Liebe 360° - Martin Creutzig - E-Book

Liebe 360° E-Book

Martin Creutzig

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Beschreibung

Der Zeitpunkt könnte ungünstiger kaum sein: Als sich Alex und Sabrina zum ersten Mal auf dem Flughafen Hannover begegnen, steckt er mitten in seiner Scheidung und kämpft um seine kleine Tochter – Sabrina ist auf der Flucht vor Raoul, einem Dienstleister ihres Arbeitgebers, den sie beobachtet hat, als er ihr Unternehmen betrog, und der sie bedroht. Alex ist dennoch sofort klar, dass er die Frau mit den faszinierenden braunen Augen kennenlernen muss. Er spürt sie auf und versucht alles, um Sabrina zu unterstützen und eine Beziehung mit ihr aufzubauen, doch dann verübt Raoul einen Anschlag auf ihr Leben und alles ändert sich …

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Martin Creutzig

Liebe 360

Roman

1 • Urlaub in Alicante

Sabrina fläzte sich gemütlich in der Sonne herum. Sie lag auf ihrem Liegestuhl am Rand des kreisrunden Pools im Hotel Daniya in Alicante, die Sonne strahlte von einem wolkenlosen tiefblauen Himmel; Urlaubskartenwetter – Anfang September. Diesen kleinen Urlaub hatte sie sich wirklich verdient. Raoul, der neben ihr auf einer Liege entspannte, legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. Sie sah ihn an, konnte aber wegen seiner Sonnenbrille nicht erkennen, ob er sie ebenfalls anblickte. Sie hatte sich in den letzten drei Monaten, in denen sie in Spanien zusammengearbeitet hatten, mit ihm sehr wohl gefühlt, aber in diesem Moment, als er sie warm auf ihrer ohnehin schon erhitzten Haut berührte, wollte sie seine Hand am liebsten beiseiteschieben. Ihr war heiß und sie meinte, bald aus der Sonne heraus zu müssen, um keinen Sonnenbrand zu bekommen. Raoul konnte länger in den Sonne bleiben, obwohl er für einen Südländer eine eher blasse Haut hatte, aber als Spanier war er die Strahlung besser gewohnt. Sie dagegen war mit ihrem dunkelblonden Haar und der sehr hellen Haut gefährdeter. Sabrina wusste, dass der drohende Sonnenbrand eine Ausrede war, denn sie wollte seine Hand einfach nicht auf sich spüren. Grund war der Abend zuvor.

Sie stand auf und sagte: »Ich muss mal kurz aus der Sonne.« Raoul nickte nur.

Sabrina machte sich auf den Weg zur Bar. Ihr Blick auf dieses Dokument, das auf dem kleinen Schreibtisch im Hotelzimmer gelegen hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Sie schüttelte im Gehen leicht ihren Kopf, dann setzte sie sich auf einen Barhocker, bestellte sich gedankenverloren ein Mineralwasser. Wie war das noch gewesen gestern Abend? Wie war der Vertrag auf diesen Schreibtisch gekommen? Schließlich waren sie in Urlaub. Es gab keinen Grund, warum Raoul ihn mitgenommen haben sollte. In seinem Büro hätte der Vertrag liegen müssen, in irgendeinem Safe.

Sabrina ging die letzten Stunden vom Vortag nochmal in Gedanken durch. Gestern Abend waren sie auf dieser Party in Alicante gewesen. Raoul kannte in jeder Stadt Leute, viele schon lange, die irgendwie immer Party machten. Das war anfangs, als sie vor drei Monaten nach Spanien gekommen war, eine sehr nette Beigabe ihrer Zusammenarbeit gewesen. Sie waren während der drei Monate durch halb Spanien gezogen, um Standorte für den Handelskonzern für Elektronikgeräte zu akquirieren, für den Sabrina arbeitete. Raoul hatte ein Unternehmen, das sich mit Projektentwicklung beschäftigte. Er besorgte die Grundstücke und kümmerte sich um die erforderlichen Genehmigungen. Dort, wo eine Tür zu schwergängig war, fand er Wege, sie zu schmieren und gängig zu machen. Sabrinas Aufgabe bestand darin, die Eigenschaften der Grundstücke mit den Erfordernissen der Märkte, die gebaut werden sollten, abzugleichen.

Im Laufe der Wochen waren sie und Raoul sich bei den Partygängen näher gekommen und nach einiger Zeit ein Paar geworden.

Gestern Abend waren es besonders viele alte Freunde gewesen, mit denen Raoul anstoßen wollte. Er war sturzbetrunken und schwankte, als sie ins Hotel zurückkamen, während Sabrina nur leicht beschwipst gewesen war. Sie erinnerte sich, als sie nun an ihrem Wasser nippte, dass sie beide bei ihrer Rückkehr bester Laune gewesen waren, und ein Grinsen umspielte ihre schmalen Lippen bei der Vorstellung wie er, der während der Party so charmante Mann, wie ein nasser Sack auf das Bett gefallen war.

Sabrina war ins Bad gegangen, um zu duschen. Sie hatte trotz des Wasserstrahls gehört, dass jemand an die Hotelzimmertür klopfte. Als sie aus dem Bad gekommen war, war das Schlafzimmer fast dunkel. Raoul hatte alle Lichter gelöscht. Nur die kleine Schreibtischlampe brannte noch, er hatte sie wahrscheinlich vergessen.

Sabrina bestellte ein weiteres Glas Mineralwasser und sah zu Raoul hinüber. Er war offensichtlich in der Sonne eingeschlafen. Sie fuhr sich nervös durch die Haare, die Anspannung war ihr auch im Gesicht anzusehen. Sie musste sich genau an das erinnern, was sie in der vorigen Nacht gesehen hatte.

Sie war in ihr Handtuch eingehüllt gewesen, wie so oft in den Nächten, wenn sie aus dem Bad gekommen war, sich nackt an Raoul gekuschelt hatte und sie miteinander geschlafen hatten. Aber gestern Abend hatte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregt. Das Licht der Schreibtischlampe erhellte die Schreibtischfläche und das, was darauf lag. Ein Bote musste das Dokument gebracht haben, als sie im Bad gewesen war. Zuerst hatte sie den aufgerissenen großen Umschlag gesehen. Daneben lag ein Vertrag. Ein erster flüchtiger Blick darüber verriet ihr sofort, dass es sich um den Provisionsvertrag handelte.

Zu blöd, die zwei Mineralwasser machten sich bemerkbar, und das, obwohl sie so schwitzte … Ein unruhiger Blick zu Raoul, doch er schlief noch immer. Ihr musste klar werden, was hier vor sich ging. Aber der Gang zur Toilette war unausweichlich.

Als sie an die Bar zurückkehrte, bestellte sie sich einen Weißwein. Eigentlich kannte sie den Vertrag ja schon. In der Konzernzentrale hatte man ihr sämtliche Passagen ausführlich erklärt. In der Konzernspitze hielt man das nicht nur für einen Akt der Transparenz, sondern auch für eine Erklärung dafür, welche Aufgabe Raouls Firma zu erledigen hatte. Als ob das Raoul nicht selbst wusste. An jenem Tag war Sabrina jedoch klargeworden, dass sie auch eine Aufpasserin für Raoul hatte sein sollen. Dafür musste es einen Grund geben, denn sie nahm an, dass man nicht jedem Dienstleister im Ausland einen Aufpasser aus der Firma an die Seite stellte. In den nächsten Wochen war diese Aufgabe völlig in den Hintergrund getreten, denn sie war ganz Raouls Charme erlegen. Es war nicht nur das Äußere dieses Mannes, groß, schlank, sportlich, wie er war. Es war auch dieses markante Gesicht mit dem willensstarken Ausdruck in den Augen. Dazu kam, dass er völlig auf sie abfuhr – und sie das Spiel mit ihm genoss: Es ging nicht nur um ihr Äußeres, mit dem sie ihn reizte, sondern auch um die Art, wie sie auf sein Spiel einging, mit ihm flirtete; sie öffnete sich ihm und sie verschloss sich ihm. Es waren Momente, in denen er sich nicht sicher sein konnte, ob auch sie Macht hatte. Sie liebte dieses Spiel mit ihm und sie traute ihm auch. Bis zu einem gewissen Maß. Warum nur bis dorthin, konnte sie sich nicht erklären. Das machte ihr aber auch nichts aus, solange er mit ihr ebenso spielte. In jedem Fall hatte sie ihre professionelle Distanz völlig verloren.

