Gefangener Mut - Ruth First - E-Book

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Ruth First

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Beschreibung

117 Tage wird Ruth First, eine weiße südafrikanische Journalistin und eine engagierte Gegnerin des Apartheidsystems, in einem Gefängnis in Johannesburg festgehalten. Die qualvolle Monotonie der Isolationshaft wird nur von der Routine zermürbender Verhöre unterbrochen, die die Gefangene bis zum Selbstmordversuch treiben. Ein bewegender und erschütternder autobiographischer Bericht. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 239

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Ruth First

Gefangener Mut

117 Tage in einem südafrikanischen Gefängnis

Aus dem Englischen von Christine Frick-Gerke

FISCHER Digital

Inhalt

EinleitungErstes Kapitel Die ZelleZweites Kapitel Leben in einem PolizeigefängnisDrittes Kapitel Isolation im VakuumViertes Kapitel Verstärkter DruckFünftes Kapitel »Kein Ort für Sie«

Einleitung

Ich sah Ruth ein letztes Mal lebend um 15.30 Uhr an jenem Nachmittag, als es geschah. Ich unterhielt mich mit Harold Wolpe, einem guten Freund von uns, als sie die Haustür aufschloß, in den Wohnraum kam und eine Flasche Wein griff, die sie zuvor vergessen hatte. Sie lächelte verlegen und sagte nur: »Ich bin wirklich vergeßlich. Bis nachher«, und war schon wieder fort. Mit der Weinflasche, die niemals geöffnet wurde, sollte der Abschied einiger Kollegen gefeiert werden, die an einer von ihr organisierten Konferenz teilgenommen hatten.

Gegen 16.30 Uhr läutete das Telefon. Die Stimme ihrer Kollegin Mary Wuyts klang fassungslos: »Joe, etwas Schreckliches ist geschehen. Es hat eine Explosion gegeben, und Ruth liegt hier …« Sie war sofort tot. Ich fuhr in ihr Büro und stand wie gelähmt auf der Schwelle zu ihrem Zimmer, wollte sie so lebendig in Erinnerung halten, wie ich sie gekannt hatte. Sie lag begraben von den Überresten ihres Schreibtischs, nur ihre Füße waren zu sehen, einer von ihnen steckte noch in einem eleganten beigefarbenen Schuh.

Für Ruth war es eine aufregende und hektische Woche gewesen, ein Höhepunkt in ihrer Laufbahn als Direktorin der Forschungsabteilung des Instituts für Afrikanische Studien der Eduardo-Mondlane-Universität in Maputo, im seit kurzem unabhängigen Mozambique. Aus allen Teilen des südlichen Afrika – und darüber hinaus – waren Wissenschaftler gekommen, um an einer von der UNESCO unterstützten Tagung teilzunehmen, die ein großer Erfolg werden sollte. Der offensichtliche Schwerpunkt dieser Tagung war die Rassentyrannei, die Apartheid, im nur 60 Kilometer entfernten Südafrika.

Ruth brachte für ihren Posten am Institut eine seltene Kombination von Begabungen mit: einen scharfen Verstand, eine Ausdrucksfähigkeit, die ihr ermöglichte, auch komplizierte Sachverhalte einfach darzustellen, sie hatte Organisationstalent, war stets peinlich exakt vorbereitet, und ihr Lehransatz verankerte die Studenten fest in der Gesellschaft. Sie hatte einen großen Teil ihres bisherigen Lebens außerhalb der Universität verbracht, als Sozialarbeiterin, Journalistin, Autorin, Wahlkampfhelferin und Aktivistin im Untergrund. Sie hatte viele Bücher veröffentlicht und wurde in akademischen Kreisen hoch geschätzt. Und neben allem, neben der traumatischen Verfolgung durch die Polizei, ihrer Zeit im Gefängnis, brachte sie immer Zeit und Energie auf, für unsere Töchter Shawn, Gillian und Robyn zu sorgen, war eine liebevolle Mutter und in dreiunddreißig Jahren Ehe eine innige Gefährtin, die dennoch wußte, was sie wollte.

Sie strahlte eine enorme Kraft aus, die Sicherheit einer Geschäftsfrau und eine gewisse Arroganz, die jene, die sie gut kannten, durchschauten, hinter der sie ihre extreme Verletzlichkeit, ihr Mitgefühl und ihre Leidenschaft verbarg. Sie war sich auf sympathische Weise ihrer Fähigkeiten unsicher, überwand dieses Gefühl eigentlich nie, auch die beneidenswerte lange Liste ihrer persönlichen Erfolge konnte sie ihr nicht nehmen. So reagierte sie defensiv auf Kritik, und selbst wenn sie so etwas Unbedeutendes wie eine Flasche Wein vergaß, fühlte sie sich ertappt.

