Geh ein Stück mit mir - Martin Creutzig - E-Book

Geh ein Stück mit mir E-Book

Martin Creutzig

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Beschreibung

Robert sah sie kurz an und sie nickte, als er sie fragte: »Gehst du noch ein kurzes Stück mit mir?« Obwohl sie während der paar Stunden, die sie sich nun schon kannten, kaum geredet hatten, kam es ihm merkwürdig vor, wie viel sie sich gesagt zu haben schienen. »Für ein kurzes Stück habe ich noch Zeit«, antwortete sie. Was ist real, was nur Fantasie? Diese Frage stellt sich Vanessa am Anfang ihrer Karriere als Assistenzärztin in einem hannoverschen Krankenhaus, als sie die todkranken Patienten Anne und Joachim betreut. Während sie selbst mit ihrer Beziehung zu dem fast doppelt so alten Robert hadert, erlebt sie mit ihren Patienten eine unglaubliche Geschichte: Anne und Joachim, vom Schicksal gebeutelt und schwer suchtkrank, kennen sich noch von früher. Sie verlieben sich ineinander und versuchen in langen Gesprächen, ihre Leben im Nachhinein neu zu schreiben und einen gemeinsamen Lebensweg zu imaginieren, um glücklich sterben zu können. Die Grenzen der Wirklichkeit verschwimmen – was ist Vorstellung, was wirklich passiert? In ihrer Verunsicherung wendet sich Vanessa an Robert, dessen Lebenserfahrung sie plötzlich sehr viel näher zusammenbringt. Kann ihre Beziehung doch eine Zukunft haben?

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Martin Creutzig

Geh ein Stück mit mir

Roman

Die Realität ist eine Illusion, allerdings eine sehr hartnäckige

Albert Einstein

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

1. Der letzte freie Platz

2. Ein Nachmittag im Sommer

3. Eine Verabredung mit ihr – eine Verabredung mit ihm

4. Klinikalltag

5. Erste Urlaubstage

6. Doch nicht so ganz frei …

7. Bei Anne und Joachim

8. Vorbereitungen zur Grillparty

9. Eine fröhliche Grillparty

10. Jos Abschied

11. Die unsichtbare Welt

12. Über die Liebe und ihre Abkürzungen

13. Hier getrennt und dort vereint?

14. Allein, allein

1 • Der letzte freie Platz

Sie hatte Dienstschluss, endlich, und das Wochenende lag noch fast ganz vor ihr. Sie ärgerte sich, dass sie den Polo immer noch nicht in die Werkstatt gebracht hatte, um die Klimaanlage reparieren zu lassen. Die trockene Sommerhitze, die sich schon seit Wochen über das Land gelegt hatte, war unerträglich in einem unklimatisierten Wagen, aber sie war wegen ihrer vielen Schichten einfach nicht dazu gekommen.

Nach kurzer Fahrt in ihrem stickigen Auto hatte sie ihr Ziel erreicht. Meist hatte sie Glück, in der Nähe der Markthalle einen Parkplatz zu finden, sie war gern und häufig hier. Es ging entspannt zu, man bekam das Essen sofort und konnte Leute gucken. Doch an diesem Mittag ausgerechnet in der größten Hitze war natürlich jede Parklücke belegt. Sie seufzte und wischte sich mit ihrem Arm den Schweiß von der Stirn, bevor sie nachsah, ob das Gebläse im Auto auf die höchste Stufe gestellt war. Sie fühlte sich etwas erschöpft und freute sich wie ein kleines Kind auf den anstehenden Tapetenwechsel. Das war albern, aber sie konnte nicht anders.

Bei Rot an der Ampel klappte sie die Sonnenblende herunter und sah in den Spiegel, der darin einfasst war. Sie sah in ihr ovales Gesicht, das etwas mitgenommen aussah, aber so schön war wie immer. Allerdings fand sie selbst sich in diesem Augenblick weitaus weniger schön. Sie hatte Ringe unter ihren Augen; das kam von den verhassten Nachtschichten. Kritisch neigte sie ihren Kopf, um auf ihr Haar zu sehen. Das Gummiband hatte sie sich schon vom Zopf gezogen, als sie die Klinik verließ. In diesem Moment fand sie sich selbst etwas blöd, denn was sollte schon mit ihrem Haar passiert sein, nur weil sie müde aussah? Keine grauen Strähnen würden sich über Nacht neben den rötlichen Strähnen eingenistet haben. Was für ein Unsinn! Sie wollte loslachen, graues Haar kam selten von heute auf morgen und eher nicht im Alter von achtundzwanzig Jahren! Ja, es gab die Berichte über Menschen, die über Nacht ergraut waren und das auch schon in jungen Jahren, aber das hatte doch immer einen schwerwiegenden Grund. Vielleicht hatte sie deshalb etwas unsicher in den Spiegel gesehen, sie hatte schließlich eine harte Nachtschicht hinter sich: Doch nein, ihr Haar war glänzend hellbraun mit rötlichen Strähnchen, es war so wie immer. Doch ihr Gesicht darunter sah angestrengt aus und noch blasser als sonst. Das war die Anstrengung der vergangenen Stunden und Tage. Sie hasste es, wenn sie so bleich war, denn so sah sie irgendwie immer aus: ein wenig zu blass. Ihr Vater hatte rote Haare und diese blasse Haut gehabt. Irgendwie wirkte das immer etwas kränklich, fand sie, und bedauerte es daher, diese Blässe geerbt zu haben. Ein Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken würgte sie den ersten Gang rein, dass das Getriebe knarzte, und passierte mit einem Kavaliersstart die Kreuzung. Sie brauchte einen Parkplatz und zwar jetzt. Sie dachte darüber nach, den Radius der Parkplatzsuche zu vergrößern, aber dadurch wurde der Weg zu Fuß in der prallen Sonne länger, das kam nicht in Frage – da halfen nur noch Glück, Zufall und eine schnelle Reaktion, wenn jemand gerade ausparkte. So fuhr sie ein paar Mal um die Markthalle herum, immer wieder aufgehalten vom Rot der Ampeln, bis ihr eine Anzeige in ihrem Auto auffiel, die sie eigentlich noch nie bewusst wahrgenommen hatte, aber ihr Zeiger war in ein rotes Feld gerutscht. Das konnte nichts Gutes verheißen. Öl, Wasser? Sie hatte keine Ahnung! Ein Volkswagen hat zu fahren, wie ein Mensch zu leben hat, verdammt nochmal!, fluchte sie in böser Vorahnung, dass gleich irgendeine Flüssigkeit die Motorhaube überschwemmen würde, sie hatte das Bild schon konkret vor Augen, ebenso wie die Frage, warum sie die Daten von ihrem alten Handy noch nicht auf ihr neues übertragen hatte, denn auf ihrem alten Handy war die Nummer vom ADAC gespeichert gewesen. Endlich sprang die Ampel auf Grün, aber der Zeiger in diesem Feld unbekannter Bedeutung blieb dort, wo er war. Wäre ja auch zu schön gewesen!

