Geht’s auch ohne Schule? Auf den Spuren der Freilerner - Lini Lindmayer - E-Book

Geht’s auch ohne Schule? Auf den Spuren der Freilerner E-Book

Lini Lindmayer

0,0

Beschreibung

So ganz OHNE SCHULE - wie geht das eigentlich? Die Begriffe „Homeschooling“ und „Unschooling“ haben längst Einzug in den heimischen Sprachgebrauch gehalten. Doch was genau steckt dahinter und wie sieht die schulfreie Praxis im Alltag aus? Lini Lindmayer schreibt aus Erfahrung. Als Mama von fünf Kindern, die weder einen Kindergarten noch eine Schule besuchen, weiß sie, was nötig ist, damit das freie Lernen Spaß macht und keine Langeweile aufkommt. Sie beschreibt eingängig, warum Beurteilungen und Prüfungen die Freude am Forschen und Entdecken verleiden und welche negativen Auswirkungen frühkindlicher Förderwahn und schulische Zwangsbildung haben können. Bebilderte Praxisbeispiele zeigen, wie das Lernen ohne fremde Lehrer dauerhaft und im eigenen Tempo der Kinder gelingen kann. Dabei werden auch Herausforderungen wie die Angst vor Isolation oder länderspezifische Hürden in Österreich, Deutschland und der Schweiz thematisiert. Authentische Erfahrungsberichte von 15 Freilerner-Familien – zwischen Schweden und Neuseeland – geben zudem einen bunten Einblick in den Alltag ohne Schule und machen Lust auf wildes, freies Lernen. Ein Buch für alle kritischen SchülerInnen, Eltern und PädagogInnen, die (noch einmal) in die spannende Welt des Lernens und Entdeckens eintauchen und auf den Spuren der Freilerner wandeln möchten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 340

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

VORWORT

FASZINATION LERNPROZESS

Was ist Lernen?

Aber es will doch beschäftigt werden!

Aber es hat doch Freude daran!

Vertrauen in das Kind und seine Entwicklung

Kinder: kein Kunstwerk der Eltern

Leben heißt lernen

DIE IDEE VON FÖRDERUNG – EINMAL ANDERS BETRACHTET

Lernen muss erst einmal gelernt werden. Tatsache?

Förderwahnsinn

Be“spaß“ung

Erfolgversprechendes Förderprogramm?

Mit Druck zum Erfolg

Bildungssystem und Förderwahn

Völlig sich selbst überlassen?

Vom Wert des Scheiterns

Sein lassen

Lernen nach Lust und Laune?

„Aber es muss doch lernen ...“

Lernen durch Spielen

BEURTEILUNG: WENN DIE FREUDE AM TUN ZUR LEISTUNG WIRD

Natürlich oder anerzogen?

Warum beurteilen wir?

Wertschätzung und Anerkennung: das eigentliche LOB

Beurteilung als (Über)Lebenselixier?

Der wertende Umgang und seine Folgen

Notwendige Beurteilungen?

Lernen? Aber bitte richtig!

Ja, aber ...

Ob Lob oder Tadel: kein Unterschied

DIE SACHE MIT DER BEGABUNG

Was ist Begabung?

„Das liegt dir einfach nicht.“

Begabung: die Idee vom Besonderssein

Neigung, Training, Perfektion

Entwicklung in einer leistungsorientierten Gesellschaft

WO FINDET BILDUNG STATT?

„Allgemeinbildung“ und die Qualität des Lernens

Auf dem Weg zu qualitativ hochwertiger Bildung

Was für Erwachsene gut ist, kann Kindern nicht schaden. Oder?

Die Angst vor zu viel Freiheit

Krank durch Beschulung

Ein Kind weiß doch noch gar nicht, was gut und richtig für es ist!

TRADITIONELLE BESCHULUNG: AM KIND VORBEI

Muss Schule sein?

Die Traumschule: Gleichberechtigung, Bildungsfreiheit, Motivationsschub?

Aufbewahrungsstätte statt Bildungseinrichtung

Länger, intensiver, früher

Bildungsdebatten und Prüfungswahn

Ohne Schule geht nichts?

FREIES LERNEN

Vom Exotismus zum Normalfall?

Eine lebendige Umgebung schaffen

Soziales Lernen ermöglichen

Ausgrenzung vermeiden

Konfliktmanagement erlernen

Kinder brauchen doch Kinder!

DAS LEISTUNGSSYSTEM UND SEINE AUSWIRKUNGEN

Das Streben nach Perfektion

Schule und Noten: Lernen im Leistungssystem

Überprüfung: zwischen Kontrolle und Selbstkontrolle

Leistungsgesellschaft gleich Klassengesellschaft

Zielobjekt: die klassenlose Gesellschaft

LEBEN OHNE SCHULE

Herausforderungen

Vertrauen, Zutrauen, Zulassen und Zurückhalten

Individuelle Lernwege

Glaubenssätze

Elternrolle und elterliche Verantwortung

Legalität

Formen freien Lernens: Von Homeschooling bis Unschooling

Homeschooling nach Lehrplan öffentlicher Schulen

Homeschooling nach alternativen pädagogischen Konzepten

Zwischen Home- und Unschooling

Unschooling

LEARNING BY DOING: FREIES LERNEN IM ALLTAG

Kinder im Garten

Von der Bedeutung des Spiels

Die Angst vor Isolation

LÄNDERSPEZIFIKA

Ein Blick nach Österreich

Ein Blick nach Deutschland

Ein Blick in die Schweiz

NACHWORT

ERFAHRUNGSBERICHTE

Hilfreiche Literatur

VORWORT

Bildungsdebatte, Schulreform, Frühförderprogramm ... Wörter, die uns kaum mehr irritieren. Irgendwie scheinen sie nicht nur ihren fixen Platz in den Medien gefunden zu haben, sondern auch in unserer Sprache. Wir sind uns alle darin einig, dass es so, wie es ist, nicht bleiben kann. Wir haben uns aber scheinbar damit abgefunden, dass sich trotz aller Reformen wenig ändert.

Bildung und alle Aspekte, die in irgendeiner Art und Weise damit verbunden sind (Kinderbetreuung, Integration etc.), zählen zu jenen Themen, die gerne, intensiv und kontrovers diskutiert werden. Nicht zuletzt, seit miserable PISA-Ergebnisse die Idee der seit Jahren immer wieder angekündigten Bildungsreform neu angefacht haben. Bei Politikern scheinen allerdings vor allem Vorschläge zur äußeren Verschönerung des Schulsystems hoch im Kurs zu stehen. Auf grundlegende Veränderungen wartet man nach wie vor vergeblich. Ebenso wie auf die Auseinandersetzung mit den eigentlichen Inhalten des Themas „Bildung“. Denn letztendlich ist es egal, ob Halbtags- oder Ganztagsschule, ob mehrere Schultypen oder eine gemeinsame Schule der 6- bis 14-Jährigen. Solange sich am Grundgedanken, an der Herangehensweise an das Lernen des Kindes (Lehrplan, Beurteilungssystem etc.), nichts ändert, wird sich auch die Gesamtsituation nicht wandeln.