Im Mai 1960 schrieb sie mir einen Brief in das Gefängnis, in dem ich festgehalten wurde. Sie war mit den Kindern nach Swaziland gefahren, um der Verhaftungswelle nach dem Sharpville-Massaker zu entgehen. Sie schrieb:

Ich gehe meiner Lieblingsbeschäftigung nach und quäle mich, stelle mich in Frage und betrachte meine Fehler, ich grüble mehr und mehr … Schade, daß ich nicht zum Philosophieren neige. Dann müßten meine Konflikte nicht auf der persönlichen Ebene stattfinden … Das Problem ist, ich möchte mir beweisen, daß ich etwas Sinnvolles leisten kann … Doch ich bin zu ziellos, und in meinem tiefsten Innern weiß ich, es liegt an mir, daß Ziel, Mittel und Können fehlen, und niemand kann mir helfen. Aber wie Du sagst, ich werde darüber hinwegkommen und mich morgen in irgendeine Aktivität stürzen. Ich bin gewissermaßen masochistisch, mein Nachteil, ein Schönheitsfehler, wie meine buschigen Augenbrauen und der Leberfleck auf der Nase.

Ich weiß, wie besonders schwer es für Ruth war, den Bericht über ihren Gefängnisaufenthalt zu schreiben; das erste Buch seiner Art, das nach dem Rivonia-Prozeß erschien, bei dem Nelson Mandela und andere Führer des ANC zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Bei diesem Vorhaben, zu dem sie sich entschlossen hatte, mußte sie manche schwache Stelle ihres Wesens freilegen. Doch sie hegte die Hoffnung, daß durch diesen Bericht die Weltöffentlichkeit auf die Anliegen der immer zahlreicher werdenden Opfer jener physischen und psychischen Foltermaschinerie des Regimes aufmerksam würde. Tatsächlich drehte die BBC nach diesem Buch einen Fernsehfilm, und meiner Tochter Shawn diente er als Drehbuchvorlage zu ihrem Film A World Apart (Zwei Welten).

Ruth gehörte zu jener ersten Gruppe von Gefangenen, an denen die Spezialeinheit des Sicherheitsdienstes (nach neuesten Methoden westlicher Polizeiakademien) ihre frisch erworbenen Fähigkeiten auf dem Gebiet der psychischen Folter erprobte. Die Technik basierte auf einem teuflisch einfachen Prinzip: ein Frontalangriff auf die einzige Gesellschaft, die ein Gefangener in einer Einzelzelle hat – auf seinen Kopf. Für die ersten Opfer, an denen diese Foltermethode praktiziert wurde, war sie um so beängstigender, weil sie nicht wußten, was sie erwartete. Sie waren zu schlecht darauf vorbereitet, um damit fertig zu werden. Zusätzlich hatte der Sicherheitsdienst in Ruths Fall jemanden in seiner Gewalt, dessen Beziehungen zu wichtigen und weiten Kreisen des politischen Untergrundes breitgefächert waren. Es gab wenig, was sie nicht über das Rivonia-Hauptquartier und sein nationales Netz von Untergrundverbindungen wußte. Mit diesem Wissen belastet, mußte sie den Verhören standhalten. Als sie zunehmend fürchtete, sie könne zusammenbrechen, und sich zu einer harmlosen Aussage hinreißen ließ, die sie sowohl demütigte, als auch in ihrer Vermutung bestärkte, sie verliere ihre Selbstkontrolle und ihren klaren Kopf – versuchte sie sich umzubringen.

Der Gedanke verfolgte mich, daß ich meine Ehre verloren hatte … Ich hatte angefangen zu reden … Ich stand kurz vor dem Zusammenbruch … So quälte mich die grauenhafte Angst, daß sie meine Beziehungen zu denen, deren Verständnis und Unterstützung ich am meisten brauchte, zerstören könnten und daß, wenn sie dies schafften, mein Leben keinen Sinn mehr hätte … Es gab nur einen Ausweg …

Nach ihrer Freilassung, als wir alle wußten (was sie am Schluß ihres Buches prophezeit), »daß dies noch nicht das Ende war, daß sie wiederkommen würden«, antwortete sie auf meine Bitte, bald mit den Kindern nach London zu kommen: »Ich möchte keine unangebrachte Eile an den Tag legen, die Gründe verstehst du sicherlich. Einfach auf und davon zu gehen, ohne Rücksicht auf die Situation hier, würde zu traurigen Mißverständnissen führen.« Ich verstand, sie nahm Rücksicht auf die Situation am Ort, auf die ins Wanken geratene Untergrundbewegung, auf jene, die bis zum bitteren Ende kämpften wie Bram Fisher, der den Widerstand mit mutigem Einsatz lebendig zu halten versuchte. Ich schäme mich immer noch, daß sie, die gerade so viel durchgemacht hatte, mich daran erinnern mußte.