Dann, auf der Rückseite der Markthalle entdeckte sie eine Familie, Eltern und zwei kleine Kinder, die augenscheinlich auf ein Fahrzeug in einer Parklücke zusteuerten – und ›Parklücke‹ war in diesem Moment so etwas wie ein gelobtes Land für Vanessa. Tatsächlich, während die Autoschlange langsam voranzuckelte, erkannte sie, dass die Familie einen riesigen Geländewagen anvisierte. Sie rollte ganz langsam auf die Höhe ein paar Meter vor dem Geländewagen, setzte den Blinker – Zeit gewinnen! – und wartete. Sie meinte, merkwürdige Geräusche zu hören, die aus dem Motorraum kamen. Deswegen drückte sie mit dem Fensterheber die Scheibe herunter und lauschte. Vielleicht war das Geräusch von draußen besser zu hören. War es aber nicht. Sie zuckte die Schultern und beobachtete die Familie, während sie das Scheibenputztuch aus der Türablage nahm, um sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, weil sie kein Taschentuch dabei hatte.

Der Mann hob den Zündschlüssel in die Höhe, um das Auto zu öffnen. Doch wahrscheinlich war er noch zu weit weg, denn solche Autos reagierten mit ihren Blinkern, wenn sie geöffnet wurden, und dieses Auto reagierte gar nicht. Die Frau schien ihren Mann daraufhin anzumaulen, jedenfalls schob er den Kinderwagen schneller in Richtung des Autos, während das Kind an der Hand der Frau zu quengeln begann. Der Mann hob erneut den Zündschlüssel und nun reagierte sein Auto, es blinkte verheißungsvoll. Vanessa rollte noch ein paar Zentimeter weiter an den Parkplatz heran, um die Schlange hinter sich in Schach zu halten. Sie sah in den Rückspiegel. Die Fahrer hinter ihr waren ruhig. Noch.

Der Mann nahm sein Kind aus dem Kinderwagen, das Kind schrie, er redete beruhigend auf es ein und blieb auf dem Gehweg stehen, während ihm seine Frau, das andere quengelnde Kind an der Hand, Ratschläge gab. Ihr Ton wurde deutlich genervter, als die Bemühungen ihres Mannes zu nichts führten. Der Mann nahm nach einigen Minuten das schreiende Kind und setzte es schließlich in das Auto, woraufhin seine Frau einen Wutausbruch bekam, den Vanessa sogar noch durch die geschlossenen Scheiben hätte hören können. Was für ein rücksichtsloses Schwein er sei, weil er so rabiat vorgegangen war! Vanessa hoffte, dass er trotzdem schnell und effizient beim Verladen seiner Familie war, denn ihr Blick wechselte nervös vom Schauspiel beim Geländewagen zum Rückspiegel und der mittlerweile mächtigen Schlange hinter ihr. Warum überholte denn keiner? Mittlerweile quengelte das Kleinkind an der Hand seiner Mutter nicht mehr, sondern es plärrte laut und versuchte sich loszureißen.

Hinter Vanessa waren die ersten Hupen zu hören. Sie schaute weiterhin gebannt diesem Familienkrieg in der Parklücke zu, doch gleichzeitig spürte sie den Druck, der sich hinter ihrem Auto aufbaute. In diesem Moment musste sie an ihren Vater denken. Er hatte immer zu Contenance geraten und Contenance war in Vanessas Familie eine Regel, die man nerven- und kräfteschonend einhielt. ›Die Contenance‹, hatte ihr Vater ihr erklärt vor seinem viel zu frühen Tod, der der Grund dafür war, weshalb sie Ärztin geworden war, ›die Contenance ist ein Lebensprinzip. Sie hält aber auch die Reserven bereit, sich energisch durchzusetzen, wenn es denn sein muss.‹ Mit dieser Anleitung stets im Herzen, wurde sie ein sehr ausgeglichener Mensch, eigentlich nicht aus der Ruhe zu bringen und doch sehr sensibel, gelegentlich aber ritt sie scheinbar der Teufel, dann war sie zu Scherzen aufgelegt, die ihr niemand zutraute, die fielen gelegentlich sogar derbe aus. Vielleicht kamen dann die Gene ihrer Mutter zum Vorschein, einer bildhübschen Frau, die ihr Temperament in die Welt versprühte und eigentlich nie aus dem Reden herauskam. Sie hatte dunkle Haare, war zierlicher als ihre Tochter, kam ursprünglich aus England und war in Munster aufgewachsen. Ihr Vater, Vanessas Großvater, war Offizier bei den Briten gewesen. Vielleicht war das der Grund, weswegen Vanessas Mutter trotz ihres Temperaments stets Haltung bewahren konnte. Sie bewahrte auch deswegen ihre Haltung, weil sie ihre Missachtung Dingen gegenüber, die sie nicht mochte oder die sie anwiderten, mit einem bisweilen schwarzen Humor oder einem beißenden Zynismus überzog. Wenn Vanessa ihre Eltern vor Augen hatte, kam sie zu dem Schluss: ›Haltung und Contenance vertragen sich gut‹.

Manchmal hatte Vanessa die Befürchtung, man würde sie als ›Schlaftablette‹ einschätzen, doch das war unbegründet. Früher hätte man vielmehr von einer ›gesitteten jungen Dame‹ gesprochen und heute schätzte man sie als eine coole Frau ein – vielleicht eine Spur zu cool. Wer sie näher kennenlernte, kannte aber auch ihre Scherze und den von ihrer Mutter ererbten schwarzen Humor.

Die Krankheit ihres Vaters hatte Vanessa nie losgelassen und sie motiviert, den Arztberuf zu ergreifen und die Krebsleiden der Menschen zu erforschen und zu heilen. Sie war nun Ärztin, aber es beunruhigte sie, wie sehr der aufreibende Krankenhausbetrieb die Festung ihrer Contenance schleifte und dass der schwarze Humor dort grundsätzlich unerwünscht war. In Bezug auf Krebspatienten war das nachvollziehbar, aber sie konnte ihn nirgendwo mehr ausleben, denn privat war sie sehr allein. Gleich nach dem Abitur, sie war vor allem nach dem Tod ihres Vaters eine herausragend gute Schülerin gewesen, hatte sie mit ihrem Studium der Medizin begonnen. Kein Numerus Clausus hatte ihr den Weg verbaut. Sie war sehr fleißig auch im Studium gewesen – immer auf der Suche nach der Ursache für den Tod ihres geliebten Vaters und wie man ihn hätte verhindern oder wenigstens hinauszögern können. Bei allem oder auch wegen allen Erfolgs bemerkte sie gar nicht, wie einsam sie dabei geworden war. Denn alles in ihrem Privatleben hatte sie ihrem Studienziel untergeordnet. Sie war dabei ziemlich konsequent vorgegangen. Persönliche Beziehungen, Freundschaften, Liebe oder gar Sex waren eine eher theoretische, seltene Größe geblieben, medizinisch und psychologisch kannte sie alles darüber, aber für sie persönlich war ein Händedruck schon eine intime Geste geworden.