Wie oft wurde im Zusammenhang mit dem Bildungsthema die Frage gestellt, wie man eine Umgebung schaffen kann, in der sich die heranwachsenden Individuen entfalten und frei und selbstbestimmt lernen können?

Wie oft stellte man verwundert fest, dass bei den meisten Kindern die Freude am Lernen bald nach Schulbeginn verlorenging und einem generellen Desinteresse wich?

Warum scheint sich kaum jemand daran zu stören, dass die eigentlichen Stärken eines Kindes missachtet, seine Schwächen aber hervorgehoben und extra behandelt werden?

Wie sollen der Wert und die Vielfalt einer Gesellschaft erhalten werden, wenn sich nur mehr durchschnittliche, sich ähnelnde Menschen darin bewegen, welche zwar von allem etwas können, aber nichts wirklich?

Muss Lernen wirklich erst gelernt werden? Braucht Lernen tatsächlich Förderung und Animation, um überhaupt in Gang zu kommen? Braucht es Unterricht, Belehrung und Beurteilung? Oder lernt jedes Individuum von Geburt an ganz selbstverständlich?

Wie kann ein Kind ohne Schule und Unterricht überhaupt lernen? Wie muss man sich das vorstellen?

Das alles sind Fragen und Themen, mit denen sich mein Buch intensiv auseinandersetzt und gleichzeitig Einblicke in das freie und selbstbestimmte Lernen bietet. Wichtig dabei ist jedoch der Aspekt, dass dieses Lernen nicht zwangsläufig ein Leben ohne Schule bedeuten muss. Auch wenn es de facto nur sehr wenige sogenannte alternative oder freie Schulen gibt, welche freies und selbstbestimmtes Lernen wirklich ermöglichen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass es mir nicht rein um das Lernen im Schulalter des Kindes geht, sondern um das Lernen generell. Lernen ist nichts Abgetrenntes, nichts, was sich in Schubladen einteilen lässt. Lernen ist ein fortlaufender Prozess, der bedauerlicherweise durch äußere Maßstäbe, Richtlinien und strikte Trennungen (Kindergarten und Schule, Fach A und Fach B) permanent unterbrochen und durch Beurteilung und Einteilung in Leistungsgruppen negativ beeinflusst wird.

In Anbetracht der Tatsache, dass wirkliche Bildungsfreiheit – die in europäischen Ländern angeblich gegeben ist – anders aussieht und der Bildungsstand in etlichen Ländern anscheinend einen Tiefpunkt erreicht hat, erschien es mir wichtiger denn je, ein Buch zu verfassen, welches sich fernab herkömmlicher Bildungsdiskussionen mit dem Thema Lernen auseinandersetzt.

Es wird sich an der Gesamtsituation nichts ändern, solange Entscheider an der Überzeugung festhalten, das heranwachsende Individuum sei ohne entsprechende Anleitung und zwanghafte Formung unfähig und unwillig. Das aber werden sie weiter tun, weil ein derartiges Bildungssystem Bildungsunterschiede und soziale Abgrenzungen innerhalb einer Klassengesellschaft etabliert.

Veränderung aber kann nur dann geschehen, wenn wir bereit sind, einen Blick dahin zu werfen, wo das Offensichtliche verborgen liegt: Lernen ist einfach! – Mehrere Jahre genauer Beobachtungen in meinem Umfeld und intensiver Auseinandersetzung mit der Thematik liegen hinter mir. Mehrere Jahre, in denen ich dank unserer Kinder hautnah erleben konnte und immer noch erleben darf, wie kleine Menschen sich für sie wichtige Themen frei und selbstbestimmt erarbeiten.

Das Leben unserer Familie ohne Kindergarten und Schule wie auch die Bekanntschaft mit anderen Familien nicht beschulter oder „alternativ“ beschulter Kinder hat mir tiefe Einblicke in die Art und Weise, wie Kinder lernen und sich Fähigkeiten aneignen, gewährt und mir gezeigt, worauf es eigentlich ankommt. Es hat mir offenbart, wie kleine Menschen Sozialkontakte knüpfen und diese leben und welche Wege sie in ihrem Lernen gehen. Dank meiner Arbeit mit Eltern und Babys durfte ich zudem bei jeder Begegnung aufs Neue Zeuge wunderbarer Lernerfahrungen der ganz Kleinen werden. Diese Erfahrungen haben das vorliegende Buch sehr bereichert.

Ich möchte Sie hiermit einladen, mich auf eine spannende Reise ins Reich des Lernens zu begleiten, auf der ich Ihnen ganz eigene Aspekte des Lernens eröffnen und dadurch aufzeigen werde, dass Lernen keine Frage des Belehrens, sondern schlicht und einfach des Zulassens ist. Ganz nach dem Motto „Verstehen statt Tipps, Tricks und Handlungsanweisungen“ werde ich mir im vorliegenden Buch erlauben, Ihren Blick in eine andere Richtung zu lenken und damit vielleicht Ihren Alltag und den Umgang mit Ihrem Kind und seinem Lernen zu verändern.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Durchlesen, Nachdenken und Erkennen.

Lini Lindmayer

FASZINATION LERNPROZESS

Was würden Sie meinen, was dieses Kind hier macht? Spielen? Entdecken? Erfahren? Lernen? Lernen beginnt mit der Geburt. Zusammenhänge, Bewegungsmuster, Verhaltensweisen, Sprache – all das erforscht ein Baby durch Beobachten und Ausprobieren. Unermüdlich, sofern es weder Eingriff noch Animation erfährt. Es erfährt seine Umwelt mit allen Sinnen.

Ganz gleich, wie oft bei einem Baby beispielsweise sein Versuch misslingt, sich auf den Bauch zu drehen, es probiert dennoch immer weiter. Vielleicht mit wütendem Weinen oder wimmernden Lauten, aber es gibt nicht auf. Man kann es noch so oft hochnehmen und quasi der Situation entreißen, sobald es wieder frei beweglich auf einer Decke liegt, startet es die nächsten Versuche. Ein Baby weiß – vielleicht durch Beobachtung oder einem inneren Instinkt folgend –, dass es da noch mehr geben muss als lediglich die Rückenlage. Und welche Freude, wenn seine Versuche erst einmal gelingen – ohne Hilfestellung. Wenn es sein Umdrehen endlich geschafft hat und immer geübter darin wird. Ruhe? Gibt es nach diesem Erfolgserlebnis dennoch nicht. Das Baby probiert weiter. Unermüdlich und voller Staunen.