Schließlich kamen sie wieder – neunzehn Jahre später – am 17. August 1982 in Form einer Briefbombe, die explodierte. Auf den ersten Blick schien Ruth kein wichtiges Ziel. Sie stand nicht im Zusammenhang mit der Planung und Durchführung jener Art von Widerstandsaktivitäten, die die Regierung am meisten fürchtete, bewaffnete Aktionen. Sie war nicht mehr die Publizistin, deren Spezialgebiet die Befreiung war. Sie war eine Veteranin der Südafrikanischen Kommunistischen Partei, doch damals gehörte sie keinem Führungsgremium an; im Grunde stand sie eher am Rande der Partei, denn sie war eine ausgesprochene Gegnerin der stalinistischen Verbrechen und der daraus resultierenden tragischen Konsequenzen für den Sozialismus, an den sie leidenschaftlich glaubte. Warum dann sie? Daß gerade sie zum Ziel dieses Angriffs wurde, war weder eine Laune noch ein Zufall, es diente einem Zweck, der mit der Zeit seine eindeutige Erklärung fand.

Die Regierung in Pretoria ahnte, daß sie genug getan hatte, um Verzweiflung unter den jungen afrikanischen Staaten zu schüren, die nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit immer noch festen Boden unter den Füßen suchten. Direkte militärische Angriffe, Destabilisierung und der Einmarsch räuberischer Armeen hatten diesen Ländern schweren Schaden zugefügt. Und die Opfer, die so wenig Ressourcen zur Verfügung hatten, sich gegen diese Attacken zu wehren, fühlten sich zunehmend ohnmächtig. Die Reagans dieser Welt waren ›konstruktiv‹ in diese Räubereien verwickelt, und die Thatchers sabotierten jeden internationalen Versuch, effektive Gegenmaßnahmen zu ergreifen: was den Verdacht aufkommen läßt, daß der Schutz der eigenen Sippschaft ihnen wichtiger ist als die Sorge um die ›Menschenrechte‹ und die vielzitierte Eindämmung des Staatsterrorismus. Und der Rest der Welt scheint nicht gewillt oder nicht in der Lage, die ökonomischen und militärischen Mittel bereitzustellen, um diesen Anschlägen zu entgegnen oder sie abzuwehren.

In der politischen Periode, die Ruths Ermordung direkt vorausging, wurde Bothas Strategienzentrale durch diese Überlegungen veranlaßt, neue diplomatische Schachzüge in Betracht zu ziehen. Der Schlagstock, so mutmaßten sie, schien seinen Eindruck nachhaltig hinterlassen zu haben. Diejenigen, die er getroffen hatte, schienen ihre Lektion verinnerlicht zu haben; sie wußten, daß sie – um einen Satz Bothas abzuwandeln – die Wahl hatten, sich entweder Pretorias Willen zu beugen oder das Sterben ginge weiter. Um letztlich die Pläne der im Befreiungskampf des ANC verbündeten Staaten zu vereiteln, schien ein Vorstoß in Richtung ›gegenseitiger Sicherheitsübereinkommen‹ angebracht. Angefangen mit Swaziland, das sich jahrelang schämte, sein Bündnis mit Pretoria vor der Öffentlichkeit zuzugeben, nahm das rassistische Regime den fetteren Brocken, Mozambique, aufs Korn.

Denjenigen, die beauftragt waren, den Boden für diese neue Taktik zu bereiten, mußte Ruths Vernichtung ein wichtiges Detail gewesen sein, ohne das die Rechnung nicht aufgehen würde. Es war bekannt, daß sie mit dem, was sie mit großem Engagement lehrte, der schleichenden Illusion, jenem Wunschdenken entgegenarbeitete, daß Botha womöglich gewillt sei, von den Grundsätzen der Apartheid zugunsten einer Reformpolitik abzurücken und vielleicht durch die Prinzipien der Koexistenz und der guten Nachbarschaft zu achten. Und Ruth arbeitete nicht im Elfenbeinturm. Die Studenten des Instituts waren Partei- und Regierungskader, und die Stoßrichtung und Dynamik des Instituts begannen die Wissenschaftler und Forscher anderer akademischer Institutionen im südlichen Afrika zu beeinflussen.

Der wachsende Einfluß dieser Arbeit, in Mozambique selbst und andernorts, muß im Hinblick auf mögliche Reaktionen auf Pretorias ›gegenseitige Sicherheitsabkommen‹ als direkt relevant eingestuft worden sein. Die Thesen, die Ruth verbreitete, hatten in dieser Strategie keinen Platz, denn ihrer Ansicht nach konnte ein Handel mit Pretoria, wie Nkomati ihn eingegangen war, lediglich ein masochistischer Akt sein, wie sich dann später bewahrheitete. Also bestellte einer dieser Strategen, der seine Ziele höher schätzte als die Menschen, bevor er in Ruhe zu Abend aß, das Todespaket.