Sie erwachte aus der Erinnerung an ihren Vater und ihre Mutter, denn hinter ihr war ein Hupkonzert entbrannt. Sie blickte wieder geradeaus auf die noch immer belegte Parklücke. Das Kind hatte sich von der Mutter losgerissen und war direkt vor ihren stehenden Polo gelaufen, dabei war es sogar noch gestolpert, denn die Straße hinter der Markthalle war kopfsteingepflastert, und es war hingefallen. Die Mutter war außer sich. Sie brüllte nur noch, sie riss ihr Kind vom Pflaster, schleifte es in das riesige Auto, während ihr Mann versuchte, hektisch den Kinderwagen zusammenzuklappen, was ihm nicht gelang. Der Mann musste Akademiker sein, folgerte Vanessa, irgendetwas Praxisfernes, vielleicht ein Universitätsprofessor mit Profilneurose – wegen des übertriebenen Geländewagens mitten in der Stadt. Im Kinderwagen lag der Einkauf, den der Mann offenbar vergessen hatte und der jetzt Probleme beim Einklappen machte. Vanessa hatte Mitleid mit dem Mann, während fiese Sätze seiner Frau auf ihn einprasselten.

Das ungeduldige Hupkonzert ließ den Mann gehetzt um sich blicken, während seine Frau, mittlerweile im Auto, weiter herumschrie und beide Kinder laut weinten. Gerade eingestiegen, kam die Frau völlig entnervt wieder heraus; die schreienden Kinder schienen sie gar nicht mehr zu interessieren, sie hatte einen sehr entschlossenen Gesichtsausdruck, schnappte sich den Kinderwagen, zog den Einkauf aus dessen unterer Etage, pfefferte ihn in den Kofferraum des Geländewagens, bückte sich und klappte den Kinderwagen mühelos zusammen, als sie seine Arretierungen mit energischer Hand löste, während ihr Mann mittlerweile mit ausdruckslosem Gesicht am Rand der Heckklappe stand. Obwohl dieses Riesenauto eine Taste zum Schließen der Heckklappe haben musste, griff die Frau nach dem Blech der Klappe und knallte sie mit aller Kraft nach unten, wo sie laut knirschend in der Arretierung landete.

Vanessa hörte Martinshörner, und sie sah sich erschrocken um. Doch kein Blaulicht war in ihrer Nähe zu sehen. Es war eine Berufskrankheit, bei dem Geräusch gleich in Alarmbereitschaft zu sein. Doch sie hatte hier nichts zu befürchten; weder einen unerwarteten Einsatz noch einen schrecklichen Unfall – sofern diese Frau ihren Mann nicht auf offener Straße köpfte.

Die Frau lief nun auf ihren Gatten zu, stellte sich – die wartende Vanessa völlig ignorierend – in einem sehr kurzen Abstand vor ihn, der jede Distanz vermissen ließ, und starrte ihn mit einem vernichtenden Blick in die Augen. Sie hätte ihn nicht ohrfeigen müssen, ihr Blick war schlimmer. ›Gott‹, dachte Vanessa verstohlen betend, ›lass mich nie werden wie sie und gib mir keinen Mann wie ihn.‹ Niemals zuvor hatte Vanessa gebetet.

Das Ehepaar war nun eingestiegen und das Riesenteil von Geländewagen setzte endlich zurück und verließ mit einem lauten Grollen den Parkplatz. Vanessa bog hastig in die Parklücke, völlig genervt und mit dem festen Vorsatz: ›So werde ich nie!‹

Wenig später war sie ausgestiegen. Der Sommer war schön, aber so viel Hitze!, stöhnte sie in Gedanken. Als sie endlich die schwere Flügeltür aus Eisen zur Markthallte öffnete, meinte sie, der Schlag zu treffen – und das war kein Hitzschlag.

Sie drang ein wenig in die Halle vor und sah sich nach einem freien Platz um. Aber die Markthalle von Hannover quoll an diesem Samstagmittag über vor Menschen. Horden hungriger Helden des Fußballs durchkämmten die Halle auf der Suche nach einer Stärkung vor dem Spiel der 96er-Mannschaft und verstopften die Gänge zusätzlich zu dem üblichen Samstagsgedränge.

Die Frage, was sie sich zu Essen aussuchen würde, stellte sich gar nicht mehr, vielmehr ging es nur noch darum, wo ein freier Platz war, und das, was dort angeboten wurde, würde sie dann auch nehmen. Klar, sie hätte ganz woanders essen gehen können, aber sie war hier samstags oft und auch gern. Und außerdem hatte sie auf der Parkplatzsuche genug durchgemacht, da würde sie jetzt auch einen freien Sitzplatz finden! So schnell kaufte ihr keiner den Schneid ab.

Nun stand sie überlegend mitten in der Markthalle. Sie schielte vom Hauptgang aus in die Quergänge, die Tische mancher Quergänge ragten in die Hauptgänge hinein, und dann hatte sie ihn entdeckt: den vermutlich einzigen freien Platz in der Markthalle!

Sie drängte sich durch Menschentrauben hindurch, entschuldigte sich, fand freie Durchgänge, doch eine Gruppe von Fußballfans war besonders stumpf. Sie standen mitten im Gang und zwar so breit, dass ein Durchkommen nicht möglich war. In diesem Moment wurde ihr klar, wieso die zähe Masse an Leuten zum Stillstand gekommen war. Die Fußballfans standen da und diskutierten über das anstehende Spiel, alle Mann eine Bierflasche in der Hand und die Leute um sie herum gab es für die gar nicht. Vanessa sah den Platz, der immer noch frei war, aber jederzeit von der anderen Seite des Gangs aus besetzt werden konnte. Dieser Platz befand sich ausgerechnet bei ihrem Lieblingsitaliener und das Einzige, das sie hinderte, dorthin zu gelangen, war die Fußballfan-Traube mitten im Gang.

»Darf ich bitte mal durch?«, fragte sie irgendeinen Hünen im Hannover-Trikot. Doch der trank Bier und war mitten im Streit mit einem anderen, der das gleiche grüne Trikot trug. Als sie ›Bayern München‹ aufschnappte, verstand sie die Aufregung in der Gruppe. Aber nun war sie nach dem Nachtdienst wirklich erschöpft und das, was an ihr zehrte, war mehr als nur profaner Hunger, das Fußballspiel war ihr daher herzlich egal. Vanessa rüttelte ungeduldig am Trikot des Mannes. »Ich möchte bitte durch!«, sagte sie höflich, aber bestimmt. Er sah sich kurz zu ihr um, die Bierflasche in der Hand und nickte. Der Riese bewegte sich zur Seite und Vanessa sah ihn dankbar an. Sie lief los – direkt in die Gruppe hinein.