Oder nehmen wir die ersten verbalen Mitteilungs- und Nachahmungsversuche. Diese beginnen lange, bevor das Baby seine ersten Worte sprechen kann. Es plappert und singt vor sich hin, ahmt Laute und Mimik nach, probiert die Möglichkeiten seiner Stimme aus, testet, was es mit seiner Zunge alles anstellen kann, und versucht sich in Nachahmung der wahrgenommenen Geräusche und Laute. Es gibt nicht etwa auf, wenn die ersten Worte, die es spricht, noch vollkommen verdreht und verkehrt herauskommen. Sondern übt weiter. Unermüdlich. So lange, bis es passt. Und darüber hinaus, aus Freude am Ausprobieren und Entdecken.

Es gäbe viele Bereiche, die man an dieser Stelle anführen könnte und die den natürlichen Prozess des Lernens – der ohne Eingreifen und Animation vor sich geht – klar ersichtlich machen. Denn egal in welche Bereiche des Lernens und Entdeckens man einen Blick wirft, das fortwährende Streben nach Entwicklung ist überall zu erkennen. Noch deutlicher lässt sich erkennen – wie beispielsweise der Film Babys (franz. Dokumentarfilm 2010 von Thomas Balmès) zeigt –, dass dieses Streben rund um den Globus bei allen Babys vorhanden ist, unabhängig von Kultur, Lebensumfeld und Tagesprogramm, und das in nahezu gleichem Tempo. Trotz intensiver Förderung auf der einen Seite und einfachem Dabeisein im Alltag auf der anderen Seite.

Ganz im Gegenteil könnte man – gerade dem oben genannten Film zufolge – beinahe davon ausgehen, dass sich jene Babys schneller entwickeln und sicherer im Umgang mit ihren Fähigkeiten sind, welche weder Eingriffe noch Förderung erfahren. Es sind jene Babys, die sich alleine (ohne Eingriffe) und individuell entwickeln können. Die nicht ständig irgendetwas gezeigt oder vorgeführt bekommen.

Dieser Eindruck wird durch Aussagen und Forderungen etlicher Pädagogen noch verstärkt, welche dafür plädieren, die ständige Förderung für Kinder zu reduzieren oder gar zu unterlassen, weil dies – wie die Erfahrung gezeigt hat – lediglich dazu führt, dass die Kinder aufhören sich selbst zu beschäftigen und sich schwer damit tun eine Beschäftigung zu finden, wenn die Animation einmal ausbleibt.

Lassen diese Beobachtungen nicht den Schluss zu, dass Lernen ein an und für sich von Belehrung und Förderung unabhängiger, aber äußerst sensibler, leicht störbarer Prozess ist?

Führen sie nicht zu der Erkenntnis, dass es weder Belehrung, Förderung noch Animation sind, welche das Baby zum Lernen bringen, sondern ein natürliches Streben nach Entwicklung und Wissenserwerb?

Ein Streben, welches in der Natur des Menschen liegt und jedem (heranwachsenden) Individuum innewohnt?

Absurd klingt dann aber die angeblich so notwendige Förderung, Beschäftigung und Animation des Kindes. Und absurd sogar die Forderung, dass Eltern ihr Baby positiv beurteilen (loben) müssten, damit es sich überhaupt gesund entwickelt.

WAS IST LERNEN?

Lernen muss nicht gelernt werden. Einem Baby muss nicht erst gezeigt werden, dass es so etwas wie Lernen gibt und dass es nach mehr streben kann. Ebenso wenig muss man ein Kind darauf aufmerksam machen, was es alles gibt in der Welt. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass Lernen ebenso zum Leben gehört wie die Erfüllung essentieller Bedürfnisse. Es ist ein Prozess, der geschieht, ohne dass es einer speziellen Anregung bedarf – außer natürlich den des Lebens in seiner gesamten Vielfalt selbst.

Und deshalb braucht es auch nur ein Lernen aus der Fülle des Seins heraus. Eltern müssen ihr Kind nicht erst lehren, wie es schauen, hören, schmecken und fühlen kann. Kinder erfahren und entdecken von sich aus – ganz selbstverständlich. Dieser Prozess gehört zu ihrer Entwicklung. Und es gibt zahlreiche Bereiche, in denen sich deutlich zeigt, dass man den Lernprozess weder erzwingen noch beschleunigen kann.

Nehmen wir zum Beispiel die Sprachentwicklung: Eltern können ihrem Baby noch so oft langsam und deutlich bestimmte Worte vorsprechen, es wird sie dennoch nicht früher als in seiner ganz individuellen Entwicklung vorgesehen anwenden. Ebenso oft können sie ihm Sitzen, Krabbeln und Laufen zeigen oder es gar dazu animieren. All diese Fähigkeiten werden als eigenständige Handlung dennoch erst zu dem Zeitpunkt auftreten, wenn das Baby körperlich bereit dazu ist. Möglicherweise wird es gar bei fortwährendem Eingreifen in sein Entdecken gewisse – für seine Entwicklung wichtige – Schritte auslassen. Wie zum Beispiel das Krabbeln, wenn das Laufen forciert wird.

Häufig wird die eigene Ungeduld (oder auch die Ungeduld der Umgebung) auf das Kind projiziert. Weil man es kaum erwarten kann, dass das Kind geht, wird es an den Händen durch die Gegend geführt und zu Entwicklungsschritten gedrängt, die es selbstständig noch lange nicht erreichen würde. Vor allem aber würde es sie anders erreichen. Weil das Kind aber ständige Eingriffe erfährt und ihm viele kleine Entwicklungsschritte dadurch abgenommen werden, verlernt es sukzessive Eigeninitiative zu zeigen. Statt selbst zu probieren, verlangt es nach den Erwachsenen. Durch Unzufriedenheit, Jammern oder auch Weinen.

Lernfortschritt und Entwicklung geschehen – ganz von selbst. Und am besten dann, wenn sie geschehen dürfen und frei jeglicher Einmischung bestehen können. Gerade Letzteres fällt den meisten Erwachsenen schwer. Teils durch die unendlich scheinende Informationsflut, mit der sich (werdende) Eltern heute konfrontiert sehen und die ihnen vermittelt, dass Förderung das Wichtigste der Kindererziehung sei, teils, weil sich in unserer Gesellschaft die Meinung etabliert hat, dass Lernen etwas ist, was durch Förderung und Animation zustandekommen muss und ohne diese verschwindet oder verkümmert.

Lernen basiert aber zum Großteil auf Beobachtung und Nachahmung, Ausprobieren und Erkennen. Verstehen und Beherrschen tritt nicht nur dann ein, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind, sondern auch dann, wenn die Bereitschaft dafür gegeben ist. Je natürlicher der Umgang mit dem Baby oder Kind ist – wobei ich den Begriff unnatürlich hier für jene Art der pädagogischen Animation verwende, welche in unserer Kultur weit verbreitet ist –, desto wahrscheinlicher ist es, dass ihm sein natürliches Streben nach Selbstständigkeit, Entwicklung und Wissen erhalten bleibt.