Als ihr wieder einfiel, warum sie ihm nicht ganz und gar trauen konnte, stellte Sabrina das Glas Weißwein, das sie an der Bar bestellt hatte und aus dem sie gerade trinken wollte, wieder ab. Sie verdrängte diese Gedanken schnell und beschäftige sich lieber mit dem Vertrag, den sie in der Nacht zuvor entdeckt hatte.

Der Vertrag, das hatte sie sich am Vorabend noch einmal klargemacht, regelte eigentlich, dass Raoul vom Handelskonzern eine Provision für jedes vermittelte Grundstück bekam. Sabrina hatte durch die Seiten geblättert, die Provision war auf der dritten Seite geregelt. Aus den Augenwinkeln hatte sie immer wieder auf Raoul gesehen, doch der schlief friedlich und schnarchte. Sie blätterte weiter. Die vorletzte Seite erschreckte sie so sehr, dass sie ihre Hände vor den Mund schlug, um nicht überrascht aufzuschreien.

Sie kannte den Vertrag quasi auswendig, so intensiv waren die Leute aus dem Konzern die Passagen mit ihr vor Monaten immer wieder durchgegangen. Sie hatte den Inhalt gepaukt, ohne zu wissen, warum. Das alles war ihr erst wieder bewusst geworden, als sie diesen Vertrag im Hotelzimmer durchgesehen hatte.

Sabrina bestellte nun einen Kaffee, während sie an das Geschehene von gestern zurückdachte. Sie brauchte etwas, um sich daran festzuhalten.

Die vorletzte Seite war um eine Passage ergänzt worden, die sie nicht kannte, ein völlig neuer Paragraph in dem Vertrag – und tatsächlich, sie blätterte bis ans Ende, die Zahl der Vertragsparagraphen hatte sich um einen erhöht. Die Unterschriften darunter waren ein wenig nach unten gerutscht, aber es waren die Unterschriften, die sie kannte. Allerdings gab es da noch ein weiteres Unterschriftsfeld, das es im Original auch nicht gegeben hatte.

Sie hatte letzte Nacht vor diesem Schreibtisch gestanden, die Seiten mit einer Hand durchgeblättert, weil ihre andere Hand ihr Handtuch um ihren Körper gewickelt fixierte, doch auf der fünften Seite angekommen war ihr alles egal gewesen. Sie hatte das Handtuch fallen gelassen und sich auf der Platte des Schreibtischs abgestützt.

Sie las den eingeschobenen Paragraphen. Er war eine Vereinbarung mit dem spanischen Generalunternehmer, der die Märkte nach Erwerb der Grundstücke und der Baugenehmigung dann auf die grüne Wiese setzte. Der Absatz erklärte, dass Raoul von der Bausumme jedes Gebäudes nochmal zusätzlich zwei Prozent Provision vom Generalunternehmer kassierte. Sabrina blätterte zurück auf die erste Seite. Sie konnte es nicht fassen. Aus einem Vertrag zwischen zwei Parteien war ein Vertrag zwischen drei Parteien geworden. Auf der ersten Seite, die erklärte, wer die Vertragspartner waren, tauchte der Baukonzern nun zusätzlich auf. Das hatte sie zunächst übersehen.

Sofort war ihr klar, dass Raoul betrog. Flüchtig blätterte sie durch den Vertrag, um herauszufinden, ob die Täuschung irgendwie zu erkennen war. Die Fälschung war perfekt. Jedenfalls konnte sie nicht erkennen, dass eine Schrifttype anders war oder sonst etwas Verdächtiges. Eine perfekte Fälschung. Sie blätterte hektisch zurück zum Ende des Vertrags. Die Unterschrift für den Baukonzern konnte sie nicht entziffern.

Raoul grunzte im Tiefschlaf. Sabrina fuhr erschreckt herum. Sie nahm das Handtuch und wickelte es sich wieder um ihren Körper. Ihre Hand fixierte es. Mit einem Finger blätterte sie erneut durch die Seiten. Sie war fassungslos.

Sabrina bestellte an der Bar noch einen kleinen Kaffee, äugte nach Raoul auf seiner Liege, der friedlich döste. Fieberhaft rechnete sie. Zwanzig Bauplätze für neue Märkte hatten sie akquiriert. Die Bausumme konnte sie nur schätzen. In Deutschland kostete der Bau eines Marktes rund drei Millionen Euro. Die Tasse zitterte in ihrer Hand. Zwei Prozent von drei Millionen mal zwanzig. Was ergab das? Sabrina zitterte und war nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Als sie ihre Nervosität bemerkte, wurde sie noch fahriger. Der Kellner hatte einen Taschenrechner. Ihr Smartphone mit der Rechen-App lag in ihrer Tasche neben der Liege, das wollte sie jetzt nicht holen. Als sie die Zahl sah, wurde ihr schwindelig: eins Komma zwei Millionen Euro!

Da war noch etwas gewesen. Die Provision an Raoul war nach Abnahme der jeweiligen Gebäude fällig. Er bekam das Geld also nicht sofort. Wahrscheinlich war es so, dass er das Geld erst dann bekam, wenn die Gebäude auch mit Mängeln von den Behörden abgenommen und freigegeben worden waren. Warum sollte der Baukonzern sonst bereit sein, so viel Geld an Raoul zu zahlen? Selbst wenn die in Spanien es nicht so akribisch genau nahmen mit der Elektrik oder der weiteren Haustechnik oder dem Brandschutz wie in Deutschland, konnte man in diesen Bereichen beim Bau enorm sparen. Denn diese Bereiche waren die empfindlichsten und teuersten. Sabrina wusste das von den Märkten, die ihr Konzern nach der Wende in Ostdeutschland gebaut hatte, hastig, den rechtlichen Freiraum der Übergangsphase zur BRD nutzend. Das war weit vor ihrer Zeit gewesen, sie war ja gerade erst fünfunddreißig Jahre alt. Aber sie hatte davon gehört, weil sich die Ersparnis nicht gerechnet hatte. Der Markt in Brandenburg zum Beispiel musste mehrfach nachgerüstet werden und war der Problemmarkt schlechthin.

Sabrina war letzte Nacht schließlich zu ihrer Jacke geschlichen, denn in der Tasche befand sich ihr Firmenhandy. Ihr privates Handy hatte sie im Auto vergessen.

Konnte sie es wirklich wagen, den gefälschten Vertrag abzufotografieren? Raoul schnarchte friedlich – würde er von den Blitzen aufwachen? Sie öffnete die Balkontür. Falls Raoul aufwachte, würde sie zum Balkon hinüber hechten und bevor er realisieren konnte, worum es ging, würde sie die Skyline Alicantes fotografieren. Für das Familienalbum sozusagen.

Sie wagte sich durch die Dunkelheit zu ihrer Jacke, die über einem Stuhl hing und auf die etwas Licht von der Schreibtischlampe fiel. Als sie in ihrer Jackentasche nach dem Handy griff, machte sie einen großen Schritt nach vorn, erwischte ein Stuhlbein, das kreischend über das Vinyl schleifte. Sie hob ihren Kopf in Richtung des Betts.

»Bist du es, Sabrina?«, fragte Raoul verschlafen. Sabrina erstarrte. Doch nach wenigen Sekunden war Raoul wieder im Rhythmus seines Schnarchens versunken.

Das Smartphone in der Hand, schlich sie sich zurück zum Schreibtisch, justierte die Linse, hielt kurz inne, den Blick auf Raoul gerichtet und schoss das erste Foto des Vertrages, während Raoul gerade mächtig Luft einatmete, um sie mit einem gewaltigen Geräusch wieder auszustoßen. Sabrina beeilte sich, die fünf Seiten des Vertrages abzulichten. Danach schloss sie die Balkontür sorgfältig und schob das Handy unter ihr Kopfkissen. Sie schaltete das Licht über dem Schreibtisch aus. In der Dunkelheit suchte sie nach ihrem Nachthemd in ihrem Koffer und fand es nicht. Sie tapste ohne Nachtwäsche auf ihre Seite des Doppelbetts, legte sich möglichst weit von Raoul entfernt hinein und fror trotz der Hitze im Raum.