Es war ein Missverständnis gewesen. Der Riese hatte sie gar nicht wahrgenommen; seine Bewegung zur Seite öffnete zwar den Kreis, aber eigentlich hatte er nur vorführen wollen, wie es möglich war, dass der Thomas Müller eine so gefährliche Ballführung hatte. Vanessa hatte gemeint, nun freie Bahn zu haben, als der Fan seinen Fuß zu Demonstrationszwecken anhob. Sie stolperte darüber und in der Abwärtsbewegung ihres Sturzes hielt sie sich mit ihrer rechten Hand im Hosenbund des Fußballfans fest. Ihr linker Arm ruderte hilflos in der Luft herum, traf von unten die Bierflasche des links stehenden 96er-Fans, aus der er gerade trank, und ihre nach oben ausgeführte Handbewegung führte dazu, dass ihm die Flasche gegen seine Schneidezähne und die Oberlippe knallte.

Sie spürte plötzlich Hände von hinten, die sie auffingen. Sie sah sich erschrocken um, denn sie hatte blitzschnell mitbekommen, was sie angerichtet hatte, aber der Mann hinter ihr lächelte freundlich. »Fast wäre es passiert, oder?«, fragte er. Sie nickte nur, sah nach vorn, der Typ links von ihr trank kein Bier mehr, er hielt sich die blutende Oberlippe, aber er sagte nichts. Die Diskussion in der Gruppe war jäh unterbrochen. Bevor sie sich die verletzte Unterlippe selbst ansah, blieb sie jedoch lieber inkognito. »Sorry, ähm, brauchen Sie einen Arzt?«, fragte sie nur kurz angebunden, sah den Mann an, der seinen Kopf schüttelte, und stürzte aus dem Schwarm der 96-Fans auf der anderen Seite des Kreises heraus und flitzte zu dem freien Platz, den sie nun endlich ergattert hatte.

Sie schwang sich auf den Stuhl, der so hoch war wie ein Barhocker, holte tief Luft und stieß laut aus: »Geschafft«!

Ihr gegenüber saß ein Mann, dem sie keine Aufmerksamkeit schenkte. Stattdessen sah sie sich nach dem Angebot um, hier gab es ihr Lieblingsessen und die Frau, die den Stand betrieb, war eine beleibte Zeugin dafür, dass es schmecken musste. Vanessa blickte unentschlossen zum Tresen, wo sie ihre Bestellung aufgeben musste, und gleichzeitig auf ihren mühsam erkämpften Sitzplatz.

Sie blieb, wo sie war – in der Sicherheit, ihren Sitzplatz nicht wieder hergeben zu wollen. Denn würde sie aufstehen, um am Tresen zu bestellen, könnte jederzeit so ein Quereinsteiger vom Gang ihren Platz kapern und sie stünde da mit ihrem Teller voller leckerer Pasta verschiedener Sorten und zwei Bouletten obendrauf und müsste versuchen, das Ganze im Stehen zu essen, was gar nicht möglich war.

»Gehen Sie ruhig«, sagte eine Stimme ganz nah bei ihr – der Mann, der ihr gegenüber saß. »Ich halte Ihnen den Platz frei, solange Sie bestellen.«

»Danke«, sagte sie überrascht, dann ging sie und bestellte, bekam die leckere Pasta, nahm noch eine Cola, ›light‹ natürlich, und zahlte.

Der Beschützer ihres Sitzplatzes aß immer noch, als sie zurückkam, und er aß auch dann noch, als sie mit ihrem Essen schon fertig war, nur ihre Cola stand da immer noch unberührt auf dem Tisch.

Ab und an hatte er zu ihr herüber gesehen, aber sie konnte in seinen Augen nichts lesen. »Ich hatte so einen Hunger!«, sagte sie, als ihr Teller ratzeputz leer war. Sie war etwas verlegen, so wie sie das Essen verschlungen hatte. Sie erwartete von ihm irgendeine belehrende Bemerkung wie: ›So schnelles Essen führt zu Magengeschwüren‹ oder so, denn er war älter als sie, viel älter und manche ältere Menschen neigten dazu, andere mit ihrer Erfahrung zu belästigen. Die Belästigung blieb jedoch aus, weswegen Vanessa ihn sich genauer ansah. Er sah gut aus, fand sie –so auf den ersten Eindruck, der bekanntlich selten täuschte.

Er fing ihren Blick auf, während er noch immer ganz in Ruhe sein Essen verspeiste: »Schmeckt gut hier, oder?«

Vanessa nickte. Sie merkte, dass sie sich so langsam ein wenig von der Strapaze der Nachtschicht und dem Stress vor dem Essen erholte. Sie konnte sich schnell erholen. Dennoch spürte sie, dass sie Ruhe brauchte, vielleicht noch ein wenig Anregung, nein mehr Ablenkung, und dann: chillen!

Er grinste sie breit an. »Sie haben sich gut durch die Fußballer gemogelt, auch wenn die Aktion nicht ohne Blessur abging. Haben Sie keine Angst, dass Sie deswegen noch Schwierigkeiten bekommen?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Ich bin über seinen Fuß gestolpert und der Rest war Zufall. Hat das nach Absicht ausgesehen?«, fragte Vanessa.

»Hat es«, antwortete er bloß.

Sie lächelte. »Ein Lob auf die Toleranz der Fußballer«, meinte sie.

Er aß immer noch, sehr, sehr langsam. Sie sah ihm mit hochgezogenen Augenbrauen dabei zu, was er bemerkte, dann legte er Gabel und Messer beiseite. »Ich habe einfach Zeit«, sagte er ganz ruhig zur Erklärung und dieses Mal lächelte er sie an. Er lächelte sie so an, wie ein Mann eine Frau anlächelte, sie konnte diese Art von Lächeln gar nicht beschreiben, aber sie konnte den verborgenen Charme darin spüren, und da lief es ihr heiß und kalt den Rücken runter.

Er war nicht mehr jung, sie schätzte ihn auf irgendwas zwischen fünfzig und sechzig – er hätte ihr Vater sein können. Väter waren heute in der Regel älter, vernachlässigte man die Väter von Zahnarzthelferinnen und Friseurinnen, also konnte er niemals ihr Vater sein. Dadurch wurde es aber kaum beachtenswert besser, dass sie ihn alt fand. Dennoch hatte der Mann was.

Bevor sie sich mit ihren Gedanken weiter beschäftigen konnte, fragte er: »Sie haben es aber offensichtlich eilig?«

Sie zögerte zu antworten, denn sie hatte es überhaupt nicht eilig. Genauer gesagt hatte sie eigentlich gar keinen Plan für den weiteren Tag – außer vielleicht ausruhen. Sie hatte nur Hunger gehabt, sie wollte unbedingt in der Markthalle essen, und sie hatte es prinzipiell immer eilig, seit sie Ärztin war, wenn auch oft grundlos, so wie heute. So war ihr medizinisches Betriebssystem. Davon würde er nichts verstehen, nahm sie an. Denn sie vermutete, er war stark analog strukturiert und nicht online und agil. Die ›Hannoversche Allgemeine‹ aus dem Briefkasten ziehen und am Frühstückstisch lesen, während er ganz langsam seinen Kaffee trank, so was in der Art. Die Wohnung vollgestellt mit Ohrensesseln und in der Mitte ein Nierentisch.

