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Berlin im Juli 2040: Die deutsche Studentin Jenny und der sudanesische Arzt Rocco erwachen auf dem Dach des Reichstags – zwanzig Jahre nach ihrer letzten Erinnerung. Was ist mit ihnen geschehen und warum besitzen sie plötzlich übernatürliche Fähigkeiten? Um das herauszufinden, begeben sie sich auf eine Reise durch Berlin, und lernen die bedrohliche Realität dieser Zukunft kennen: Die Klimakatastrophe, Pandemien,Wirtschaftskrisen, Digitalisierung und Migration setzen dem Land zu – es ist nach dem Verfall traditioneller Parteien inmitten eines zerstrittenen Europas nahezu unregierbar geworden. Die oppositionelle Bürgerbewegung »SPES« (kurz für »Social Politics– Environment Survival«) stellt sich den durch KI und Robotisierung ausgelösten sozialen Ungerechtigkeiten entgegen. Als in der Öffentlichkeit die Infiltration der Regierung durch amerikanische Internetkonzerne bekannt wird, steht Berlin kurz vor dem politischen Kollaps. Eine Rede der Kanzlerin auf dem Balkon des Reichstags wird zum letzten Versuch, einen Bürgerkrieg zu verhindern. Doch mitten in ihrer Ansprache wird die Kanzlerin Opfer eines perfiden Attentats, in das Jenny und Rocco entschlossen eingreifen. Die möglichen Entwicklungen, die dieser Roman beschreibt, fußen auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Zukunftsforschung.
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Seitenzahl: 577
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Martin Creutzig
SPES
Dystopischer Roman
Der Himmel über Berlin
Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte, der Bach sei ein Fluss,
der Fluss sei ein Strom
und diese Pfütze das Meer.
Als das Kind Kind war,
wusste es nicht, dass es Kind war,
alles war beseelt,
und alle Seelen war eins.
Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
saß oft im Schneidersitz,
lief aus dem Stand,
hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim Fotografieren.
Wenders, Wim/Handke, Peter: Der Himmel über Berlin.
Ein Filmbuch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 41990.
Astronaut
Wir laufen rum mit der Schnauze voll
die Köpfe sind leer
sitzen im Dreck bis zum Hals
haben Löcher im Herz
ertränken Sorgen und Probleme
in ’nem Becher voll Wein
mit einem Lächeln aus Stein
uns fällt nichts Besseres ein.
Wir haben morgen schon vergessen wer wir gestern noch waren
Haben uns alle voll gefressen und vergessen zu zahlen
Lassen alles stehen und liegen für mehr Asche und Staub
Wir wollen alle, dass es passt, doch wir passen nicht auf
Die Stimme der Vernunft ist längst verstummt,
wir hör’n sie nicht mehr,
denn manchmal haben wir das Gefühl, wir gehör’n hier nicht her …
Wir alle tragen dazu bei, doch brechen unter der Last
Wir hoffen auf Gott, doch haben das Wunder verpasst
Wir bauen immer höher, bis es ins Unendliche geht
Fast acht Milliarden Menschen, doch die Menschlichkeit fehlt …
Und beim Anblick dieser Schönheit fällt mir alles wieder ein
Sind wir nicht eigentlich am Leben, um zu lieben und zu sein?
Hier würd’ ich gern für immer bleiben,
doch ich bin ein Wimpernschlag,
der nach fünf Milliarden Jahren nicht viel mehr zu sein vermag …
Bourani, Andreas/Müller-Lerch, Simon/Neumann, Paul/
Pompetzki, Marek/Remmler, Cecil/Würdig, Paul: Astronaut.
Aus: Bourani, Andreas: VI. Universal Urban, Goldzweig 2015.
Cover
Titel
Der Himmel über Berlin
Astronaut
Das Dach
Rocco
Aus eins mach zwei
Handyamputation und Identitätskrisen
Brave New World
Deutschunterricht im Dönerladen
Der Sternengucker
Ein Dach über dem Kopf
Mutterliebe
Ein Blick aus dem Bus einer Stadtrundfahrt
Der Blick auf himmlische Höhepunkte und das Feuer irdischer Höllen
Ein Blick auf die Welt und ihr Klima
Platzt die Welt?
Eine Kanzlerin in Sattelnot
Fightday for Future oder: als die Kanzlerin Einbahnstraßen verbot
Luzifer
Quellennachweis und weiterführende Informationen
Über den Autor
Impressum
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Verwundert blickte sie nach oben. Kleine graue und von unten rosa bestrahlte Wölkchen zierten einen fast blutroten Himmel. Die Wölkchen bewegten sich nicht und das Blutrot wollte nicht vergehen. Lange hielt sie ihren Kopf erhoben, den Blick zum Himmel gerichtet.
Fast schien es, als müsse sie noch werden, als sei sie noch irgendwie unvollständig. Eine angenehme Wärme spürte sie – eine Sommerwärme am ganz späten Abend, vielleicht ein bisschen viel davon. Ein Fetzen ihrer Erinnerung flackerte auf. Er zeigte ihr die Kälte des Winters dort draußen, die sie erahnt hatte, als sie aus Fenstern in Räumen hinaussah, draußen den Regen bei fünf Grad Celsius beobachtete und drinnen gefangen war, wo es schauderhaft korrekt temperiert war und doch kalt, denn die Kälte stiftete das künstliche Licht.
Ihr Blick betastete ihren Körper, aber sie spürte – nichts. Der blutrote Himmel hatte ihre Umgebung in gräuliche Dunkelheit getaucht, alles, was sie von sich erkennen konnte, erschien ihr merkwürdig schemenhaft. Sie war ein wenig verwundert, fühlte sie sich doch so wohl wie schon lange nicht mehr, denn das Letzte, an das sie sich erinnerte, war die Kälte des Februars gewesen – das musste schon lange Zeit her sein. Denn bald danach lebte sie nur noch in diesen Räumen, die sie nicht mehr hatte verlassen können.
Die unerwartete Wärme und die hereinbrechende Nacht umhüllten sie wie ein schützender Mantel und ließen sie schläfrig werden, denn so lange war es her, diese Wärme gespürt zu haben, dass sie sich überraschend geborgen fühlte.
Sie fiel in Schlaf und sie begann zu träumen: Sie war nicht hier, sie war irgendwo anders, wenn sie nur wüsste, wo das war. Ein fahler Lichtstreif fiel durch die Öffnung eines verrutschten Deckels wie der einer Schachtel, nur war dieser von heller brauner Farbe. Das dünne Licht gab den Blick auf einen Schädel frei, von rissiger Haut pergamentartig viel zu straff umspannt, tote Löcher, die Augen gewesen waren, und ein ausdrucksloses Gebiss, das nur noch ein aus aneinandergereihten Zähnen bestehendes Dauergrinsen war. Ein Grauschleier von Staub hatte sich über das Pink einer Hose gelegt, die sich schlabberig wie graues Segeltuch über den Oberschenkelknochen zog. Die Füße mussten in viel zu großen weißen Sneakern stecken, denn die Knochen der Knöchel stachen zwischen den Schuhen und der Hose viel zu sehr hervor. Das weiße T-Shirt war verdreckt und nach oben verrutscht. Die Haut über dem Becken war gerissen – die unteren Bögen des Brustkorbs schienen das T-Shirt angeritzt zu haben. Das fahle Licht wie vom Mond beschienen erlosch, als ob sich dunkle Wolken vor den Mond schoben. Diese Tote war provisorisch und lieblos begraben. So fühlte auch sie sich, während sie hier schlief, etwas verloren, irgendwie provisorisch atmend und lebend.
Als sie des Nachts fühlte, wie die Wärme um sie herum zu schwinden drohte, hatte sie gespürt, wie es vor langer Zeit gewesen war, als sie noch gelebt hatte. Sie hatte Angst, dieses Gefühl der sie wie ein Mantel umhüllenden Wärme zu verlieren, ein Mantel, der ihr Äußeres zusammenhielt. Sie meinte, nicht nur diese äußere Wärme zu brauchen, sondern auch eine Wärme, die aus ihrem inneren Sein gespeist war. Und sie fühlte dort nach, blickte in sich. Doch ihr zaghafter Blick in sich selbst hinein wie durch einen geöffneten Deckel ließ sie frösteln, denn sie sah nichts außer Dunkelheit, aus der eine eisige Kälte in sie aufstieg. Weil sie sich so ungeboren und verloren wähnte, wandte sie ihren Blick von ihrem kalten, dunklen Inneren ab, damit sich der Deckel ganz schnell wieder schließen möge.
Sie erblickte einen kleinen runden Findling. ›Je…‹, stand darauf. Sie konnte den Namen nicht lesen. Nie konnte sie den Namen lesen, wenn sie diesen Traum hatte.
Mitten in dieser Nacht, als der rote Himmel nur noch ein schmaler verglimmender Streifen am Firmament war, wachte sie auf. Es war das erste Mal, dass sie aus diesem Traum aufwachte. Verschlafen sah sie an sich herunter, aber ihr Blick war nach den Bildern ihres Traums geschärft. Er hatte sie nicht beunruhigt, es war ihr vielmehr, als habe sie das fahle Licht schon oft gesehen, denn es war ihr Traum – oder die Reminiszenz ihrer Existenz.