Sie hatte noch vier Wochen mit Raoul vor sich. Es ging darum, noch weitere Standorte zu finden, die gut waren. Sie konnte nicht einschlafen. Sie hatte eine unglaubliche Wut auf die Geschäftsführung ihres Konzerns. Einen Sprachkurs für Spanisch hatten die für sie organisieren können, aber sie waren nicht in der Lage gewesen zu erklären, weshalb man sie so intensiv mit den Passagen des Vertrags vertraut gemacht hatte und worin das Misstrauen Raoul gegenüber bestand. Aber eigentlich wusste sie es ganz genau und das würde man ihr auch postwendend vorwerfen. Sie stand jetzt vor dem Scherbenhaufen und war mit allem allein. Natürlich würde das Verhältnis mit Raoul, ein völlig unprofessionelles Verhalten ihrerseits, herauskommen. Da gab es ja diesen »Herrn Rosenzweig« aus der internen Revision, der immer alles herausbekam. Sabrina hatte Angst und wälzte sich auf die andere Seite.

An der Bar seufzte sie über ihrem Glas, das mittlerweile Alkohol statt Kaffee enthielt. Es war ihre eigene Schuld gewesen. Sie war dem Charme des Raoul Sanchez erlegen, sie hatte die professionelle Distanz in der Zusammenarbeit verloren, sie war es, die nicht mehr in der Lage war, diesen Zug zu stoppen, dessen Lokführer Raoul war. Ihr hatte ihre Firma die Rolle der Lokführerin zugedacht, aber sie hatte kläglich versagt. Vielleicht war es Größenwahn gewesen, ihre eigene Selbstüberschätzung, wie gut es eine Vertriebsleiterin aus Deutschland fertigbrachte, den spanischen Markt aufzurollen und dabei noch einen solchen Typen wie Raoul unter Kontrolle zu behalten.

Und da war noch etwas anderes, das sie wirklich in Angst versetzte. Raoul war auf eine gewisse Weise bestimmend, wenn sie miteinander schliefen. Um es sich selbst klarzumachen, musste sie schon ehrlicher zu sich sein: Sie hatte es immer als Teil eines Spiels gesehen, wenn er ihr mit voller Wucht auf die Pobacken schlug nach so einer Party, beide leicht angetrunken. Es war schon merkwürdig, wenn er ihr die Luft wegdrückte, weil sich seine Hände in ihrem Hals vergraben hatten. Immer war er in ihr, wenn er das tat. Seltsamerweise hatte ihr das eine höllische Lust bereitet, die sie zuvor nie gekannt hatte. Es war nicht immer so. Raoul konnte auch sehr zärtlich sein. Das fand Sabrina dann auch befriedigend, aber eher langweilig. Die kuschelige Tour kannte sie bereits.

Doch gestern Abend, unter ihrer Decke frierend, hatte sie das alles ganz anders gesehen. Sie erkannte, zu was er fähig wäre. Es hatte keinen Zweck, mit ihm darüber zu sprechen. Weder über seinen Betrug noch über die Angst vor ihm, die sie unerwartet plötzlich entdeckt hatte. Denn er war ein verschlossener Mann. Auf ihren vielen Reisen hatte sie den Versuch unternommen, mit ihm zu reden. Sie wollte herausfinden, woher er kam und wer seine Familie war. Raoul hatte immer geblockt, als ob er keine Vergangenheit hätte. Sabrina fühlte sich ausgeschlossen. Raoul war offenbar ein Mann ohne Geschichte. Auch wenn er während der vielen Partys jedes Mal wieder eine neue Story parat gehabt hatte, doch sie spielten im Hier und Jetzt und gaben keinen Hinweis auf seine Vergangenheit, so genau sie auch zuhörte

Ratlos war Sabrina dann irgendwann eingeschlafen und ratlos war sie noch immer, als sie das letzte bestellte Getränk austrank, die Toilette des Hotels aufsuchte und sich wieder auf die Liege legte. Da fiel ihr ein, dass sie nochmal aufgestanden war letzte Nacht. Sie wollte den Vertrag an die Stelle zurücklegen, wie er da gelegen hatte, bevor sie ihn gelesen hatte. Ratlos schob sie den Vertrag hin und her. Am Ende lag der Vertrag ungefähr in der Mitte der Schreibtischplatte.

Am nächsten Morgen, als sie aufwachte und Raoul unter der Dusche stand, war der Vertrag verschwunden, selbst der Umschlag lag nicht im Papierkorb unter dem Schreibtisch.

Da wusste sie, dass er es gemerkt hatte.

2 • Flughafen Hannover – Abflughalle

Es war Sonntag, der 2. Oktober. Alex Herrhausen stand an der Abflughalle des Flughafens Hannover. Das Gebäude war wie ausgestorben. Es waren Herbstferien und auch die, die geschäftlich flogen, hatten meist noch Urlaub. Er passierte gerade die Automatiktür des Lebensmittelmarktes mit drei schwer bepackten Plastiktüten in der einen Hand und einer kleinen Kiste Bier in der anderen. Die Griffe der Plastiktüten drückten sich bereits unangenehm in seine Fingergelenke. Schon nach wenigen Metern setzte er die Taschen ab und rieb sich die Finger. Nicht nur diese Tüten waren es, die ihm Schmerzen bereiteten.

Während er sich nach unten bückte, glitt sein Blick an seinem Körper entlang. Er war ein schlanker Mann, aber ihm fiel auf, dass er abgenommen hatte. Das mussten die Ereignisse der letzten Wochen sein. Er blickte kurz auf die Scheibe des EDEKA-Marktes. Sein schmales Gesicht war noch schmaler geworden und in seine Wangen hatten sich leichte Furchen eingegraben. Dennoch sah er nicht krank aus – allenfalls etwas mitgenommen. Wie so oft in den Tagen zuvor musste er an seine Tochter Sophie denken, die nun ohne ihren Papa zuhause war, denn Alex hatte in der Nacht nach ihrem Geburtstag seine Frau verlassen. Er stand da in Gedanken versunken und sah auf den nassen Asphalt der Straße vor dem Terminal. Es war kalt, doch das spürte er nicht. Er sah auch die Frau zunächst nicht, die sich ihm auf dem Weg in die Abflughalle näherte.

Als er aufblickte, um weiterzugehen, traf sein Blick unversehens auf ein paar braune Augen, die genauso überrascht zu sein schienen wie er, plötzlich vor jemandem zu stehen. Alex hatte das Gefühl, minutenlang in diese Augen zu sehen, wahrscheinlich waren es aber tatsächlich nur Sekunden. Er konnte sich kaum rühren, so paralysiert fühlte er sich von ihrem Blick. Aber auch sie stand für einen Moment völlig regungslos vor ihm. Es war, als wäre ein Film plötzlich angehalten worden.

Überraschend kam schließlich Bewegung in ihren Körper, der Film lief wieder an, sie ging zügigen Schrittes, eine Reisetasche in der Hand, weiter in die Abflughalle. Nach ein paar Metern drehte sie sich nochmal kurz zu ihm um, er konnte ihren Blick fast fühlen.

Dabei waren sie sich kurz zuvor schon begegnet, John hatte sie nur ganz am Rand wahrgenommen, als er auf dem Weg zum EDEKA-Markt gewesen war. Aber da hatte er diese Augen nicht gesehen!

Die jetzige Begegnung hatte Alex völlig in Beschlag genommen, er löste sich nur langsam aus seiner Starre und hob die Tüten und die Kiste an. Er sah der Fremden kurz nach, aber sie war schon in der Abflughalle verschwunden. Komischerweise, das fiel ihm auf, hatte sie nur eine Reisetasche dabei und die hatte sie nicht gehabt, als er einige Minuten vorher in den Markt gegangen war. Sie musste sie im Auto vergessen haben und wieder zurückgegangen sein. Er kannte das. Die Zeit bis zum Flug zu kurz kalkuliert, Anrufe auf dem Weg zum Flughafen, die aufhielten, da wusste man nicht mal mehr, ob man überhaupt eine Tasche dabei hatte mit Laptop, den Handys und dem ganzen Kram darin oder das Auto abgeschlossen war oder ob noch ein Fenster offen stand!

Alex ging einige Schritte weiter in Richtung seines Wagens, der schräg gegenüber auf einem Kurzzeitparkstreifen stand. Nach nur einem Moment kam die Frau aus der Abflughalle zurück. Er hörte es am Klackern ihrer Absätze, denn sonst war weit und breit niemand zu sehen. Sie ging eiligen Schrittes. Die Reisetasche pendelte ihr immer wieder vor die Beine. Erst dachte Alex, dass sie vielleicht etwas im Auto vergessen hatte. Doch das war es wohl nicht, denn sie sah sich immer wieder mit einem gehetzten Blick zur Abflughalle um.