Ihren Gedanken wollte sie ihm allerdings nicht mitteilen, denn er würde ihn grundlos beleidigen und das wollte sie nicht, denn sie suchte nach einer Chance, sich diesen Mann genauer anzusehen, bevor er ging. Er regte etwas in ihr an, was sie eigentlich nicht wollte. ›Er ist ein viel zu alter Mann‹, dachte sie, ›doch wozu ist er eigentlich zu alt?‹ Ein weiterer Gedanke folgte, der einfach damit etwas zu tun haben musste, dass es gerade um etwas ging, ein Gefühl, das sie nicht zulassen wollte.

Etwas verunsichert sah sie ihn sich an. Er kaute immer noch seine letzten Bissen, die längst kalt sein mussten, und würde hoffentlich nicht merken, dass sie ihn beobachtete. Der Mann hatte ein langes, sehr schmales Gesicht. Unter seinen Vorfahren musste sich ein Pferd befunden haben, der Gesichtsform nach, sie grinste innerlich, aber ein Rennpferd, ein Vollblüter, nach seiner Ausstrahlung zu urteilen, denn die hatte Klasse! Sein Gesicht hatte tiefe Falten, aber sein Wiehern – oder Lachen – war großartig, es becircte sie. Das Vollblut hatte eine ziemlich lange graue Mähne, die nach hinten gekämmt war. Vanessa musste innerlich über sich selbst lachen, weil sie ihn mit einem Pferdegesicht beschrieb. Als Karikatur hätte man wirklich eine Ähnlichkeit zu einen solchen Gesicht kreieren können, aber in Wirklichkeit sah der Mann ziemlich gut aus. Irgendwie lächelte sein ganzes Gesicht, eine dauerhafte Freundlichkeit prägte es. Trotz seines offensichtlich nicht mehr niedrigen Alters wirkte sein Gesicht bemerkenswert jung, obwohl es Spuren des Lebens zeigte. Er hätte hundert sein können und sein Ausdruck war wie zwanzig oder so. Sie übertrieb, klar! Er war kein Beau, eher ein Charakterdarsteller, aber welchen Charakters wusste sie nicht. Er hatte etwas, nichts Äußerliches, es war seine Ausstrahlung, die sie faszinierte und zugleich anzog, sie signalisierte Selbstsicherheit. Er würde sich nicht groß anstrengen müssen, um sie herumzukriegen, wenn er das wollte, das war ihr ziemlich schnell klar. Sie sah auf ihren so rasch geleerten Teller. Konnte man sich einen Mann schön essen?

Sie wollte keine Probleme. Aber trotzdem war sie neugierig darauf, wie er sonst noch so aussah. Wenn er aufstehen würde, könnte sie einen Blick auf seine Figur werfen. Vielleicht versprach die so viel wie seine Ausstrahlung.

»Nein, ich habe es gar nicht eilig«, meinte sie nun ganz ruhig auf seine Frage, die er vor einer Ewigkeit gestellt zu haben schien, und fügte, ohne darüber nachzudenken, ohne es überhaupt bewusst zu wollen, hinzu: »Eigentlich habe ich heute gar nichts weiter vor!« Sobald der Satz draußen war, wusste sie, dass sie ihn gerade eingeladen hatte, auch wenn er es war, der die Einladung aussprach.

»Trinken Sie einen Kaffee mit mir? Gleich um die Ecke bei ›Lina‹, wenn Sie mögen«, fragte er galant, irgendwie oldschool, aber schön. Schon in diesem Moment wusste Vanessa, dass er sie verführen wollte, auf dieses Gespür konnte sie sich verlassen. Und sie war plötzlich wieder ganz bei sich selbst; Haltung bewahren, als sie mit festem Willen entschied, es würde dazu nie kommen. Aber ein wenig Unterhaltung für den langweiligen Tag würde ihr guttun, zumal sie wirklich nichts mehr vorhatte. Ein bisschen ›Museumsinsel mit Rennpferd‹, dachte sie, würde ihr nicht schaden.

Sie nickte nur und sah ihm ins Gesicht, als er aufstand – er hatte mittlerweile tatsächlich zu Ende gegessen, wirklich ein Mann mit Charakter, fand sie. Er lief schweigend neben ihr auf dem kurzen Weg zum ›Lina‹ und blickte die ganze Zeit geradeaus, so dass sie ihn verstohlen betrachten konnte. Sie war sich sicher, dass er ihren Blick spürte. Er musste viel Lebenserfahrung haben, sein Gesicht war nicht nur schmal, sondern auch voller feiner Falten, ein Gesicht, das ein Spiegel war. Ein Spiegel dafür, dass der Mann wirklich am Leben teilgenommen hatte und dass es traurige oder sehr enttäuschende Ereignisse gegeben haben musste, aber auch sehr schöne. Die tiefen senkrecht verlaufenden Furchen neben seinem Mund hatten einen traurigen und schmerzhaften Ausdruck in sein Gesicht gestempelt und die Falten um seine wachen glänzenden Augen an seiner Schläfe zogen sie nach oben, sie waren die Freude und der Optimismus in seinem Gesicht.

Er war ein schlanker, großgewachsener Mann, der offensichtlich Sport machte oder gemacht hatte. Er hatte breite Schultern, lange Beine, und ein bisschen Bauch zeichnete sich unter seinem T-Shirt ab. Nicht so groß wie der von Vanessas Vater aber vielleicht schon so wie der von Maik – das war der Typ, mit dem sie vor längerer Zeit kurz zusammen gewesen war. Der hatte auch so ein bisschen Bauch, aber das war nicht der Grund gewesen, weshalb sie sich von ihm getrennt hatte.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er Vanessa, als sie bei ›Lina‹ angekommen waren, und er schob hinterher: »Möchtest du einen Cappuccino?« Er sah ihr bei seiner Frage direkt ins Gesicht.

Trotz ihres sozialen Rückzugs in den letzten Jahren, hatte Vanessa immer ein sicheres Gespür dafür, wenn ein Männerblick sie scannte. Er hatte sie jedoch nicht gescannt – oder sie hatte es doch nicht gemerkt. Das aber war nahezu unmöglich, ihr Radar für Männerblicke funktionierte einwandfrei, darauf konnte sie sich verlassen, war dies doch die einzige soziale Interaktion, die sich über ihren Beruf hinaus gönnte. »Gern einen Cappuccino«, bestätigte sie seine Vermutung, während er sich einen schwarzen Kaffee bestellte, den er weder mit Milch noch mit Zucker verunreinigte, stattdessen gab er sich dem puren Kaffeegeschmack hin. Und dann erinnerte sie sich, dass er sie nach ihrem Namen gefragt hatte.

