfenster. Ve klammerte sich mit beiden Händen an den Griff über der Tür. Dem Doktor schien das Holpern und Schaukeln dagegen überhaupt nichts auszumachen.

»Wusste gar nicht, dass Wandler eine Tochter hat«, schrie er Ve über dem Dröhnen des Motors zu. »Na, der alte Knabe ist ja auch nicht gerade mitteilsam. Man sieht ihn so gut wie nie im Dorf.«

»Ach so!«, schrie Ve zurück.

»Bist das erste Mal zu Besuch, oder?«

»Ja, äh, meine Eltern leben getrennt. Ich wohne bei meiner Mutter in Amerika.«

»In Amerika?« Doktor Huber klang so ungläubig, als hätte Ve im Auenland oder auf dem Mars gesagt. Dann stieg er abrupt auf die Bremse, sodass Ve nach vorn geschleudert wurde. Der Sicherheitsgurt schnitt schmerzhaft in ihre Schulter.

Im Licht der Scheinwerfer sah sie ein riesiges Tier über die Straße huschen und im Gebüsch am Wegesrand verschwinden.

»Eine Wildsau«, knurrte der Doktor. »Verdammte Landplage, die Viecher.«

Ein Wildschwein, wie schrecklich! Wahrscheinlich gab es hier auch noch Wölfe und Bären.

Doktor Huber legte den ersten Gang ein und fuhr mit einem Ruck wieder an. »Wir sind gleich da«, versprach er. »Na, dein Vater wird sich bestimmt freuen.«

Am Ende des Weges tauchte ein riesiges, düsteres Gebäude auf. Ein runder Turm reckte sich wie ein mahnender Finger in den Sternenhimmel und eine mächtige Mauer umgab das Anwesen. Sie fuhren durch eine Toreinfahrt in einen Innenhof, der mit uralten, vermoosten Steinen gepflastert war, zwischen denen Grasbüschel wucherten.

Ein Schloss. Die Frau des Doktors hatte nicht übertrieben. Ihr Vater hatte wirklich und wahrhaftig ein Schloss gekauft. Aber von welchem Geld? Ob er im Lotto gewonnen hatte?

»Wer hat denn früher hier gewohnt?«, fragte Ve den Doktor, der jetzt den Motor ausschaltete.

»Ach, gebaut hat es irgendein Fürst im finsteren Mittelalter. Glaub ich jedenfalls. Aber mit geschichtlichen Dingen kenn ich mich nicht aus, da musst du jemand anders fragen. Na, hoffentlich hat dein Vater nicht allzu viel dafür bezahlt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wenn du mich fragst, ist das Ding ziemlich marode. Das Schloss muss von Grund auf saniert und überholt werden. Und das kostet.« Der Doktor rieb den Daumen gegen Zeige- und Mittelfinger. »Sieht alles ziemlich dunkel aus. Bist du sicher, dass dein Vater dich erwartet?«

Die Frage war berechtigt. Hinter keinem der hohen Fenster brannte Licht, das Gebäude wirkte total verlassen. Tiefe Risse zogen sich über die Fassade, und von den Fensterbrüstungen hingen lange Spinnweben, die im Nachtwind hin und her schwankten.

Allerdings stand da ein Auto auf dem Hof. Ein weißer Renault. Ihr Vater besaß kein Auto, jedenfalls hatte er im letzten Sommer kein Auto besessen. Aber da hatte er ja auch noch kein Schloss gehabt.

»Klingel doch einfach mal. Ich warte so lange hier«, sagte Doktor Huber. »Wenn er nicht da ist, nehm ich dich wieder mit zurück ins Dorf.«

Wenn er nicht da ist, dann fahr ich morgen zurück nach München und nehm den ersten Flug nach L.A. Und wenn er über Beijing geht, dachte Ve, während sie über den finsteren Hof zum Haus rannte. Irgendwo in der Dunkelheit schrie ein Nachtvogel, eine Eule oder ein Uhu. Es klang schaurig. Vielleicht war es eine Warnung.

Es gab keine elektrische Klingel an der Tür, nur eine große Glocke, an der eine lange Kette hing. Als Ve daran zog, schepperte sie so laut, dass man es vermutlich noch unten im Dorf hörte.