Sie war in Richtung des Parkhauses unterwegs, lief an Alex vorbei, nahm ihn aber gar nicht mehr wahr. Schließlich erreichte sie das Parkhaus und versuchte, ihr Parkticket in den Schlitz des Kassenautomaten zu stecken. Ihre Bewegungen wurden hektisch, und sie versuchte, das Ticket irgendwie reinzustopfen, was ihr nicht gelang. Erst daran erkannte Alex, wie außer sich sie wirklich war. Nach einigen Versuchen gelang es ihr. Sie blickte sich in Richtung der Abflughalle um, bevor sie das Parkhaus betrat.

Genau in diesem Moment zeichnete sich ein Riesenschreck auf ihrem Gesicht ab. Ihre Gesichtszüge waren erstarrt, und ihre von Panik geweiteten Pupillen starrten nur noch in Richtung der Abflughalle. Ihr Blick veranlasste Alex, sich auch umzudrehen und in den Eingangsbereich zu sehen. Dort stand ein Mann und schien sich gerade zu orientieren. Er war groß und schlank. Alex sah ihm ins Gesicht. Der Mann hatte eine weiße Gesichtshaut, blass, fast wie Papier, und tiefschwarzes Haar. Auf den ersten Blick hatte Alex den Mann für einen Spanier oder einen Portugiesen gehalten, doch die Blässe irritierte ihn.

Als Alex sich wieder zum Parkhaus umdrehte, war die Frau darin verschwunden. Kurze Zeit später hörte er das Aufheulen eines Motors und quietschende Reifen. Offensichtlich raste sie durch die Kurven des Parkhauses, durch die offene Fassade erkannte Alex ein Auto, das sich mit hoher Geschwindigkeit durch die Serpentinen nach unten bewegte.

Ohne ihn irgendwie zu beachten, ging der Mann an Alex vorbei und weiter in Richtung des Parkhauses. Er wirkte ruhig, geradezu gelassen.

Plötzlich stand ein Mini vor der Ausfahrtschranke. Die Frau versuchte, das Parkticket in den Schlitz des Automaten zu schieben. Alex konnte nicht erkennen, was genau sie da tat, es schien ihr aber nicht zu gelingen.

Der Mann lief ruhigen Schrittes weiter auf das Parkhaus zu. Etwas überrascht war Alex davon, dass der Fremde offensichtlich nicht den Kassenautomaten an der Seite ansteuerte, sondern direkt die Schranke anpeilte. Mittlerweile schien das Ticket im Automaten zu sein, denn die Schranke fuhr nach oben. Der Mann war vielleicht noch zehn Meter von der Schranke entfernt und ging weiter in seinem gelassenen Gang auf sie zu.

Die Frau gab Gas, doch dann stotterte der Motor und ging aus. Die Schranke blieb offen. Sie startete den Wagen erneut und hatte scheinbar den Rückwärtsgang eingelegt. Das Auto machte einen riesigen Satz nach hinten und der Motor war wieder weg. Der Mann war noch etwa acht Meter von der Schranke entfernt.

Die Schranke fuhr herunter. Die Frau hatte kein Ticket mehr, um sie erneut zu passieren. Sie gab Gas, raste durch die Schranke und bog mit heulendem Motor und quietschenden Reifen links ab. Die Schranke lag abgeknickt auf dem Betonboden.

Alex beobachtete die Situation gebannt. Zwar ahnte er, dass die Frau auf der Flucht gewesen war. Aber er sah keinen Anlass einzugreifen; ihr war nichts passiert, und es hatte keine akute Gefahrensituation gegeben.

Bevor Alex seine Einkäufe in den Kofferraum seines Autos hievte, sah er, wie der Mann in einen beigen Toyota-Geländewagen stieg. Auffällig an dem Wagen war das ovale Schild mit einem ›E‹ am Heck. Der Wagen kam aus Spanien. Alex runzelte die Stirn und schaute eher unbeabsichtigt auf das ausländische Nummernschild. Auch wenn es keinen Anlass dazu gab, würde er es sich merken, man wusste ja nie …

3 • Der erste Bruch

Sabrina war über die A352 heim nach Herrenhausen gerast. Sie hatte die Geschwindigkeitsbeschränkungen auf den Schildern gar nicht mehr wahrgenommen, ihr Fuß hatte das Gaspedal komplett durchgedrückt. Kalter Schweiß auf ihrer Haut ließ sie frieren und zwei Mal hatte sie sich krachend verschaltet, bevor sie endlich im sechsten Gang angekommen war. Sie hatte nicht damit gerechnet, Raoul zu sehen, der da so lässig aus der Abflughalle geschlendert kam, beide Hände in den Manteltaschen vergraben.

Wahrscheinlich war es gar nicht so kalt im Auto, sagte sie sich. Sie schob das alles auf ihren Ausnahmezustand, den sie sehr wohl begriff. Schließlich, nach einigen Kilometern, fing sie sich wieder etwas, und als sie auf den Schnellweg beim VW-Nutzfahrzeuge-Werk abbog, fiel ihr auf, dass Raoul ihr mit seinem Toyota-Geländewagen gar nicht folgen konnte. Der war einfach zu langsam.

Doch das beruhigte sie nicht, denn stattdessen standen ihr nun die Bilder der letzten Wochen in Spanien vor Augen. Diese letzten vier Wochen in Spanien waren zum Fürchten gewesen, und das begann schon an dem nächsten Morgen beim Frühstück, nachdem sie den Vertrag gefunden hatte.

Natürlich hatte er bemerkt, dass der Vertrag verrutscht war. Raoul war ein äußerst aufmerksamer Beobachter, ihm fiel so etwas auf. Er hatte sich immer unter Kontrolle, nahm sich selbst sehr bewusst dabei wahr und taxierte auch andere, mit denen er gerade sprach. Sogar deren nähere Umgebung hatte er immer im Blick. Selbst wenn er einen Witz riss, bemerkte Sabrina, dass er sich seinem eigenen Spaß nie ganz hingeben konnte. Ein ernster kontrollierter Zug blieb immer in seiner Miene, den diejenigen, die ihn nicht kannten, gar nicht mitbekamen. Seine Mundwinkel entspannten nie ganz, wie in seiner Sprache blieb auch in seinen Augen immer ein gewisser harter Akzent, so weich sie auch gerade schauten.

Diese Bildershow vor Augen fand sie nun schon eher beruhigend, um sich darüber klar zu werden, was eigentlich in diesen letzten Wochen passiert war. Aber warum war es immer noch so kalt im Auto? Sabrina schaute auf die Temperatureinstellung der Klimaanlage: zwanzig Grad. Sie drehte an dem runden Knopf, bis sich die Anzeige auf fünfundzwanzig Grad erhöht hatte.

Diese merkwürdige Art von Raoul war ihr anfangs, verknallt wie sie gewesen war, nicht aufgefallen. Seine Eloquenz konnte vieles überspielen und seine äußerliche Attraktivität war für viele das Erste, das sie an ihm bewunderten, wie sie selbst es auch getan hatte.

An jenem Morgen am Frühstückstisch sagte Raoul nichts mehr zu ihr, sondern schwieg. Sie hatte ihn vorsichtig angelächelt, aber sein Gesicht blieb regungslos. Während sie sich ein Brötchen nahm, dachte sie daran, dass er einfach an seinem Kater litt. Aber sie merkte, dass sie alles dafür tat, nicht die Wahrheit sehen zu müssen. Sie musste erkennen, dass sie sich allein schon von seinem Gesichtsausdruck bedroht fühlte. Er verunsicherte sie so sehr, dass sie seinen Blick mied und nur noch auf ihren Teller sah. Noch vor wenigen Stunden hatte sie ihm vertraut, mit ihm geschlafen; er, der sie nun ängstigte und der offenbar in der Lage war, mit einer gewissen kühlen Raffinesse zu betrügen.

