Gehen verstehen - Kirsten Götz-Neumann - E-Book

Gehen verstehen E-Book

Kirsten Götz-Neumann

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Beschreibung

Mit diesem Standardwerk der therapeutischen Ganganalyse werden Sie das Gehen verstehen: - Ganganalyse und deren Bedeutung für die praktische Arbeit - Ursachen und Auswirkungen des pathologischen Gangs - anhand 43 ausgewählter Störungen - Gangsequenzen und Gangbilder

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Gehen verstehen

Ganganalyse in der Physiotherapie

Kirsten Götz-Neumann

4. Auflage

173 Abbildungen

Preface

Walking is a complex interaction of joint mobility, selective muscle action, and position sensibility which enables the individual to progress in the desired direction at a chosen speed. Each of these elements of gait, however, can be disrupted by a wide variety of pathologies. Physiotherapists, as they seek ways of improving the walking ability of patients, are challenged to identify the mechanics of disability and devise a corrective plan.

In response to this need, a Rancho Los Amigos System for the analysis and interpretation of normal and pathological gait was designed by a group of physical therapist and myself. This evolved into a book, which included the scientific support for the recommended interpretation, that has been widely accepted within the clinical and research communities.

As both an experienced clinician and an instructor, Mrs. Kirsten Götz-Neumann, identified a significant limitation to the book. As a text written in the English language, it could not accurately convey the critical element to physiotherapists who formulate their concepts in German. To rectify this deficit, Mrs. Kirsten Götz-Neuman extended her knowledge of gait through multiple visits to Rancho. In addition, she refined her perspective by visiting other centers. Armed with this knowledge she has produced a comprehensive, yet focused gait book in German. While the Rancho System is the basis for her text. Her book is more than a direct translation. As an experienced physiotherapist, a scholar, and a German, Kirsten has modified the emphasis and scope of the material included.

Both observational and instrumented systems of gait analysis are described. This dual approach supplements the physiotherapist’s proficiency in the clinical evaluation of patients’ gait disabilities with an appreciation for the situations requiring more complex analysis by specialized instrumentation.

While targeted to physiotherapists, I am sure this volume will be welcomed by other clinicians and scientists desiring greater knowledge of gait.

Jacquelin Perry, M. D., Sc. D. (hon)Professor emeritus, Orthopaedics, University of Southern CaliforniaProfessor emeritus, Biokinesiology and Physical Therapy, USCChief emeritus, Pathokinesiology, Rancho Los Amigos National Rehabilitation Center

Geleitwort

Gehen ist ein komplexes Zusammenspiel von Bewegungen der Gelenke, selektiv gesteuerter Aktivität der Muskeln und Positionswahrnehmung, die es einem Menschen ermöglichen, sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit in eine von ihm gewählte Richtung zu bewegen. Es gibt eine Vielzahl von Erkrankungen und Behinderungen, die dieses Zusammenspiel stören können. Die Physiotherapeuten sind herausgefordert, die Art der Störung zu erkennen und ein Konzept zu entwickeln, um diese zu korrigieren. Zusammen mit einer Gruppe von Physiotherapeuten habe ich das »Rancho Los Amigos System« geschaffen, das die Analyse und Interpretation des normalen und pathologischen Gehens ermöglicht und wissenschaftlich interpretiert. Daraus entstand ein Buch, das bei klinischen Forschungsgemeinschaften große Zustimmung gefunden hat. Für Physiotherapeuten, die ihre Konzepte in deutscher Sprache entwickeln, war es jedoch schwierig, komplizierte Sachverhalte aus dem Englischen zu übertragen. Frau Kirsten Götz-Neumann hat diese Problematik als erfahrene Klinikerin und Lehrtherapeutin erkannt und ein Werk für die Bedürfnisse deutschsprachiger Kollegen geschaffen. Durch zahlreiche Besuche am Rancho und in anderen Zentren hat sie ihre eigenen Kenntnisse über das Gehen noch erweitert. Auf der Grundlage des Rancho- Systems hat Kirsten Götz-Neumann die Gewichtung und den Umfang des englischen Originals bearbeitet und damit mehr als eine direkte Übertragung geschaffen. Unter anderem wird sowohl das beobachtende als auch das instrumentierte System der Ganganalyse beschrieben. Dieses ermöglicht dem Physiotherapeuten die klinische Untersuchung von Patienten mit Gehbehinderungen insbesondere auch dann, wenn zur komplexeren Analyse Spezialinstrumente eingesetzt werden müssen. Wenngleich dieses Buch für Physiotherapeuten gedacht ist, bin ich überzeugt, dass es ebenso allen Klinikern und Wissenschaftlern willkommen ist, die nach umfangreichem Fachwissen über das Gehen verlangen.

Dr. Jacquelin Perry

Grußwort zur 2. Auflage

Eines der eindrucksvollsten historischen Dokumente der Menschwerdung sind die knapp 4 Millionen Jahre alten Fußabdrücke von Austrolopithecus afarensis in Ostafrika, an denen man nebeneinander die Abdrücke eines aufrecht gehenden Erwachsenen und eines an der Hand neben ihm geführten Kindes erkennt. Der aufrechte Gang beginnt vor etwa 4 Millionen Jahren mit den ersten Hominiden und ermöglichte es dem am Entstehen begriffenen Menschen nicht nur, den Blick weit in die Umgebung zu richten, sondern durch die von Fortbewegung entlasteten Arme eine weitere Entwicklung zum »Homo faber«.

In dieser Hinsicht fängt mit dem aufrechten Gang die Menschwerdung an. Manche Experten behaupten aber, dass die anatomische Ausstattung des Menschen trotz 4 Millionen Jahre Evolutionsgeschichte für den aufrechten Gang noch so insuffizient ist, dass Gangstörungen und andere Mobilitätsstörungen zu den häufigsten Problemen in der Rehabilitation und Therapie gehören. Aus diesem Grunde ist ein biomechanisches und klinisches Verständnis des normalen und insbesondere auch des gestörten Gehens eigentlich eine Selbstverständlichkeit für jeden Physiotherapeuten, der an der Erreichung optimaler funktioneller Ziele für seine Patienten interessiert ist.

Genau an dieser Stelle setzt das jetzt in der 2. Auflage vorliegende Buch von Kirsten Götz-Neumann ein. Mit hohem Sachverstand, viel Humor und einer verständlichen und präzisen Sprache gelingt es ihr in sehr überzeugender Form, nicht nur die Physiologie des normalen Gehens dem interessierten Publikum nahe zu bringen, sondern auch ein Gespür dafür zu entwickeln, wie man ohne Zuhilfenahme aufwendiger technischer Ganganalysesysteme, d.h. mit dem sprichwörtlichen »klinischen Blick«, sehr viel Information über normales und pathologisches Gehen gewinnen kann.

Durch die vielfältigen praxisnahen Beispiele und wertvollen Tipps wird eine unmittelbare Anwendung des Gelesenen für die täglich mit Gangproblemen umgehenden Kliniker ermöglicht.

Ich darf dem Buch eine weite Verbreitung, nicht zuletzt auch bei Ärzten, und viele froh gestimmte Leser wünschen.

Prof. Dr. Volker HömbergSecretary General World Federation of Neuro-RehabilitationNeurologisches Therapiezentrum an der Heinrich-Heine-Universität DüsseldorfSt. Mauritius Therapieklinik Meerbusch

Vorwort zur 1. Auflage

Ich bin gerne Physiotherapeutin. Ich durfte so unglaublich viel Glück und Freude bei der Arbeit mit meinen Patienten miterleben, immer wenn deren Eigenständigkeit und Unabhängigkeit wieder hergestellt werden konnte. Aber ebenso wie ich Freude erfahren habe, waren es Frust und Schmerz, wenn ich mir eingestehen musste, dass für den Patienten nichts wirklich verbessert werden konnte.