Sie war sich sicher, dass er sie schon längst erkannt hatte, so wie sie war. Sie meinte damit nicht nur ihr Erscheinungsbild, sondern auch ihr Wesen. Ihr Erscheinungsbild kannte sie bestens. Das war ihr immer wichtig. Sie hatte die guten Gene ihrer Mutter geerbt und war ohne großes Zutun schlank und mit einsfünfundsechzig eher klein, aber dabei niedlich. Sie fand, dass an ihr alles fast so war, wie es sein sollte, Po und Oberweite waren genau richtig. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass die Männer das auch so sahen. Sie hatte braune Haare mit rötlichem Einschlag, was sie sehr besonders fand. Sie trug ihre Haare meist zusammengesteckt oder zum Zopf gebunden, aber wenn sie aus dem Gefängnis der Haarklammer befreit waren, reichten sie weit über ihre Schultern.

Vanessa war sich sicher, dass ihr Gegenüber jedoch nicht nur ihr Erscheinungsbild in Augenschein genommen hatte, sondern auch eine Vermutung hatte, wer sie war. Das störte sie ein wenig, weil sie selbst dies nie so genau wusste. Sie wollte es aber nicht dem Zufall überlassen, welchen Eindruck er von ihr während dieser kurzen Zeit gewonnen haben würde. Dafür war ihr sein Urteil zu wichtig, obwohl sie ihn noch gar nicht kannte.

Sie war in Gedanken, als er sie aufschreckte. »Darf ich denn deinen Namen erfahren?«, fragte er erneut.

»Oh, ja natürlich – Vanessa«, murmelte sie, immer noch in Gedanken versunken. Sie konnte nicht recht begründen, wieso sie beim Cappuccino in die Betrachtung ihres Körpers geraten war. Vielleicht, weil sie über die erkennbaren körperlichen Schattenseiten ihres Gegenübers nachgedacht hatte, wie diesen kleinen Bauch.

Obwohl sie eigentlich mit ihrem Äußeren sehr zufrieden war, beschlichen sie genau wegen dieser Zufriedenheit manchmal Zweifel. Konnte sie ihrer eigenen Einschätzung wirklich trauen? Mal fand sie in solchen Momenten ihre Oberschenkel zu dick, was Unsinn war, weil sie dann in ihre aktuelle Jeans-Größe gar nicht reingepasst hätte. Eigentlich waren es auch gar nicht ihre Oberschenkel, sondern eher ihre Waden, die sie als zu dick empfand. Sie hätte eben nicht so viel Sport machen sollen, warf sie sich vor, aber dann hätte sie wahrscheinlich mehr Bauch und das war das Letzte, was sie wollte. Diese Gedanken um die eigene Figur waren letztlich immer irgendwie tragisch. Sie zeigten nur einen Knacks im Selbstbewusstsein. Diesen speziellen Knacks hatten aber viele Frauen.

Deshalb lachte sie schließlich innerlich über sich selbst: ›So ein Unfug!‹ und sie war wieder im Besitz ihrer Contenance.

Nach diesen Gedanken war sie aufgewacht, sie war ja schließlich nicht allein, sie wandte sich dem Mann ihr gegenüber zu: »Und wie heißt du?«

»Robert, Robert Hirschmann«, sagte er und wirkte etwas kurz angebunden, weil sie in sich selbst versackt war und keinen Gedanken an ihre Konversation verschleudert hatte. Aber dann lächelte er sie an. »Alles okay?«

»Ja ja, alles gut«, meinte sie beiläufig, ihr Lächeln wirkte dagegen sehr einladend.

Von ihrem Lächeln bestärkt, ergriff Robert die Initiative, als er fragte: »Wenn du heute noch nichts vor hast, könnten wir doch den Tag gemeinsam verbringen, oder? Ich würde dich gern weiter kennen lernen, Vanessa.«

Trotz ihres einladenden Lächelns war sie so überrascht, als ob ein Raumschiff neben ihr gelandet wäre. Es war schließlich ein Lächeln, das ihr nur halbwegs bewusst über die Lippen geglitten war. Dieser alte Mann wollte den Tag mit ihr verbringen? Das klang so seltsam und hätte sie eher einem jungen Typen zugetraut, aber nicht ihm … Trotzdem war die Frage komisch, mit ihr einen Tag, diesen Tag, verbringen zu wollen. Jeder, wirklich jeder junge Kerl, hätte danach gefragt, sie wieder zu sehen – wenn das Kaffeetrinken interessant gewesen wäre –, an einem der nächsten Tage oder besser an einem der nächsten Abende. Aber so etwas Spontanes, noch dazu, bevor sie sich überhaupt richtig unterhalten hatten, war merkwürdig, fast verdächtig.

»Den ganzen Nachmittag?«, fragte sie nach, um Zeit zu gewinnen und um abzuchecken, ob er nicht vielleicht übergriffig werden würde. Allerdings sah er überhaupt nicht danach aus, und Vanessa baute auf ihr Urteil. Denn Haltung erzeugte ein Spiegelbild, nämlich Menschenkenntnis, und der konnte Vanessa trauen. Sie war von diesem Mittag sehr überrascht, so etwas hatte sie noch nie erlebt, sie war neugierig, wenn auch etwas müde vom Essen.

»Wenn du gehen willst, dann gehst du, es ist natürlich deine Entscheidung!«, setzte er entspannt hinterher und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

Sie gähnte unterdrückt, aber fragte ihn lächelnd: »Was hast du denn so als Nächstes vor?«

Robert schien unschlüssig, er hatte ihre Schläfrigkeit bemerkt, aber er ließ sich auf das Risiko ein, von ihr einen Korb zu bekommen: »Lass uns den Flohmarkt besuchen!«

Sie war schon lange nicht mehr auf dem Flohmarkt am Leineufer gewesen und lächelte ihn erfreut an, auch wenn sie für den Flohmarkt spät dran waren. Also tranken sie ihren Kaffee aus, Robert zahlte, und sie brachen zum Leineufer auf.

»Was machst du eigentlich so?«, fragte sie Robert auf dem Weg zum Flohmarkt beiläufig. Sie schlenderte gelassen neben ihm her, fühlte aber eine leichte innere Anspannung. Ihr letztes Date war wirklich lange her. Auch wenn sie gar nicht sicher war, dass dies tatsächlich ein Date war.

Robert lächelte sie mit diesem Lächeln an, das etwas in ihr bewirkte, Hitze aufsteigen ließ, die nicht von der Sonne kam. »Ich habe eine IT-Firma«, sagte er nur kurz.

Vanessa fand sich selbst augenblicklich ziemlich daneben. Sie schämte sich vor sich selbst und wandte sich von ihm ab. Die analoge ›Hannoversche Allgemeine‹ war schlagartig einkassiert und die Ohrensessel samt Nierentisch auch. In diesem Moment fragte sie sich, wie Robert lebte, der Inhaber einer IT-Bude, und sie fand es noch spannender, etwas mit ihm zu unternehmen.