Sein Verhalten hatte sich in der Folgezeit deutlich gewandelt. Wenn er mit ihr sprach, dann nur über das geschäftlich Notwendige. Sie waren bei Kommunen gewesen, Lagepläne unter dem Arm, und diskutierten mit den Beamten der Bauämter über die Wahrscheinlichkeit einer Genehmigung, bevor sie ein Grundstück kauften. Raoul hatte Sabrina darauf angesprochen, ob bestimmte Auflagen mit den Erfordernissen des Marktbetriebs vereinbar waren. Und sobald er seine Antwort hatte, nahm sie nicht mehr am Gespräch teil. Sie gab es für ihn nur noch geschäftlich und auf ausdrückliche Anfrage. Das aber war noch nicht alles. Während der beruflichen Treffen behandelte er sie geradezu abschätzig. Er stand auf dem Balkon eines Penthouse und hatte sie ins Kellergeschoss verbannt, selbst wenn sie bei dem geschäftlichen Gespräch wichtig gewesen war. Bei der Verhandlung mit einem Großgrundstücksbesitzer, der es in Katalonien geschafft hatte, Ackerland zu einem Sondergebiet für Fachhandelsmärkte zu machen, zog er die Geschwindigkeit seiner Sätze so an, dass ihr die Konsonanten seiner harten spanischen Sprache nur noch wie Patronen einer Maschinenpistole um die Ohren flogen. Sie bekam nichts mehr mit. Das machte Raoul immer so, wenn er ihr Interesse bemerkte, sich aber sicher war, dass er sie nicht brauchte. Sie war ohnmächtig, eine Marionette.

In den letzten beiden Wochen vor ihrer Abreise fiel ihr auf, dass Raoul sich gehen ließ. Die Kontrolle über sich und seine Umgebung beherrschte er nach wie vor. Aber er kam unrasiert zum Frühstück, rasierte sich dann gar nicht mehr, er war ungekämmt, hatte Mundgeruch, meist noch eine Fahne, und er stank.

Partys besuchte er nach wie vor. Raoul musste einen wirklich sehr großen Bekanntenkreis haben. Denn diese Leute sahen aus, wie er nun aussah, soffen wie er, stanken wie er und waren so eklig wie er. Man traf sich in versifften Bars oder heruntergekommenen Villen. Sabrinas Ohnmacht ging so weit, dass sie ihn anfangs sogar zu diesen Partys begleitete, bis ihr die Langeweile, am Abend allein zu sein, lieber gewesen war, als ihre Zeit mit solchen Kreaturen zu verbringen.

Sie hatte doch fünfundzwanzig Grad eingestellt. Sie sah nach. Fünfundzwanzig Grad. Der Wagen war neu. Als Vertriebsleiterin fuhr sie viel. Jedes zweite Jahr stand ein neuer Wagen vor der Haustür. Das konnte doch nicht sein?! Und es zog, ein fieser Luftzug von hinten. Sie sah sich kurz um, doch sie konnte in der Dunkelheit des Wagens, die zu dieser Jahreszeit selbst am Vormittag noch herrschte, nichts erkennen.

Sie hatte auf einer Bank vor einem Hotel gesessen, als Raoul eines Nachts von einer seiner Ekel-Partys angetorkelt kam. Da spielte ihre Fantasie ihr einen bösen Streich. Zugegeben, sie hatte auch schon ein paar Rioja in ihrer Blutbahn. Sie sah ihm ins Gesicht, als er an ihr vorbeischwankte, das plötzlich aussah wie das eines Wolfs oder eines verwilderten Hunds, und zwischen seinen Zähnen tropfte eine schaumige weiß-gelbliche Flüssigkeit hervor. Sie bekam danach dieses Bild nicht mehr aus ihrem Kopf.

Raouls Firma hatte ein gutes Image in Spanien, das hatte Sabrina von Anfang an feststellen können. Aber in diesen letzten Wochen tätigten sie keinen Grundstückskauf mehr. Die Gesprächspartner waren froh, wenn sie Raoul so schnell wie möglich wieder den Rücken zukehren konnten. Offenbar war sein ungepflegtes Auftreten Methode geworden, auch wenn Sabrina nicht verstand, welchem Zweck es diente. Wollte er sie loswerden, indem er immer ekliger erschien, oder hatte er Angst vor ihr und ließ sich deshalb verwahrlosen?

Als die vier Wochen des eisigen Schweigens endlich vorbei waren, dachte Sabrina oft daran, mit Männern gar nichts mehr zu tun haben zu wollen, so wütend war sie einerseits auf Raoul und so viel Angst hatte sie andererseits vor ihm. Männern konnte man nicht hinter die Stirn sehen und das Bild des Wolfs mit dem Schaum zwischen den Zähnen tauchte in dieser Zeit immer dann vor ihrem inneren Auge auf, wenn ein Mann sie ansah.

Den Tag, an dem Raoul sie zum Flughafen in Madrid brachte, es war ungefähr Mitte September, behielt sie in unguter Erinnerung. Sabrina war mit eiligen Schritten in Richtung Abfertigung gelaufen, Raoul war hinter ihr, holte zu ihr auf, und drehte sie an ihrer Schulter zu sich herum. Er starrte sie an, seine Mundwinkel waren nach unten verzogen. Mit einer demonstrativ langsamen Handbewegung führte er seinen Zeigefinger dicht an seinem Kehlkopf vorbei: »Wenn du eine Wort sage, ich immer wissen, wo du bist!« Sein gebrochenes Deutsch machte seine Drohung noch wirkungsvoller, als es sein makelloses Spanisch gekonnt hätte.

Sabrinas Augen weiteten sich in Panik, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie riss sich von ihm los und lief zur Abfertigung.

Sabrina wusste später gar nicht mehr, wie sie am Morgen an diesem – nach Spaniens Wärme, einige Tage zuvor – umso kälteren zweiten Oktober vom Flughafen Langenhagen nachhause gekommen war. Raouls unerwartetes Erscheinen am Flughafen Langenhagen hatte ihre Erinnerung an die letzten Tage mit ihm in Spanien wachgerufen. Diese Vorstellung hüllte sie in ein allumfassendes Gefühl von Angst und band ihre ganze Aufmerksamkeit. Es musste die Gewohnheit sein, alles genau zu kennen, vor allem den Weg vom Flughafen heim, die sie sicher in Richtung zuhause gebracht hatte. Routine hatte auch ihr Gutes.

Nun raste sie durch Hannover ihrer Wohnung entgegen, immer noch mit diesem seltsamen kühlen Zug im Rücken. Sie hielt erst, als sie zuhause angekommen war. Ihre Reisetasche mit ihren Sachen und dem Laptop, ihrem Firmen-Handy und ihrem privaten Handy darin, hatte sie auf die Rücksitzbank geworfen, als sie panisch den Flughafen verließ und die Parkschranke eingefahren hatte. Nun sah sie fassungslos auf die hintere Tür, als sie ihn herausholen wollte. Die Scheibe war eingeworfen, kleine Zacken aus Glas ragten aus der Gummilippe der Fenstereinfassung heraus, Sabrina öffnete die Tür, zog die Tasche heraus und sah sofort, dass der Reißverschluss geöffnet worden war. Deshalb war es im Wagen so kalt und zugig gewesen. Raoul war also schon an ihrem Wagen gewesen, als sie das erste Mal in der Abflughalle auf dem Weg zu ihrem Flug gewesen war und noch einmal zurück musste, weil sie – Glück für Raoul – die Reisetasche vergessen hatte. Das alles hatte der Spanier beobachtet und deshalb war er ihr so überaus lässig gefolgt. Sie hatte offenbar bei dem ganzen Stress und ihrer Eile, die Reisetasche aus dem Auto zu holen, nicht bemerkt, dass das Fenster kaputt und die Tasche offen gewesen war. Jedem, der geschäftlich andauernd unter Druck war, konnte das passieren!, redete sie sich ihre Unaufmerksamkeit nun schön. Oder hatte sie sie gar selbst geöffnet? Sie überlegte fieberhaft, doch weder konnte sie sich daran erinnern, dass die Tasche offen gewesen war, als sie sie holte, noch daran, sie selbst geöffnet zu haben, als sie sie voller Panik wieder zurück in ihr Auto gefeuert hatte. Wenn sie nur etwas aufmerksamer gewesen wäre, hätte sie Raoul nicht so überraschen können in der Eingangshalle! Sie ärgerte sich und betrachtete wieder ihre Tasche. In diesem Moment sah Sabrina, dass die oval gebogenen Zähne des Reißverschlusses ihrer Reisetasche sie breit und frech angrinsten, während die Tasche sich lässig auf dem Lederbezug der Rücksitzbank des Minis fläzte wie sie selbst auf der Sonnenliege in Alicante, was noch nicht so lange her war. Mit voller Wucht schlug sie, mit Tränen in den Augen, in den geöffneten Reißverschlussmund. Dem hatte sie es gezeigt! Denn alle Zähne waren nun nach innen geklappt, und sie grinsten auch nicht mehr, sie sahen eher aus wie ein erstauntes: »Oh!«

Sie zog ihre freche Tasche vom Rücksitz des Autos, schloss die Haustür auf und dann die Wohnungstür, kickte die Tasche wie ein Fußballspieler an die Wand des Flurs und lief in ihre Küche. Da stand im Schrank noch ein Rotwein aus der Pfalz. Die Flasche Rioja daneben rührte sie mit angewidertem Blick nicht an. Sie holte ein Weinglas aus dem Schrank, goss sich großzügig ein, setzte sich an den Küchentisch: Sie würde ihren Flug nach München verpassen. Weil sie in Panik davongelaufen war. Aber egal, Hauptsache, sie war erstmal wieder in Sicherheit und Raoul nicht in ihrer Nähe!