Mit zunehmender Erfahrung am Patienten und als Lehrtherapeutin bemerkte ich einen Mangel an Informationen, um Patienten – besonders mit Gehbehinderungen – noch besser helfen zu können. Verschiedene Gangschulen aus den unterschiedlichen Konzepten brachten mich zwar handwerklich weiter, aber mir wurde dennoch klar, dass ich nicht wirklich verstand, warum und wo ich eine therapeutische Maßnahme einzusetzen habe. Zudem wollte ich meinen Schülern und Teilnehmern faire und ehrliche Antworten geben und ihnen nichts erklären, was ich mir selber nicht erklären konnte. Alte überlieferte Ansichten wollte ich ebenfalls nicht ohne Überprüfung weitervermitteln.

Die Suche nach Antworten und Wegen, wirkungsvoll behandeln zu können, brachte mich in viele abenteuerliche Situationen, bescherte mir weite Reisen und sagenhaft segensreiche Begegnungen mit Menschen, die nun zu meinen engsten Freunden zählen. Ich habe aber auch erfahren, dass vor allem dann wirksam und effektiv geholfen werden kann, wenn die Ursachen von Schädigungen und Behinderungen eines Patienten präzise erkannt und gezielt behandelt werden.

Die sorgfältige und exakte Untersuchung wird somit zur unabdingbaren Voraussetzung aller sich anschließenden Maßnahmen. Dazu muss der Therapeut sowohl das notwendige Wissen über die – wenn auch äußerst komplexen – Zusammenhänge der normalen Bewegungen besitzen, als auch in der Lage sein, genaue Untersuchungen eigenständig durchführen zu können sowie die ermittelten Fakten relevant zu beurteilen. Sind die Hauptursachen erkannt und die Wünsche und Ziele des Patienten verstanden, kann der Therapeut wirkungsvoll intervenieren, indem er seine Maßnahmen gezielt einsetzt unter der Berücksichtigung, dass der Patient ein gleichermaßen physisches wie psychisches Wesen ist.

Die in der Behandlung zum Einsatz kommenden Techniken sind nur Mittel zum Zweck. Was zählt, ist lediglich ihre Wirksamkeit, die möglichst durch seriöse Studien belegt und dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen sollte. Auch überlieferte Techniken müssen auf ihre tatsächliche Wirksamkeit hin überprüft werden.

Auswahl und Anwendung aller Maßnahmen und Techniken haben unter dem Gesichtspunkt zu erfolgen, die funktionellen Fähigkeiten des Patienten zu verbessern. Kann dies nicht gewährleistet werden, sind unsere Bemühungen als Therapeuten ohne wirklichen Wert für den Patienten. Andersherum aber ist nichts mehr humanistisch (auf das Wohl des Menschen gerichtet), als durch objektiv geprüfte und belegte Maßnahmen dem Patienten besonders schnell und effektiv zu helfen. Überdies ist das auch ein erheblicher Beitrag zur Kosteneinsparung!

Das Buch, was Sie nun in Händen halten, will Ihnen hierfür die bestmöglichen Mittel zur Untersuchung und Beurteilung zur Verfügung stellen, um für die anstehenden Aufgaben adäquat gerüstet zu sein. Dazu liefert es Ihnen die objektiven Fakten der normalen Bewegungen und der Mechanik des Gehens. Es vermittelt genaue Vorgehensweisen bei der Untersuchung sowie die notwendigen Kriterien, die es Ihnen erlauben, die ermittelten Fakten zu interpretieren und richtig zu beurteilen. Es präsentiert eine Terminologie, die exakt wie auch verständlich alle Sachverhalte vermittelt, die sowohl interdisziplinär als auch international verstanden wird und sinnvollerweise von allen physiotherapeutischen »Gruppen« genutzt werden sollte! Darüber hinaus zeigt das Buch, dass die Seele des Patienten in vielen Fällen mit behandelt werden muss, welche Wege dabei hilfreich sind und mit welchem Ergebnis Sie dann rechnen dürfen.

Großen Wert und Sorgfalt habe ich darauf gelegt, dass alle Informationen gut nachvollziehbar und wissenschaftlich belegt sind sowie dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen; den Menschen aber mit seiner Fähigkeit, vielschichtig wahrzunehmen, mit einbeziehen.

Wieder aufrecht auf zwei Beinen selbständig und schmerzfrei gehen zu können ist wohl der mit am häufigsten genannte Wunsch unserer uns anvertrauten Patienten. Was aus der umfangreichen Erfahrung und dem Wissen so vieler großartiger Wissenschaftler und Kliniker wie J. Perry, D. Sutherland, V. T. Inman, D. A. Winter und vielen anderen wird, die ihr Lebenswerk dem aufrechten menschlichen Gang gewidmet haben, und ob es gelingt, diese Ressourcen sinnvoll zu nutzen, liegt auch mit in Ihrer Hand! Wenn es unsere freiwillig eingegangene Verpflichtung als Therapeuten ist, Patienten wirksam helfen zu wollen, dann sollte das zur Verfügung stehende Potenzial genutzt und zum Wohle unserer Patienten angewendet werden, denn nur um diese geht es.

Tragen sie mit dazu bei, dass die auf sachlicher Grundlage beruhende Ganganalyse nicht länger Spezialwissen einer kleinen elitären Gruppe von Personen bleibt, sondern zukünftig zum Standard der physiotherapeutischen Untersuchungen gehört. Sie ist vollständig unabhängig von Behandlungstechniken und Methoden und beruht ausschließlich auf vielfach belegten und wissenschaftlich geprüften Sachverhalten. Sie ist daher offen und objektiv. Besonders Lehrer an physiotherapeutischen Schulen können dazu beitragen, dieses elementare Grundlagenwissen den zukünftigen Generationen von Physiotherapeuten angemessen zu vermitteln und damit ihnen sowie der Physiotherapie neue Möglichkeiten erschließen.

Es gibt viele sehr unterschiedliche Interventionsmöglichkeiten. Welche dieser Maßnahmen sinnvoll ist, bestimmt sich alleine durch ihre Wirksamkeit am Patienten in der spezifischen Situation. Dabei sollte es keine Rolle spielen, welcher Methode die Intervention angehört. Wesentlich ist aber ihre Effizienz und vor allem die richtige Adressierung an das jeweilige Hauptproblem. Dann ist Physiotherapie hoch wirksam, sanft und natürlich sowie kostensparend!

In Zukunft kann die Physiotherapie nur dann Patienten weiterhin Hoffnung und echte Hilfe bieten, wenn sie für sich selbst die Verpflichtung eingeht, offen und sachlich zu bleiben und sie ihren Therapeuten objektive Sachverhalte und belegte Erfahrungen zur Verfügung stellt. Natürlich verlangt es von jedem von uns eine kleine Portion Mut, sich wirklich darauf einzulassen, denn das kann bedeuten, bisher Geglaubtes aufgeben und sich mit neuen Fragen und Antworten auseinandersetzen zu müssen. Alle, die davor keine Angst haben, werden bei der Lektüre dieses Buches sicher vielen interessanten Dingen begegnen.

Ein ganz besonderes Dankeschön an Sie, liebe Leserin oder Leser, sowie an alle Teilnehmer der O.G.I.G.-Ganganalysekurse. Die Vision, dass Gang- bzw. Bewegungsanalyse zur Standarduntersuchung in der Physiotherapie wird, kann nur durch diejenigen Realität werden, die mitmachen und Erlerntes in der Praxis anwenden.

Daher möchte ich mit Freude und Dankbarkeit allen Kollegen, PT-Schülern, Patienten und Interessierten dieses Buch widmen, um das Gehen besser zu verstehen. Es ist das Konzentrat eines faszinierenden und hoch komplexen Themas, das noch lange spannend bleiben wird!