Sie befühlte die pinkfarbene Jeans, die sie trug. Erinnerungsbruchstücke führten sie in die Umkleidekabine eines Kaufhauses zurück und sie sah sich die Jeans anprobieren; die Geburt ihrer Lieblingsjeans. Es war der weiche Denimstoff, der sich eng an ihre Oberschenkel schmiegte, so wie sie es liebte. Sie ließ ihre Beine fröhlich schwerelos in der Luft baumeln und sie spürte ihren regelmäßigen Puls, Blut, das verlässlich durch ihre Adern floss. Als ihre Augen über ihre Beine hinaus wanderten, fielen ihre langen braunen Haare vor ihre grünen Augen und sie konnte nichts mehr klar erkennen. Aber das, was sie noch gerade wahrgenommen hatte, bevor der löchrige Vorhang ihrer Haare eine ganz klare Sicht verhinderte, löste eine ungeheure Reaktion in ihr aus. Ihre Hände klammerten sich intuitiv an einem steinernen Pfeiler in ihrer nächsten Umgebung fest, suchten Halt, den der Pfeiler nicht gab, denn er war zu groß, ihn zu umgreifen. Ihre Augen sahen vor Panik starr nach unten, ihre Lippen bibberten, ihr Herz schlug, zu spüren bis in ihre Halsschlagader, und ihr Atem war ein Stakkato von Luftstößen. Sie traute sich nicht, die Haarsträhnen hinter die Ohren zu schieben, um besser sehen zu können. Wo war sie hier?
Unter ihr lag ein großer Vorplatz, das konnte sie erkennen, und etwas weiter entfernt verliefen die Straßen, wenige Lichtkegel, klein wie die von Taschenlampen mitten in der Nacht. Ruckartig zog sie ihre Beine an. Auf einmal war ihr kalt. Der verglimmende Streifen am Horizont war weiß, weit entfernt und nun kalt wie verlorenes Polarlicht.
Sie hatte ihre Umgebung erkannt. Oft genug hatte sie das Gebäude von unten gesehen. Und nun sah sie vom Dach dieses Gebäudes hinunter: Sie saß auf dem Reichstag.
Sie rutschte an die Sandsteinstele und umfasste sie zitternd, wandte ihren Kopf nach rechts, links und nach hinten, um sich zu orientieren. Sie fragte sich in diesem Augenblick nicht, wie sie dort oben auf das Dach gekommen war, sondern sie suchte nach einem sicheren Abstieg, um nach unten zu gelangen. Der Blick nach hinten eröffnete ihr einen gangbaren Weg, denn das Dach des Reichstages war flach. Sie musste nur aufstehen, ohne abzustürzen. Sie zog ihren Körper ein wenig zurück, bis ihre Beine nicht mehr in der Luft baumelten, sondern ihre Füße den festen Grund des Dachs spürten. ›Du musst deine Oberschenkel anspannen, Jenny!‹, dachte sie. Kraft würde sie brauchen, um sich nach oben zu stemmen. Mit einem Mal erschien ihr jede Bewegung nicht mehr wie selbstverständlich, sondern musste umständlich durchdacht, ihren Muskeln angewiesen und dann ausgeführt werden.
Jenny? Noch in ihrer Bewegung nach oben hielt sie inne: Sie hieß Jenny? Klar, sie hieß Jenny!
Und die Kraft, auf die Beine zu kommen, verpuffte völlig, als sie es tat; sie wog scheinbar nichts, ihre völlig falsche Einschätzung des Kraftaufwands brachte sie ins Taumeln. Sie neigte sich in Richtung des rettenden Dachs, als sie fiel.
Sie fiel mit der Schulter auf das flache Dach. Jenny erwartete einen beißenden Schmerz in ihrem Schienbein, das beim Fall gegen die Steinfigur geprallt war. Sie schüttelte ihren Kopf, sie betastete das Schienbein, denn sie spürte nur einen leichten Schmerz, ein Ziehen vielleicht. Irritiert richtete sie sich auf, krempelte die Jeans an der Wade nach oben in der Erwartung, einige Abschürfungen zu entdecken – nichts zu sehen. Und die Stele – sie stand immer noch steinern da wie zuvor.
Sie drückte sich mit ihren Armen nach oben, doch der Druck schien der einer anderen Welt zu sein, einer vergangenen. Fast wäre sie vornüber gekippt, so unfassbar leicht und mühelos war erneut die Bewegung.
Jenny lief über das Dach. Alle Teile dieser Bedachung führten zu den zwei Innenhöfen, die die große Kuppel in der Mitte flankierten. Der Himmel ließ sie wie von innen rot glühen. Auf dem Weg zum Hintereingang gab es Türen. Sie rannte zu einer hinüber. Die Tür schien ihre Rettung zu sein. Jenny wusste um ihre trügerische Hoffnung, denn die Tür würde verschlossen sein mitten in der Nacht. Doch verblendete Hoffnungen übten eine magische Anziehung auf sie aus, das war schon immer ihr Problem gewesen. Die Tür hatte einen runden, flachen Knauf, an dem sie zog und drückte. Verschlossen. Also warten bis zum nächsten Morgen, denn die anderen Türen würden wohl kaum offen sein. Sie wandte sich verdrießlich ab, streifte mit ihrer Schulter das Türblatt. ›So ungeschickt auch noch!‹, dachte sie über sich selbst, und wieder fehlte der Schmerz.
So ging Jenny zurück an die Dachkante und setzte sich in sicherem Abstand hinter die Balustrade. Sie saß schweigend da, das Kinn auf die Hand gestützt. Sie sehnte sich einfach danach, da unten zu sein bei den Menschen, die vereinzelt im Laternenlicht auf dem Vorplatz standen oder etwas weiter entfernt auf der Straße mit den Autos unterwegs waren. Und nicht so allein.
Während sie die Menschen da unten beobachtete, zogen sich ihre Lider zusammen wie ein Reflex, weil ihre Augen anfingen zu brennen und feucht zu werden. Tränen der Freude darüber, Menschen dort unten zu sehen, liefen über ihr Gesicht. Als ob sie eine Ewigkeit einsam und nur mit sich gewesen wäre. Sie freute sich einfach nur, wieder andere Leute zu sehen. Und ihre Tränen liefen über ein Gesicht, das zu einem Menschen gehörte, einer Person, deren Namen sie kannte. Sie war Jenny. Und ihr fiel es wie Schuppen von den Augen, denn ihr Name war es, der auf dem Findling stand.
Er lebte im ›Land der Schwarzen‹, das auf Arabisch Bil ād as-Sūdān hieß. Rocco war wie schon so oft auf dem Weg zu einer Massendemonstration gegen die Diktatur seines Präsidenten al-Baschir. Er ging mit großen Schritten energisch voran, es waren Schritte, die zu seiner Körpergröße passten. Seit 2013 war er dabei, wenn auch damals das Militär zweihundertzwanzig Zivilisten tötete und dadurch die Proteste zunächst erstickte. Das war das Jahr, in dem die Ärzte aus Protest gegen das Regime landesweit streikten und damit begannen, die Demonstrationen zu organisieren. Als Arzt hatte er von Anfang an mitgemacht. Seinen klaren Verstand machte er sich hierbei zunutze wie auch seine tiefe, sonore Stimme, die in Verbindung mit seinem logischen Denken die Fallstricke jeder komplizierten Diskussion binnen Sekunden entflocht und Überblick verschaffte. Er strahlte eine in sich ruhende Autorität aus, die ihren Ausgangspunkt in seiner Größe nahm; selbst für einen Mann war er überdurchschnittlich groß.
Diese Debatten über Anträge für Genehmigungen bei Behörden und die beste Vorgehensweise, die scheinbar kein Ende nehmen wollten, hatte es unter den Ärzten zuhauf gegeben, wenn es um die Vorbereitung weiterer Demonstrationen ging oder um die Frage, welchen Pressevertretern man wirklich trauen konnte. In einer Gruppe von Menschen meist etwas abseits stehend, verschaffte er sich stets einen Überblick, bevor er eingriff oder zu Hilfe gerufen wurde. Se, die Anführerin der Opposition, rief nach ihm: »Rocco, wir brauchen dich hier mal bitte! Die einen können mit den Vorgaben der Behörden für die nächste Demonstration leben und die anderen sehen darin eine inakzeptable Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit.« An der Wand lehnend und konzentriert zuhörend drängte er sich sanft in den streitenden Kreis. Menschen vor ihm drehten sich um, sahen zu ihm auf, wenn er mit ruhiger, tiefer Stimme die Kontroversen der Debatten befriedete. Er nahm den Argumenten die sie begleitende Emotion und zeigte, wie weit die Pro- und Contrapunkte wirklich auseinanderlagen. Dann machte er einen Vorschlag, oft ein Brückenschlag zwischen nur zentimeterweit auseinanderliegenden Positionen. Diese seine Besonnenheit brachten ihm nicht nur den Ruf des Streitschlichters ein, sondern auch Respekt und Ansehen, von denen er zwar Kenntnis hatte, jedoch ohne dass er sie ausnutzte. Ihm ging es um die Sache und die war verheerend.
Seit dem Jahr 2013 hatte sich die Lage im Land dramatisch verschlechtert, vor allem die wirtschaftliche, weil drei Viertel aller Ölfelder sich im abgespaltenen Süd-Sudan befanden. Die Preise stiegen und die Arbeitslosigkeit auch. Je schlimmer es wurde, desto menschenverachtender regierte Diktator al-Baschir.