ABER ES WILL DOCH BESCHÄFTIGT WERDEN!

Wer will? Das Kind? Oder vielleicht doch der Erwachsene, der meint, er müsse das kleine, arme, unfähige Kind in irgendeiner Art und Weise unterhalten – ihm die Welt und alles, was darin vorkommt, zeigen?

Der Erwachsene, der meint, das Baby auf Schaukeln, Rutschen und andere Geräte setzen zu müssen, bevor es selbst diese erklimmen kann? Der Erwachsene, der meint, das Baby an den Armen hochziehen und es in Positionen bringen zu müssen, die es selbst noch nicht erreichen kann? Der Erwachsene, der meint, das Kind Farben, Gegenstände, Schrift und Zahlen lehren zu müssen, weil es ohne ihn niemals auf die Idee kommen würde, sich dafür zu interessieren?

Oder einfach der Erwachsene, der, die anderen Babys und Kinder im Blick, sein eigenes ungeduldig drängt und forciert, damit er sich selbst auf die Schulter klopfen und für die schnelle Entwicklung des Kindes loben kann?

Bleiben wir bei der Bewegungsentwicklung des Babys. Logisch wäre, das Neugeborene – welches noch automatisch die Embryonalhaltung einnimmt – auf den Rücken oder die Seite zu legen. Unter dem Vorwand die Nackenmuskulatur stärken zu müssen, wird Eltern nun aber gerne empfohlen, ihr Baby in Bauchlage zu bringen. Dafür muss man ihm die Arme strecken und den Kopf zur Seite drehen. Bewegungen eben, die es von alleine aufgrund der bei ihm natürlicherweise noch vorherrschenden Embryonalhaltung noch nicht oder nur mit allergrößter Mühe durchführen kann. Die meisten Bewegungen in dem Alter geschehen noch wenig zielgerichtet oder treffsicher. Bewegungskontrolle muss erst gelernt werden durch selbsttätiges Ausprobieren und Bewegen.

Wird das Baby also in eine Position gebracht, die es selbst noch nicht einnehmen kann, muss man es auch wieder aus dieser misslichen Lage befreien. Denn von selbst kommt es von der Bauchlage noch nicht wieder in die Rückenlage. Ganz zu schweigen davon, dass es sich in Bauchlage kaum bewegen kann. Es kann nicht strampeln, es kann seine Umgebung nur seitlich betrachten, es kann seine Beine und Hände nicht anschauen und ihren Bewegungen nicht mit den Augen folgen. Es kann durch die erzwungene Bewegungseinschränkung nur schwer die Kontrolle über seine Bewegungen erlernen. Nicht nur das: Um sich bewegen zu können, muss es sich unnatürlich verkrampfen.

Verlangt ein Neugeborenes danach, auf den Bauch gelegt zu werden? Wohl kaum. Ein Neugeborenes fordert Berührung und Nähe. Es wird unruhig, wenn es sich alleingelassen fühlt. Um es zu beruhigen oder weil ihnen erzählt wurde, dass die Bauchlage für ein Baby besser sei, bringen Erwachsene es in diese Lage. Oder weil sie meinen, dass es sich dadurch vielleicht beruhigen könnte. Es stimmt schon, dass sich Neugeborene in der Bauchlage oftmals beruhigen – das hängt aber mit dem Druck und der Berührung zusammen, die sie dadurch wahrnehmen. Sie fühlen sich weniger ausgeliefert und somit sicherer. Derselbe Effekt könnte natürlich in direktem Körperkontakt erzielt werden – etwa in einem Tragetuch – und hätte den Vorteil, dass das Baby vollkommen entspannt die Nähe genießen könnte, da es vom Tuch gehalten wird.

Wichtig ist zu wissen, dass die Bewegungsentwicklung von Natur aus einer ganz eigenen Logik folgt. Jede Bewegung zielt darauf ab, die Muskeln und den Bewegungsapparat zu stärken und sie für den aufrechten Gang vorzubereiten. Dieser darf keine Schmerzen verursachen oder zu Verspannungen führen.

Erfolgen in diesem sensiblen Prozess Eingriffe durch den Erwachsenen, etwa weil das Baby in die Bauchlage gebracht wird, ohne diese selbst schon erreichen zu können, oder weil es in Sitzposition gezogen wird, werden für die noch nicht gewohnte Bewegung automatisch Muskeln herangezogen, die dafür sonst eigentlich nicht zum Einsatz kommen. Die Bewegung oder Position wird nicht entspannt ausgeführt/gehalten, sondern mit einer gewissen Körper-“Über“spannung, die dann im Endeffekt zu Fehlhaltungen oder auch Schmerzen führen kann.

Problematisch sind derlei Eingriffe aber nicht nur in Bezug auf die Bewegungsentwicklung des Kindes, sie fördern auch die Tendenz zur Bequemlichkeit. Denn ohne Zweifel ist es angenehmer, nicht selbst zu versuchen und sich abzumühen, sondern wie durch Zauberhand in Positionen gebracht zu werden, die man noch lange nicht erreichen könnte. Oder Spielzeug in die Hand gedrückt zu bekommen, für das man sich lange Zeit anstrengen müsste, um es zu erreichen oder seinen Gebrauch zu verstehen.

ABER ES HAT DOCH FREUDE DARAN!

Dieses Argument mag zum Teil zutreffen. Wir sind nun einmal soziale Wesen und freuen uns über das Miteinander.

Ob sich das Baby aber wirklich in all diesen ungewohnten und mitunter unbequemen Positionen, in die es gebracht wird, wohlfühlt, ist zu bezweifeln. Denn in erster Linie reagiert das Baby auf die Freude des Erwachsenen, der verzückt lächelt, vielleicht Grimassen schneidet und das Baby eventuell mit Lob überschüttet, weil es sich schon so brav in der Sitzposition halten kann oder einen Fuß vor den anderen setzt.

Sichtbar wird vor allem die Freude des Erwachsenen darüber, etwas mit dem Baby tun zu können. Das Baby lernt dabei ebenfalls: Nämlich, dass der Erwachsene Freude daran hat, es an den Händen hochzuziehen. Diese positive soziale Interaktion möchte das Baby wiederholen.

Aber: Hat das Miteinander dem Erwachsenen zu Beginn noch Freude bereitet, wird es ihm ab einem bestimmten Punkt unangenehm. Schließlich hat er noch andere Dinge zu tun, als nur bei dem Baby zu sein und es zu beschäftigen. Dabei würde das Baby gar nicht danach verlangen, wenn nicht ...