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit und allen Patienten einen verkürzten Leidensweg. Vielleicht sieht man sich ja mal. Bis dahin und lassen Sie es sich gut gehen!

Kirsten Götz-Neumann

P.S.: Das ist das Schöne am Internet-Zeitalter – die Buchautorin ist nur einen Mausklick von Ihnen entfernt! Sie würde sich freuen, von Ihnen zu hören!

www.gehen-verstehen.net [email protected]

Bilder sagen mehr als 1000 Worte … anstatt eines Vorwortes zur 2. Auflage

»Man ist immer dann ein glücklicher Mensch, wenn man selber Glück und Freude anderen Menschen schenkt«, so der große Komponist

Ludwig van Beethoven

Arbeit mit einer Patientin während einer klinischen Studie an der Niigata University for Welfare and Health in Japan.

Gemeinsam gehen wir ein Stück den neuen Weg.

Geschafft, aber wahrhaft glücklich.

Ganganalyse und Rehabilitation mit Kindern. Die O.G.I.G. kümmert sich mit ihrem speziellen Gangdiagnostik- und Therapieprogramm von Gehen verstehen auch um die jüngsten Patienten.

Einsatz moderner Biofeedback-Verfahren zur PT-Diagnostik.

Schafft Spaß und lässt Schweres doch gelingen.

Der Transfer des Wissens in die tägliche Praxis erfordert exzellentes Wissen und auch ein wenig Mut, ganz neue Wege zu gehen …

Immer wieder stecken wir die Köpfe zusammen und freuen uns über gemeinsame Projekte.

Gait & Clinical Movement Analysis Society Congress 2004, Lexington/USA. Mitte: Dr. Jacquelin Perry, rechts: JoAnne K. Gronley, links: Kirsten Götz-Neumann.

»… und wenn nur ein Mensch leichter durch sein Leben gehen konnte, weil Du gelebt hast …« so sinngemäß der Philosoph Ralph Waldo Emerson »… ist dies Glück und auch echter Erfolg«.

Klinische Studie am Niigata Biomechanic Research Laboratory in Japan.

Gemeinsam im qualifizierten interdisziplinären Team der O.G.I.G. sind wir stark! Kirsten Götz-Neumann (Mitte), Yoshihiro Ehara, Prof. der Biomechanik, (rechts).

Glück und echter Erfolg – in Bezug auf die wieder erlangte Fähigkeit des Aufstehens und Gehens – das ist es, was ich Ihnen und den ihnen anvertrauten Patienten so sehr wünsche. Qualifizierte Ganganalyse und Rehabilitation sind ein maßgeblicher Beitrag dazu. Das Schönste daran ist: es funktioniert sehr gut! In vielen Kliniken weltweit, in denen ich arbeiten durfte habe, ich dieses gesehen und die Freude der Kollegen und Patienten über die Behandlungserfolge miterlebt.

Düsseldorf den 14. Februar 2006Kirsten Götz-NeumannDie Autorin ist nur einen Mausklick von Ihnenentfernt: www.gehen-verstehen.de [email protected]

Danke!

Danke an meine geliebten Eltern Heinz und Anneliese Götz. Mut und Ausdauer konnte ich von euch lernen und ihr habt mir gezeigt, dass Glück kein Zufall ist, sondern das Produkt ausdauernder Arbeit! Ihr ließt mich einen wunderbaren kreativen Beruf erlernen, der es mir ermöglicht, Menschen – im wahrsten Sinne des Wortes – wieder auf die Beine zu stellen. Ich bin euch immer in Liebe verbunden! Danke auch an meine Schwester Gundhild, meine Patin Gaby sowie Inge und Jürgen und viele andere Familienmitglieder, die lange ohne mich auskommen mussten und mich trotzdem immer unterstützt haben. Ingo, herzlichen Dank für deine Hilfe, wann immer der Computer sich nicht auf meine Vorgaben einlassen wollte; Rolf, herzlichen Dank für deinen Beistand als Mensch und deine Arbeit, das Recht auf die richtige Seite zu bekommen.

Ohne eine besondere Persönlichkeit jedoch, die ihr Lebenswerk dem aufrechten menschlichen Gang gewidmet hat, wäre dieses Buch wohl gar nicht erst entstanden. Frau Dr. Jacquelin Perry gilt mein tiefer aufrichtiger Dank und Respekt! Als meine Mentorin hat sie mich zusammen mit dem Rancho Pathokinesiology Laboratory Team trainiert, gefordert und mich durch unzählige Anregungen unterstützt. Herzlichen Dank auch an das Team, besonders an Dr. Sara Mulroy, JoAnne K. Gronley, Walt Weiss, Lara Boyd, Judy Burnfield, Ernest Bontrager und Charles Whitehead, die mich alle an ihrem Wissen immer haben großzügig teilhaben lassen.

Dank auch an die Kollegen der Observational Gait Instructor Group (O.G.I.G.) und der Gait and Clinical Movement Analysis Society u.a. Dr. Sutherland, für die andauernde Unterstützung und anregenden Diskussionen.

Dr. Christopher M. Powers, meinem Kollegen und Wissenschaftler der O.G.I.G., möchte ich für die gemeinsame Arbeit und die Freude, die wir in den (legendären) Lehrgängen der O.G.I.G. haben, besonders danken. Nicht nur für seine vielen wunderbaren Tipps, sondern vor allem für unsere Freundschaft. Das Ausbildungskonzept der O.G.I.G. wird sicher greifen! »Chris, we will rock …!«

Bei der Deutschen Gesellschaft zur Förderung der medizinischen Diagnostik e. V. möchte ich mich für die Zertifizierung meiner Weiterbildung »Gehen verstehen« durch Continued-medical-Education-Punkte (CME) der Ärztekammer NRW bedanken. Insbesondere bei Herrn Gerd Fischer, dem Generalsekretär der Medica bedanke ich mich sehr herzlich für den Mut, den Sie mir auch politisch machen. Bei den Herren E. Böhle, J. Querbach sowie Heinz von der Stein bedanke ich mich für den Respekt, den sie mir bzw. dem so bedeutsamen Thema durch ihre Unterstützung zukommen lassen. Zum Wohle der Physiotherapie in Deutschland wünschte ich mir für die Zukunft noch mehr verbandsübergreifende Zusammenarbeit, meine Damen und Herren!

Herzlichen Dank auch an alle Mitarbeiter des Thieme Verlags Stuttgart, die an diesem Buch mitgewirkt haben, wie Frau Dagmar Kleemann und Frau Margit Gehrig und besonders Frau Rosi Haarer-Becker. Rosi, du weißt, wie glücklich ich bin, dass du mich betreust. Danke für deine Geduld, Hilfe und darüber hinaus auch Freundschaft.

Mein Dank für Unterstützung, Beratung und konstruktive Kritik geht an viele Freunde, Kollegen, Wegbegleiter und großartige Menschen wie Beate Selker, Betty Bruchhausen, Susanne Gessner, Prof. G.-P. Brüggemann, Dr. Mathias Bankay, Dr. Yoshihiro Ehara, Dr. Peter Frommelt, Ronny Wöstmann, Heidi Singleton, Catherine Luckett, Maria Braun, Carsten Schäfer, Biggi Meyer, Math Buck, Angelia Nöll-Seeger, Margaret Oechsner, Linda Lackner, Catrin Haufe, Nicole Anton-Prass, Sabine Weratschnig, Elly Hengeveld, Antonio Stricagnoli, TM Stevens, Bruce & Bea Swedien und Fats Domino für den Song »I’m walking, yes indeed!«

Miriam Brown. Unsere Freundschaft ist etwas Kostbares – danke, dass du immer für mich da bist! Ich schätze dich so sehr. Martin Baltscheit …Martin, deine Karikaturen sind wunderbar und haben mich seit 1994 begleitet. Möge unsere Freundschaft niemals enden.