Doch Rocco kannte Schlimmeres, weitaus Schlimmeres als das, was sich im Sudan gerade abspielte. Doch mit niemandem hatte er diese Erfahrung seines Lebens jemals geteilt, bis er seine Frau kennenlernte und er sich sicher war. Sicher um jeden Satz, den er ihr erzählte; sicher, dass sie ihn verstehen würde. Aber verstand sie wirklich Arianhdhit, den Sudanesen, oder musste ihr Rocco nicht näher liegen? Würde sie die Situation im Land wirklich begreifen?
In seinen Papieren stand ›Arianhdhit‹. Aber alle nannten ihn nur ›Rocco‹, denn seine Frau war Italienerin. Sie liebte Afrika und die afrikanischen Völker. Es war eine hingebungsvolle und auch romantische Liebe an diesen Kontinent und seine Menschen – vielleicht auch eine idealistische. Sie war als Entwicklungshelferin in Afrika weit gereist. Bevor sie in den Sudan kam, war sie in Uganda gewesen. Sie hatte dort die Berggorillas in ihren Reservaten bewundert, seltene, vom Aussterben bedrohte Tiere in den Bergen des Urwalds. Doch dann waren neue Aufgaben an sie herangetragen worden, die in einem Land, in dem sie sich nie zuvor aufgehalten hatte, dem ›Land der Schwarzen‹, auf sie warteten. Der Sudan bezauberte sie nicht so sehr – aber Arianhdhit, der junge engagierte Arzt, tat es. Ende zwanzig musste er sein, als sie ihn in einer Klinik kennenlernte und sich in ihn verliebte – und ihn einige Zeit später heiratete. Er war schon damals ein Sprachrohr des Protestes, eine Rolle, die er gar nicht angestrebt hatte. Sie aber bewunderte und unterstützte ihn dafür. Nur seinen Namen ›Arianhdhit‹ benutzte sie nicht. Für sie war er von Anfang an Rocco, weil er sie mit seinem muskulösen Oberkörper an Rocky und Sylvester Stallone erinnerte. Mit der Zeit war ihr besonderer Spitzname für ihn von seinen Kollegen übernommen worden: ›Rocco‹ war kraftvoll und rebellisch. Und was zunächst nur als Spaß gemeint war, wurde mit der Zeit sein gängiger Rufname. Seine Frau Gianna freute sich darüber, dass ›ihr starker Rocco‹ nun auch von anderen mit der martialisch um das Recht kämpfenden Filmfigur verbunden wurde. Außerdem musste sie jedes Mal, wenn sie diesen Namen hörte, an ihre italienische Heimat denken, die sie immer mehr vermisste, je mehr sie Rocco liebte. Beide Wahrheiten waren ehrlich. Denn in einem fremden Land zu leben war anders, als in einem fremden Land nur zu arbeiten, egal, wie sehr sie es liebte.
Rocco war auf den staubigen Nebenstraßen der Hauptstadt Khartoum zu Fuß unterwegs. Er war zu spät dran, er hatte sich zuvor um sein Jüngstes kümmern müssen, das fieberte. Es war eine der Demonstrationen geplant, die in den letzten Monaten immer häufiger von den Ärzten organisiert worden waren. Nur da, wo es unbedingt nötig war, nutzte er die Hauptstraßen, um zum Green Yard zu gelangen, einem prominenten, großen Platz mitten in der City von Khartoum. So war es sicherer. Möglicherweise hatte sie ihn schon lange unter Beobachtung, aber bemerkt hatte er nichts. Wobei, was machte er sich vor? Sicher hatten sie ihn auf ihrem Schirm! Immer hatte er auch ein wenig Angst dabei, zu den Demonstrationen zu gehen. Angst zu haben war klug und besser als ein dümmlicher Mut. Er erreichte den Platz zu spät, wie er feststellte, denn Tausende waren bereits dort und skandierten laut: »Freedom, Peace, Justice.« Auf die anderen Parolen hörte er schon gar nicht mehr. Er sah die Menge an Menschen mit Befriedigung. Denn wieder waren mehr Teilnehmer gekommen als beim letzten Mal. Das war das eigentliche Ziel der häufigen Demonstrationen: das Volk gegen seinen Diktator zu mobilisieren. Aus einer Welle gleichzeitig gebrüllter Forderungen wurde eine Woge, eine mächtige akustische Woge, die weithin zu hören war. Ihn durchströmten Freude und ein gewisser Stolz. Dies war groß!
Rocco konnte zum verabredeten Treffpunkt des Organisationskomitees der Ärzte nicht vordringen – es war bei den Menschenmassen schier aussichtslos. Er sah auf seine Armbanduhr. Was würde die Polizei tun, wenn sich die Demonstration weiter hinzog, wenn mehr Menschen dazustießen?
Als die Polizei und später die Armee eingriffen, wie zu erwarten gewesen war, passierte etwas noch nie Dagewesenes: Die Demonstranten ließen sich zerstreuen – die Demonstration löste sich zeitweilig auf, doch nur, um sich an anderer Stelle wieder zu versammeln! Der Green Yard leerte sich rasch unter dem Druck der Ordnungshüter, Rocco stellte sich in einen Hauseingang, um den Abzug der Bürger zu beobachten. Dann folgte er ihnen und sah, dass sie ganze Straßenzüge in der Nachbarschaft besetzten! Rocco konnte sich nicht vorstellen, dass diese neue Variante eine Idee des Organisationskomitees war. Andererseits war er außerstande zu erklären, wie die Kommunikation unter den Demonstranten funktionierte, die zu diesem Katz-und-Maus-Spiel geführt hatte. Sie agierten wie ein riesiger Schwarm, als gäbe es eine kollektive Intelligenz! Er war beeindruckt. Und er sah dieses Spiel mit großer Sorge, denn die Soldaten würden sicherlich – mit ihren Nerven am Ende – bald schießen, scharf schießen, gezielt töten oder zutreffender – wahllos umbringen.
Immer wieder flüchteten Demonstranten in Straßenzüge, versammelten sich dort erneut, skandierten lauter und lauter und provozierender. Immer mehr Menschen drängten von außen in die Seitenstraßen, beteiligten sich an der Demonstration. Die Ohnmacht des Militärs angesichts der schieren zahlenmäßigen Übermacht lag greifbar in der Luft wie auch die Anspannung der Offiziere. Sie durften das Heft des Handelns nicht aus der Hand geben.
Dieses Spiel endete so, wie es Rocco befürchtet hatte: Mit den Schreien der zahlreichen Getroffenen während des Großeinsatzes der Armee. Al-Baschir war ein Diktator und Diktatoren hatten ungerechte Armeen, die sich – und das war der eigentliche Frevel – gegen das eigene Volk richteten.
Es war nun eine andere Woge, die durch die Straßenzüge hallte. Die Rufe nach Freiheit und Gerechtigkeit hatten dumpf, tief und bedrohlich geklungen. Die Massen hatten rhythmisch mit den Füßen gestampft, als träten sie mit ihren Füßen die Diktatur in den Boden, bis sie endlich verschwunden war, wie in einem tiefen Grab und mit ihr die Waffen und das unnötige Verrecken.
Die Schreie der Verletzten dagegen waren Schreie der Verzweiflung, hohe Töne, schrille Töne, kaum auszuhalten. Dazwischen krachte das Stakkato der Salven von Maschinenpistolen – und es krachte von allen Seiten. Untermalt wurde das Konzert des Schreckens vom Bass der Sterbenden, die ihre letzten Züge atmeten. Diese dunklen Laute waren die Melodie, die letzten Laute vor dem sicheren Tod. Diese Woge war es, die Rocco ins Mark fuhr und sich unauslöschlich in seine Gene eingrub wie ein Stempel, gestempelt mit bleibender Farbe eines Stempelkissens, das eine der wichtigsten Erfahrungen seines Lebens war.
Ambulanzen waren nicht zu sehen und nicht zu hören. Das Volk wurde auf den Straßen zurückgelassen. Für einen kleinen Moment stand Rocco bewegungslos auf der Straße, wusste sich keinen Rat und hasste seine Hilflosigkeit. Es war ein Dilemma. Denn er schwor auf seinen Eid als Arzt, aber es war ihm klar, dass es an Selbstmord grenzen würde, in diesem Moment helfend einzugreifen. Schließlich ging der Selbstschutz vor Fremdschutz und er trug eine gehörige Verantwortung auch gegenüber seiner Familie. Und es wäre niemandem in der Bewegung gedient, wenn er sich jetzt umbringen ließe. Rocco ging weiter, die Schreie der Verletzten so gut es ging ignorierend, während sein Herz sich zusammenkrampfte.
In diesem Moment hätte Rocco am liebsten Pazifist werden wollen. Allein die Grundfesten seiner humanistischen Bildung, die er während seines Studiums in Frankreich erfahren hatte, hinderten ihn daran. Aber er hätte al-Baschir persönlich umgebracht, wenn er ihn in die Finger bekommen hätte.
Rocco hatte sich von dem Platz abgewandt, er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu sehen, was er sowieso schon wusste. Der Platz war leergefegt, aber ein kurzer Blick in die Seitenstraßen bestätigte seine Befürchtungen. Auch aus den Seitenstraßen waren die Demonstranten geflohen und wer dort noch auf dem Asphalt lag, war tot. Und der Tod lag da mannigfach.