Das Baby will also, weil es gelernt hat zu wollen. Wird es nicht animiert und bespielt, geht es vollkommen in seinem Dasein, Ausprobieren und Entdecken auf. Und was für das Säuglingsalter, die Bewegungsentwicklung und das Entdecken der Umgebung gilt, gilt im Prinzip auch für alle anderen Bereiche des Lernens. Das Streben nach Selbstständigkeit, Wissen und sozialer Interaktion muss nicht erst durch Übungen oder Trainingsmethoden in Gang gebracht werden, sondern braucht schlicht und einfach nur Ruhe und Zeit. Und von Erwachsenenseite: Zurückhaltung und Vertrauen.

VERTRAUEN IN DAS KIND UND SEINE ENTWICKLUNG

Antriebskraft für jedes Eingreifen ist nicht nur der Wunsch alles richtig zu machen oder der Glaube das Kind in irgendeiner Art und Weise fördern zu müssen, sondern häufig auch die Angst irgendetwas zu versäumen und dem Kind dadurch Schaden zuzufügen.

Vertrauen ins Kind und seine Entwicklung ist ein wesentlicher und unendlich wichtiger Bestandteil der Eltern-Kind-Beziehung. Leider aber auch jener Aspekt, an dem es am häufigsten mangelt.

Sei es aufgrund der Erziehungserfahrung der Eltern an sich selbst und dadurch entstandener Selbstzweifel; sei es durch Aussagen von Personen in ihrem Umfeld; sei es aufgrund von Maßstäben und Richtlinien, die ihnen die angeblich richtige Entwicklung des Kindes vorgeben und in die ihr Kind (logischerweise) nicht hineinpasst.

Es ist aber das Vertrauen in sich selbst und das Kind, worauf es im Grunde ankommt, auf dem das Thema „freies und selbstbestimmtes Lernen“ beruht und an dem sich viele Hinweise orientieren.

Fehlt dieses Vertrauen, werden ganz eigene Dynamiken in Gang gesetzt, die die Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Kind, wie auch sein Vertrauen in sich selbst langfristig gesehen stören, wenn nicht gar zerstören können. Denn obwohl wir alle mit einem schier unendlich scheinenden Vertrauen in uns selbst geboren werden, beginnt dieses – bei herkömmlichen Erziehungs- und Lehrmethoden – nach und nach in seinen Grundfesten zu wackeln. Schließlich nützt uns das Vertrauen in uns selbst und unsere Fähigkeiten wenig, wenn wir von unserer Umgebung und vor allem von jenen Menschen, welchen wir am meisten vertrauen und an denen wir uns orientieren, zu häufig Gegenteiliges, sprich Korrekturen, Missbilligung, Ängste und Misstrauen erfahren.

Die Sache ist im Prinzip recht einfach. Kinder vertrauen ihren Eltern. Sie glauben – zumindest anfangs –, was sie durch sie gespiegelt bekommen und was sie von ihnen hören, und orientieren sich daran. Wer von seinen Eltern Bestätigung in Form von wertfreier und bedingungsloser Zuwendung und Anerkennung erfährt und ihr Vertrauen sowie ihre Sicherheit spürt, der kann unermüdlich und voller Vertrauen voranschreiten, Neues ausprobieren, sich an Grenzen heranwagen und – was noch wichtiger erscheint – die eigenen Grenzen und Fähigkeiten ausloten und wahrnehmen.

Wem jedoch Zweifel, Ängste, Unsicherheiten, gepaart mit Be- oder gar Verurteilungen, begegnen, wem statt Vertrauen Misstrauen entgegengebracht wird, der wird nach und nach verlernen sich selbst zu vertrauen und jenen Aussagen und Wertungen Glauben schenken, welche ihm von seiner Umgebung vermittelt werden.

In unserem Alltag lässt sich leider überwiegend Letzteres beobachten. Mangelndes Vertrauen in das Kind und seine Fähigkeiten, Misstrauen und wertender Umgang mit seinem Ausprobieren, Entdecken und Erfahren. Warum?

Vielleicht, weil das Vertrauen in den ganz von selbst stattfindenden Prozess der Entwicklung verloren gegangen ist. Eltern wird meist noch vor der Geburt des Kindes eingetrichtert, dass sie alles daran setzen müssen, ihr Kind richtig zu fördern, damit es sich auch richtig entwickeln kann. Ist es zusätzlich noch ein Einzelkind und wird es das auch bleiben, so scheint in vielen Eltern das Gefühl zu dominieren, alles – aber auch wirklich alles – für das Kind tun zu müssen, damit aus diesem einmal „etwas wird“. Damit es etwas aus seinem Leben machen kann. Häufig führt das dazu, dass Förderung und Leistung weitgehend die Beziehung zum Kind ausmachen und dadurch das gesamte Miteinander bestimmt wird.

KINDER: KEIN KUNSTWERK DER ELTERN

Spricht eigentlich irgendetwas dafür, dass man Entwicklung speziell fördern muss, damit sie überhaupt stattfindet?

Wäre die Menschheit bis zum heutigen Tag gekommen, wenn ihre erfolgreiche Entwicklung von Förderung, Animation, Belehrung und Beurteilung abhängig gewesen wäre?

Obwohl zahlreiche Beobachtungen das fortwährende Voranschreiten des Kindes belegen, findet diese Tatsache bei den Befürwortern der permanenten Förderung und Animation scheinbar keine Beachtung. Indem Eltern aber eingetrichtert wird, dass sich ihr Kind nur dann entwickeln könne, wenn sie einen dementsprechenden Beitrag dazu leisten, werden Zweifel, Misstrauen und Ängste in die Entwicklung des Kindes, aber auch in sich selbst als Vater oder Mutter geschürt.

Was, wenn ich es nicht schaffe?

Was, wenn gerade unser Kind schwierig ist oder sich zu langsam entwickelt?

Was, wenn mein Kind nicht den Schemata und Maßstäben entspricht (wenn beispielsweise das Nachbarkind schneller / geschickter / reifer ist)?

Angst ist immer ein schlechter Ratgeber und für zwischenmenschliche Beziehungen Gift. Angst verhindert nicht nur ganz im Moment zu sein, sondern führt auch dazu, dass Eltern immer und überall nach einer Bestätigung für ihre Ängste suchen und gleichzeitig besorgt von einem Kurs zum nächsten hetzen, um das Kind dahin zu bringen, wo es laut bestimmter Meinungen sein sollte, und natürlich auch um zu verhindern, dass es zurückbleibt in seiner Entwicklung.