Alexander Meyer, herzlichen Dank an dich, dass du seinerzeit meine Studienarbeit »Die Physiologie des menschlichen Gangbildes« (der Grundstein zu »Gehen verstehen«) an Rosi weitergegeben hattest.

Lieben Dank auch an die vielen Mitwirkenden, die nicht weiter namentlich genannt werden, aber die durch ihre Unterstützung und Hilfe zum Zustandekommen dieses Buches mit beigetragen haben!

Schließlich und nicht zuletzt gilt mein Dank meinem Ehemann Gerald. Wie viel mir dieses Buch tatsächlich bedeutet und was es mir und auch allen um mich herum abverlangt hat, wirst wohl nur du als Einziger wissen. Ich danke dir dafür, dass du mir Mut machtest, zu beginnen und mir die Kraft gabst, bis zum Schluss durchzuhalten.

Widmung

Gewidmet »dem Peter« sowie allen Patienten, die sich uns anvertrauen.

Inhaltsverzeichnis

Preface

Geleitwort

Grußwort zur 2. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

Bilder sagen mehr als 1000 Worte … anstatt eines Vorwortes zur 2. Auflage

Danke!

Widmung

1 Abenteuer Evolution – Geschichte des aufrechten Gehens

2 So geht’s! – Physiologie des menschlichen Gangbildes

2.1 Voraussetzungen des »normalen« Gehens

2.2 Was ist schon »normal«?

2.3 Gangzyklus und seine Phasen

2.3.1 Gangzyklus, Schrittlänge und Spurbreite

2.3.2 Unterschiedlich und doch gleich: Terminologien, die man kennen sollte!

2.3.3 Gangphasen, Eigenschaften und Aufgaben

2.3.4 Merkmale der »normalen« Schrittlänge

2.3.5 Merkmale für Gangsymmetrie und Effizienz

2.3.6 Geschwindigkeit – ein wichtiges Messinstrument

2.3.7 Normales Gehen bei Kleinkindern

2.3.8 Normales Gehen bei älteren Menschen

2.3.9 Laufen im Unterschied zum Gehen

2.4 Passagier und sein Lokomotor – Fundamentales

2.4.1 Passagier

2.4.2 Lokomotor und seine 4 Funktionen

2.5 Kinematik und Kinetik der Gangphasen – Schlüsselkonzept

2.5.1 Phasen der Gewichtsübernahme (Initial contact und Loading response)

2.5.2 Phasen des Einbeinstands (Mid stance und Terminal stance)

2.5.3 Phasen der Schwungbeinvorwärtsbewegung (Pre-swing, Initial swing, Mid swing und Terminal swing)

2.6 Gelenke im Detail

2.6.1 Sprunggelenk und Metatarsophalangealgelenke (Talokrural- und MTP-Gelenke)

2.6.2 Subtalargelenk

2.6.3 Kniegelenk

2.6.4 Hüftgelenk und Pelvis (Koxofemoralgelenk)

2.6.5 Rumpf

2.6.6 Arme

3 Beobachtende Ganganalyse

3.1 Geschichte der beobachtenden Ganganalyse

3.2 Was leistet die beobachtende Ganganalyse?

3.3 Problemlösende Vorgehensweise – beobachtende Ganganalyse in der Praxis

3.3.1 Problemidentifizierung und Bestimmung des Hauptproblems bzw. der Hauptabweichung

3.3.2 Bestimmung der möglichen Hauptursachen

3.3.3 Behandlung und Prüfung des Behandlungserfolgs

3.4 Ursachenkategorien

3.4.1 Geschädigte motorische Kontrolle

3.4.2 Abnormale Gelenkbewegungsausmaße

3.4.3 Sensibilitätsstörungen

3.4.4 Schmerzen

3.4.5 Limbisch-emotionale Ursachen

3.5 Achtzehn Tipps und Tricks – Hilfen zur Beobachtung

3.5.1 Mentale Voraussetzungen

3.5.2 Praktische Hilfsmittel

3.5.3 Patientenauswahl

3.5.4 Kleidung des Patienten

3.5.5 Aufklärung des Patienten

3.5.6 Aufstehen und Hinsetzen

3.5.7 Auswahl eines Referenzbeins

3.5.8 Markierung der Gelenke

3.5.9 Auf-und-ab-Gehen

3.5.10 Beobachtung von allen Seiten

3.5.11 Beobachtung der Rocker-Funktionen

3.5.12 Ausfüllen des Beurteilungsbogens

3.5.13 Strategieplanung

3.5.14 Videoaufzeichnungen

3.5.15 Erweiterte Wahrnehmung

3.5.16 Geeignete Trainingsorte

3.5.17 Positive Trainingsatmosphäre

3.5.18 Ergebnisinterpretation

3.6 Untersuchungsverfahren

3.6.1 Klinische Tests

3.6.2 Test der Plantarflexoren

3.6.3 Möglichkeiten der instrumentierten Untersuchung

3.7 Dokumentation und O.G.I.G.-Ganganalyseformular

3.7.1 Anwendungshilfen

4 Instrumentierte Ganganalyse

4.1 Verbreitete Messmethoden

4.1.1 Dreidimensionale Bewegungsanalyse

4.1.2 Bodenreaktionskraftmessplatten

4.1.3 Dynamische Elektromyografie (EMG)

4.2 Weitere Messmethoden

4.2.1 Footswitch-Systeme

4.2.2 Offene Spirometrie

5 Pathologischer Gang – Abweichungen, Ursachen und Auswirkungen

5.1 Zwölf Abweichungen am Sprunggelenk

5.1.1 Hauptproblem exzessive Plantarflexion des Sprunggelenks sowie Low heel, Forefoot contact, Foot-flat contact und Foot slap