In der uralten Holztür war ein kleines Fenster, das mit einem schmiedeeisernen Gitter versehen war. Ve spähte nach drinnen, aber es war stockdunkel im Haus. Das Gebäude war menschenleer, ihr Vater war nicht da, sie spürte es ganz deutlich. Der Gedanke erfüllte sie mit einer gewissen Erleichterung. Sie wollte nicht hierbleiben. Dieses Schloss war kein guter Ort. Wie zur Bestätigung schrie der Nachtvogel noch einmal. Verschwinde, schrie er. Hau ab, so lange es noch geht.

Im selben Moment ging im Haus das Licht an. Ve stieß einen leisen Schrei aus und fuhr erschrocken zurück. Durch das Fenster blickte man in eine große, hohe Empfangshalle. Schritte hallten auf dem Steinboden und kamen rasch näher. Aber es war nicht ihr Vater. Eine Frau öffnete die Tür.

»Hallo.« Ein offenes, freundliches Gesicht. Warme, graue Augen, winzige Fältchen um Augen und Lippen. Schwarze Bluse, schwarze Jeans.

Ve merkte, wie sich ihr Herzschlag beruhigte. Von dieser Frau ging keine Gefahr aus, das merkte man sofort.

Die Frau musterte Ve mit unverhohlener Neugierde. »Was gibt’s denn?«

»Doktor Huber hat mich hergefahren.«

»Wer bist du?«, fragte die Frau.

»Ich dachte, mein Vater wohnt hier«, stotterte Ve. »Joachim Wandler.«

Die Frau riss die Augen auf. »Ve!«, rief sie. »Meine Güte, hast du dich verändert! Ich hab dich ja gar nicht erkannt.«

Während der Doktor den Koffer ins Haus schleppte, fischte Ve nach der Erinnerung, die auf einmal in ihrem Kopf aufgetaucht war. Sie hatte diese Frau schon einmal gesehen, sie hatte sie gekannt, aber es war unendlich lange her. Diese grauen Augen, das Lächeln. Die Erinnerung war ein glitzernder Stein auf dem Grund eines Sees. Ve schaffte es nicht hinabzutauchen, um ihn an die Oberfläche zu holen. Der See war zu tief und Ve viel zu müde.

»Wo ist mein Vater?«, fragte sie.

»Bist du etwa heute aus Amerika angereist?«, fragte die Frau im selben Moment.

Ihre Fragen prallten gegeneinander.

»Ich fahre dann mal wieder«, sagte der Doktor. »Schönen Abend noch. Und angenehmen Aufenthalt!«

»Danke.« Ve und die Frau sprachen wieder gleichzeitig.

Sie sahen ihm dabei zu, wie er in seinen Ford stieg und vom Hof brauste.

»Na, dann komm mal rein«, sagte die Frau.

Sie führte Ve durch die Empfangshalle in einen Flur und dann in eine riesige Küche. Unter einer nackten Glühbirne standen ein Esstisch und vier verschiedene Stühle.

»Setz dich«, sagte die Frau und nahm selbst Platz. Der Stuhl, auf den Ve sich niederließ, wackelte fürchterlich.

»Ihr wohnt jetzt in Los Angeles, stimmt’s?«, fragte die Frau.

Ve nickte. In ihren Ohren dröhnte es, sie war so fertig.

»Du kennst mich natürlich gar nicht mehr, oder? Es ist ja auch schon ewig her. Ich bin Marcella Sartorius.«

Marcella Sartorius. Das Dröhnen wurde leiser. Stattdessen hörte Ve plötzlich die Stimme ihrer Mutter, die schrie: »Marcella, Marcella, Marcella!«

Dann war auch sie wieder still und das Dröhnen erhob sich erneut. Ende der Erinnerung.

Marcella, Marcella, Marcella. Wann hatte ihre Mutter das gerufen? Vermutlich als sie alle noch in München gelebt hatten, Vater, Mutter, Ve, wie eine richtige Familie.