Ruths Hinrichtung gehörte zu einer Mordserie in allen Grenzstaaten. Jede Aktion war ein Bestandteil der Politik Pretorias in jenen Nachbarstaaten, die die Anwesenheit von Mitgliedern des ANC in ihrem Lande duldeten. Joe Gqabi zum Beispiel, Ruths ehemaliger Journalistenkollege beim Guardian und bei New Age, fiel ein Jahr zuvor einem Anschlag zum Opfer. Er hatte damals gerade eine Gefängnisstrafe von zehn Jahren abgesessen und war der Vorsitzende des ANC in Zimbabwe geworden. Er war vor seinem Haus in Harare niedergeschossen worden, eine Tat, die ihr Ziel, den jungen Staat zu terrorisieren, bis er seine Unterstützung der Afrikanischen Befreiungsfront noch einmal überdenke, völlig verfehlte. Und Jahre danach wurde der Präsident Mozambiques, Samora Machel, selbst umgebracht, indem man sein Flugzeug im Gebirge auf falschen Kurs lockte.

In Reden vor der Öffentlichkeit versuchen wir den Schmerz solch tödlicher Schläge zu lindern, indem wir betonen, daß die Gefallenen die Sache, für die sie gekämpft haben, durch ihren Tod vorantreiben. Langfristig betrachtet mag das stimmen, auch wenn es den persönlichen Zorn nicht lindern und den politischen Verlust nicht wiedergutmachen kann. Doch zeigt die Realität, daß unser Schaden dem Feind nicht immer ein Gewinn ist.

Gefängnis, Folter (die seit Ruths Gefängnisaufenthalt an Ausmaß und Ausgeklügeltheit unermeßlich zugenommen hat), Hinrichtungen, Massenmorde auf den Straßen und die Bomben und Kugeln der Meuchelmörder haben es nicht geschafft, den Widerstand derer, die gegen die Rassentyrannei sind, zu brechen. Vielmehr schwören nun die Massen an den Särgen der Opfer, den Kampf verstärkt und ohne Rücksicht auf die Gefahren für Leib und Leben weiterzuführen.

Ruths Beisetzung bezeugt dies. Sie wurde neben mehr als einem Dutzend Genossen des ANC, die in Maputo Opfer der Killer des Apartheid-Regimes wurden, beerdigt. Hunderte Bürger Mozambiques aus allen Bevölkerungsschichten – Minister, Putzfrauen, Soldaten, Frauen und Männer, Alte und Junge, Schwarze und Weiße – gingen hinter ihrem Sarg, als der Chor des ANC die Lieder unseres Freiheitskampfes sang.

Gefangener Mut ist Teil jener Ermutigung, die unaufhaltsam zu einer gerechten und harmonischen Gesellschaft und zum Frieden im südlichen Afrika führen wird. Von allen Büchern, die Ruth geschrieben hat, ist dies ihr vertraulichstes, ihr persönlichstes. Es ist auch eine Chronik ihrer beispielhaften Tapferkeit, und dies um so bewegender, weil Ruth sich offensichtlich des Muts, mit dem sie ihren Folterern gegenübertrat, nicht bewußt war.

Joe SlovoMärz 1988

 

Diese Einleitung wurde von Ruth Firsts Ehemann, Joe Slovo, zur Neuauflage dieses Buches geschrieben. Joe Slovo lebt heute im Exil in Zambia und ist das einzige weiße Mitglied des Exekutivkomitees des Afrikanischen Nationalkongresses.

Erstes Kapitel Die Zelle

Während der ersten sechsundfünfzig Tage meiner Einzelhaft verwandelte ich, die ich sonst meistens aufrecht lebte, mich in ein Wesen, das sich hauptsächlich in der Waagerechten aufhielt. Ein schwarzes Eisenbett wurde meine Welt. Es war zu kalt, um zu sitzen, also lag ich ausgestreckt auf dem Bett, versuchte die Stunden zu zählen, die Tage und Wochen und bildete mir gleichzeitig ein, ich täte es nicht. Die Matratze war zerbeult; die grauen Gefängnisdecken waren schwer wie feuchtes Segeltuch und rochen nach schimmeligen Kartoffeln. Ich gewöhnte mich an den Geruch und legte mich um die Buckel in der Matratze. Beim Eintreten sah die Zelle wie ein Verlies aus, klaustrophobisch. Betonkalt. Wenn die Glühbirne, ein einsames gelbes Auge mitten an der Zellendecke, nicht brannte, war die Zelle stockfinster; die Glühbirne beleuchtete den Schmutz an den Wänden, die zu Zweidrittel schwarz gestrichen waren. Der Rest war früher weiß gewesen, war mittlerweile von einer grauen Schmutzschicht bedeckt; das Fenster in der Wand, hoch über dem Kopfende des Betts, war doppelt und dreifach vergittert, und an allen Gittern klebte schwarzer Ruß. Das Fenster wirkte wie ein Verschluß, nicht wie eine Öffnung. Drei Schritte von der Tür stand ich bereits am Bett.