So wie er lebte, lebte er ziemlich gefährlich. Es war Zeit, sich zurückzuziehen, sich nicht noch mehr zu gefährden, denn Rocco sorgte sich um seine Familie. Die Angst um seine Familie war seine größte Angst, seit er mit dabei war bei der Protestorganisation. Sechs Jahre waren das schon. Da war sein Jüngstes noch gar nicht geboren. Starb er, verhungerte seine Familie nicht. Aber nahe am Elend war sie dann schon, fiele er als Ernährer der Familie aus. Denn Gianna kümmerte sich um die Kinder. Der Sudan als Sozialstaat war mit Italien überhaupt nicht vergleichbar, das wusste Rocco. Seine Frau hatte aus freien Stücken die sudanesische Staatsbürgerschaft angenommen. Rocco hatte versucht, sie davon abzuhalten. Allein die schwachen Sozialleistungen in seinem Land konnten einen Notfall zum Desaster werden lassen. Zudem kannte er ihre Sehnsucht nach Italien, einem Land, das er nie besucht hatte. Andererseits, hätte er ihr Bekenntnis zu ihm ablehnen, bekämpfen sollen? Denn ihr Bekenntnis zum Sudan meinte eigentlich ihn und nur ihn.
Als er in eine Nebenstraße abbog, traf er auf Se. Se war ihr Pseudonym für die internationale Presse, seit sie die Führung im Ärztekomitee übernommen hatte. Sie war alleinstehend und hatte keine eigene Familie. Sie war jung, klein und etwas dicklich. Es sah lustig aus, als die beiden, er der Hüne und sie die kleine Runde, nebeneinander herliefen. Sie war mit kurzen Beinen geboren worden, die zueinander standen wie ein X. Doch das machte ihr nichts aus. Denn sie verzauberte die Menschen mit ihrem gewinnenden Lächeln und ihrem lauten fröhlichen Lachen. Rocco mochte sie. Sie war straight und zupackend und eine wertvolle Kollegin.
Weil sie den gleichen Weg hatten, hatten sie beschlossen, gemeinsam zur Demonstration zu gehen. Aber Rocco war am verabredeten Punkt nicht rechtzeitig erschienen, daher freute er sich, auf dem Rückweg auf sie zu treffen. »Meine Jüngste hat Fieber«, sagte er etwas tonlos als späte Erklärung. Se nickte nur. Sie beide hatten die Vorfälle während der Demo mitgenommen. Ses kurzes lockiges Haar stand zu allen Seiten ab, sie hatte Spuren von Dreck im Gesicht und Rocco hatte einen aufgeschürften Arm, weil er von einer fliehenden Menschenmasse ein paar Meter mitgerissen und gegen eine Wand gepresst worden war. Dieser Tag war kein Erfolg für ihre Bewegung im Sudan.
Schweigend schlurften die beiden Aktivisten über die staubigen Straßen. Rocco sah Se an. Sie ahnte, welche Frage er stellen wollte, und sie schüttelte nur ihren Kopf. Sie hatte das Katz-und-Maus-Spiel nicht geplant und wie es hatte passieren können, erfuhr auch sie nicht. Es war beeindruckend gewesen, doch das Ende war so schockierend, dass sie beide keine Lust hatten zu sprechen, Spekulationen auszutauschen, Meinungen einzuholen oder das Desaster schönzureden. Weswegen Schweigen eine gute Einigung war.
Sie bogen in die Straße ein, in der Rocco mit seiner Familie wohnte. Es war kein kleines Haus, auch das Grundstück war recht groß. Eine hohe Mauer schützte die Liegenschaft und die Familie, die darin wohnte, vor Dieben, Entführern, Mördern. Die Mauer krönten Stacheldraht und Kameras. Er lächelte. Wieder einmal geschafft, zurück in seiner Zuflucht.
Noch zehn Meter bis zu Hause. Er nahm Se in seine Arme, drückte sie. Sie wohnte ein paar Straßenzüge weiter entfernt. Ein kurzer Weg. Er konnte sie ungefährdet gehen lassen. Rocco wandte sich ab und seinem Heim zu. Er freute sich auf seine Frau und seine beiden Kinder, dann trat er auf die Eingangstür zu und auf etwas, das aussah wie eine plattgetretene Dose Cola, aber von silbriger Farbe. Die Straße war sandig, nur deshalb fiel es ihm auf, es fühlte sich nicht mehr sandig unter seinem rechten Fuß an, da war etwas Festes.
Rocco sah nach unten auf seine Schuhe. Das Ding war nicht länglich, es war rund, kreisrund, es glänzte und er war darauf getreten. Er wusste, was das bedeutete. »Se, lauf!«, schrie er und in diesem Moment, er hatte den Fuß leicht anheben wollen, explodierte die Tretmine.
Se war schon einige Meter vorausgelaufen, als er rief, warf sie sich auf den Boden. Sie bekam nichts ab, doch Rocco spürte einen plötzlichen Ruck durch seinen Körper fahren. Eben noch hatte er die Freude, es weitgehend unverletzt von der Demonstration nach Hause geschafft zu haben, verspürt sowie die Vorfreude darauf, seine Frau, seine Kinder im Arm zu halten und ihnen von den schrecklichen Geschehnissen zu erzählen. Er spürte den Schmerz nicht, als er von den Füßen gerissen und durch die Luft geschleudert wurde. Er landete einige Meter entfernt, noch bevor er realisierte, dass er nicht mehr stand. Der Schreck ließ ihn nur starr werden und mit Mühe richtete er seinen Blick an sich nach unten auf sein Bein, er sah ungläubig seinen Unterschenkel an seinem Knie baumeln, als gehörte er nicht zu ihm. Dass sich ein Stück seines Körpers ohne seinen Willen pendelnd bewegte, hielt ihm all die Fassungslosigkeit vor Augen, die mit der Starre seines Körpers gut harmonierte, denn er war zu einem tragischen Denkmal seiner selbst geworden.
Als nächstes schweifte sein Blick nach oben und er spürte einen beißenden Schmerz im rechten Arm. Durch den leicht zerfetzten Ärmel hindurch konnte er ihn nicht sehen, denn sonst hätte er bemerkt, dass nur die Röhre des Ärmels seinen zerstückelten Arm noch zusammenhielt.
Und dann kam er. Unter der darauf folgenden Welle des Schmerzes wurde er begraben wie ein untergehender Surfer.
Was dann folgte, erlebte er wie in einem Zeitraffer. Se lief zurück, erkannte sofort, was passiert war, und stoppte die Blutung des Beins notdürftig, indem sie sich ihre Jeans von ihren massigen Oberschenkeln quälte und mit einem Hosenbein seinen Oberschenkel abband, während sie Roccos Frau instruierte, die wegen des Knalls herausgehastet war, den Stumpf seines Arms mit seinem abgerissenen Hemdsärmel abzubinden. Seine beiden kleinen Kinder starrten ihren Papa mit weit aufgerissenen Augen von der Tür in der Grundstücksmauer an, als hätte er sich heute ein besonders bizarres Abenteuer für sie einfallen lassen.
Se rief die Ambulanz, die erstaunlich schnell kam. Andererseits war es nicht so erstaunlich, waren doch keine Rettungswagen bei der Großdemonstration gesehen worden. Die Krankenhäuser waren nicht überlastet, denn auf der Demo hatte man einfach sterben lassen.
Doch auch Rocco starb, kaum war er im Krankenhaus angekommen. Der Blutverlust war zu groß. Er war kurz bei Bewusstsein, während er panisch keuchend nach Sauerstoff schnappte, der ihm durch den Blutverlust im Körper fehlte. Se schrie die Kollegen in der Notaufnahme an und lief los auf der Suche nach Blutkonserven. Irgendjemand drückte ihm eine Atemmaske aufs Gesicht und presste Hände auf seine zuckenden Gliedmaßen. Er sah, wie seine Frau zur Seite gedrängt wurde, mit tränenüberströmtem Gesicht die Arme nach ihm ausstreckte, und er zog mit der unverletzten Hand die Maske herunter, lächelte sie an und flüsterte: »Ich liebe dich! Sag unseren Kindern, dass ich sie immer geliebt habe! Ich glaube, ich werde wieder …« Er brachte seinen Satz nicht zu Ende, denn sein Kopf fiel schlaff zur Seite, als ob er in dem fensterlosen Raum der Notaufnahme nach draußen in einen Himmel schaute.
Se stieß einen Schrei aus, als sie mit zwei Blutkonserven zurückkam, und boxte alle zur Seite, um eine Herzmassage zu beginnen. Die Kollegen ließen sie machen. Sie wussten, dass es sinnlos war. Rocco hatte sich verabschiedet. Nun kämpfte der Rocky des sudanesischen Volkes nicht mehr.
Gianna traf eine schmerzliche, aber gute Entscheidung. Rocco wurde zwei Tage später in einem anonymen Grab der Regierung beigesetzt, um Geld zu sparen, das sie dringend für ihre Kinder und sich benötigen würde. Sie war da und ihre Kinder nicht, als der Radlader die Leichen der Demonstranten und die ihres Mannes zusammenschob und in das Grab in fünf Metern Tiefe beförderte. Die Toten klatschten in der Grube wie nasse Säcke aufeinander. Das Geräusch war widerlich.