»Ich habe früher mit deinem Vater zusammengearbeitet, wir waren Kollegen«, sagte Marcella Sartorius. »Und gute Freunde. Dein Vater, deine Mutter und ich.«

Gute Freunde, echote es in Ves Kopf. Warum hatte ihre Mutter dann damals Marcellas Namen geschrien? Oder erinnerte Ve sich an etwas, was nie stattgefunden hatte? Leider war sie viel zu erschöpft, um klar zu denken.

»Wieso haben wir uns nie in München getroffen?«, fragte sie Marcella.

»Joachim und ich haben uns in den letzten Jahren ein bisschen aus den Augen verloren«, sagte Marcella. »Er hat sich so in seiner Arbeit vergraben, es war schwierig, mit ihm in Kontakt zu bleiben.«

Das stimmte. Wenn Ves Vater arbeitete, überhörte er das Telefon und die Türklingel, und seine Mails beantwortete er ohnehin nur im allergrößten Notfall.

»Aber dann hat er mir plötzlich geschrieben. Einen sehr geheimnisvollen Brief.«

»Einen richtigen Brief?«

»Genau. Mit Umschlag und Briefmarke und per Post. Das war vor einer guten Woche.«

»Und was hat er geschrieben?«

Marcella runzelte die Stirn. »Es war ein seltsamer Brief. Wirr und aufgeregt. Er machte so komische Andeutungen, dass jemand hinter ihm her sei und er sich verstecken müsse. Ich hab sofort versucht, ihn anzurufen. Aber seine alte Nummer war längst nicht mehr gültig und unter seiner Handynummer konnte ich ihn nicht erreichen. Natürlich nicht, hier ist ja kein Netz. Er hat nicht mal einen Telefonanschluss.«

»Und dann?«

»Auf dem Briefumschlag stand seine neue Adresse. Hier, von diesem … Haus. Ich hab mich ins Auto gesetzt und bin hergefahren.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber er war nicht da.«

»Er war nicht da?«, rief Ve. »Wann sind Sie denn hier angekommen?«

»Du«, sagte Marcella. »Wir duzen uns natürlich. Ich bin seit gestern Abend hier.«

»Und wie sind Sie … ich meine, wie bist du ins Haus gekommen?«

»Ich bin durchs Küchenfenster gestiegen. Das stand sperrangelweit auf.«

»Dad ist weggefahren und hat das Fenster aufgelassen?« Na ja, das passte zu ihm. »Und du hast keine Ahnung, wo er stecken könnte?«

»Nicht die leiseste Idee.«

»Das ist ja wohl total komisch«, murmelte Ve und gähnte. Das war herzlos, ihr Vater war spurlos verschwunden, und sie gähnte. Aber es ließ sich einfach nicht verhindern.

»Ach du Schreck!«, rief Marcella. »Du bist total müde, oder? Wie lange warst du denn unterwegs, von L.A. hierher?«

»Ich weiß nicht. Wochen. Jedenfalls kommt es mir so vor.«

»Du hast bestimmt Hunger!« Marcella sprang auf und lief zum Herd. »Ich hab Suppe gemacht – ist wahrscheinlich bescheuert, in so einer Situation. Aber ich musste mich irgendwie beschäftigen.«

»Eigentlich hab ich gar keinen …« Hunger, wollte Ve sagen, aber als Marcella den Deckel hob, strömte ein so köstlicher Duft durch die Küche, dass ihr Magen laut zu knurren begann.

Marcella lachte. »Du hast Glück, der Eintopf ist noch warm. Ich hab gerade erst gegessen.«

Du hast Glück. Tatsächlich, dachte Ve, als Marcella einen dampfenden Teller vor sie hinstellte. Zum ersten Mal seit dreißig unendlichen Stunden hatte sie wirklich ein klitzekleines bisschen Glück. Der Gemüseeintopf schmeckte nämlich köstlich.

Ve verschlang eine riesige Portion Suppe und dann noch eine.