Wenn ich lange genug in dieser Zelle bleibe, so fürchtete ich, würde ich eines jener farblosen Insekten, die unter eine Welt aus flachen grauen Steinen schlüpfen, fern von Himmel und Sonne, Gras und Menschen. Auf dem Eisenbett war es wie in einer Streichholzschachtel. Eingeschlossen lag ich auf meinem Bett und hatte das Gefühl, meine Arme müßten gerade neben mir liegen, krampfhaft ordentlich, ausgestreckt. Doch das Bett bedeutete mein eigentliches Leben, hier konnte ich meine Geheimnisse haben. Auf dem Bett fühlte ich mich sicher. Ich brauchte die Zelle nicht zu sehen, ich konnte so tun, als gäbe es sie nicht, und es mir so gemütlich wie möglich machen. Ich schlief, solange ich Lust hatte, ohne Angst, gestört zu werden. Ich dachte nach, ohne abgelenkt zu werden. Ich lag sicher auf dem Bett und wartete, was geschehen würde.

Doch kaum eine Stunde hatte ich in der Zelle verbracht, da ging ich auf und ab, hin und her, wie sonst Gefangene in schlechten Romanen. Wenigstens versuchte ich es, denn der Raum war, um darin zu gehen, nicht groß genug. Das Bett nahm fast die gesamte Länge der Zelle ein, und in dem Raum zwischen Bett und Wand stand ein schmales Regal. Ich konnte nicht im Kreis gehen, ich konnte die Zelle nicht einmal durchqueren. Um festzustellen, wie groß die Zelle war, nämlich 2,5 mal 2 Meter, maß ich am Bett und Regal entlang und kroch dann mit dem Schuh in der Hand unters Bett, um die Breite des Raumes zu messen. Die exakten Maße schienen mir wichtig. Vielleicht würde mich – wann? – einmal jemand danach fragen. Nach der Vermessungsaktion verkroch ich mich im Bett. Ich konnte vier verschiedene Lagen einnehmen, Rücken, Bauch, beide Seiten, dann sämtliche Variationen, ausgestreckt oder eingerollt. In einer langen Nacht erschien ein Lagewechsel ein mit einem Spaziergang vergleichbares Unterfangen. Wenn ich die Knie anzog, lagen sie auf gleicher Höhe mit dem Satz: Ich bin hier, weil ich mein Baby ermordet habe. Ich bin vierzehn Jahre alt. Jemand hatte ihn mit einer Nadel in die Wand gekratzt. Die Aufseherinnen erzählten, daß sie sich an das Mädchen erinnerten. An die Verfasser der übrigen Inschriften erinnerten sie sich nur undeutlich. Magda liebt Vincent auf immer und ewig erschien mehrmals mit beharrlicher Ergebenheit. Andere drückten ähnliche Gefühle in unzüchtigen Worten und allzu deutlichen Illustrationen aus, und zwischen den Obszönitäten tummelten sich Herzen und Pfeile an der Wand. Die Frauen, die nach dem Sharpville-Massaker inhaftiert worden waren, hatten ihre Spuren hinterlassen, ihr Slogan Mayibuye i’ Afrika (Für eine Wiederkehr Afrikas) war immer noch schwach sichtbar. Die Betonwände besah man sich besser nicht, doch selbst wenn ich die Augen schloß und tiefer im warmen Bett versank, gab es anderes, das mich an die Zelle erinnerte. Die Polizeiwache hatte überall schwere Stahltüren. Sie dröhnten, wenn sie zugezogen wurden, und der Hall hämmerte mir in Hals und Schultern, ich konnte das Echo in meinem Rücken spüren, wie es die Flure entlang, die Treppe hinauf durch das zweistöckige Polizeigebäude ging. Die Türen hatten innen keine Klinken, und diese dröhnenden Türen ohne Klinken wurden, mehr noch als die vergitterten Fenster, mehr als die Betonwände der Zelle, zum ständigen, demütigenden Symbol des Eingekerkertseins, wie die Zwangsjacke für den Anstaltsinsassen es sein muß.

Sechs Stunden, bevor ich diese Zelle zum erstenmal betrat, hatte ich gerade den großen Lesesaal der Universitätsbibliothek verlassen. Ich hatte mir für diese Woche vorgenommen, Atlanten für die Bibliothek auszuwählen, und hielt Notizen in der Hand, die ich mir eben gemacht hatte:

 

Atlanten vor 1961 beinah ebenso unbrauchbar wie Straßenkarten von 1920 – Häufigkeit und Exaktheit der Überarbeitungen prüfen, Spezialkarten untersuchen, z.B. Verteilung der Bodenschätze und Bevölkerung, auf Einzelheiten und Lesbarkeit achten – vergleichbare Maßstäbe kontrollieren – Index – Legende der technischen und kartographischen Begriffe, usw. usw.