Sie konnte tun, was sie wollte, und sie konnte mit Robert umherstreifen, wenn sie es wollte. So etwas hatte sie lange nicht getan, und sie fühlte sich sagenhaft frei und glücklich dabei. Deswegen hakte sie sich bei ihm ein, ging die letzten Meter bis zum Flohmarkt schwungvoll, bis sie angekommen waren.

2 • Ein Nachmittag im Sommer

Vanessa lief beschwingt neben Robert her. Es hatte sich spürbar etwas in ihr verändert, sie wirkte plötzlich aufgeschlossener. Sie neben sich zu haben, war für ihn ein schönes Gefühl. Er kannte es seit Langem nicht mehr, hatte es aber auch gar nicht darauf angelegt, es wieder zu spüren. Seit diesem Ereignis vor vielen Jahren war es nicht zu ihm zurückgekehrt.

Vanessa hatte ihn gleich vom ersten Moment an angesprochen, als sie sich in ihrer Hektik an den Tisch setzte. Sie war ein besonderer Typ. Ihre dunkelbraunen Haare umrahmten ihr eigentlich schmales, aber leicht oval geformtes Gesicht, das Sommersprossen zierten. Ihre grauen Augen funkelten lebhaft, wenn sie sprach. Überhaupt schien sie Temperament zu haben, wenn auch ein nicht auf den ersten Blick zu erkennendes, denn irgendwie bewahrte sie Contenance. Außerdem fiel ihm auf, dass sie einen feinen, sicheren Stil zu haben schien; sie war bekleidet mit einer weißen Bluse, die sie über ihrer engen hellblauen, verwaschenen Jeans trug und dazu Pumps passend in Hellblau. Die Sommersprossen waren es, die man nicht so häufig sah und die ihr das Freche von Pippi Langstrumpf ins Gesicht zauberten. Frech war sie dann wohl auch, wenn man bedachte, wie sie sich einen Weg durch Pulk von Fußballern gebahnt hatte. Aber Robert meinte erkannt zu haben, dass das Freche in Vanessa nicht ihr wesentlicher Charakter war, eher etwas Ernstes, und das Freche musste nur dann und wann durchbrechen, um dem Ernsten in ihrem Wesen die Schwere zu nehmen. Robert wusste um die Vermutung, die in dem lag, was er gesehen und gehört hatte.

Vanessas Charakter, formulierte er für sich in greifbaren Bildern, stammte aus schwerer Erde, fruchtbar und nicht flüchtig wie der Sand von Dünen. Doch bisweilen musste ein heißer Wind mit feinem, hellem Sand die schwere Erde durchpflügen, damit sie einen Eindruck von der Leichtigkeit ihres Seins erfuhr, ein Eindruck, der ihr die Schwere erleichterte. Als er seine Gedanken zusammenfasste, kam Robert nur auf einen Satz: in ihr lag Spannung.

Aber eigentlich wollte er mit ihr nur einen einzigen Nachmittag verbringen. Schon, als dieser Gedanke gedacht war, war er sich der Lüge sicher, die darin steckte.

Auch wenn er älter als sie war, machte ihm das nichts aus, für ihn war sie interessant als Mensch und als Frau. Das Alter spielte für ihn keine Rolle, wenn der Mensch interessant war. Zudem wollte er herausfinden, ob sie tatsächlich so aufregend war, wie er vermutete.

Robert hatte sich vor einigen Jahren überlegt, sein Leben grundlegend zu ändern. Deswegen hatte er seit kurzem einen potentiellen Nachfolger in seinem Unternehmen, der den Laden sogar kaufen wollte. Robert war neugierig auf das Leben, nicht das Berufliche, das kannte er in- und auswendig, nein, das Leben auf der Straße so wie heute. Unter Menschen sein, Leute beobachten und vielleicht auch kennenlernen, so wie gerade Vanessa. In den letzten Monaten hatte er alte eingestaubte Freundschaften belebt und neue gefunden. Aber manches Mal war er einfach ziellos unterwegs.

So blieb er in Gedanken, auch während er sich auf dem Weg zum Flohmarkt mit Vanessa unterhielt, denn diese Fähigkeit hatte er: Er konnte über irgendetwas sprechen, wenn es nicht zu anstrengend war, und gleichzeitig über etwas anderes nachdenken.

Überraschend für einen schönen Sommertag in den Ferien zu dieser Zeit war, wie viel noch auf dem Flohmarkt los war.

Wegen der vielen Menschen liefen sie nicht mehr nebeneinander, sondern oft hintereinander, weil auch der Gegenverkehr auf den schmalen Wegen lebhaft war.

Vanessa beobachtete, für was Robert sich interessierte. Sie ging nicht einfach weiter, sondern blieb mit stehen und achtete auf das, was er sich ansah oder wonach er griff. Neben alten Uhren, die hier aber meist nur in einer lausigen Qualität angeboten wurden, waren es Bücher, die ihn interessierten. Auf dem Flohmarkt wurden nur analoge Dinge angeboten, meist antiquarischen Charakters, die aber sehr unterschiedlich waren. Für was interessierte sich Robert? Gab sein Interesse Hinweise darauf, wer er war?

Die Uhren maßen nicht nur Zeit. Uhren waren ein untrügliches Zeichen für die Messung von Zeit mit Stil. Vanessa wusste um Menschen, die nur die Zeit mit Quarzgehäusen messen wollten, und den Rolex-Angebern auf der anderen Seite. Irgendwo dazwischen lag der schmale Grat zwischen der Uhr als Symbol des Ichs. Ihr Blick auf ihre Uhr verriet diesen Menschen selbst, wie sie ihre Zeit verbringen wollten. Ihre Uhr war eine Aufforderung und eine Mahnung.

Nachdem sie den Flohmarkt auf der Seite des Von-Bennigsen-Ufers überquert hatten, stoppte Vanessa an einem alten steinernen Pfeiler, auf den sie sich setzte. Sie klopfte mit ihrer flachen Hand ein paar Mal auf den Pfeiler und rutschte ein Stück, um Platz für Robert zu machen. Dann kramte sie in ihrer kleinen Handtasche, die genau das Hellblau ihrer Pumps hatte, und zog eine Schachtel Zigaretten heraus. Sie bot ihm eine an, aber er wollte nicht. Ein kleines billiges Plastikfeuerzeug brachte den Tabak zum Glühen.

Dann saßen sie beide auf dem alten Pfeiler aus grauem Sandstein, ließen die Beine baumeln, blinzelten in die Sonne und hatten sich von der anhaltenden Hektik an den Flohmarktständen einfach abgekoppelt.

»Findest du hier etwas, das du gebrauchen könntest?«, fragte er irgendwann.

»Ich weiß nicht, vielleicht fällt mir noch etwas spontan ein, wenn ich es sehe, aber ich suche nichts direkt«, antwortete sie und stieß Rauch aus.

»Was machst du eigentlich beruflich?«, fragte Robert und sah sie interessiert an.