Keine Frage, Elternsein bedeutet so manche Herausforderung zu meistern. Die Entwicklung des Kindes aber zählt ganz bestimmt nicht dazu. Kinder entfalten sich in einer lebendigen, achtsamen Umgebung ganz von alleine. Das Tempo dieses Prozesses liegt nicht im Ermessen der Eltern oder irgendwelcher Förderprogramme. Ganz gleich, wie sehr Eltern auch bemüht sein mögen die Entwicklung des Kindes zu forcieren, es wird ihnen nicht ohne Nebenwirkungen gelingen. Es kann sogar sein, dass ihre intensiven Bemühungen zu einer Blockade, einem Rückschritt oder gar einem Stillstand in der Entwicklung des Kindes führen. Wer geht schon gerne unter Druck weiter oder interessiert sich gerade dann für bestimmte Dinge, wenn das Interesse dafür von ihm verlangt wird?

Die Herausforderungen des Elternseins liegen in einem ganz anderen Bereich. Nämlich in der Kunst des Annehmens der ganz eigenen Persönlichkeit ihres Kindes. Sie liegen in der Frage, wie der eigene Weg und ein harmonisches Miteinander aussehen könnten. Jenes Miteinander, welches von bedingungsloser Zuneigung und wertfreiem Zusammensein geprägt ist statt von Misstrauen und Beurteilung.

Kinder sollten nicht zum Kunstwerk der Eltern/Erwachsenen in ihrem Umfeld gemacht werden – weder durch Erziehung noch durch Belehrung oder Förderung. Sie dienen nicht dazu, den Erwachsenen eine ständige Fläche zum Modellieren zu bieten. Kinder sind eigenständige, individuelle Persönlichkeiten, die in den ersten Jahren ihres Lebens vertrauensvolle Erwachsene um sich brauchen, welche ihnen und ihren Fähigkeiten vertrauen, an sie glauben und sie in ihrer Entwicklung auf zurückhaltende, vertrauensvolle Art und Weise begleiten.

LEBEN HEISST LERNEN

So wie Lernen einfach geschieht, passiert auch Entwicklung ganz von selbst. Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse haben uns aber dazu gebracht, Grenzen zu ziehen und zwischen normal und abnormal zu unterscheiden. Sie haben dazu geführt, dass wir uns als Klassengesellschaft formiert haben und uns primär über unsere Leistung definieren.

Doch: Wer sagt, dass Entwicklung nur in bestimmter Art und Weise vor sich gehen darf? Wer entscheidet darüber, dass Lernen etwas ist, was angeregt und animiert, belehrt und beurteilt werden muss?

Wir können davon ausgehen, dass Entwicklung ein Prozess ist, der untrennbar mit dem Leben verbunden ist. Mehr noch: Es ist eine Tatsache, die das Leben an sich ausmacht. Lernen und Entwicklung sind vollkommen natürliche und für das Leben wichtige Prozesse. Sie nehmen bereits im Mutterbauch ihren Anfang und sind nicht etwa irgendwann abgeschlossen, sondern befinden sich das ganze Leben im fortwährenden Wandel.

Ohne den Impuls, Fähigkeiten zu entwickeln und Dingen auf den Grund zu gehen, würde unser Dasein ziemlich trostlos aussehen. Eltern können daher im Grunde darauf vertrauen, dass ihr Kind instinktiv weiß, was es zu tun hat. Seine Sinne helfen ihm dabei. Ebenso wie sein Streben nach Wissen und Selbstständigkeit.

Ein Kind möchte entdecken, erfahren, suchen und erkennen. Es möchte verstehen und lernen. Es möchte spüren, dass Regen nass und kalt, aber auch nass und warm sein kann. Es möchte das Frostige des Schnees und die Kühle der Erde wahrnehmen. Es möchte mit seinen Händen in einer Schüssel Bohnen oder Reis wühlen und Sand durch die Finger rieseln lassen. Es möchte Gegenstände unter die Lupe nehmen, sie im Wortsinn begreifen und anschauen, sie befühlen und betasten und ausprobieren, was man alles damit machen kann.

Es bedarf keiner Forcierung oder Anregung (außer der einfachen Lebendigkeit des täglichen Lebens), damit sich im Kind Interesse regt und es ins Entdecken und Erforschen kommt. Es bedarf auch keiner kindgerecht aufbereiteten Wissenshäppchen und schon gar keiner Institution und extra ausgebildeten Lehrperson, damit ein Kind lernen kann.

Wenn man – egal ob Kind oder Erwachsener – etwas tun, wenn man etwas erlernen und verstehen will, dann ist es nur logisch und nachvollziehbar, wenn man alles daran setzt, dass man sich damit auseinandersetzen kann. Man beginnt zu fragen, man nimmt mit allen Sinnen wahr, probiert und gibt so lange keine Ruhe, bis man mit dem Ergebnis oder der Erkenntnis zufrieden ist. Vorausgesetzt, man befindet sich in der passenden Umgebung. Einem Umfeld, in dem man weder von seinem Tun abgehalten, noch darin gestört oder gar (durch übereifrige Forcierung etc.) belehrt/beeinflusst wird.

Es liegt schlicht und einfach in der Natur des Menschen, Interesse an seiner Umgebung und den darin stattfindenden Prozessen zu haben.

Wenn wir Babys in ihrem Tun beobachten, können wir etliches von dem für alle Lebensphasen Beschriebenen bereits erkennen. Sie beobachten ihre Umgebung mit Wissbegierde. Sie erforschen. Jeder noch so kleine Laut, jede noch so zarte Bewegung, jeder Gegenstand ... alles wird wahrgenommen, betrachtet, erforscht und imitiert. Dazu muss es nicht erst extra angeregt werden.

Was aber geschieht dann? Wie kann es sein, dass eben dieses Interesse angeblich verschwindet und erst explizit wieder erlernt werden muss?

Es liegt auf der Hand, dass das plötzliche Desinteresse am Lernen und Entdecken, am Erforschen von Zusammenhängen nicht etwa Folge einer natürlichen Entwicklung ist. Denn auch hier lässt sich beobachten, dass diese Entwicklung interessanterweise bei jenen Kindern ausbleibt, die frei und selbstbestimmt lernen dürfen und weder Eingriff noch Beurteilung erfahren.

Betrachtet man unsere Gesellschaft, ihre allgemein gültigen Standpunkte und ihre Herangehensweise an das Wachsen und Entwickeln des Kindes, wird eines ganz deutlich sichtbar: das überdimensional große Misstrauen in das Kind und seine Entwicklung. Es ist Grund für das Desinteresse. Nichts scheint nämlich ohne das Zutun des Erwachsenen zu gehen. Nichts ohne seine Eingriffe und sein gezieltes Fördern. Mehr noch gewinnt man den Eindruck, als könne ein Kind ohne das Zutun seiner Eltern die Welt um sich herum gar nicht wahrnehmen.

Und um all das noch zu unterstreichen, wird die Entwicklung des Kindes zur Leistung gemacht. Einer Leistung, die ordentlich gelobt und belohnt oder eben auch getadelt, mitunter vielleicht gar bestraft wird, damit das Kind weiß, wo es steht. Wen wundert es da, wenn aus dem von Natur aus aktiven Kind bei so viel äußerer Initiative und Einflussnahme ein passives Kind wird?