 

Der Bibliothekarskurs war der Versuch einer neuen Ausbildung. Neuerdings war mir Schreibverbot auferlegt worden, ich durfte kein Material zur Veröffentlichung sammeln, durfte für keine Zeitung arbeiten. Fünfzehn Jahre Journalismus hatten ein Ende gefunden. Ich hatte fünf Bücher publiziert, und eins nach dem anderen waren von der Nationalistischen Regierung verboten oder gebannt worden. Es gab in Südafrika keine Zeitung mehr, die mich beschäftigen würde oder konnte, ohne sich der Komplizenschaft beim Verstoß gegen Regierungsanweisungen schuldig zu machen. Also hatte ich aufgehört, vertriebene Landarbeiter zu interviewen, Arbeitsbedingungen und Löhne der Beschäftigten in den Goldminen zutage zu fördern, über Streiks und politische Kampagnen zu berichten. Statt dessen hatte ich zu lernen begonnen, wie man Bücher katalogisiert und klassifiziert, Bibliographien zusammenstellt, und die Regale der Bibliothek erschienen mir ein kümmerlicher Ersatz für die Menschen und das Tempo, die Atmosphäre bei der Zeitung.

Zwei Männer kamen steif auf mich zu.

»Wir sind von der Polizei.«

»Ja, ich weiß.«

»Kommen Sie bitte mit. Oberst Klindt möchte Sie sprechen.«

»Bin ich verhaftet?«

»Ja.«

»Nach welchem Gesetz?«

»Neunzig Tage.«

 

Irgendwie gelang es mir in der Bibliothek, als ich die Nachschlagewerke auf meinem Tisch zusammenpackte, die Nachricht von D., die man mir morgens überbracht hatte, aus meiner Handtasche zu fischen und unter einen Stapel Notizen zu schieben. In der Nachricht war von einem neuen Treffpunkt die Rede, der einwandfrei und unbekannt war, wie D. schrieb. Er würde dort einige Tage sein.

Die beiden Geheimpolizisten nahmen mich in ihre Mitte, und wir verließen das Universitätsgelände. Ein indischer Student sah, daß ich eskortiert wurde, und rief: »Ist alles in Ordnung?« Ich schüttelte heftig den Kopf, und er stürzte davon in Richtung Telefonzelle; vielleicht erreichte er die Redaktion der Nachmittagszeitung noch vor Redaktionsschluß: Eine Neunzig-Tage-Haft war eine Nachricht wert.

Die Hausdurchsuchung dauerte mehrere Stunden. Sie war schlimmer als andere in früheren Jahren. Manche waren reine Formalitäten gewesen, Routineaktionen gegen ›Agitatoren‹. Nach der Hausdurchsuchung 1956, die angsteinflößend und ausführlich gewesen war, wäre ich beinah wegen Hochverrats angeklagt worden. Ich versuchte, die Gesichter der Kinder zu verdrängen, als man mich abführte. Shawn war in den Garten geflohen, damit ich sie nicht weinen sähe. Ich saß auf dem Vordersitz zwischen zwei feisten Polizisten, drei andere athletisch gebaute saßen auf dem Rücksitz. Ich war fest entschlossen, meine Furcht vor einer möglichen Einzelhaft nicht zu zeigen, und dennoch warf ich mir meinen Leichtsinn vor. Unter einem Stapel Ausgaben von New Statesmen lag eine einzelne Nummer von Fighting Talk, die ich beim letzten Großreinemachen, als ich alle verbotenen Schriften in unserem Haus vernichtete, vergessen haben mußte. Der Besitz von Fighting Talk, dessen Herausgeberin ich neun Jahre lang gewesen war, wurde mit Gefängnis nicht unter einem Jahr bestraft. Arrest und Verhöre auf unbestimmte Zeit standen mir womöglich bevor, unter Umständen, zum Zwecke einer polizeilichen Untersuchung, Isolationshaft; und ich wußte, daß selbst wenn sie nichts aus mir herausbekämen, ich mir diese Haft durch meinen Leichtsinn selbst zuzuschreiben hätte, weil ich nicht sämtliche illegale Literatur aus meinem Haus entfernt hatte. Dieser Gedanke verursachte mir von da an ein bleiernes Schuldgefühl.

Die fünf Grobiane von der Polizei machten während der Fahrt zur Marshall-Square-Wache auf Afrikaans ihre Witze. Nur einmal sprachen sie mich direkt an: »Wir wissen manches«, sagte einer von ihnen. »Wir wissen alles. Das ist alles nur Ihre Schuld. Wir wissen …«

Es war gegen sechs Uhr nachmittags, als wir zur Polizeiwache kamen. Der dickste meiner Begleiter trug meinen Koffer zum Eingang Europeans Only. Als wir zur Wache kamen, schaute er nach oben und sagte: »Bye-bye, blauer Himmel«, und lachte über seinen gelungenen Scherz.