Nach dem dritten Wein stellte sie fest, dass der Tag für sie noch nicht zu Ende war. Sie musste einen neuen Flug finden, der sie am nächsten Morgen nach München brachte, ganz früh morgens. Denn eigentlich wollte sie ja an diesem Sonntagabend schon in München sein. Am nächsten Morgen würde sie mit den Marktleitern der Filialen in Bayern und Thüringen sprechen. Sie hatte einen Vortrag zu halten und musste sich auf die Diskussion danach einstellen.

Missmutig ging sie zurück zu ihrer Tasche im Flur, die sichtlich zerknautscht an der Wand kauerte. Sie hatte ihre Tasche fertiggemacht. Sabrina grinste zufrieden. Der Reißverschluss machte nicht mehr »oh«, sondern seine Zähne waren nun komplett nach innen geklappt. Vorsichtig zog sie ihren Laptop aus der Tasche. Die Zähne sollten schön da innen bleiben, wo sie waren. Ihre Tasche war männlich, entschied sie, und sie hatte »ihn« besiegt.

Mit dem Laptop ging sie ins Wohnzimmer. Sie rief die Flugverbindungen auf und hatte ein Riesenglück: Es gab noch einen einzigen Sitzplatz auf dem Flug Hannover–München, Start 6.15 Uhr. Der Preis war allerdings astronomisch. Doch sie würde ihn erklären können. In ihren Wagen war am Flughafen schließlich eingebrochen worden. Nach dem Termin in München würde sie die Schadensanzeige aufgeben. Alles im Lot!

Nach dem vierten Glas Rotwein kam Sabrina endlich darauf nachzusehen, was ihr eigentlich gestohlen worden war. Sie ging wieder in den Flur und kickte der Tasche die Spitze ihres Pumps in den Magen, worauf sich ihre Zähne nach außen wölbten, als erbräche sie sich gerade. »Das geschieht dir recht«, sagte Sabrina gehässig, als sie ihre Tasche ins Wohnzimmer schleifte, um sie genau zu untersuchen. Dafür brauchte sie nicht lange. Ihr Firmenhandy fehlte. Das Handy, mit dem sie den Vertrag fotografiert hatte. Raoul würde die Fotografien des Vertrags darauf finden, gar keine Frage. Aber war das nun gut oder schlecht? Sie hätte den Vertrag ja schon irgendwo anders sichern, mailen oder ausgedruckt und dann versteckt haben können.

Und das hatte sie! Alle Dateien ihres Firmenhandys schickte sie täglich mittels einer App an die Cloud eines Providers, bei dem sie Speicherplatz gekauft hatte. Ein Klick samt Passwort genügte. Sie hatte schon immer Angst davor gehabt, ihr Firmenhandy zu verlieren und dann ganz dumm dazustehen, allein schon wegen der vielen beruflichen Kontakte, die dort gespeichert waren.

Aber wusste das Raoul? Würde er die App finden und würde er dann das Passwort entschlüsseln können, um sich einen Zugang zu verschaffen? Das Passwort waren die Lottozahlen am Tag des Geburtstages ihres Vaters im vorletzten Jahr samt Superzahl. Das Passwort hatte sie auf ihrem privaten Handy gespeichert und das war nicht geklaut. Würde Raoul selbst das knacken?

Sie war zu müde, sich darüber Gedanken zu machen. Sie war so müde, dass sie nicht einmal mehr Angst hatte. Sie hatte nur noch den nächsten Tag, die Marktleitersitzung in München, vor Augen. Das war das, worauf sie sich jetzt konzentrieren musste. Sie sah auf die Uhr. Null Uhr dreißig. Der Flieger ging um sechs Uhr fünfzehn. Schnell stellte sie den Wecker ihres privaten Smartphones.

Einen Moment Ruhe noch. Sie schenkte sich ein weiteres Glas Rotwein ein. Sie kam tatsächlich etwas runter, ging ins Bett und schlief tief und fest, bis der Wecker klingelte. Sabrina blieb zehn Minuten zu lang liegen. Sie genoss die vertraute Umgebung ihres Zuhauses.

Sie schaffte es gerade so bis zu ihrem Flug.

4 • Diese Augen

Als Alex auf der Autobahn in Richtung Stadtmitte unterwegs war, fiel ihm nicht auf, wie langsam er fuhr. In Gedanken beschäftigte ihn sehr, was er gerade am Flughafen erlebt hatte. Wer war dieser Mann mit der kalkweißen Haut und den pechschwarzen Haaren? Merkwürdig, dass allein sein Auftauchen die Frau mit diesen phantastischen braunen Augen derartig in Panik versetzen konnte.

Als er in der Wohnung angekommen war, die jetzt sein Zuhause war, verließen ihn diese Gedanken nicht, während er seinen Einkauf in den zweiten Stock schleppte. Doch er musste diese Geschichte von sich abschütteln: Er würde das Rätsel nicht lösen können, das sich da vor seinen Augen abgespielt hatte. Viel interessanter war es doch, sich diese Augen ins Gedächtnis zu rufen, die er in einem solchen Braunton noch nie und selten so strahlend gesehen hatte. Nie zuvor hatten die Augen einer Frau ihn so in Bann gezogen. Sicher, es waren wahrscheinlich nur Sekunden gewesen, aber wie war es möglich, dass ihm diese kurze Zeit so lang vorgekommen war? Alex konnte machen, was er wollte, seine Gedanken wollten sich von dieser Frau nicht lösen.

Wahrscheinlich spielte seine Psyche ihm einen Streich, vermutete er von sich selbst, einen Streich, der aber gut gemeint war, weil er ihn entlasten, auf andere Gedanken bringen sollte. Das, was ihn belastete, war seine Sehnsucht nach seiner Tochter Sophie. Was sie wohl gerade machte? Er hatte seiner Frau Jessica, zutreffender seiner Ex-Frau, eine SMS geschrieben, sie solle Sophie erzählen, er befände sich für mindestens zwei Wochen auf einer Auslandsreise. Mit ihr selbst habe sich das Ganze erledigt, definitiv und final. Wahrscheinlich hatte Sophie die Geschichte mit der Auslandsreise sogar geglaubt, wenn Jessica sie ihr denn tatsächlich erzählt hatte, denn er war oft auf Reisen. Trotzdem bedrückte die Lüge sein Gewissen. Aber es war nur eine Notlüge, redete Alex sich in Gedanken heraus, er brauchte Abstand. Abstand vom Tag ihres Geburtstages und der ganzen Zeit davor.

An Sophies Geburtstag vor wenigen Wochen irgendwann nachmittags hatte es an der Haustür geklingelt, Jessica holte gerade eine Kanne Kaffee und Sophie erklärte ihren Großeltern ihre Schaub-Spielzeugtiere, denn sie hatten ihr ein solches Tier geschenkt. Alex stand auf und öffnete die Haustür.

Vor ihm stand mehr ein Schrank als ein Mann. Erstaunt hatte Alex ihn von oben bis unten gemustert. Er trug Jeans und eine schwarze Lederjacke, die aussah wie eine Motorradjacke. Alex sah an ihm vorbei und suchte irgendwo auf dem Gehsteig ein Motorrad. Aber da war keins.