Die Hitze an diesem Tag war unerträglich und die feuchte Luft auch. Es stank. Die Leichen stanken – ein eklig süßlicher Geruch, der sich in die Schleimhäute einbrannte.
Se stand neben ihr, hielt ihre Hand und wusste nicht, ob das Attentat nicht eigentlich ihr gegolten hatte. Aber war das nicht egal in diesem Moment? Se spürte eine unabweisbare Sicherheit, während sie dem ›Begräbnis‹ zusah, dass al-Baschirs Zeit abgelaufen war, und ihre irgendwie auch. Als ob ihr Schicksal mit dem al-Baschirs zusammenhing. Vielleicht hatte Se gar nicht bemerkt, wie sehr sie ihr Leben dem Kampf gegen den Diktator verschrieben hatte. Als al-Baschir stürzte, übernahm der Cholesterinspiegel die Macht über ihren Körper und beförderte sie in ihre eigene kleine Hölle.
Als sie wieder aufwachte, erschien der neue Tag unbenutzt in der Morgendämmerung. Sie spürte, genug geschlafen zu haben, ausgeruht zu sein, und blickte sich um. Ein Tag am ganz frühen Morgen auf dem Dach des Reichstages, vier Uhr oder fünf, aber keinesfalls sechs. Der Himmel war noch dunkelgrau, aber es war warm. So warm, wie sie die Luft in Berlin so früh am Tag nicht kannte. Sie vermutete bereits fünfundzwanzig Grad. Sie sah sich den Himmel genauer an. Sie kannte diese Art von Himmel, den sie sich tagelang angesehen hatte im Winter in diesem Raum mit dem Bett aus dickem Metallrohr, beleuchtet von Kälte. Solche Himmel wussten sich nicht zu entscheiden, was aus dem kommenden Tag werden sollte; schienen nicht zu wissen, ob die Sonne scheinen oder das wenig entscheidungsfreudige Grau sich zu Schwarz verändern und danach Regengüsse fallen lassen würde. Jenny war es immer gleich, wie sich der Himmel entscheiden würde. Sie liebte den Sommer, obwohl sie nur zweiundzwanzig davon erlebt hatte, aber nass zu werden machte ihr nichts aus.
Tückisch fand Jenny das Grau im Winter, wenn sie so darüber nachdachte. Denn dann fielen Schnee oder Regen. Den Schnee im Winter hatte sie immer gemocht, aber den Regen bei fünf Grad, der jede Haut durchnässte, nicht. Der graue Himmel im Winter war nicht kalkulierbar. Zum Fürchten konnte so ein Winter sein. Sie war in einem solchen nasskalten Winter gestorben.
Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dass sie nicht auf dem Dach des Reichstages geboren worden war, auch wenn es sich im Moment so anfühlte. Sie sah an sich hinunter. Ihre pinkfarbene Jeans, ihr weißes Top. Es gab ein Leben, bevor sie auf dem Dach des Reichstages gelandet war. Wer eigentlich war sie? Sie musste sich erinnern, unbedingt, sie wusste, dass das alles in ihrem Kopf gespeichert war. Es würde sie viel Mühe kosten, etwas scheinbar tief Vergrabenes an das Tageslicht ihres Bewusstseins zu befördern, das nicht grundlos in den Untiefen ihres Seins versteckt schien. Da war sie sich sicher. Denn warum war sie zurückgekommen in diese Welt, obwohl sie doch schon tot war? Dass sie eigentlich schon tot war, bewies ihr häufig wiederkehrender Traum. Der Findling. Ob sie den Traum schon gehabt hatte, als sie noch lebte? Aber sie lebte ja. Oder? Ach, es war alles wirklich sehr verwirrend!
In dieser Lage würde sie keine Antworten finden, sie musste einen anderen Weg suchen, am besten vom Dach des Reichstages herunter. Jenny lief eilig zu der Tür, die sie aber genauso verschlossen vorfand wie zuvor in der Nacht.
Sie trottete zurück zur steinernen Balustrade. Eine der Türen würde sich bald öffnen für die Besucher, da war sie sich sicher. So lange konnte sie warten und hockte sich hin. Sie hatte immer noch keinen Durst und keinen Hunger. Seltsam war das. Aber sie hatte Lust darauf, etwas zu schmecken. Das war nicht ganz, aber fast so wie Hunger.
Sie blickte auf die Straße und auf den Vorhof des Reichstages. Es gab da etwas in ihrer Wahrnehmung, das sie von ihrer Lust auf Geschmack völlig abbrachte. Die wenigen Menschen, die sie beobachtete, waren so weit da unten. Eigentlich war es unmöglich, ihre Stimmen zu hören. Aber sie hörte Stimmen von Menschen, die vereinzelt unterwegs waren. Meist waren es Jogger oder Gassigeher, die vielleicht irgendwo in der Nähe wohnten. Was sich die Herrchen, Frauchen und Jogger zu erzählen hatten, war um diese Uhrzeit weniger interessant, meinte sie. Aber ihre Sehnsucht nach Menschen trieb sie, zu verstehen, was diese Leute da unten sagten. Sie spürte ihren Hunger auf Menschen. Jenny konzentrierte sich auf die, die sie erkannte.
Interessiert beobachtete sie, wie der Verkehr zunahm. Von oben betrachtet sah der Straßenverkehr aus wie immer. Und wenn sie sich einen Jogger genauer ansah, hörte sie, was er nur für sich in Gedanken formulierte – es mussten seine Gedanken sein, denn es ergab überhaupt keinen Sinn und es gab ja keine Gesprächspartner. Völlig irre war das, fand sie. Konnte sie wirklich hören, was jemand anderes dachte? Oder sprach der Jogger vielleicht doch, während er lief? Doch die meisten Jogger waren zu schnell unterwegs, rangen um Atem und hatten nicht genug davon, um auch noch sprechen zu können. Sie konzentrierte sich auf andere Jogger und auf Gassigeher, und stellte fest, dass sie auch deren Gedanken hören konnte. Ja, das musste etwas Telepathisches sein oder so, denn für wirkliches Hören war sie doch viel zu weit weg!
Nach einer Weile sah sich Jenny gelangweilt auf dem Flachdach um. Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis sich eine Tür öffnete, die ihr einen Weg nach unten ermöglichte. So lange musste sie einfach nur aushalten.
Inzwischen war es hell geworden, richtig hell und die Sonne schien. Jenny hielt ihr Gesicht in die Sonne, die sie schon zu früher Stunde intensiv wärmte, obwohl sie das Gefühl hatte, dass es zu viel von dieser Sonne gab. Gelegentlich sah sie sich um. Öffnete eine der Türen doch früher, als sie vermutete?
Jenny wandte sich um zur anderen Seite der Balustrade und verharrte mit einem staunend offenen Mund und kleinen Wellen auf der hochgezogenen Stirn. Sie hatte einen Mann entdeckt, der ungefähr fünfzig Meter von ihr entfernt vor der Balustrade des Reichstages saß. Da in der Nähe hatte auch sie ein paar Stunden zuvor gesessen, kurz vor einem Absturz war sie gewesen, bevor sie sich hinter das Geländer gerettet hatte.
Wie war er hier hergekommen? Die Türen zum Dach waren verschlossen. Und sie hätte ihn gesehen, sehen müssen, wenn er wie auch immer auf das Dach geklettert wäre. Doch warum sollte jemand auf das Dach des Reichstages klettern? Vielleicht wollte er sich umbringen und nun saß er da, unschlüssig, ob er es wirklich tun sollte.
Jenny rannte los, um den Mann zu retten. Rutschte er nur dreißig Zentimeter nach vorn, und dreißig Zentimeter waren nicht viel, würde er nach vorn kopfüber fallen und dann wäre er tot. Noch während ihres Sprints, ihre Augen immer aufmerksam auf den Abgrund jenseits der Fassade gerichtet, erkannte sie, wie groß der Mann war. Seine Haut war so schwarz, dass er sich wie ein dunkler Fels vom Blau des Himmels abhob und die Sonne seinen Körper fast glänzen ließ. Er saß einfach da und seine Beine baumelten spielerisch in der Luft.
Jenny erreichte ihn, er hatte sie nicht gesehen, sein Kopf bewegte sich nicht, er hätte ihre Schritte hören müssen, aber er sah starr in die Sonne. Sein Oberkörper schien aufgefaltet wie ein Sonnensegel, das Strahlung und Wärme tankte. Schon ein paar Meter vor ihm erkannte sie seine geschlossenen Augen.
Er bemerkte sie erst, als sie ihn schon erreicht hatte. Sie zog an seinen Schultern, versuchte, ihn auf das Dach zu zerren, da blickten sie riesige weiße Augäpfel aus einem pechschwarzen Gesicht an. Er widersetzte sich ihrem Zug – er hatte Bärenkräfte, die ihn immer weiter zum Rand des Dachs und nach unten ins Verderben zogen.
Jenny rief: »Stopp!« In diesem Moment neigte sich sein noch immer in die Sonne gerichteter Kopf nach unten, er musste die Tiefe des bevorstehenden Falls erkannt haben, denn er klammerte plötzlich seine Hände an ihre Arme. Er winkelte die Beine an und zog sich an ihren Armen festhaltend auf das Dach, bis seine Füße Halt fanden.