»Neunzig Tage«, sagte der Mann vom Sicherheitsdienst zum Polizisten hinter dem Schalter.

»Skud haar« (Stell sie ordentlich auf den Kopf), sagte der diensthabende Polizist zur Aufseherin.

Als wir aus ihrem Büro zurück ins Büro der Polizisten kamen, beschwerten sich alle drei über meinen Koffer. »Das können Sie nicht mitnehmen, das auch nicht, das auch nicht«, und auf dem Tisch häuften sich die verbotenen Kleidungsstücke. Bettwäsche war erlaubt, ein kleines Kissen, ein Schlafanzug, ein Morgenmantel. »Der Gürtel nicht«, bellte der Polizist, auf den Morgenmantel deutend, und der Gürtel wurde aus den Schlaufen gezogen. »Keine Plastiktüte.« Er zog die Watte aus dem Beutel, und sie lag wie das Eingeweide einer hygienischen Riesenraupe da. Kein Stift. Keine Halskette. Keine Nagelschere. Kein Buch. Die Kartause von Parma gesellte sich zum konfiszierten Brandy und dagga (Haschisch) in der Polizeikammer.

Ich war schon einmal im Frauengefängnis am Marshall Square gewesen, 1956, zu Beginn des Hochverratsprozesses, doch der Grundriß der Wache war immer noch verwirrend. Die Flure und Höfe, durch die wir gingen, waren menschenleer. Der finstere Gang führte in eine noch finsterere Zelle. Die Zellentür schlug zu, zwei weitere Türen gleichfalls. Es gab nur noch das Bett, auf das ich zugehen konnte.

 

Was wußten sie? Hatte jemand geredet? Würden ihre Fragen mir mögliche Hinweise geben? Wie sollte ich mich während der Verhöre verhalten, um herauszufinden, was ich wissen wollte, ohne dabei sofort zu erkennen zu geben, daß ich fest entschlossen war, ihnen nichts zu verraten? Wenn ich mich gleich in der ersten Sitzung verstockt zeigte, mich weigerte, mit ihnen zu sprechen, würden sie mir keinerlei Fragen stellen, die mir vielleicht erklärten, worauf sie hinauswollten. Ich mußte eine Methode entwickeln, auf ihre Fragen nicht einzugehen, ohne explizit zu erklären: »Ich werde nichts aussagen.«

Ruhig, doch schlaflos lag ich stundenlang auf dem Bett, bewegte meinen Rücken und meine Beine um die Buckel der Matratze und versuchte mein erstes Verhör zu planen. Würde ich ihren ersten Fragen entnehmen können, ob sie wußten, daß ich in Rivonia war? Verdächtigte man mich nur generell, weil ich zu lange Mitglied des Afrikanischen Nationalkongresses war, zu lange an den Zeitschriften der Freiheitsbewegung mitgearbeitet hatte, um nichts zu wissen; weil ich Mandela und Sisulu, Kathrada und Govan Mbeki kannte, die in Rivonia verhaftet worden waren?[1] War ich verhaftet worden, weil die Sicherheitspolizei wütend darüber war, daß Joe das Land verlassen hatte – zufällig einen Monat vor dem verhängnisvollen Überfall auf Rivonia? Erwartete man eine Erklärung von mir, warum Joe gegangen war? Hatte man mich auf dem Weg zu einem verbotenen Treffen beobachtet? Hatte die Polizei zwischen anderem Belastungsmaterial Papiere gefunden, die auf meiner Schreibmaschine geschrieben worden waren?