5.1.2 Hauptproblem exzessive Dorsalextension des Sprunggelenks

5.1.3 Hauptproblem exzessive Supination (Varus)

5.1.4 Hauptproblem: Heel-off, Premature heel-off

5.1.5 Hauptproblem No heel-off

5.1.6 Hauptproblem: Toe drag (Zehenschleifen)

5.1.7 Hauptproblem Contralateral vaulting

5.2 Drei Abweichungen an den Zehen

5.2.1 Hauptproblem Up

5.2.2 Hauptproblem inadäquate Extension der Zehen

5.2.3 Hauptproblem: Clawed/Hammered, Krallen-/Hammerzehen

5.3 Sieben Abweichungen am Kniegelenk

5.3.1 Hauptproblem Limited flexion

5.3.2 Hauptproblem exzessive Kniegelenkflexion (▶ Abb. 5.18)

5.3.3 Hauptproblem Wobbles

5.3.4 Hauptproblem: Hyperextends und Extension thrust (▶ Abb. 5.21 u. ▶ Abb. 5.22)

5.3.5 Hauptproblem Valgus/Varus am Kniegelenk

5.3.6 Hauptproblem exzessive kontralaterale Flexion

5.4 Sieben Abweichungen am Hüftgelenk

5.4.1 Hauptproblem Limited flexion

5.4.2 Hauptproblem Excess flexion

5.4.3 Hauptproblem Past retract

5.4.4 Hauptproblem Internal rotation

5.4.5 Hauptproblem: External rotation

5.4.6 Hauptproblem Adduktion

5.4.7 Hauptproblem exzessive Abduktion

5.5 Neun Abweichungen am Becken

5.5.1 Hauptproblem Hikes

5.5.2 Hauptproblem Posterior tilt

5.5.3 Hauptproblem Anterior tilt

5.5.4 Hauptproblem Lacks forward rotation

5.5.5 Hauptproblem Lacks backward rotation

5.5.6 Hauptproblem Excess forward rotation

5.5.7 Hauptproblem Excess backward rotation

5.5.8 Hauptproblem Ipsilateral drop

5.5.9 Hauptproblem Contralateral drop

5.6 Fünf Abweichungen am Rumpf

5.6.1 Hauptproblem Forward lean

5.6.2 Hauptproblem Backward lean

5.6.3 Hauptproblem Lateral lean

5.6.4 Hauptproblem Rotates forward

5.6.5 Hauptproblem Rotates back

6 Sinn und Seele – Sozialmedizinische Gedanken bei der Behandlung

6.1 Modell eines Behandlungskonzepts

6.2 Unterschied (pathogenetischer und salutogenetischer Ansatz)

6.3 Praxis

6.4 Fazit

7 Psychologische Einflüsse auf das Gehen

7.1 Frau/Herr »Kleinschritt«

7.2 Frau/Herr »Großschritt«

7.3 Frau/Herr »Beschwingt«

7.4 Frau/Herr »Bewegung aus dem Unterarm«

7.5 Frau/Herr »Genussgang«

7.6 Frau/Herr »Frontalhandrücken«

7.7 Frau/Herr »Schiene«

7.8 Frau/Herr »Nackenbeweglich«

8 Schlussbetrachtung

9 Glossar

10 Literatur

Autorenvorstellung

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

1 Abenteuer Evolution – Geschichte des aufrechten Gehens

Abb. 1.1 Affe und Mensch.

Die aufrechte Haltung und die obligatorische Bipedie des Homo sapiens ist sowohl unter den Säugetieren als auch den anderen gegenwärtig lebenden Primaten einzigartig. Dabei sind aufrechte Haltung und bipeder Gang keineswegs neue Errungenschaften unserer Abstammungslinie, sondern schon etliche Millionen Jahre alte Merkmale (Keki 1999).

Wissenschaftler auf der gesamten Welt arbeiten an der Frage, wie es dazu kam, dass sich der Mensch eines Tages aufrichtete. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlichster Theorien, von denen einige heftig umstritten sind. Besonderer Streitpunkt dabei ist die Art der verwandtschaftlichen Beziehung zwischen dem Menschen und den heute lebenden Menschenaffen. Es führte jedoch zu weit, an dieser Stelle hierauf genauer einzugehen (▶ Abb. 1.1).

Gesichert erscheint derzeit die Annahme, dass sich die menschlichen Vorfahren im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte aus einer waagerechten zunächst in eine schräge und letztlich in die senkrechte Haltung aufrichteten. Dafür musste die Körperstruktur wesentlich verändert werden. Bei Betrachtung der verschiedenen Schädelformen und der sich daraus ergebenden Lage der Nackenmuskulatur lässt sich Folgendes erkennen: Im Homonisationsprozess näherte sich der Schwerpunkt des Schädels (▶ Abb. 1.2, Pfeil) der okzipitalen Gelenköffnung (▶ Abb. 1.2, Dreieck), welche die Verbindung des Schädels mit der Wirbelsäule darstellt.

Ein bedeutender Schritt in der Entwicklung des Menschen ist die Anpassung des gesamten Körperbaus an die Fähigkeit, aufrecht auf 2 Beinen zu gehen. Dabei wird oft behauptet, diese Anpassung habe bei den Füßen begonnen und der Homonisationsprozess solle dadurch eingeleitet worden sein.

Die aufrechte Körperhaltung bedingte weiterhin auch eine Umformung des Gebisses. Im Pliozän passte es sich einer körner- und allesfressenden Ernährungsweise an. Es wird davon ausgegangen, dass der aufrechte Gang auf die Vorgänger der Menschenaffenlinie zurückzuführen ist, d.h. Primaten ohne Züge brachiatorischer Spezialisation. Die Brachiatoren hingegen benutzten – angepasst an ein Leben auf den Bäumen – die vorderen Gliedmaßen zum Schwinghangeln. Nach Facchini (1991) stellt dies eine Spezifizierung dar, die keine Rückentwicklung mehr zuließ.

Abb. 1.2 Schädel und Nackenmuskeln. a Gorilla. b Australopithecus. c Homo erectus. d Homo sapiens.

Abb. 1.3 Becken. a Schimpanse. b Australopithecus. c Buschmann.

Dem heutigen Wissen nach waren die Vorfahren der Homoniden weder auf dem Boden lebende Vierfüßler noch Brachiatoren. Ihr Bewegungsapparat gestattete die Fortbewegung auf Bäumen ebenso wie auf dem Boden. Zudem besaßen sie die Fähigkeit, sich kurzzeitig aufzurichten bzw. sich halb aufrecht zu halten. Die notwendige Voranpassung entstand durch ein Aufrichten der Wirbelsäule sowie durch die Erweiterung und Vorwärtsdrehung des Beckens (▶ Abb. 1.3). Diese Veränderungen entstanden jedoch nicht zur selben Zeit.

Fossilienfunde belegen Zwischenformen wie die des archaischen Australopithecinen. Sie waren zur aufrechten Haltung fähig und hatten zum Klettern geeignete, lange vordere Gliedmaßen, mit denen sie leicht (z.B. bei Gefahr) Schutz auf Bäumen suchen konnten. Damit wurde die für die Bipedie noch unvollkommene Körperstruktur ausgeglichen.

Letztendlich setzte sich die Bipedie durch. Nach Facchini (1991) brachte sie die meisten Vorteile. Sich zum Gehen auf den hinteren Gliedmaßen aufrichtende Primaten hatten in einer offenen – oder zumindest nur spärlich bewaldeten – Umgebung eine Reihe von bedeutenden Vorteilen. Das Sichtfeld erweiterte sich erheblich und ermöglichte so eine frühzeitige Warnung vor gefährlichen Raubtieren. Gleichzeitig ließ sich das Rudel bzw. die Gruppe besser überblicken. Die Hände, die bisher zur Auflage und zur Stütze dienten, waren nun frei geworden und konnten zu Verteidigungs- und Jagdzwecken genutzt werden (z.B. Stöcke schwingen, Steine werfen). Zu dieser Zeit verlernten die Arme das Gehen.

Die Bipedie förderte die sozialen und familiären Bindungen. Es wurde möglich, Nahrung zu sammeln und ins Lager zu transportieren. Frau und Mann teilten sich die Nahrung, wobei der Mann die Aufgabe der Nahrungsbeschaffung übernahm und die Frau sich um den Nachwuchs kümmerte. Dieser musste zunächst einmal das aufrechte Gehen mithilfe der Eltern erlernen, was die sozialen und familiären Bindungen vertiefte. Bis auch die Hand planmäßig zur Herstellung von Werkzeugen eingesetzt wurde, verging noch viel Zeit. Erst nach und nach entstand so Kultur und mit ihr höhere Stufen in der Entwicklungsgeschichte des Menschen. Die Vorteile der aufrechten Körperhaltung und der Bipedie fordern jedoch ihren Tribut. Die hohe Belastung der Wirbelsäule führt zu einer Abnutzung, die heutzutage bei vielen Menschen früher oder später Rückenschmerzen verursacht.

Wann genau die bipede Fortbewegung entstand, kann die Wissenschaft derzeit nicht genau sagen. Bislang hatte der Australopithecus afarensis (ein bipedes Wesen) als »erster Mensch« gegolten. Seine berühmteste Vertreterin heißt Lucy und lebte ca. 3,6 Millionen Jahre vor unserer Zeit. Ihre Knochen wurden 1974 in der Afar-Region Äthiopiens gefunden. Die Spuren von Laetoli, die Mary Leakey 1978 in Tansania entdeckte, werden ebenfalls dem Australopithecus zugesprochen.