Sie wunderte sich über ihre Kräfte. Hatte sie die Zeit, von der sie nicht wusste, wie lang sie eigentlich gewesen war, in einer Muckibude verbracht und nicht in einem Sarg? Dass ihr das Gehirn diese ironischen Gedanken zuspielte, verschaffte ihr Erleichterung, in ihrer Situation der völligen Ungewissheit.
Als er endlich auf dem Dach lag und sie erleichtert ausatmete, betrachtete sie ihn, etwas nach hinten versetzt neben ihm liegend. Er war noch größer, als sie sich ihn vorgestellt hatte, und deswegen musste er auch schwer sein. Sein Gesicht war tiefschwarz, so ein Schwarz hatte sie an einem Menschen bislang nie gesehen. Doch eigentlich war er leicht gewesen, als sie an ihm gezogen hatte. Sonst hätte sie es nie geschafft, ihn vom Abgrund wegzuzerren.
»Danke«, sagte er mit einer tiefen Stimme, die seinem Dank wahre Glaubwürdigkeit verlieh.
»Ist mir eine Ehre«, entgegnete Jenny und hätte sich im gleichen Moment selbst eine herunterhauen können, weil sie so geschwollen sprach. Sie sprach sonst nicht so. Sie redete direkt ohne Umschweife, manches Mal ein bisschen Slang von der Straße.
Doch das war dem Schwarzen gar nicht aufgefallen. Er sah sich an, als ob er sich unglaublich fühlte. Es schien, dass er nicht wagte, sich selbst anzufassen. Mit einem ungläubigen Blick berührte sein Zeigefinger seinen Arm. Er lächelte. Aber sein Lächeln war unsicher, fast verzagt.
Jenny hockte neben ihm. Ihre Hand strich ihm über seine vom Schweiß feuchte Wange.
Er war wie sie. Aber wie war sie?
Er lächelte sie an. Nicht nur, weil sie ihn gerettet hatte. Sondern auch, weil er sofort verstanden hatte, dass sie war wie er, irgendwie gleich, zumindest ähnlich. Aber wieso sprach er eine Sprache, die nicht Arabisch und nicht Englisch war? Und wo eigentlich war er hier überhaupt? Er hatte sich aufgesetzt und seine Arme umfassten seine Schienbeine, was ihm ein ursprüngliches Gefühl von Sicherheit gab.
Jenny musterte ihn von oben bis unten. Er sah aus, als ob er eine lange Reise hinter sich hätte. Strapazen seiner Reise waren eingemeißelt in seiner hohen Stirn und in seinen Wangen, tiefe Falten der Entbehrung, die nicht zu seinem Alter passen wollten. Denn er war sicherlich nicht so viel älter als sie, höchstens fünfzehn Jahre. Aber sein Gesicht sah aus, als wäre er gerade aus einer Achterbahn gefallen, fassungslos, unverletzt geblieben zu sein, und nicht in der Lage, zu erklären, wieso er nach einem solchen Sturz wie selbstverständlich dasaß. Aber er war gar nicht hinuntergestürzt. Sie hatte ihn ja gerettet.
Er trug eine verdreckte Hose und ein Shirt, dessen ursprüngliche Farbe nicht zu erkennen war. Das Shirt klebte vor Dreck und – Jenny sah genau hin – Blut, altes geronnenes Blut. Vor Entsetzen rückte sie ein Stück weg von ihm, was nicht nur an seinem Anblick lag. Denn er stank zudem fürchterlich, geradezu widerwärtig, war das Wort, das Jenny richtig erschien. Er stank beißend süßlich, als ob er postwendend einem Grab entstiegen wäre.
War er Jesus? Jesus war ein Palästinenser, meinte Jenny, denn er war in Palästina geboren, erinnerte sie sich, obwohl sie viel mehr von Jesus nicht wusste. Außer, dass Jesus in Krippen inmitten irgendwelcher Nutztiere lag oder an Kreuzen hing, und die Schuld der Welt auf sich geladen hatte – was kein Kreuz aus normalem Holz aushalten dürfte, wie sie schon immer gefunden hatte. Sie wusste, sie war lakonisch. Aber so war die Wirklichkeit.
Ahnte er, was sie dachte, oder konnte er ihre Gedanken dechiffrieren? »Massengrab«, sagte er nur mit einem Wort, lächelte dabei unschuldig entschuldigend, und: »Weiß nicht, wie lange.«
In diesem Moment drehte sich ein Schlüssel im Schloss einer der Zugänge zum Dach. Ein Mann in einer grauen Uniform mit einem gelben Bären am Oberarm schaute sich auf dem Flachdach des Reichstages um und war augenscheinlich zufrieden. Niemand Unbefugtes war hier zu sehen. Kein Fotograf, der Bilder von der Stadt machte, kein anderer nächtlicher Eindringling. Erleichtert schloss er die Tür, ohne den Schlüssel wieder umzudrehen und abzusperren. Er hatte sie nicht gesehen. Für ihn gab es sie scheinbar nicht. Er hätte sie sehen müssen. Eigentlich hätte er sie sehen müssen. Sie saßen doch da! War der Mann etwa blind? ›Ein Blinder als Wachmann, eine merkwürdige Besetzung‹, dachte Jenny. Da wurde ihr plötzlich klar, dass der Kontrolleur sie nicht sehen konnte, weil sie für ihn unsichtbar sein mussten. Für ihn saß niemand auf dem Flachdach des Reichstages. Jenny wurde mulmig. Sie wusste, sie war gestorben. Tot war sie, obwohl sie hier und jetzt lebte und nicht zu sehen war. Sie sah den Mann neben ihr an. Ging es ihm genauso? War auch er gestorben und lebte überraschend weiter, ohne dass man ihn sehen konnte? Wenn er aus einem Massengrab stammte, war das der naheliegende Schluss … Sie musste mehr über ihn erfahren, um über sich selbst klarer zu werden.
»Wie heißt du?«, fragte sie ihn. Er lächelte sie freundlich an, aber er antwortete nicht auf ihre Frage. Er zog stattdessen das T-Shirt über seinen Kopf und betrachtete seinen muskulösen Oberkörper. Sein rechter Arm musste mehrfach gebrochen sein. Das zeigten die Spuren auf seiner Haut, die nicht wirklich Narben waren, mehr so etwas wie Nahtstellen ohne Fäden, einfach zusammengefügt. So provisorisch seine dunkle Haut an diesen hellen Stellen auch aussah, er hatte einen absolut funktionsfähigen rechten Arm. Ungläubig zog er seine Jeans über seine trainierten Unterschenkel nach oben, dann zog er sie kurz von oben herunter. Jenny sah an ihm vorbei, weil sie einen derart entblößten Mann erst selten gesehen hatte. Sie verspürte Scham, aber sie wusste nicht, ob sie rot wurde. Jenny befühlte ihr heißes Gesicht.
»Rocco«, sagte er und zog sich wieder ordentlich an, »ich bin aus dem Sudan.« Jenny bemerkte, wie schwer es ihm fiel, diese für ihn wohl fremde Sprache zum Ausdruck zu bringen, obwohl er sie perfekt sprach. Der andere Klang dieser Sprache verfing nicht mit seinen Gedanken. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich weiß auch nicht, wo ich bin.«
»Berlin«, war Jennys knappe Auskunft.
»Das ist in Deutschland?«, fragte er zögerlich, jedes Wort gedehnt.
»Ja, Deutschland.«
»Du kommst von hier?«
»Ja.« Jenny schwieg für einen Moment, sie wollte nicht erzählen, dass sie eigentlich gestorben war, denn vielleicht stimmte das nicht und sie hatte überlebt, wie auch immer, ein großer Irrtum war das. Sie war Jenny, die Person, die sie immer war, nur eben jetzt auf dem Dach des Reichtags. Das war ihre Hoffnung.
»Ich war tot, begraben in einem Massengrab in der Nähe von Khartoum«, vervollständigte Rocco seine Auskunft, die er ihr vorhin mit nur einem Wort an den Kopf geworfen hatte. So viele Fragen an ihn sausten ihr durch den Kopf, so viele Fragen, die er vielleicht auch ihr stellen wollte. Doch die Fragen überschlugen sich in ihren Gedanken, ließen keine Formulierung zu – vor allem angesichts der einen Tatsache, die sie als Fakt erst einmal verarbeiten musste. Jennys trügerische Hoffnung, möglicherweise wieder am Leben zu sein, hatte sich in der Selbstverständlichkeit des Faktischen aufgelöst. Sie war gestorben, so wie er gestorben war. Doch, es war wahr, sie lebten beide, oder waren zumindest da.
Erst waren es einzelne Touristen, die am frühen Morgen durch die Türen des Eingangs auf das Flachdach liefen. Doch schon bald bevölkerten viel mehr Menschen die Attraktion mit dem fantastischen Blick über die Stadt. Die Besucher auf dem Flachdach waren nicht nur amerikanische Touristen. Es gab viele von ihnen. Aber auch viele Europäer strömten herein, aus den Niederlanden, aus Großbritannien, aus Dänemark, Norwegen und Schweden. Inder waren unter den Besuchern und Araber, aus welchem Land sie auch immer kamen. Sie waren Menschen aus den USA, aus Malaysia, den Malediven, aus Vietnam, Thailand, Kambodscha und es gab viele aus Russland unter ihnen. Die Besucher kamen aus einer erstaunlich großen Zahl von Ländern. Viele Sprachen erkannte Jenny nicht einmal, obwohl sie verstehen konnte, was die Menschen redeten.