Mehr bekam Alex nicht von ihm mit, denn der Mann lenkte ihn dadurch ab, dass er freundlich fragte: »Ist Jessica da?«

Alex war verwirrt und meinte: »Ja … ja, einen Moment.« Er ging in das Wohnzimmer und deutete mit seiner Hand auf die Haustür: »Da will dich jemand sprechen …«

Der Mann wirkte auf Alex wie jemand, dessen Beruf er am ehesten im Lager irgendeines Großhandelsbetriebs oder der Müllabfuhr einordnete und der früher gut ein Gitarrist bei AC/DC oder einer ähnlichen Band gewesen sein konnte – bei dem langen, ungepflegten Haar.

Als Alex sah, wie Jessica, die offenbar nicht ahnte, dass er sie noch sehen konnte, diesen Mann umarmte und stürmisch küsste, kündigte er fristlos und final diese Ehe, das war zwar ziemlich geschäftsmäßig formuliert, traf aber genau das, was er in seinem Schmerz empfand.

Bis nach dem Abendessen ließ Alex sich nicht anmerken, dass er die Begrüßung zwischen seiner Frau und diesem Schrank gesehen hatte. Stattdessen trennte er schon früh am Abend seinen Weg von ihrem, sobald Sophie im Bett war. Jessica ging in ihr Schlafzimmer und er in seines. Er dachte über seine Situation nach, konnte aber keinen klaren Gedanken mehr fassen, holte sich aus dem Keller eine Flasche Grappa und betäubte sein Elend. Am frühen Morgen des Tages nach Sophies Geburtstag, einem Samstag, die halbe Flasche war leer, nahm er seinen Koffer vom Kleiderschrank und packte seine Sachen. Er schlich sich aus dem Haus, startete den Wagen und fuhr in Richtung des Mercure-Hotels am Neuen Rathaus.

Die Empfangsdame an der Rezeption war sehr freundlich, wich aber vor seiner Fahne zurück, als er seinen ersten Satz sagte. Bei der Aufnahme seiner Daten stellte sie fest, dass Alex schon häufiger Gast des Hotels gewesen war, obwohl seine Wohnanschrift nur wenige Kilometer entfernt lag. Sie lächelte wissend.

Als er mit seinem Koffer und der Tasche mit dem Laptop sein Zimmer ansteuerte, wunderte sie sich sichtlich. Er schwankte kein bisschen vom Restalkohol. Im Hotelzimmer angekommen ließ er sich auf das Bett fallen. Es war wieder ein fremdes Bett. Alex kannte so viele fremde Hotelbetten, die nicht sein Zuhause waren, und zuhause war sein Bett im Gästezimmer auch ein Fremdes. Er spürte, dass sich seine Gedanken zurückschlichen zu Jessica. Ins Mercure war er schon häufiger ausgebüxt, wenn ihm Jessicas Attacken zu viel wurden. Doch sein Aufenthalt heute hatte etwas Finales. War es wirklich vorbei mit ihnen? Alex öffnete den Kühlschrank und mixte sich eine Cola mit Whisky.

Selbstkritisch musste er einsehen, dass in den letzten Jahren seine Karriere im Vordergrund gestanden hatte. Er war viel gereist und oft nicht zuhause, das stimmte zweifelsfrei. Seine Bank befand sich im Strudel unzähliger Schadensersatzprozesse auf der ganzen Welt, drohte abzusaufen wie die ›Titanic‹ im Eis und die Kapitäne hatten es sich vor den Kindern und den Frauen in den Rettungsbooten bequem gemacht. Bis dieser Engländer, John Cryan kam, der Transparenz und Ehrlichkeit forderte und neue Geschäftsmodelle, und somit als neuer Chef das Unternehmen völlig umkrempelte.

Da hatte auch er, Alex, sich aufgemacht nach Betlehem, zu einer neuen Bank, um sich schätzen zu lassen, was seinen Marktwert und seine Ideen fairer Anlagemodelle anging. In Betlehem, das Frankfurt hieß, war man zunächst überrascht und später so überzeugt, dass er in der hannoverschen Krippe bleiben durfte, um von dort aus die sündige Welt seiner Bank mit transparenten und fairen Anlagen für ökologische und nachhaltige Investitionen weltweit zu missionieren. Alex hatte sich mit diesen Anlagen schon lange beschäftigt, als sich in der Bank noch niemand dafür interessiert hatte. Nun war seine Zeit gekommen, dem Konzern wieder zum Glanz zu verhelfen, denn sein Arbeitgeber war das Symbol für eine Bank aus Deutschland.

Allein sein Kind und seine Frau hatte er in der einfachen Unterkunft zurückgelassen. Sie war materiell nicht einfach, sondern von bester Güte, aber sie war wie das Stroh in der Krippe nur Beiwerk für Jessicas Bedürfnisse. Warum hatte Jessica am Anfang das Haus, ›die Villa‹, wie sie es immer bezeichnete, so toll gefunden?

Jessicas Wunsch nach einem Kind, um eigene unerfüllte Bedürfnisse zu kompensieren, war schief gegangen, gründlich. Welche Bedürfnisse hatte Jessica wirklich? Es war Zeit, nun nach der Trennung, sich darüber ein Bild zu machen. War das nicht eigentlich völliger Unsinn, hätte er sich nicht ein Bild ihrer unerfüllten Bedürfnisse machen sollen, bevor er sie verließ?

Alex ging an den Anfang zurück, als Sophie zwei Jahre alt gewesen war und sie in dieses Haus einzogen. Sophie krabbelte über den Rasen, Jessica pflanzte gerade neu an, zuvor war ein Gärtner da gewesen, um sie zu beraten. Alex stieg gerade aus dem Taxi von irgendeiner Reise wieder heim kommend. Jessica sah ihn, lief auf ihn zu und umarmte und küsste ihn. Alex lächelte, er war zuhause, hob Sophie vom Rasen auf und knuddelte sie. Am Abend waren Gäste da, Nachbarn, sie aßen und tranken.

Da war die Welt noch in Ordnung gewesen. Aber irgendwann später tauchte dieser böse Geist wieder auf, den Jessica eigentlich gar nicht mehr hatte sehen wollen und der die alte in ihr schlummernde Forderung nach ›mehr‹ weckte; ihre Mutter. Allerdings war Jessicas Wunsch nach ›mehr‹ nicht trivial zu erklären, denn ausgelöst wurde er von den anderen, sie waren es, die mehr von ihr wollten und sie so klein aussehen ließen, wenn Jessica nicht mehr alles schaffte, was sie von ihr forderten.

Ihre Mutter wollte ›mehr‹, als sie zu Weihnachten von Jessica eingeladen worden war; mehr sehen von Hannover, mehr Programm, sie hatte das alles gegoogelt, Herrenhausen, den Maschsee, das Landesmuseum, das Neue Rathaus, einfach alles. Jessica strengte sich an, aber dieses Paket an Wünschen wog zu schwer, war nicht zu schaffen mit einem kleinen Kind und ohne Unterstützung durch ihren Gast.

Die Entwicklung hatte einen unheilvollen Verlauf genommen, wie Alex feststellte. Denn auch die Kindergärtnerinnen wollten mehr von den Kindern und eigentlich meinten sie damit ihre Eltern, und die Lehrerinnen in der Grundschule wollten ebenfalls mehr, getarnt als schöne Angebote, unverbindlich, jedoch unabweisbar zum Nutzen der Kinder und ihrer Förderung. So wurde die Förderung eine moralische Forderung und das ›Mehr‹ zu einer stetig höheren Welle, die über Jessica hinwegschwappte und sie nach außen in das offene Meer zu ziehen drohte, wo sie dann untergehen würde.

Sophie selbst wollte scheinbar ebenfalls ›mehr‹, aber das stimmte nicht. Sophie hatte nur aufgenommen, was in ihrer Umgebung stattfand. Jessica jedoch fand für sich immer weniger, vor allem an Kraft.

Je ›mehr‹ Alex ihr am Wochenende abnahm, desto schwächer, desto mehr als Versagerin fühlte sie sich und desto mehr zweifelte sie an sich und verzweifelte an der Frage, ob sie seine Hilfe annehmen sollte, zumal Alex die Dinge aus ihrer Sicht nicht gut genug, eher schlampig machte. Auch die Kontakte zu den Familien in der Straße wurden weniger, denn vor allem die Frauen gaben damit an, was sie alles als Managerin ihres kleinen Familienunternehmens hinbekamen – was freilich keiner nachprüfen konnte.