Vanessa schnippte die Asche auf das Pflaster und meinte seelenruhig: »Ich bin Assistenzärztin im Krankenhaus, in der MHH.« Immerhin wurde sie ein bisschen rot und ergänzte: »Ich rauche erst, seit ich Ärztin bin. Ich bin froh, dass ich nicht auch noch trinke bei dem Laden da … Ich bin eher eine Stressraucherin.«

»Aber du hast doch jetzt gar keinen Stress?!«

»Das glaubst du! Ich bin hier mit Opa unterwegs, der nicht mal mein Opa ist und dessen Patientenakte ich nicht kenne. In deinem Alter kann so ein Herzkasper mal ganz schnell ...« Sie brach ab, weil sie in Lachen ausbrach. »Purer Stress jedenfalls …!«

»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte er, ohne im Mindesten beleidigt zu sein und selbst mit einem Grinsen auf den Lippen, »wir raten jetzt das Alter des anderen und wer zuerst das richtige Alter errät, bekommt einen ausgegeben.«

»Was denn ausgegeben?«, fragte Vanessa.

»Ein Eis?«

»Zu warm für ein Eis.« Sie machte eine fachkundige Miene und streckte den Zeigefinger in die Luft, wobei sie ihren Oberkörper in seine Richtung verdrehte und streckte. Ihre Brust zeichnete sich deutlich unter ihrer Bluse ab; sie trug keinen BH, stellte er mit anerkennendem Erstaunen fest. »Guckst du mir in den Ausschnitt?«, fragte Vanessa mit gespielter Empörung, als sie seinen Blick bemerkte.

»Wie soll ich das denn hinkriegen, wenn du deinen ganzen Körper nach ganz oben streckst und gar keinen Ausschnitt trägst?«, erwiderte er mit blitzenden Augen.

»Du hast mir auf den Busen geguckt!«, beharrte sie.

»Na und, bin ich ein Mann?«

Sie lachte entrüstet. »Fünf Euro in die Chauvi-Kasse!«

Zeit abzulenken, fand er. »Einen Kaffee?«, schlug er nun als Spieleinsatz vor.

»Dann lass mich gewinnen« riet Vanessa, »du hattest schon einen in der Markthalle. Das ist für deinen Blutdruck gar nicht gut!«

»Halt die Klappe, Schazi!«

»Wieso ›Schazi‹?«, sie fragte nicht beleidigt, eher belustigt, sie hatte offensichtlich zu viel studiert, zu viel Zeit hinter Büchern verbracht, sie kannte den alten Witz nicht.

»Weil ich nicht weiß, ob du ein Schaf oder eine Ziege bist, also ›Schazi‹!«

»Blödmann!«

»Vierzig«, begann er nun das Spiel.

»Wie, vierzig, was meinst du?«

»Dich meine ich!«

»Hast du deine Brille zuhause vergessen, oder was?«, sie war ernsthaft aufgebracht. »Na warte! Achtzig, sage ich, fit für die Ü-80-Party. Ist dein Rollator von Porsche?«

»Ich schubse dich gleich vom Sockel!«

Da lachte sie ihn aus. »Rote Karte! Aber ich werde landen einer Feder gleich, ich hatte zehn Jahre Ballettunterricht! Aber ich kann mich nicht rächen, das widerspricht meinem Eid.«

»Wieso?«

»Osteoporose! Du fällst und brichst dir alle Knochen, und ich stehe am Montag in der Zeitung! Im Umgang mit Greisen ist das wirklich nachteilig, nicht zu empfehlen!«

»Fünfzehn, hoher Intelligenzquotient, Wunderkind, mit zehn Abitur gemacht und fünf Jahre Medizinstudium, wahrscheinlich wärst du besser im Kinderkrankenhaus an der Bult aufgehoben wegen der Augenhöhe und so! Aber rotzfrech!«

»Bin ich wirklich so frech?« Sie steckte sich noch eine an und dieses Mal griff auch er zu. Er hustete erst, weil er seit Jahren nicht geraucht hatte, und natürlich schmeckte diese Zigarette ungewohnt, aber auch ungewohnt gut.

»Einunddreißig«, schob Robert nach.

»Fast«, meinte sie. »Sechzig«, probierte sie.

»Fast getroffen«, antwortete er und zählte runter: »Einunddreißig, dreißig, neunundzwanzig, achtundzwanzig.«

»Stopp!«, meinte Vanessa.

»Achtundzwanzig?«

»Ja.«

»Stark.«

»Was daran ist stark?«

»Ach nur so.« Er blickte ein bisschen betreten nach unten. So jung war sie also. Ab einem bestimmten Alter hatte er die treffsichere Einschätzung von wesentlich jüngeren Menschen verloren. Auch deshalb war er auf der Straße, um Menschen zu beobachten und keine Bildschirme mehr. Sie hätte fünfunddreißig oder auch fünfundzwanzig sein können. Er hätte es nicht gewusst. ›Stark‹, fand er ihr Interesse daran, mit ihm die Zeit tot zu schlagen.

»Und du?«

»Neunundfünfzig.«

»Da lag ich aber dicht dran.«

»Ich gebe einen aus«, gab sich Robert geschlagen.

»Alkohol?«, fragte sie.

»Ich dachte, du wolltest Kaffee?«

»Der ist jetzt nicht stark genug!«, lachte sie und knuffte ihn in den Oberarm, etwas, das sie lang nicht mehr bei einem Mann getan hatte.

Robert grinste und piekste ihr zur Antwort kurz in die Seite. »Na gut, gerne.«

»Du weißt, wo?«, fragte sie.

»Oben«, und er deutete zum Ufer der Leine, hinter dem sich eine Häuserzeile befand: »Das Café da oben, das ist auch eine Bar!«

»Lass uns vorher noch ein bisschen über die Stände gucken«, schlug sie vor und grinste ihn freundlich an. Robert nickte. Gerade wollte er von dem Pfeiler rutschen, als sie ihn festhielt: »Bei deiner Erziehung muss etwas gründlich schief gelaufen sein.«

Er sah sie an. »Wieso?«

»Man kann doch nach autoritärer Erziehung nicht so frech sein wie du. Vor dem Krieg herrschte doch noch die autoritäre Erziehung?!«

»Welcher Krieg?«

»Der Erste, der Erste Weltkrieg.« Er grinste sie in ungläubiger Empörung an, doch Vanessa sprach schon weiter. »Für neunundfünfzig bist du wirklich verdammt cool! Sorry, dein Alter ist eigentlich ganz egal, du bist einfach cool, Mann!« Und dann drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange und schubste ihn vom Pfeiler.

Das alles passierte so schnell, dass er tatsächlich bei der Landung das Gleichgewicht verlor, aber er war sofort wieder auf den Beinen. Wozu quälte er sich jede Woche bei ›Sports Royal‹ mit seinem Trainer Dennis rum? Vanessa stieß sich vom Pfeiler ab, stand wie eine Eins und verbeugte sich huldvoll vor einem Publikum, das es nicht gab.

Sie schlenderten an den Ständen vorbei und einige Händler packten bereits zusammen, weil es spät war und der