»Dein Vater hat offensichtlich nicht vergessen, dass du kommen wolltest«, sagte Marcella. »Er hat alles für deinen Besuch vorbereitet. Der Kühlschrank war voll und in einem der Zimmer oben hat er auch schon ein Bett für dich bezogen.« Sie lächelte schuldbewusst. »Ehrlich gesagt, hab ich letzte Nacht darin geschlafen.«

»Kein Problem.« In einem der Zimmer oben. Ve fragte sich, ob sie es überhaupt noch schaffen würde, die Treppe hochzusteigen. Vielleicht sollte sie einfach hier auf dem Küchenfußboden …

»Dir fallen ja fast die Augen zu«, rief Marcella. »Komm, ich zeig dir dein Bett. Morgen reden wir weiter.«

Im Flur wollte Ve ihren Koffer nehmen, aber Marcella war schneller. Sie hob das schwere Ding ohne ein Anzeichen von Anstrengung und trug es zu der breiten Treppe, die sich in einem eleganten Bogen in den ersten Stock schwang.

Ve schleppte sich selbst hinterher. Ihre Füße waren so schwer, sie konnte sie kaum heben. Unter ihr ächzten und knarrten die ausgetretenen Treppenstufen. So wie damals diese Treppe in der Jugendherberge. Ve war sieben Jahre alt gewesen und zum ersten Mal auf Klassenfahrt gefahren. In der Jugendherberge hatte sie vor lauter Heimweh so geweint, dass die Lehrerin ihre Eltern angerufen hatte, die sie schließlich abgeholt und nach Hause gebracht hatten.

Sie waren zusammen gekommen, ihr Vater und ihre Mutter.

Damals war zwischen ihnen noch alles in Ordnung gewesen. Zumindest hatte es sich so angefühlt. Zwei Jahre später hatten sie sich getrennt und Ve war mit ihrer Mutter nach Athen gezogen.

»Warum, meinst du, fühlt sich mein Vater verfolgt?«, fragte Ve Marcella, während sie hinter ihr die Treppe hochstieg. Aber die Stufen knarrten zu laut, Marcella hörte sie gar nicht.

Als Ve wieder aufwachte, wusste sie zuerst nicht, wo sie war. Durch hohe, schmutzige Fensterscheiben fiel die Sonne ins Zimmer. Staubkörnchen tanzten im Licht. Ve sah an der Wand einen uralten Schrank, dessen Tür fehlte. Auf dem Boden lag ein orientalischer Teppich, das Muster verblichen, die Kanten fransig. Vor dem Fenster stand ein kleiner runder Tisch mit einer Vase, in der eine Plastikrose steckte. Die Rose hatte Ves Vater ihr vor Jahren auf dem Oktoberfest geschossen, das fiel Ve jetzt wieder ein, und nun erinnerte sie sich auch daran, wo sie sich befand. Und wie sie hierhergekommen war.

Die Türglocke begann zu läuten, das metallische Scheppern drang durchs ganze Schloss. Ve warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: kurz nach halb drei. Sie hatte fast fünfzehn Stunden geschlafen.

Als sie die Decke zurückschlug, sah sie, dass sie ihre Jeans trug. Wenigstens hatte sie es gestern noch geschafft, ihre Schuhe auszuziehen, bevor sie ins Bett geschlüpft und in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf gefallen war.

Die Glocke tönte von Neuem los. Ob das ihr Vater war? Aber warum sollte er klingeln, in seinem eigenen Haus? Und wieso öffnete Marcella nicht? Ve lief zum Fenster und warf einen Blick nach unten. Obwohl das Fenster zum Hof ging, konnte man nicht erkennen, wer vor der Tür stand. Ve sah nur ein rotes Cabriolet, das neben Marcellas Renault parkte.

Ihrem Vater gehörte der Wagen bestimmt nicht. Selbst wenn er das Geld dafür gehabt hätte, hätte er sich nie und nimmer einen Sportwagen gekauft. Vielleicht war es ein Nachbar, der nach dem Haus sah, solange Joachim Wandler weg war. Und der ihnen sagen konnte, wo er steckte.

Ves Körper fühlte sich total klebrig an und ihre Haare juckten. Ob es im Schloss eigentlich eine Dusche gab? Oder wenigstens ein Waschbecken mit fließendem Wasser? Vielleicht wusch sich ihr Vater ja jeden Morgen am Brunnen im Hof.