Desinteresse am Lernen, Entdecken und Erforschen von Zusammenhängen entsteht bei einem ansonsten gesunden Kind dann, wenn das bestehende Interesse unterdrückt und zunichte gemacht wird beziehungsweise wurde. Wenn die – verbal wie auch nonverbal immer wieder zum Ausdruck gebrachten – Erwartungen in das Individuum sehr gering oder auch zu hoch sind. Desinteresse am Lernen entsteht dann, wenn einem Menschen keine adäquate, bereichernde Umgebung geboten wird, in der er sich entfalten kann. Verstärkt wird das Desinteresse – im Kindesalter – noch, wenn der Heranwachsende zu Entwicklungsschritten gedrängt wird, für die er noch nicht bereit ist.

Wenn es keinerlei Entdeckungsspielraum mehr gibt, bleibt wenig übrig, was Interesse erzeugen könnte. Abgesehen davon beginnt das Kind an sich selbst zu zweifeln und verliert nach und nach das Vertrauen in sich selbst.

Schaff ich doch eh nicht. Kann ich nicht. Werde ich nie erreichen. Geht nicht ...

Diese Aussagen beziehungsweise ein Verhalten, das diese Einstellung zu den eigenen Fähigkeiten vermuten ließe, kennt man von gesunden Kleinkindern nicht. Es taucht erst dann auf, wenn das Kind in seiner uneingeschränkten Wissbegierde und Freude gestört wird. Wenn ihm das Misstrauen bewusst oder es ihm auch offenkundig verbal mitgeteilt wird. Wenn ihm Zweifel eingeredet werden, es in seinem Tun beurteilt wird und dadurch seine Angst vor dem Versagen zu wachsen beginnt.

DIE IDEE VON FÖRDERUNG – EINMAL ANDERS BETRACHTET

Geschafft! Gemeinsam, ohne fremde Hilfe.

Im Normalfall ist Förderung ein permanentes Eingreifen, Lenken und Drängen in die von Erwachsenen gewünschte Richtung, basierend auf der Überzeugung, dass heranwachsende Individuen sich nicht weiterentwickeln oder lernen würden, wenn man sie nicht dazu animieren würde. Man glaubt also, dass sie nicht wissen, was gut für sie ist. Im Normalfall werden Kinder durch diese Art der Förderung aber nur eines: zu Unmündigen und Marionetten gemacht, die nach den Ideen und Meinungen der Eltern beziehungsweise Erwachsenen tanzen müssen.

Erwachsene werden in diesem Zusammenhang oftmals von der fixen Idee getrieben, dass es ein den allgemein gültigen Grundsätzen entsprechendes und anzustrebendes Entwicklungsziel gibt. Maßstäbe und Richtlinien mit ihrer strikten Grenzziehung zwischen Norm und Abnormität sind fest in den Köpfen der Gesellschaft verankert. Vollkommen unwichtig scheint hierbei das Kind in seiner Gesamtheit mit all seinen Fähigkeiten und Interessen und seinem voranschreitenden Lernprozess zu sein.

Im besagten Normalfall handeln Erwachsene in der Annahme, dass es beim Lernen nicht um Freude oder Interesse, sondern hauptsächlich um Notwendigkeit und Pflicht geht. Darum nämlich, was in der Gesellschaft als erstrebenswert gilt und was nicht. Persönliche Interessen, Fähigkeiten und Individualität werden zu Nebensächlichkeiten, wenn nicht gar als unwichtig abgestempelt.

Es sei denn natürlich, sie treffen mehr oder weniger zufällig mit den Erwartungen der Außenwelt zusammen. Im letzten Fall wird der Druck auf das Kind oftmals noch größer, da nicht nur Zeit, sondern mitunter auch viel Geld investiert wird, die Interessen des Kindes zu fördern.

Nicht selten führt der Zwang aber dazu, dass das Kind mit der Zeit zuerst die Freude und letztendlich auch jede Lust auf das Thema verliert. Die Wünsche aber, die nicht mit den Erwartungen, mit Normen und Richtlinien konform gehen, werden dem Kind unter Aufzählung verschiedenster Gründe ausgeredet:

„Dafür bist du noch zu klein!“,

„Das kannst du später auch noch machen!“ und

„Dazu hast du gar keine Zeit!“ –

was in den meisten Fällen aufgrund von Schulbesuch und damit verbundenen „Notwendigkeiten“ sogar stimmt. Das sind nur die verbreitetsten der vorgebrachten Einwände.

Im Idealfall jedoch ist mit Förderung das Schaffen einer (vorbereiteten) Umgebung gemeint, in der sich das heranwachsende Individuum frei entfalten, seinen Interessen nachgehen und seine Fähigkeiten optimieren kann. In diesem Fall trägt das Umfeld nur so viel dazu bei, als dass es den Lernprozess achtsam begleitet, ihn aber weder forciert noch manipuliert oder kommentiert.

LERNEN MUSS ERST EINMAL GELERNT WERDEN. TATSACHE?

Lernen muss erst einmal gelernt werden. – Wie kommen wir eigentlich auf diese mehr als absurde Idee?

Dass Kinder durch derlei Annahmen zu lernfaulen Individuen abgestempelt werden, fügt sich im Grunde perfekt in das Bild des heranwachsenden Kindes in der Erziehung: Dort gilt das Kind als minderwertiges Mitglied der Gesellschaft, welches durch die Erziehungsarbeit der Erwachsenen zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft werden soll. Wo Erziehung angeblich Vollwertigkeit schafft, lehrt Schule angeblich Lernen, um gebildete, willige Erwachsene hervorzubringen.

Wie das vollbracht wird? Durch Druck, Manipulation und Beurteilung wird unter dem Deckmantel einer notwendigen Förderung dem Kind der Großteil seiner Selbstständigkeit und Eigeninitiative genommen. Was es lernt, ist brav den Mund aufzumachen und sich jene Wissenshäppchen verabreichen zu lassen, welche als wichtig und für sein Alter adäquat gelten.

Permanente Förderung und Forcierung wird als Notwendigkeit dargestellt, um den Entwicklungsprozess des Kindes am Laufen zu halten. Förderung soll das Kind in seiner Entwicklung mehr oder weniger auf Linie bringen und ihm am besten so früh wie möglich bestimmte Lernbereiche näherbringen. Es sind jene, von denen angenommen wird, dass sie von dringender Notwendigkeit für die Entwicklung seien und die auf einer künstlich erschaffenen Werteskala ganz weit oben rangieren. All diese Maßnahmen gelten als wichtig und notwendig, um dem Kind das Lernen zu lehren und ihm die Notwendigkeit vor Augen zu führen, ständig gute Leistung zu erbringen.