Niemals hätte Jessica geahnt, wie sehr ihre Liebe zu Sophie einer Belastungsprobe unterzogen werden würde. Sie fühlte sich wie Millionen anderer Mütter alleingelassen und der, der nie da war nach ihrem Empfinden, so formulierte es Alex schuldbewusst: ›Der war ich.‹ Und so musste es gekommen sein, dass sie sich allein nach Linden aufmachte, ohne Alex, ihren angetrauten Mann, und stattdessen Uwe, diesen Schrank, gefunden hatte. Seiner Schätzung nach musste das schon länger so gehen, anderthalb Jahre vielleicht, denn seit dieser Zeit ungefähr nächtigte er im Gästezimmer und an Sex mit ihr seither konnte er sich auch nicht erinnern. Uwe war ein Mann, der, so fand Alex, dabei jedoch sich selbst eingestehend, dass ihm die notwendige Distanz für ein solches Urteil fehlte, nicht zu ihr passte.

War es wirklich so, dass sich die Geschichte immer wiederholte? Dass es ihnen ging wie Millionen anderen? Jessica wollte bestimmt nicht ständig mehr, aber sie war eine Getriebene und so wurde sie ihrer Mutter weitaus ähnlicher, als ihr wahrscheinlich lieb war. Ihre andauernde Unzufriedenheit über ihre Unzulänglichkeit und die Schmalspurbahn ihres Lebens fraß nicht nur sie selbst auf, sondern auch ihn. Und so passierte auch das Letzte, das er sich hatte vorstellen können: Jessica hatte Alex’ erotisches Leben zerstört, welches ihm wichtig war, und das wusste sie.

Jahre zuvor war sie nie bereit gewesen, ehrlich darüber zu sprechen, selbst in den Paartherapien, die Alex initiiert hatte, war sie ausgewichen, wenn die Therapeutinnen darauf zu sprechen kamen. Sie zog sich immer sehr geschickt aus der analytischen Schlinge, bevor die Wahrheit ans Licht kam. Da hatte sie ihn zu ihrer Entschuldigung sogar als ›verklemmt‹ bezeichnet. Wie sie in den Sitzungen mit ihm umgegangen war, fand Alex niederträchtig. Und dennoch hatte er sie nicht verlassen. Das hatte er erst nach Sophies Geburtstag gekonnt. Denn eigentlich empfand er es als Rettung, dass er Uwe gesehen hatte – anders hätte er doch nie die Reißleine gezogen …

Ob Jessicas Vater hatte auch so hatte fühlen müssen?

Alex saß nun in seiner Wohnung auf dem Bett und ließ sich hintenüber auf die Matratze fallen. Bei all den Gedanken an die anstrengenden Wochen wurde er müde. Und plötzlich hatte sich dieses Bild der braunen Augen wieder angeschlichen. Er würde ihm nicht entkommen können. Gab es so etwas wie paranoides Verliebtsein? Würde sich in seinem Leben etwas verändern? Alex wusste es nicht. Was stand hinter diesen braunen Augen, in die er sich verguckt hatte?

5 • Uwe und die Engel

Jessica hatte sich gewundert, als Alex um zehn Uhr immer noch nicht aufgestanden war. Sie hatte in seinem Schlafzimmer nachgesehen, sah die aufgerissenen Schranktüren, blickte nach oben auf den Schrank, wo immer seine zwei Koffer lagen, und sah auf den ersten Blick, dass einer fehlte. Ihr war sofort klar gewesen, was los war.

Als Erstes fiel ihr Sophie ein. Was sollte sie ihr sagen? Als sie schnell die Schranktüren schloss, hoffte sie, dass es von Alex bloß eine Impulshandlung gewesen war und er bald wieder vor der Tür stehen würde. Sie spürte ihren Puls bis zur Halsschlagader und sie wusste, es hatte keinen Zweck, wenn sie sich selbst belog. Instinktiv griff sie nach ihrem Handy in ihrer Hosentasche, denn Alex hatte keine Nachricht hinterlassen, keinen Zettel, nichts. Und tatsächlich, ihr Handy meldete, dass eine SMS von ihrem Mann eingetroffen war. Rasch rief sie seine Nachricht auf. Sie schockierte sie mehr, als sie geahnt hatte. Mit einem flauen Gefühl im Magen setzte sich Jessica auf den Rand des Betts. Tränen liefen über ihr Gesicht. Zum Glück spielte Sophie gerade, so konnte sie sich erstmal sammeln. Sie bündelte ihre ganze verbliebene Kraft, ging zu ihrer Tochter hinüber und berichtete ihr von der unerwartet notwendig gewordenen Reise ihres Papas. Doch diese nickte nur mit ihrem Kopf und spielte unbeeindruckt weiter.

Nachdem Jessica sich mehr schlecht als recht durch den Tag gehangelt hatte, zog sie sich am Abend in ihr Schlafzimmer zurück. Ins Wohnzimmer wollte sie an diesem Tag nicht mehr, denn das Wohnzimmer war ein Ort von Krieg und Frieden, von Schmerz und Glück gewesen, aber im Augenblick war es der Ort des Kriegs und des Schmerzes, es bedrückte sie.

Endlich gelang es ihr, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war ja wirklich süß von Uwe gewesen, dass er einfach zum Geburtstag ihrer Tochter aufkreuzte. Uwe konnte so herrlich spontan sein im Gegensatz zu Alex. Alex’ Tag war immer von morgens bis abends durchgeplant. Ja ja, ihr war schon klar, dass der Niedergang der Bank, bei der er beschäftigt war, sein ganzes Engagement erforderte. Sie hatte schon verstanden, dass die Bank immer in den Miesen war und sein Erfolg bei der Kreation von Finanzprodukten auch seiner Bank halfen, weil seine Finanzprodukte nicht betrogen hatten und weil sie das Vertrauen der Kunden wieder stärkten statt es zu schwächen, wie es das Verhalten der Manager tat. Da waren sie im Vorstand auf ihn gekommen. Schön, dass der Vorstand endlich die Ehrlichen belohnte, dachte sie zynisch. Sie hätte für einen solchen Laden nie gearbeitet, hielt diese Leute für eine einzige Verbrecherbande, dann schon lieber Industriebauten konstruieren, was für sie allerdings auch nicht mehr in Frage kam, auf gar keinen Fall! Aber musste sich dieses Engagement über Jahre hinziehen und waren dafür diese vielen Reisen notwendig? Wenn Alex Zeit hatte, konnte auch er richtig spontan und locker sein, aber wann hatte er schon mal richtig Zeit gehabt in den letzten Jahren?

Uwe kam schon mal am Nachmittag bei ihr vorbei auf dem Weg zum Depot, wenn er seinen Müllwagen wegbrachte. Hier in Waldhausen hätten alle die Nase gerümpft, wenn jemand mitbekommen hätte, dass Jessica Herrhausen seit eineinhalb Jahren ein Verhältnis mit einem Müllmann hatte. Uwe kam immer über den Hintereingang ins Haus, sein Wagen stand ein paar Straßen entfernt.

In Linden hätte niemand sein Gesicht verzogen. Jessica nippte am dritten Glas Rotwein, während sie sinnierte. Für sie war Linden zum amerikanischen Traum für Hannoveraner geworden. Und sie verglich die beiden Männer und ihre gemeinsame Zeit mit ihnen miteinander: Die beiden ersten Jahre mit Alex waren für sie die glücklichsten gewesen. Und nun war sie mit Uwe am glücklichsten. Jessica erinnerte sich daran, wie verliebt sie noch vor einigen Jahren in Alex gewesen war, weit zurück lag das. Er war überhaupt nicht der typische Banker, den man sich so vorstellte. Er war kreativ, hatte immer verrückte Ideen, die wahrscheinlich auch der Grund seines beruflichen Erfolgs waren – ein Paradiesvogel im Bankenwesen. Alex konnte reden, war charmant und sah gut aus. Gut, sie hatte davor schon besser aussehende Männer kennengelernt, aber in der Summe seiner Eigenschaften war Alex ein Ass. Ihre Trumpfkarte, sie hatte ihn wirklich geliebt. Er erweiterte ihr ödes Singledasein auf charmante Weise und lenkte sie von ihrem ungeliebten Job ab. Sie wurde zwar dafür bewundert, wie kompetent sie war und wie sie sich in einem Männerberuf in einer Männerbranche durchsetzte. Aber mittlerweile hasste sie ihren Job als Bauingenieurin für Industriebauten. Sie wollte etwas anderes machen, was aber – das war ihr klar – ohne weitere Ausbildung schwierig werden würde.