Ihr Koffer stand neben dem Schrank. Ve klappte ihn auf, um frische Klamotten und ihr Waschzeug rauszuholen. Im selben Moment hörte sie Marcellas Stimme unten im Flur. Ihr fröhliches Lachen, das Ve seltsam vertraut vorkam. Vielleicht lag es daran, dass Marcella früher so oft bei ihnen gewesen war. Vielleicht hatte Ves Körper das Lachen irgendwo gespeichert.

Ves Blick fiel auf den Inhalt des Koffers und sie erstarrte. »Das gibt’s doch nicht«, murmelte sie.

Jeans, Sweater, Boxershorts, ein Paar Hanteln und daneben ein Stapel Autogrammkarten. Auf der Vorderseite der Karten war der Schnösel vom Flughafen abgebildet, der Ve zuerst den Trolley und später das Taxi weggeschnappt hatte. Ve nahm eine der Karten und drehte sie um. Als sie den Namen auf der Rückseite las, wusste sie auch, warum ihr das Gesicht so bekannt vorgekommen war. Der Typ war ja berühmt. Es war Finn Werfel.

Finn Werfel, der neue Stern am deutschen Pophimmel. Dass Ve ihn kannte, obwohl sie seit über einem Jahr nicht mehr in Deutschland gewesen war, verdankte sie ihrer Mutter. Die bestand nämlich darauf, dass sie und Ve mindestens einmal in der Woche deutsches Satellitenfernsehen schauten. Damit du dein Deutsch nicht ganz vergisst. In den letzten Monaten hatten sie sich immer Germany’s New Popstar angesehen – eine Castingshow, bei der Nachwuchssänger auf- und gegeneinander antraten. Finn Werfel war eines der Talente gewesen. Am Ende hatte er das Casting gewonnen und ein Album aufgenommen, das sofort auf Platz Eins der Charts geschossen war. Natürlich nur in Deutschland – im Rest der Welt kannte man ihn nicht.

Finn war Ves Favorit gewesen, oder nein: ihr Schwarm. Sie hatte nachts von ihm geträumt. Von seiner supergefühlvollen Soulstimme und seinem Wahnsinnslächeln. Natürlich hatte sie ihm die ganze Zeit die Daumen gedrückt und sich wegen ihm fast mit ihrer Mutter gestritten, die einen seiner Konkurrenten viel besser fand.

Und nun war Ve ihm live und in Farbe am Flughafen begegnet und hatte ihn nicht wiedererkannt. Das war echt erstaunlich. Oder auch nicht, dachte Ve. Im Fernsehen war Finn supercharmant, sensibel und humorvoll rübergekommen. Am Flughafen und auf dem Bahnhof hatte er sich dagegen wie der letzte Rüpel aufgeführt. Und sein Wahnsinnslächeln hatte er auch nicht ein einziges Mal zum Einsatz gebracht.

Aber warum steckten seine Klamotten und Autogrammkarten jetzt in Ves Koffer? Weil es gar nicht mein Koffer ist, dachte Ve, sondern seiner. Wir haben sie verwechselt. Wahrscheinlich hat Finn sich gewundert, dass sein Koffer plötzlich so leicht war und ich hab mich mit seinem schweren Monstrum abgeplagt. Hanteln. Wozu schleppte der Typ seine Hanteln nach Amerika?

Ein Klopfen an der Tür. »Ja?«

»Ve?« Marcella steckte den Kopf ins Zimmer. »Da ist jemand für dich. Du wirst es nicht glauben, aber es ist …«

»Finn Werfel«, sagte Ve.

Er wartete mit seiner unglaublich hübschen, unglaublich dünnen, unglaublich blonden Freundin unten im Salon, der kein Salon mehr war, sondern ein riesiger leerer Raum mit zerkratztem Parkettboden und einem großen Kamin.

Davor stand ein hässliches geblümtes Sofa, sonst gab es keine Möbel im Raum. Vor den hohen Fenstern hingen zerschlissene Gardinen aus einem Samtstoff, der einmal grün gewesen sein musste, aber inzwischen zu einem muffigen Grau verblichen war. Die Wände waren mit uralten Tapeten beklebt, auf denen Veilchen rankten. An einer Stelle hatte sich das Papier gelöst, darunter kam ein altmodisches Rosenmuster zum Vorschein. Auch hier baumelte eine nackte Glühbirne von der Decke.