Anstatt das gesamte Tun des Kindes als entwicklungsfördernd und somit als Lernen zu sehen und seine Interessen uneingeschränkt wachsen und gedeihen zu lassen, werden nur ganz bestimmte Bereiche als Lernen angesehen und gewertet. Was als Lernen bezeichnet werden kann und was nicht, findet sich in dieser ungeschriebenen Werteskala, die eine fixe Idee des Wesens eines Kindes und die Annahme vermittelt, alle Kinder müssten sich gleich schnell entwickeln und an den gleichen Dingen Interesse haben.

Die angebliche Fördernotwendigkeit schürt natürlich Ängste in den Eltern. Sie wollen nur das Beste für ihr Kind, möchten alles richtig machen und mit allen Mitteln ein Versagen ihrerseits verhindern. Nichts scheint heute mehr so wichtig zu sein wie die permanente Überwachung und Forcierung der Entwicklung des eigenen Kindes. Nichts scheint dringender zu sein, als dem Kind – womöglich bereits im Säuglingsalter – durch etliche Kurse und Maßnahmen einen Platz an einer Eliteschule zu sichern. Das ist ein Umstand, der Eltern natürlich zu leichter Beute für all jene werden lässt, die aus den mit Absicht geschürten Ängsten Profit zu schlagen versuchen. Tragisch, dass unter diesem Bestreben und den Steuerungsversuchen nicht nur die Eltern-Kind-Beziehung leidet, sondern zumeist auch das Kind selbst. Denn seine Individualität in der Entwicklung ist dabei ebenso nebensächlich wie seine Interessen.

FÖRDERWAHNSINN

Du möchtest, dass dein Baby intelligent und zu einem Genie wird? Dann mach etwas dafür! – So oder so ähnlich beginnen zahlreiche Werbeangebote, die Eltern sagen, wie sie den Nachwuchs frühestmöglich fördern sollen.

Es gab eine Zeit, da waren Eltern zufrieden und glücklich damit, dass ihr Baby einfach spielte. Sie waren froh darüber, wenn es sich friedlich auf einer Decke beschäftigte und sie dadurch Zeit für Haushalt und andere Tätigkeiten fanden. Schließlich war doch der Alltag mit Baby stressig genug.

Heute hat sich das geändert. Gegenwärtig gibt es für Eltern ein noch nie dagewesenes Angebot an Fördergruppen und -möglichkeiten. Babys zählen heute zur Hauptzielgruppe der Entwicklungsförderer und befinden sich somit oft bereits wenige Wochen nach der Geburt schon mitten drinnen im Förderwahnsinn. Sie werden animiert, angeregt und mit Programm überschüttet. Sie werden von einem Kurs zum anderen geschleppt und mit angeblich die Entwicklung förderndem Spielzeug überhäuft. Die Fördermöglichkeiten reichen von bewegungsfördernden Maßnahmen über Fremdsprachen bis hin zur Malerei. Alles scheint möglich zu sein. Alles ist möglich. Die Angebotspalette ist ebenso umfangreich (und mitunter widersprüchlich) wie die Erziehungstipps für Eltern.

In Anbetracht all dieser Produkte, Angebote und Kurse darf man sich aber natürlich die Frage stellen, warum wir noch nicht von lauter kleinen Genies und Wunderkindern umgeben sind. Und man darf sich darüber wundern, dass wir selbst überhaupt erwachsen geworden sind und nun trotzdem unser Leben meistern. Schließlich gab es all diese Angebote anno dazumal noch nicht. Unsere Mütter haben sich in Parks, Gemeindezentren oder Wohnzimmern getroffen und über alle möglichen Dinge geplaudert, während wir mit- oder nebeneinander einfach nur gespielt haben. Ohne Animation. Ohne Programm. Einfach so. Und trotzdem haben wir uns weiterentwickelt. Eigentlich erstaunlich, wenn man sich die Punkte anschaut, die Förderung angeblich so notwendig machen.

Man darf sich – in Anbetracht all dieser Angebote – natürlich auch darüber wundern, dass internationale Studien zu Bildungsstandards und Allgemeinbildung immer schlechter ausfallen, statt (wie man eigentlich annehmen sollte, bei all dem Lob auf die ständige und intensive Förderung) immer besser zu werden.

Geht es letztendlich vielleicht auch darum, den Ansprüchen einer Konsumgesellschaft gerecht zu werden und möglichst viel zu konsumieren (für sich selbst und das Baby), um das Elternsein gut und richtig zu machen? Eine Frage, über die es nachzudenken gilt.

Übersehen wird bei all dem Programm – neben den bereits erwähnten Problematiken –, dass viel Animation – vor allem für Babys und Kleinkinder – auch ein Zuviel an Reizen bedeutet. Aufgrund der ständig auf es einströmenden (neuen) Reize findet das Baby kaum Zeit, die Eindrücke in Ruhe zu verarbeiten, wodurch es zu einem immer größeren Spannungsaufbau in ihm kommt. Da ein Baby Anspannung aber nicht so leicht wieder loswerden kann, fällt es ihm auch zusehends schwerer, wieder zur Ruhe zu kommen. Sein Unwohlsein äußert sich in Schlaflosigkeit, Unruhe und Wein- beziehungsweise Schreiattacken, manchmal auch in Stillschwierigkeiten oder körperlichen Symptomen wie Koliken. Reizüberflutung ist einer jener Gründe, warum ein Baby zu einem sogenannten Baby mit starken Bedürfnissen oder Schreibaby werden kann.

Ich möchte nicht behaupten, dass Reizüberflutung der einzige Grund dafür ist, dass die Zahl der sogenannten Schreibabys steigt. Trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass durch die Reduktion der Reize auf ein Minimum und das Schaffen einer gewissen Struktur, welche dem Baby Orientierung bietet, die Situation oftmals erheblich verbessert werden kann.

Und noch etwas geschieht, wenn Babys oder Kleinkinder ständige Animation erfahren. Werden sie permanent unterhalten und bespielt, fehlt ihnen die Zeit, sich selbst kennenzulernen und zu bestaunen. Es fehlt ihnen die Zeit ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten wie auch ihre Umgebung zu erforschen. An stetes Programm und Animation gewöhnt, wird ein Baby schnell unglücklich und unzufrieden, wenn beides auf einmal ausbleibt. Alleine auf einer Decke zu liegen wird dann zu einer gewaltigen Herausforderung für das Baby und natürlich für seine Eltern. Denn auf ständige Animation konditioniert, verlernt es zusehends, sich mit sich selbst zu beschäftigen und Anregung in seiner alltäglichen Umgebung zu finden. Das führt im Endeffekt dazu, dass sich die Eltern dazu getrieben sehen, noch mehr Programm für das Baby zu organisieren – in dem Glauben, es würde sich langweilen.