Fußabdrücke dieser dem Menschen ähnlichen Individuen wurden im Vulkantuff entdeckt. Die Spuren sind unterschiedlich groß und zeigen eine gute Fußsohlenwölbung. Die große Zehe liegt in einer Reihe mit den übrigen Zehen und hinterließ einen tiefen Abdruck, wie er typisch für das Abrollen des Fußes beim zweibeinigen Gehen des Menschen ist. Bei einer fotogrammetrischen Analyse der Fußabdrücke zeigte sich außerdem, dass das Muster der Gewichts- und Kraftübertragung über den Fuß jenem Muster sehr ähnlich ist, das den bipeden Gang des modernen Menschen kennzeichnet (Day u. Wickens 1989).

Vor einigen Jahren entdeckte ein internationales Forscherteam in der Nähe des Dorfes Aramis nordöstlich der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba die zur Zeit ältesten Knochen menschlicher Vorfahren. Die Fossilien sind mit etwa 4,4 Millionen Jahren 800000 Jahre älter als die Überreste von Lucy. So lässt sich die Geschichte des aufrechten Gehens um viele Jahrtausende weiter zurückverfolgen als bisher. Die Wissenschaftler gaben der neu gefundenen Art den Namen Australopithecus ramidus. Dieser Urahn der Menschheit lebte einst in bewaldeten Gebieten, ging bereits aufrecht, schlief aber auf Bäumen. Forscher berichten, dass der Körperbau eine größere Ähnlichkeit mit dem der Schimpansen aufweist als mit dem von Lucy (WZ 23. 9. 1994).

Durch die vielen Funde scheint heute erwiesen, dass unsere Urahnen schon vor mindestens 3,5–4 Millionen Jahren unmissverständliche Anpassungsmerkmale an die Bipedie besaßen. Wann aber hat die Entwicklung der Bipedie tatsächlich begonnen? Wenn sie wirklich schon vor fast 4 Millionen Jahren so spezialisiert war, wie es die Fußabdrücke von Laetoli nahe legen, muss davon ausgegangen werden, dass der eigentliche Beginn ihrer Entwicklung schon vor 5–10 Millionen Jahren stattgefunden hat, d.h. im späten Miozän (Jablonski u. Chaplin 1993). Damit ist sie älter als die Verwendung von Steinwerkzeugen oder die Entwicklung eines großen Gehirns.

Bei den Gründen für die Evolution der Bipedie spielten möglicherweise globale klimatische Veränderungen im späten Miozän eine Rolle. In dieser Zeit kam es zu einem Rückgang des tropischen Regenwaldes in Ostafrika, der Region mit den meisten Fundstätten früher Hominoiden. Dadurch entstanden verschiedene neue Lebensräume von Wald und Baumland bis hin zu Grasland mit vereinzelten Bäumen. Die Anpassung an diese neuen Lebensräume könnte die antreibende Kraft sowohl für die Entwicklung der Bipedie als auch für die weitere Spezifizierung gewesen sein (Keki 1999).

Aber auch die Entwicklung des bipeden Gehens selbst hat wahrscheinlich weitere wesentliche Entwicklungen ermöglicht oder sogar hervorgerufen. Der Wissenschaftler und Psychologe Robert Provine von der University of Maryland-Baltimore County (USA) hat aufgrund der bisherigen Erkenntnisse über die Entwicklung des Gehens folgende interessante These entwickelt: »[…] Erst die Evolution des aufrechten Gehens ermöglichte die Entwicklung der Sprachfähigkeit […]« (Vaas, Bild der Wissenschaft 4/2000).

Vereinfacht gesagt behauptet er, dass unsere Vorfahren die Fähigkeit zu sprechen erst erlangten, nachdem sie aufrecht gehen konnten. Erklärt wird dies anhand der Art und Weise, wie der Mensch im Unterschied zum Affen lacht. Provine nennt seine Annahmen die Walkie-talkie-Theorie (Gehen-Sprechen-Theorie). Menschliches Lachen besteht aus wiederholten Schallstößen, gebildet aus vielen zerhackten Teilen eines einzigen Ausatmungsvorgangs. Dabei laufen kurze vokalähnliche Laute in regelmäßigen Intervallen durch den Vokaltrakt.

Hingegen hören sich lachende Schimpansen an wie das »Geräusch einer Handsäge, die Holz sägt«, das durch rasches Ein- und Ausatmen entsteht. Die Anatomie des Schimpansen verhindert eine Nutzung von Atmung und Vokaltrakt zur Erzeugung komplexer Laute. Der Grund liegt laut Provine in der Tatsache, dass Schimpansen fast ständig auf allen Vieren laufen. Ursprünglich waren Atemrhythmus und Fortbewegung korreliert. Die Lungen waren voll Luft, wenn die vorderen Gliedmaßen auf den Boden trafen. Erst das aufrechte Gehen ermöglichte eine von der Fortbewegung unabhängige Tätigkeit der Lunge.

Der Gang auf 2 Beinen muss also entstanden sein, bevor Lachen und komplexe Sprache möglich waren, die einem von der Fortbewegung unabhängigen lautlichen Rhythmus gehorchen konnten. Die Schätzungen für den Ursprung der Lautsprache reichen von wenigen 10000 bis hin zu vielen 100000 Jahren.

Michael Arbib von der University of Southern California, USA, ist ebenfalls der Auffassung, dass ein Zusammenhang zwischen Sprachentwicklung und aufrechtem Gang existiert (Vaas, Bild der Wissenschaft 4/2000). Er vertritt jedoch die Ansicht, dass die Rolle des Lachens als universale Form der lautlichen Kommunikation dabei nebensächlich gewesen sei. »Es war die Freiheit der Hände, die es den Menschen zunächst ermöglichte, sich auf eine komplexere Weise zu verständigen. Die Vokalisation folgte der Gestik, um die Bedeutung der Handsignale zu verstärken. Wären wir immer noch Vierbeiner, würde es uns schwer fallen, die Hände ausreichend zur Kommunikation zu nutzen« (Rüdiger Vaas, Bild der Wissenschaft 4/2000).

Die Evolution des Menschen zeigt Zusammenhänge zwischen Haltung, Bewegung, aufrechtem Gang, Kommunikation, Sprache und Kultur. Verändern sich Lebensräume und/oder Lebensweisen, findet automatisch eine Adaption an die neue Situation und somit eine entsprechende Veränderung des Bestehenden statt. Auch gegenwärtig verändert sich der Mensch im Sinne einer Adaption an die aktuellen Lebensumstände. Größenwachstum, Bewegungsarmut und Gewichtszunahme sind nur einige Beispiele.

Wie wird der Mensch aber in 10000 Jahren gehen? Wie wird der normale Körper zu dieser Zeit ausgebildet sein? Wird sich die Biomechanik verändern? Sicher scheint nur, dass sich alles stetig verändert. Dies ist ein Prinzip des Kosmos, in dem wir Menschen leben und von dem wir lernen können.

2 So geht’s! – Physiologie des menschlichen Gangbildes

2.1 Voraussetzungen des »normalen« Gehens

Die Erscheinung des menschlichen Gangbildes ist individuell sehr verschieden. Dies liegt an körperlichen Gegebenheiten, den jeweiligen Lebensumständen und Verhaltensweisen sowie an der Ausprägung einer Reihe grundlegender Fähigkeiten, die zusammen mit der kognitiven und motorischen Entwicklung ausgebildet werden. Daher ist ein einheitliches Erscheinungsbild des Gehens kaum festzulegen.

Studien beweisen jedoch, dass immer dieselben Voraussetzungen und Fähigkeiten Grundlage eines harmonisch fließenden Gangbildes (bzw. Bewegungsablaufs) sind. Diese ermöglichen dem Körper, sich sinnvoll (bezogen auf die jeweilige Aufgabe und Umgebung) und entsprechend physiologisch sowie kraftsparend zu bewegen. Nachfolgend sind einige Voraussetzungen aufgezählt, die physiologisches Gehen ermöglichen. Dabei beziehen sich die Punkte 1–6 auf körperlich-psychische Voraussetzungen, die Punkte 7–13 auf notwendige Fähigkeiten (Arend u. Higgins 1976, Hedin-Anden 1994).