Finn und seine Freundin hatten sich nicht gesetzt. Sie standen neben der Tür, als wollten sie jeden Moment die Flucht ergreifen.

»Du hast meinen Koffer«, sagte Finn, als Ve und Marcella in den Raum traten.

»Und du meinen«, gab Ve zurück. »Das kommt davon, wenn man so drängelt und gar nicht richtig anguckt, was man sich so schnappt.« Der Vorwurf war ein bisschen ungerecht, immerhin hatte sie selbst ja auch gerade eben erst gemerkt, dass sie den falschen Koffer hatte.

Aber das fiel Finn nicht auf oder es war ihm egal.

»Wo ist der Koffer denn jetzt?«, fragte die Freundin und warf dabei ihr blondes Haar nach hinten. Es glänzte wie Seide. Ves Haar klebte dagegen wie ein nasser Sandkuchen an ihrem Kopf. Aber ihre Haare schimmerten auch in frisch gewaschenem Zustand niemals wie die von diesem Mädchen.

»Oben«, sagte Ve. »Wenn ihr ihn wollt, müsst ihr ihn selber runtertragen. Ich schlepp mich nicht mehr mit dem Ding ab.«

Finn zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen.«

»Und meiner?«

»Steht im Flur«, sagte Marcella. »Na, das ist ja ein Ding. Finn Werfel hier in Winding. Geben Sie etwa ein Konzert im Dorf?«

»Na klar. Heut Abend im Goldenen Hirsch.«

»Was, echt?«, rief Marcella. »Das ist ja ein toller Zufall! Da sind wir auf jeden Fall dabei.«

»Quatsch«, sagte Prinzessin Seidenhaar. »Das war nur ein Witz. Finn tritt doch hier nicht auf. Ich meine, der macht die Olympiahalle in München voll. Da singt er doch nicht in irgend so einer Dorfkneipe. Wäre ja lächerlich.«

»Ach so«, sagte Marcella ein bisschen betreten. »Na klar, hätt ich mir ja denken können. Was machen Sie denn dann hier? Urlaub?«

»Finns Eltern wohnen im Dorf«, sagte die blonde Freundin. »Wir besuchen sie.«

Natürlich, dachte Ve. Als die Castingshow gelaufen war, hatte sie alles über Finn gelesen, was sie im Internet über ihn entdeckt hatte. Es war nicht allzu viel gewesen, Prinzessin Seidenhaar war zum Beispiel in keinem der Berichte erwähnt worden. Vielleicht waren die beiden ja auch erst kurz zusammen. Auf jeden Fall erinnerte Ve sich jetzt daran, dass Finn aus einem Dorf in Bayern stammte.

»Und wie habt ihr mich hier gefunden?«, fragte Ve.

»Die Adresse lag im Koffer«, sagte Finn. »Ich würd ihn jetzt gerne holen.«

»Nur zu«, sagte Ve. Sie führte ihn nach oben in ihr Zimmer, wo der Koffer immer noch geöffnet auf dem Boden lag.

»Ganz schöne Ruine, diese Hütte«, sagte Finn. »Hier gibt es ja wohl einiges zu tun.« Sein Blick glitt durch das leere Zimmer, wanderte über den ausgefransten Teppich zu der Plastikrose und landete schließlich auf Ves ungemachtem Bett.

Sie spürte, dass sie rot wurde. Das machte sie so wütend, dass sie den Koffer mit einem lauten Knall zuklappte. »Du wolltest doch los, oder?«

Erst als er das Ding zur Tür schleppte, merkte sie, dass eine der Autogrammkarten auf den Boden gefallen war.

»Du hast was verloren.« Ve hielt ihm die Karte hin.

Er warf einen Blick über die Schulter. »Kannst du behalten«, meinte er großzügig. »Ich hab noch mehr davon.«

»Nimm sie nur mit«, sagte Ve. »Sonst schmeiß ich sie nämlich weg.«

»Wer hätte das gedacht.« Marcella schüttelte den Kopf, nachdem Finn und Prinzessin Seidenhaar wieder vom Hof gebraust waren. »Finn Werfel kommt aus diesem Kaff.«

Sie saßen in der Küche und frühstückten, obwohl es ja bereits Nachmittag war. Marcella hatte Kaffee gekocht, dazu gab es Toastbrot mit Marmelade.