Die Touristen sahen sie nicht. Sie gingen sogar durch sie hindurch, dort, wo sie standen, Rocco und Jenny, um einen Blick von oben auf die Hauptstadt zu erhaschen. Jenny wich immer wieder zurück, um Platz zu machen, wenn ein Tourist auf sie zuging. Aber der Nächste ging an dieser Stelle durch sie hindurch. Sie sah zu Rocco hinüber, der sich die Hände vor die Augen hielt, weil er offenbar nicht sehen wollte, wie er überrannt wurde. Jenny blieb regungslos dort, wo sie stand, und ließ die Touristen durch sich passieren. Sie spürte es ja nicht, auch wenn der Gedanke eigenartig war. In diesem Moment stand ein Mensch aus England vor ihr, lächelte, erkannte ein Ziel für die Kamera seines Smartphones und ging schnurstracks durch sie hindurch, um wenige Sekunden danach hinter ihr zu stehen, von der Balustrade des Dachs fotografierend. Das passierte nicht nur ein Mal. Es passierte andauernd, denn Jenny war fast eingekesselt von neugierigen Touristen.
In diesem Moment war es ihr klar geworden. Ihr Mund stand weit offen, so unfassbar war ihre Erkenntnis, dass sie fast selbst nicht daran glauben konnte. Aber so wurden sie beschrieben, die Wesen, die es nur nach Hörensagen gab.
Zunächst war Jenny auf die Idee gekommen, ein Geist geworden zu sein. Aber Geister hatten keinen Bezug zu einem Körper. Sie erinnerte nicht mehr, woher sie das wusste. Aber sie war sich sicher. Sie wollte kein Geist sein, zu dicht lag der Geist beim Dämon. Sie empfand sich überhaupt nicht als Dämon. Wenn sie eine andere Form angenommen hatte, dann musste sie ein Engel geworden sein. Engel hatten eine gewisse Körperlichkeit, so wie sie. Wenn es Engel auf der Welt gab, hatten sie keinesfalls Flügel, fand sie, während sie sicherheitshalber verstohlen ihren Rücken abtastete und Roccos betrachtete. Denn sie waren bei den Menschen, um sie zu beschützen und ihnen zu helfen. Allein dafür brauchte kein Engel Flügel.
Sie waren Engel. Sie beide waren Engel, die im Augenblick in den Himmel über Berlin sahen, obgleich dieser Himmel sich in einer Hitze entlud, die für sie zu viel schien.
Sie wusste, dass auch er es wusste. Ein Engel geworden zu sein.
Einige Zeit nach der Öffnung des Reichstages ebbte der Strom der Besucher merklich ab. Jenny war von den Menschen abgelenkt, die sie nicht sahen, vor und hinter ihr liefen oder durch sie hindurchgingen. So war es ihr entgangen, dass Rocco sie eine ganze Weile mit einer nachdenklichen Miene ansah. Denn mit einer fast lakonischen Selbstverständlichkeit hatte er die keinen Abstand zu ihm haltenden Menschen um sich ertragen, offenbar war er so jemand, der immer aushielt oder oft hatte einfach aushalten müssen. »Du hast mich gerettet«, sagte er sich ihr nähernd und verstummte abrupt. »So habe ich es nicht sagen wollen.« Er ruderte hilflos mit seinen Armen. »Du hast mich gerettet«, korrigierte er seine Betonung und lachte unsicher. »Ich kann deine Sprache sprechen, aber jedes Wort hört sich falsch an!«
»Vielleicht sprichst du ja eigentlich deine Sprache, aber weil du in Deutschland bist, klingst du wie ich«, schlug Jenny zur Güte vor. Dann wich sie von ihm ein Stück zurück und hielt sich die Nase zu, als er ihr zu nah gekommen war. »Du musst duschen und brauchst neue Sachen. Du stinkst wie ein Iltis!« Sie lächelte ihn entschuldigend an, eine Beleidigung lag ihr fern, aber er hatte sie verstanden.
Indem sie sich vom Dach abwandten, verabschiedeten sie sich vom Himmel über Berlin, um in die Welt der Menschen einzutauchen, die ihr doch so sehr bekannt zu sein schien. Den Weg nach unten nahmen sie über das Treppenhaus. Jenny hatte im Handumdrehen die Initiative ergriffen, zog Rocco mit sich. Gerade erst hatte sie herausgefunden, ein Engel zu sein, zumindest hatte sie das so für sich geschlossen. Zuvor war sie eine Tote, was sie in gleichem Maß befremdete wie ihr Engeldasein, war sie doch bislang die einzige Tote gewesen, die sie kannte, bis Rocco aufgetaucht war, der offenbar wie sie ein Toter war. Je mehr sich die Erkenntnis in ihr langsam, Stück für Stück, verbreitete, ein anderes Wesen geworden zu sein, desto wackeliger fühlte sie sich den Menschen gegenüber. Die Menschen, vermutete sie, waren Menschen geblieben, aber sie, sie war nun anders. Etwas anders, ganz anders? Jenny wusste es nicht. Ihre Hand griff nach dem Geländer.
Auf den Stufen nach unten unterwegs betastete sie ihren Arm. Sie untersuchte ihn, um herauszufinden, ob sie überhaupt noch einen Körper hatte, den man anfassen konnte, da es Menschen ja offenbar nicht möglich war. Oder war etwa alles an ihr nicht nur durchsichtig, sondern komplett ungegenständlich? War sie schlicht ein Schleier, der in einer körperähnlichen Form lebte? Oder eine glibberige Masse, wobei sie der Gedanke ekelte, die Konsistenz einer Qualle zu haben. Sie befühlte ihren Arm. Sie sah die Haut ihres Arms und spürte die Knochen ihres Unterarms. Obwohl es ein wenig eklig war bei seinem Gestank, übermannte sie die Neugier und sie fasste nach Roccos Arm. Sie war erleichtert, dass sie seinen Arm deutlich ertastete, und hatte darüber vergessen, dass sie ihn ja bereits berührt hatte, als sie ihn von der Kante gezogen hatte. Sie lächelte ein wenig, denn sein Arm fühlte sich unglaublich kräftig an, ein muskelbepackter Arm, wie sie ihn zuvor weder gesehen noch gefühlt hatte. Er löste ein Gefühl in ihr aus. Das Gefühl war seltsam, weil es alles in ihr aufwühlte. In diesem Moment, in dem Menschen ihr fremd geworden waren und ihr Begleiter ohne sein Zutun sie für einen kurzen Moment im Treppenhaus schwindelig werden ließ, empfand sie alles um sich herum als zu viel. Derzeit und für einige Zeit war es das Sicherste, sich diese neue Welt einfach anzusehen, Beobachter zu sein. Diesen erstaunlichen Mann neben sich eingeschlossen. Bis sie mehr Klarheit hatte, mehr verstand.
Sie sah zu Rocco herüber. Seine Mimik strahlte Ruhe und Selbstsicherheit aus, doch seine Augen flackerten. War das Angst oder zumindest Unsicherheit? ›Was Wunder‹, dachte Jenny, sich in seine Lage versetzend, in einem völlig fremden Land und dann in diesem Moloch Berlin gelandet zu sein. Wobei er Berlin ja noch gar nicht kannte.
Jenny war erleichtert, nicht nur ein konturloses schleierhaftes Wesen geworden zu sein, das dahinschwebte. Vielleicht war es ja ein Geschenk, ein Engel zu sein. Sie war neugierig, zu was Engel fähig waren und was sie brauchten. Mussten Engel essen? Konnten sie fliegen? Waren sie in der Lage, mit Menschen zu sprechen, oder nur miteinander? Und …, sie warf Rocco einen Seitenblick zu in der Hoffnung, dass er ihre Gedanken nicht hörte, hatten Engel die Fähigkeit, Engel zu küssen? Wäre es möglich, dass Engel ja sogar Sex hatten!? Sie sah Rocco genauer an, aber in seinem augenblicklichen äußeren Zustand wollte sie es dann doch nicht so genau wissen. Außerdem fühlte sich dieser Gedanke fremd an wie noch nie erlebt. Möglicherweise hatten Engel noch ganz andere Fähigkeiten, von denen sie als Mensch keine Ahnung hatte. Es könnte spannend werden, fand sie.
Genau in diesem Moment erinnerte sich Jenny an etwas aus ihrer Zeit als Mensch. Es gab keinen genauen Zusammenhang, nur Bruchstücke. Sie sah in ihrer Erinnerung jemanden, der etwas vortrug, mehr ein Schatten als ein Mensch – nicht zu erkennen. Einzelne Bilder hatte sie vor Augen. Vielleicht ein Kurs in einer Schule. Fast wäre sie gestolpert, weil ihre Füße unachtsam die Stufen nicht mehr trafen, und sofort ergriff ihre Hand instinktiv den Lauf des Geländers – ohne hindurchzugleiten. Verletzte sich ein Engel, wenn er fiel? Vorhin hatte sie sich ja nichts getan. Sie grinste. ›Gefallener Engel‹, schoss ihr für einen Moment durch den Kopf. Doch der Gedanke war ein loses Ende, der in einem erinnerten Klassenzimmer wie auf einen Puffer lief. Ein Referat zu einem Film über Engel, im Fach Kunst oder einer ›AG Film‹? Preisgekrönt war der Film gewesen. Irgendetwas im Titel mit ›Himmel‹ und ›Berlin.‹ Zwei männliche Engel. Sie hatte ein paar Schnipsel vor Augen, in Schwarz-Weiß, zwei beobachtende Engel waren es gewesen, ja! Genau hier in Berlin. Wie sie. Nur – und das gaben die Bilder und die wenigen Tonsequenzen in ihrem Kopf her, ohne jede Körperlichkeit.