1a. Gesunde Energieversorgung: funktionierender Stoffwechsel der Muskulatur, intaktes respiratorisches und kardiovaskuläres System.

1b. Gesunde biochemische Abläufe und Stoffwechselvorgänge im Gehirn: funktionierende Aktivierung und Hemmung von Nervenzellen durch ausgewogene Ausschüttung von Neurotransmittern, wie z.B. das stimulierende Azetylcholin und die dämpfende Gammaaminobuttersäure (-acid, GABA).

2. Gesunde Gelenke: intakte Knochen, Knorpel, Gelenkkapseln und Bänder.

3. Zentrale motorische Programme, spinaler Schrittmustergenerator (Atwood u. MacKay 1993): Der Schrittzyklus ist innerhalb der Intermediärzone (Spinalmark) durch ein oszillierendes Netz von Interneuronen programmiert, den zentralen Mustergeneratoren (ZMG oder CPG, central pattern generator). Dieses Netzwerk ist in der Lage, alternierende Schwung- und Standphasen zu erzeugen. Auf die ZMG einwirkende starke sensorische Signale und Reflexe generieren Ausgangssignale, die eine Phasenkopplung zwischen beiden Beinen sowie dem übrigen Körper herstellen.

Am ZMG ist eine reziproke Innervation beteiligt. Durch Kontakt der Ferse mit dem Boden wird die Extensorenaktivität initiiert. Der Achillessehnenreflex initiiert das Ende der Standphase. Erst wenn der Fuß nicht mehr belastet wird und das Hüftgelenk in Extension ist, hat der kontralaterale Fuß das Körpergewicht übernommen und die Flexionsphase kann beginnen. Dabei besteht eine feste Phasenkopplung der Bewegungen zwischen beiden Extremitäten. Die automatisch auf spinaler Ebene ausgelösten Schritte sind primitiv und sehen abgehackt und »robotermäßig« aus. Ihnen fehlen die sanften Modulationen des normalen Gehens.

In Querschnittzentren (z.B. in Berlin unter der Leitung von PD Dr. Hesse) werden die auf Rückenmarksebene laufenden Prozesse mithilfe eines mechanischen Gangtrainers erhalten. Der Patient bleibt jedoch von der Aufhängung seines Rumpfes im Trainingsgerät und zusätzlicher therapeutischer Hilfe abhängig. Auch wenn es sich hierbei nicht um selbständige Fortbewegung handelt, kann der psychologische Gewinn für den Patienten groß sein. Von weiterem Nutzen sind funktionierende ZMG für den Fall, dass die Wissenschaft in der Lage ist, auch beim Menschen (nicht nur bei Ratten und Katzen) Querschnittverletzungen wieder rückgängig zu machen.

4. Optisches System: Augen, Sehnerven und -zentrum im Gehirn sind funktionstüchtig. Die Beeinträchtigung des Gehens ist erheblich, wenn der Patient schlecht sieht.

5. Gesundes neuromuskuläres System: Motorische Einheit, Muskulatur, Tonus und Sensibilität sind intakt.

6. Motivation: Eine elementare Voraussetzung für das Gehen! Der Patient muss aus eigenem Willen heraus aufstehen und gehen wollen. Zwar ist allgemein bekannt, dass Gefühle das Verhalten der Patienten beeinflussen, man wusste jedoch bislang wenig darüber, wie stark dieser Einfluss auf Erfolg und Misserfolg bei funktionellen Aktivitäten ist. Bis vor Kurzem glaubten Neurophysiologen, das limbische System beeinflusse das motorische System nur indirekt. Neue Forschungen hingegen zeigen, dass limbische Nervenbahnen auf spinaler Ebene direkt in das motorische System eingreifen. Die Verbindung beider Systeme ist hochgradig komplex. So spielen Gefühle eine wichtige Rolle bei der Therapie.

»Meistertherapeuten wissen um die hohe Bedeutung dieses Faktors«, behauptet unter anderen die Physiotherapeutin und Neurophysiologin Prof. Darcy A. Umphred, die auch den Begriff M.O.V.E. – das limbische System bewegt uns geprägt hat (Umphred 2000). M.O.V.E. steht für die verschiedenen Funktionen des limbischen Systems:

Motivation: Wunsch etwas zu lernen bzw. zu versuchen oder Umstände zu nutzen;

Gedächtnis: Aufmerksamkeit und Erinnern.

sympathische und parasympathische Reaktionen

Reaktionen des peripheren vegetativen (autonomen) Nervensystems, die die limbischen Funktionen widerspiegeln

Selbstbild und Selbstwertgefühl

emotionales Körperbild

tonische Reaktionen des motorischen Systems

Einstellungen, soziale Fähigkeiten, Meinungen

Oft macht das Herz (Gefühl) einen Strich durch die Rechnung des Kopfes! (Beispiel: Erkennt der Therapeut nicht, dass sein Patient Angst vor dem Hinfallen hat – und geht nach dem Gefühl des Patienten ungenügend darauf ein –, wird auch ein funktionell richtiges Behandlungskonzept nicht richtig greifen!)

Anatomischer Exkurs

Das limbische System ist ein besonderes System von Nervenzellverbindungen im Gehirn, das verschiedene Areale miteinander verknüpft. Es wird als Ausgangspunkt für Emotionen angesehen. Zu ihm gehören Strukturen an der Innenseite der Großhirnhemisphären, die sich wie ein Saum (Limbus) um den 2. Ventrikel und Balken herumschlingen. Dazu zählen die Hippocampusformation, Gyrus cinguli und Fornix, Nervenzellgebiete des Lobus temporalis, Mandelkern (Corpus amygdaloideum) sowie der endorhinale Kortex. Alle Anteile haben enge Verbindung mit dem Hypothalamus. Durch die Vielzahl der Verbindungen können in sich rückläufige Neuronenkreise geschaltet und damit vielseitige vitale Reaktionen ausgelöst werden.

7. Posturale Kontrolle: Fähigkeit, Körper und Gliedmaßen in geeigneter Weise sowohl zu stabilisieren als auch für den Transport auszurichten (Haltungskontrolle).

8. Dynamisches Equilibrium: Fähigkeit, jederzeit das Gleichgewicht halten zu können, sowohl während des Gehens, beim Losgehen als auch beim Anhalten.

9. Prüfende Bewegungen: Fähigkeit, zusätzliche Informationen über die umgebende physikalische Welt zu erhalten. Die dazu notwendigen Bewegungen sind im Bewegungsablauf integriert und unterstützen den Prozess der Perzeption.

10a. Unabhängiger Gebrauch der Arme: Fähigkeit, 2 Aufgaben simultan und unabhängig voneinander ausführen zu können, hier bezogen auf das Gehen und den unabhängigen Gebrauch des Arm-Hand-Komplexes (dual task). Dabei können die Arme entweder zur Unterstützung der Fortbewegung eingesetzt werden (z.B. Armschwingen und Gebrauch von Gehhilfen) oder einem anderen Zweck dienen (zum Auto gehen und gleichzeitig Einkaufstüten und Handtasche tragen).

10b. Symmetrischer sowie asymmetrischer Einsatz von Körper und/oder Gliedmaßen: Fähigkeit, je nach Aufgabe einen reziproken und symmetrischen Armschwung zu erzeugen oder auch asymmetrischer Armeinsatz, z.B. beim Tragen eines Gegenstands.

11. Selektive Entspannung: Fähigkeit, Muskelspannung effizient zur Bewegungserzeugung zu nutzen. Gemeint ist hier die Steuerung der An- und Abwesenheit von Muskelspannung.

12. Ausnutzen von Schwung: Fähigkeit, vorhandene interne oder externe Kräfte aus einer Bewegung für weitere Bewegungen zu nutzen und in diese zu integrieren. Dadurch kann die Energieanforderung der Muskeln deutlich reduziert werden.