Oder hielt die Sicherheitspolizei mich nicht fest, um mich zu verhören, sondern weil sie durch ihre Untersuchungen auf mich aufmerksam geworden waren und mich verurteilen wollten? Versuchten sie meine Flucht zu verhindern, bis die Polizei eine Anklageschrift verfaßt hatte? Ich beschloß, bei meinem ersten Verhör nicht eher zu reden, bis ich wußte, welche Vergehen man mir vorwarf. Auf die Frage, ob ich bereit sei zu reden, würde ich erklären, das könne ich unmöglich sagen, bevor ich nicht wüßte, ob mir eine Verurteilung drohe. Eine Verhaftung aufgrund des Neunzig-Tage-Gesetzes könne schließlich alles bedeuten. Es könne benutzt werden, um Gefangene zu Geständnissen zu zwingen, und selbst wenn diese Geständnisse – bei der damaligen Rechtslage – nicht gerichtsverwertbar waren, so konnten sie doch den Verdacht der Sicherheitspolizei bestätigen und eine Anklage auslösen. Meine Gesetzeskenntnis war vage, als Frau eines Rechtsanwaltes wußte ich einiges vom Hörensagen, dazu kam meine eigene Erfahrung mit der Polizei als politisch engagierte Organisatorin und Journalistin. Wer verhaftet wurde, hatte bei seiner Vernehmung Recht auf die Hilfe eines Anwalts. Wenn man mir keinen Beistand durch einen Anwalt zubilligte, würde ich darauf bestehen, daß ich mich, so gut ich konnte, selbst verteidigte. Also konnte ich unmöglich irgendwelche Fragen beantworten, bevor ich wußte, ob die Polizei bereits Beweismaterial gegen mich sammelte. Und – so würde ich erklären – ich könne natürlich auch nicht im voraus sagen, ob ich ihre Fragen beantworten würde. Ich müßte wissen, was sie wollten, dann wüßte ich auch, wie ich mich verhalten würde. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel, das nur von begrenzter Dauer sein konnte, das wußte ich, doch es würde sich lohnen, bis ich einiges über ihre Taktik herausgefunden und womöglich etwas über den Stand der polizeilichen Ermittlungen in Erfahrung gebracht hätte. Wenn sie das Spiel leid wären oder – was nicht schwer war – durchschauten, hatte ich nichts verloren. Die Zeit war sowieso auf ihrer Seite. Wenn sie sich in die Karten schauen ließen und absichtlich oder zufällig zeigten, was sie über meine Aktivitäten wußten, hatte ich noch nichts gesagt und wäre obendrein gewarnt. Falls ich bald vor Gericht käme, würde ich hoffentlich mit Hilfe eines Anwalts die Schwere der Beweise einschätzen können, die gegen mich vorlagen. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß sie einiges an Informationen durchsickern ließen, und vielleicht war es sogar möglich – obwohl es in dieser ersten Nacht in der Zelle unwahrscheinlich erschien –, daß ich diese Informationen nach draußen geben könnte, um jene zu warnen, die noch frei waren.

Bevor ich einschlief, kam mir die sorgfältig gefaltete verbotene Ausgabe von Fighting Talk wieder in Erinnerung. Im besten Falle würde ich freigelassen, weil kein Beweismaterial gegen mich vorlag … und ich dem Druck der Verhöre standgehalten hatte … Aber ich würde vor Gericht gestellt und zu Gefängnis verurteilt, weil ein einzelnes Exemplar einer verbotenen Zeitschrift hinten in meinem Bücherschrank gelegen hatte. Wie unordentlich von mir! Besonders gut würde sich diese Meldung in der Zeitung nicht machen!

*

Ich schlief ein, um bald wieder aufzuwachen. In meinen Ohren pochte der Lärm der Polizeiwache. Die Zelle lag isoliert und war dennoch einer Kakophonie von Geräuschen ausgesetzt. Ich lag inmitten des Lärms und konnte nichts sehen. Draußen heulten Motoren, Auspuffrohre knatterten, Wagentüren schlugen, und laut und kurz klangen Kommandos. Nur die Häftlinge schwiegen sklavisch ergeben. Es war Freitagnacht, die Nacht der Polizeirazzien. Polizeifahrzeuge und kwelakwelas[2], uniformierte Polizisten, Geheimpolizisten in Zivil durchkämmten Lokale und Pensionen, Höfe und Spelunken, um die Stadt von Verbrechen zu säubern, und die Tore der Wache am Marshall Square standen weit offen, um die Beute dieses Streifzugs in Empfang zu nehmen.

Plötzlich wurde es auf der anderen Seite des Bettes laut. Türen, die zu anderen Türen führten, wurden geöffnet, die letzte keinen Meter entfernt; ich bekam Nachbarschaft, direkt gegenüber, ein ungesehenes, gestaltloses Wesen, das im Delirium wie eine Krähe fluchte.

»Wasser, Wasser. Ek wil water kry. Um Himmels willen, gebt mir etwas zu trinken.«

Keuchen und Würgen, dann wieder Geschrei. Wasser, Wasser. Mein Hals war mit einemmal trocken, und ich lechzte nach Wasser.

Noch zweimal wurde ich durch das Scheppern der Türen aus dem Schlaf gerissen, und die Aufseherin kam herein. Sie machte ihre Runde, um wie gewöhnlich die Gefangenen zu zählen. »Schlafen Sie nie?« fragte sie.

Auf einmal öffnete sich lärmend die Tür und eine andere Aufseherin starrte in die Zelle. Sie brachte ein Blechtablett mit einem harten Ei, zwei Brotkanten und Kaffee in einer ehemaligen Marmeladenbüchse. Minuten später wurde die Krähe von gegenüber abgeführt. Die Aufseherin führte mich aus der Zelle, vorbei an einer weiteren Einzelzelle, in den Gemeinschaftsschlafsaal, in dem es hinter einer halbhohen Wand Waschbecken mit kaltem fließendem Wasser und eine Toilette ohne Deckel gab. Zu dem kalten Wasser bekam ich einen halben Eimer heißes Wasser, ich wusch mich, zog den Schlafanzug und meinen Morgenmantel an und wurde wieder in meine kleine Zelle geführt, kletterte zurück ins Bett. Mein erster Tag auf der Polizeiwache hatte begonnen.

*