Sie blickte wieder Rocco an. Und wie körperlich er war! Seine Füße trafen jede Stufe genau in der Mitte. Aber er sah traurig aus. Er sah nur auf die Stufen. Seine Haltung war aufrecht, doch sein Blick jämmerlich, ohne zu jammern!
Sie brauchten neue Bekleidung für ihn und vorher eine Dusche. Wenn Engel einen Körper hatten und Stufen berührten, mussten sie doch auch duschen, oder? Sie konnte eine Dusche gebrauchen; sie sah auf ihre Finger, die sie weit von ihrer Hand abspreizte. Jenny war sich nicht sicher, wie es mit der Körperpflege bei Engeln so war, aber sie würde es herausfinden. Sie war eben eine Anfängerin als Engel. Obwohl sie innerlich nach diesen Entdeckungen zitterte, umspann sich um ihren Mund ein zartes Lächeln.
Sie waren am Ende des Treppenhauses im Erdgeschoss angekommen, eine schwere Metalltür bewachte den Zugang zur menschenüberfüllten Fläche. Da würden sie wieder sein, die vielen Menschen, die zu beobachten so seltsam war. Sie fröstelte ein wenig – ihre Unsicherheit. Aber im gleichen Moment eine Freude darauf, mit den Leben realer Menschen in Kontakt zu kommen, um zu spiegeln, wer sie selbst, Jenny, nun geworden war.
Ich muss mich waschen«, sagte Rocco mit seiner dunklen Stimme, als sie im Erdgeschoss des Reichstages angekommen waren.
»Es ist ein Reihenfolgeproblem«, erwiderte Jenny mit einer folgerichtigen Präzision, als ob sie über eine mathematische Aufgabe nachgedacht hätte. So kam es ihr auch wirklich vor. Als ob das Letzte, was sie damals getan hatte, das Lösen einer mathematischen Aufgabe gewesen wäre.
Auf dem Weg nach draußen gingen sie einfach durch Schlangen von Besuchern des Reichstages hindurch. Wenn sie schon ein Engel geworden war und nicht mehr Mensch sein durfte, war diese Eigenschaft zumindest sehr vorteilhaft. Nirgendwo mehr anstehen. Nur durchgehen. Klappte das immer? Mit einem Fetzen ihres Gedankens erinnerte sie sich an die steinerne Stele. Die Berührung hatte ein wenig weh getan.
»Reihenfolgeproblem?« Sie unterhielten sich inmitten der Menschen munter und niemand bekam davon etwas mit, keiner schien sie zu hören.
»Du kannst dich nicht waschen und dann wieder in diese Sachen springen. Wir brauchen erst eine Jeans und ein Shirt oder so etwas für dich. Dann kannst du dich waschen und die neuen Sachen anziehen«, erläuterte Jenny ihre Überlegung.
»Ah«, machte er. Solch profane Fragestellungen hatte immer seine Frau für ihn beantwortet und dann unternommen, was nötig war.
»Könnte ich mal Ihr Handy benutzen?«, fragte Jenny einen jungen Mann inmitten einer Besuchermenge im Erdgeschoss, der ziellos dastand, wohl zu einer Schülergruppe gehörte und gedankenverloren daddelte. Erst in diesem Moment, als sie sich auf den jungen Mann konzentrierte, fiel ihr auf, dass er merkwürdige Klamotten trug.
Ganz schwarz war er gekleidet, die Haare hochgegelt wie bei einem Irokesenschnitt. Er stach aus der Masse der Menschen hier heraus. Er wirkte wie ein Punk. Gab es Punks noch? Aber so ein richtiger Punk war er nicht, fand Jenny. Denn ein bisschen sah er auch aus wie ein Held aus ›Star-Wars‹, einer Serie, der sich Jenny mit Leidenschaft hingegeben hatte. Die Helden konnten von Sonnensystem zu Sonnensystem springen, sie beherrschten hervorragende Technologien, aber die Planeten, auf denen sie lebten, waren entweder ›High-End‹-gespickt mit merkwürdigen Abgründen oder sie waren so seltsam, primitiv, dass es sie bei dem Gedanken schauderte, dort leben zu müssen.
Doch nicht er, dieser Punk oder Nicht-Punk, war das Besondere, sondern die anderen. Er stach nur heraus, weil die anderen so merkwürdig uniform waren. Denn zahlreiche der Leute trugen so etwas wie Funktionskleidung: Die Hose über und über mit Taschen besetzt, die Jacke in derselben Farbe. Jenny sah sich um. Viele der Besucher hier trugen solche Kleidung, wenn auch in unterschiedlichen Farben. Es gab Leute, die Jeans anhatten und ein Shirt darüber. Und noch andere waren mit Röcken, Blusen, Hosen und Sakkos bekleidet, ganz normal, wie sie es kannte. Das waren aber nur ein paar und die wirkten älter als die Funktionskleidungsträger – nicht richtig alt, ihre Gesichter, ihre Körper waren zwar nicht jugendlich, aber eben nicht wirklich alt. Und doch kamen ihr die Gesichtszüge wie ein Fake vor, eine Täuschung ihres wahren Alters.
Der junge Mann blieb die richtige Wahl. Er war der Einzige in greifbarer Nähe, der auf den Bildschirm eines Smartphones starrte. Er hatte das Gerät gerade auseinandergefaltet und eingeschaltet, was Jenny etwas seltsam vorkam, denn faltbare Smartphones hatte sie noch nie gesehen. Doch es musste so etwas wie ein Smartphone sein, war sie sich sicher. Sie schaute Rocco fragend an, aber Rocco starrte auf das Ding, als sei es ein Ufo in der Hand des jungen Mannes.
Dieser blieb derweil unbeeindruckt von Jennys Ansprache. Er hörte sie nicht und er sah sie nicht. Von was sollte er beeindruckt sein? Von einem Nichts, das vor ihm stand? Wäre ja seltsam gewesen, wenn sie durch die Leute hindurchgehen konnte, diese sie aber dennoch sahen. Dann hätten Rocco und sie schon vorher reichlich erstaunte Blicke geerntet. Und trotzdem war es einen Versuch wert: Sie griff nach diesem Smartphone-Ding und bekam es tatsächlich zu fassen. Der junge Mann mit der angedeuteten Punkfrisur staunte nicht schlecht, als sein Smartphone für einen Moment regungslos in der Luft hing und dann spurlos verschwand. Er konnte sich nicht erklären, was passiert war. Hektisch suchte er auf dem Boden, aber dort war sein Smartphone nicht. Es war einfach weg. Und doch war es da. Jenny hielt es in ihrer Hand. Aber er entdeckte es nicht, in der Annahme, dass es ihm heruntergefallen war, starrte er suchend auf den Boden.
Jenny stand weiterhin direkt neben ihm und suchte Google auf dem Display, jeder hatte Google, und damit würde sie klarkommen, um zu finden, was sie brauchte. Aber Google fand sie nicht auf der Oberfläche. Überhaupt hatten fast alle Programme seltsam fremde Namen. Sie kam erst gar nicht zurecht. ›Commuelook‹ gab es, sie vermutete einen Nachfolger des ›Outlook.‹ ›Climate-Prognos‹ kannte sie noch nicht – aber es war klar, was sich dahinter verbarg. ›Guck an‹, dachte sie, als sie ›Vidtube‹ las, und: ›mal sehen, was ›Scribble‹ ist!‹ Scribble konnte passen. Eine Schmierskizze, etwas Dahingeschmiertes, schnell Eingegebenes, weil man etwas suchte, verband sie damit. ›Wobei‹, erinnerte sie sich, ›war das nicht ein Spiel, mit dem man irgendetwas zeichnete?‹ Sie versuchte es trotzdem und öffnete das Programm. Tatsächlich. Scribble gab ein Suchfeld frei und die Tastatur zeigte sich, so wie sie es von Google gewohnt war. Ob es Google nicht mehr gab? Oder, ob Scribble der Nachfolger war?
Jenny googelte ›Jeansladen‹, obwohl es nun vermutlich ›scribbeln‹ hieß. Ein Geschäft namens Weekday war nicht weit entfernt. Den Weg zur Friedrichstraße kannte sie. ›Scribble-Go-To‹ berechnete etwas mehr als zwei Kilometer. In etwa vierzehn Minuten zu erreichen. Scribble bot auch gleich die schnellste Route zu Fuß an, denn es schien erkannt zu haben, dass sie zu Fuß unterwegs waren. Bei ›Maps‹ wählte man, ob man sich mit dem Auto, dem Zug oder zu Fuß bewegte. Aber egal: die Route stand! Ein Klacks – und für einen Engel sowieso.