13a. Generieren von Kraft: Fähigkeit einzuschätzen, wie viel Kraft eine Aufgabe benötigt und welche Voraussetzungen nötig sind, um diese Kraft erbringen zu können.

13b. Absorbieren von Kraft: Fähigkeit, intern oder extern entstehende Kräfte zu absorbieren, z.B. beim Hinabsteigen einer Treppe.

2.2 Was ist schon »normal«?

Die Menge an Informationen über das Gehen ist heute schon enorm groß und unzählige Studien haben sich bisher mit diesem Thema beschäftigt. Der rasante Zuwachs an Ganganalyselabors lässt annehmen, dass die Erkenntnisse auch in Zukunft weiter rasant steigen werden.

Doch welche sind zur Befundung und Therapie relevant? Wie und woran kann sich der Therapeut im Dschungel der vielen Informationen orientieren?

Frau Dr. Jacquelin Perry und ihr Team vom Pathokinesiologischen Labor des Rancho Los Amigos National Rehabilitation Centers, Los Angeles, beschreiben in ihrer Arbeit (Perry 1992) die Funktionsweisen des menschlichen Gehens, die als »normal« (d.h. typisch für den durchschnittlichen Menschen) angesehen werden können. Dazu untersuchten sie den freien Gang auf festem glattem Boden an 420 gesunden Personen beiderlei Geschlechts. Das Alter der in der westlichen zivilisierten Welt lebenden Personen lag bei 6–87 Jahren. Die Untersuchungsergebnisse repräsentieren keine festen Werte für die einzelnen Parameter des Gehens, sondern nach 4 Altersgruppen aufgeteilte Normbereiche.

Die im Folgenden verwendeten Angaben über die Charakteristika des Gehens, wie Geschwindigkeit (m/min), Länge des Gangzyklus (m) und Kadenz (Schritte pro Minute) sowie Gelenkwinkel, Drehmomentanforderungen, Muskelaktivitäten und deren normales Timing beruhen – wenn nicht anders angegeben – größtenteils auf den Untersuchungsergebnissen von Perry (1992) und stellen den Durchschnittswert der Normbereiche dar.

Natürlich beinhaltet das Gehen weit mehr als nur biomechanische Aspekte, die durch kinematische und kinetische Fakten dargestellt und erklärt werden können. Zusätzlich wird der aufrechte menschliche Gang von einer Reihe weiterer Faktoren beeinflusst, auf die vorab noch kurz eingegangen wird.

Bei genauerer Beobachtung ist leicht zu erkennen, dass viele Menschen etwas anders gehen als es die ermittelte »Norm« beschreibt! Daher sollte der Therapeut nach Durchführung einer Ganganalyse auch vermeiden, seinen Patienten in der Therapie genau vorzuschreiben, wie sie der »Norm« nach zu gehen haben, weil für den Gang jedes individuellen Patienten multiple einflussnehmende Faktoren berücksichtigt werden müssen. Dabei sollte als normal angesehen werden, was für den jeweiligen Patienten individuell angemessen ist. So wird niemand einem Massai sagen, er möge seine Kniegelenke nicht so stark gebeugt halten. Für die in der Steppe Afrikas lebenden Menschen ist es nicht nur normal, sondern sogar sehr wichtig, mit anhaltender Kniegelenkflexion zu gehen, da die Bodenverhältnisse diese besondere Anpassung der Lokomotion erfordern.

Menschen gehen also unterschiedlich, da sich der Gang an die gegebenen Verhältnisse adaptiert (Mulder 2001). Gehen beschränkt sich nicht auf die reine Aktion der Beine, sondern stellt eine gesamtkörperliche Antwort auf Umgebung und Zweck dar. Unterschiede ergeben sich unter anderem aus folgenden Faktoren:

Alter und Geschlecht: Kinder (ca. 1. Lebensjahr) haben den plantigraden Gang (auf dem Fußballen gehend), ältere Menschen zeigen vielfach eine mehr oder weniger gebeugte Haltung und oft auch eingeschränkte Extensionsfähigkeit des Hüftgelenks. Die durchschnittliche Geschwindigkeit beim Gehen variiert zwischen ca. 74 m/min (Frauen) und ca. 82 m/min (Männer).

Körpergröße, Körperbau, Gewicht und Masseverteilung.

Bodenbeschaffenheit: Gehen auf harten (Beton, Bürgersteig) oder weichen Böden (Waldboden, Sandstrand).

Schuhwerk: hochhackige Pumps, »Gesundheitslatschen«, Turnschuhe.

Lebensumstände: schwere körperliche Arbeit, sitzende Tätigkeit, Sportler.

Umgebung: vertraute Umgebung zu Hause, hektische Umgebung im Kaufhaus beim Schlussverkauf, bei der Therapie im Krankengymnastikraum.

Psychische Verfassung und momentane Stimmung: Zahnarzttermin oder Verabredung mit dem/der Liebsten, psychische Last.

Angesagte Mode: Stoffhemmung (z.B. knallenge Jeans), Hosen mit dem Schritt in Kniegelenkhöhe, weite Kleider.

Gruppen-/Klassenzugehörigkeit und Ausdruck der Persönlichkeit: Hipp-Hopper mit starken »Luxus-« und übertriebenen Rumpfbewegungen (wie bei beginnendem Duchenne-Hinken), marschierende Soldaten mit vom Körper weit weg schwingenden Armen, besonders zielgerichtet.

Aufgabe und Ziel des Gehens/Aufgabenanalyse: Der Gang wird je nach gestellter Aufgabe variieren, z.B. beim Schaufensterbummel, beim Tragen von Gegenständen oder bei den zügigen Schritten zur Arbeitsstelle, wenn man spät dran ist.

Komplexität der Aufgabenstellung während des Gehens: Der Gang ist eine Möglichkeit, von einem Ort zu einem anderen zu gelangen, wird aber gleichzeitig von Art und Absicht eventuell zusätzlich gestellter Aufgaben stark beeinflusst. Der Arm-Hand-Komplex spielt dabei eine besondere Rolle. Sind Arme und Hände frei von Aufgaben, kann durch Armschwingen das Gehen unterstützt werden, z.B., um zügig von Punkt A nach B zu gelangen. Sind Arme und Hände mit eigenen Aufgaben betraut, kann das sehr unterschiedliche Auswirkungen auf den Gang haben, z.B. beim Transport eines schweren Kastens mit beiden Händen, der sogar noch gegen die Oberschenkel drückt oder beim Tragen einer Tasse heißen Kaffees zum Tisch.

Aus diesen Punkten ergibt sich eine große Variabilität des normalen Gehens, weshalb dem Patienten von der Norm abweichende Freiheitsgrade gewährt werden müssen. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, eine eventuell bestehende Pathologie zu erkennen und auf die individuelle Norm des Patienten zurückzuführen.

Wenn aber alles so unterschiedlich ist, wozu dann überhaupt die Normwerte lernen? Die Normwerte beschreiben den funktionellen Vorgang des Gehens und benennen die mechanischen Voraussetzungen. Darüber hinaus liefern sie die für jeden Moment des Gehens anfallenden »Normwerte« z.B. für Drehmomente, Winkel, Beschleunigungen und Belastungen. Weiterhin existiert eine Reihe von essenziellen Merkmalen des Gehens. Sie sind die für den Erfolg entscheidenden Aspekte der beobachtbaren Bewegung und daher am wenigsten modifizierbar. Im Verlauf des Buches werden alle Merkmale einzeln genannt und genau beschrieben.

Praxistipp

Die therapeutische Aufgabe besteht zunächst darin, gemeinsam mit dem Patienten zu bestimmen, wo gegebenenfalls individuell erlaubte Abweichungen