»Was findest du denn daran so unglaublich?«, fragte Ve.

»Ist doch ein Zufall, oder?«

»Keine Ahnung. Ich find diesen Typen jedenfalls total ätzend.«

»Du solltest ihn mal singen hören«, sagte Marcella. »Finn hat echt eine Gänsehautstimme. Ich meine, normalerweise lässt mich Popmusik total kalt und ich bin ja auch keine sechzehn mehr. Aber seine Songs sind einfach irre.«

»Aber er selbst ist ein eingebildeter Sack«, erklärte Ve.

»Der Erfolg kam bei ihm ja über Nacht. Gestern kannte ihn kein Schwein, heute macht er das Olympiastadion voll, wie seine charmante Freundin so treffend bemerkte. Das kann einem schon zu Kopfe steigen. Aber ich find’s trotzdem faszinierend, dass er hier war. Ob er im Dorf aufgewachsen ist?«

»Ist mir völlig schnuppe«, erklärte Ve. »Ich frag mich, wo mein Vater ist.«

Marcellas Gesicht wurde von einer Sekunde zur anderen wieder ernst.

»Natürlich. Dein Vater. Also, ich hab echt keine Ahnung …«

»Wir müssen zur Polizei«, unterbrach Ve sie.

»Da war ich schon, auf der Polizeiwache in Miersbach. Die konnten mir allerdings auch nicht helfen. Es gab keine Unfälle, er ist auch nicht im Krankenhaus.«

»Aber die Fahndung nach ihm läuft jetzt?«

»Die Fahndung?« Marcella schüttelte den Kopf. »Warum sollte die Polizei ihn suchen? Dein Vater ist erwachsen, er kann tun und lassen, was er will. Die Polizei wird erst aktiv, wenn es den Verdacht auf eine Straftat gibt.«

»Aber er hat geschrieben, dass er sich verfolgt fühlt«, rief Ve. »Das ist doch ein Verdacht, oder etwa nicht?«

Marcella zuckte mit den Schultern. »Na ja …« Sie malte mit ihrer Fingerspitze Kreise auf den Küchentisch.

»Kannst du mir den Brief mal zeigen?«

»Ich hab ihn der Polizei gegeben.«

»Und?«

»Sie haben eine Suchmeldung an alle Polizeidienststellen im Umkreis geschickt.«

»Eine Suchmeldung? Das klingt aber nicht nach einer großen Aktion.«

Marcella zuckte erneut mit den Schultern.

»Was?«, rief Ve. »Nun rede doch!«

»Ve«, sagte Marcella. »Um ganz ehrlich zu sein …« Sie verstummte und räusperte sich.

»Marcella! Bitte!«

»Hast du schon einmal darüber nachgedacht, ob dein Vater vielleicht … ich meine, er ist seit Jahren allein, hockt Tag für Tag in seiner Wohnung und berechnet Dinge, die keiner so richtig nachvollziehen kann. Wenn du nicht gerade zufällig zu Besuch bist, dann sieht er keinen Menschen. Er hat keine Freunde, keine Kollegen …«

»Du meinst, er ist übergeschnappt? Und er bildet sich nur ein, dass man ihn verfolgt?«

Marcella schwieg. Das war auch eine Antwort.

»Aber er ist verschwunden!«, rief Ve. »Das ist doch der Beweis dafür, dass da wirklich was passiert ist.«

»Vielleicht versteckt er sich«, sagte Marcella. »Er sitzt in irgendeinem Hotel und wartet ab.«

»Worauf wartet er?«

»Keine Ahnung. Dass die Gefahr vorübergeht.«

»Die Gefahr, die er sich nur einbildet.«

Marcella zögerte kurz, dann nickte sie.

Ve trank einen Schluck Kaffee. Ihr Kopf begann wieder zu dröhnen, aber es war nicht mehr die Müdigkeit. Es war das Gefühl, dass alle ihre Gedanken durcheinanderrasten und sie keinen von ihnen fassen konnte.