Geist und Müll - Guillaume Paoli - E-Book

Geist und Müll E-Book

Guillaume Paoli

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Beschreibung

Der Hintergrund ist vorgerutscht. Die Kulisse zur Protagonistin geworden. Die Tatsachen sind bekannt. Sie zu wiederholen, bringt keinen Erkenntnisgewinn. Von Bedeutung bleibt allein, wie man sich zu ihnen verhält. Doch die Welt tut weiter so, als ließen sich die Meldungen vom Artensterben, der Waldvernichtung, den Überflutungen und Hitzetoten zwischen die Nachrichten vom Sport und den letzten Promiskandal schieben. Dieses business as usual zeitigt einen paradoxen Effekt: Nicht nur das Unheil erscheint unwirklich, sondern auch und vor allem der Alltag. Angesichts dessen ist es dringend geboten, Unruhe in die öffentliche Debatte zu bringen und über die Bedingungen der Möglichkeit des Denkens heute zu reflektieren. In den Texten des ermüdenden Fortschrittsglaubens der 1960er- und 1970er-Jahre stößt Paoli bereits auf alles, was es zum Verständnis der Situation braucht. Sein Essay wird so zugleich zu einer Archäologie verdrängter Einsichten, zum Prolegomena einer Wissenschaft vom Müll sowie zu einer rigorosen Verurteilung unserer Gegenwart.

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Guillaume Paoli

GEIST UND MÜLL

Von Denkweisen in postnormalen Zeiten

Inhalt

Vorspann

I. Nach der Ruhe vor dem Sturm

II. Endzeit auf Raten

III. Rückkehr nach Einst

IV. Die Versteppung der Kritik

V. Rudologie des Geistes

VI. Die Erde ist ein unbewohnter Planet

VII. Die Entfremdung schlägt zurück

VIII. Gegen die Anpassung

Anmerkungen

Hellsichtigkeit ist die der Sonneam nächsten gelegene Wunde.

René Char

Kamera läuft. Ein Paar küsst sich. Ein Jogger joggt. Eine alte Dame sitzt auf der Bank. Auf dem Parkplatz unterhält sich eine Gruppe. Meinetwegen über Tagespolitik. Oder Fußball. Und plötzlich platzt etwas auf dem Asphalt. Und noch einmal. Und mehrmals. Wie ein dicker Sommerregen bricht es herein. Vögel. Vögel fallen tot vom Himmel. Hitchcock-Trash. Angewidertes Geschrei. Reflexhafte Zuckungen. Igitt, was ist denn los? Ein Anschlag? Ein Protest? Vom Himmel fallen Vögel, tot. Erschöpft und abgemagert. Zu Hunderten. Zu Tausenden. Bald ist der Boden mit verendeten Piepmätzen übersät. Großes Fragezeichen. Ursache unbekannt. Keine rationalen Erklärungen vorhanden. Unwillkürlich hüllt sich die Panik in metaphysische Schuld. Oder urwüchsige Wut. Fallen vom Himmel tote Vögel. Wie ungehörig. Bisher hatten sie den Takt, außer Sichtweite auszusterben. Wie wildgeworden schreit eine: Vogelfrei, wir sind jetzt vogelfrei! Was können wir denn dafür? Haben sich Drossel, Spatz und Amsel jemals um uns gekümmert? Zwitscherten sie nicht weiter, als auf Schlachtfeldern Menschenleichen verwesten? Vorsicht beim Weglaufen, junger Mann, nicht auf die Viecher treten. Nicht, dass sie uns infizieren. Das hätte noch gefehlt. Wo bleibt das Ordnungsamt? Die Straßenreinigung? Wozu zahlen wir denn Steuern? Die Blicke steigen auf zum leeren Himmel. Was die Götter im Sinn haben, lässt sich nicht erschließen. Die Auspizien sind außer Betrieb. Die Flugbahn der Zugvögel kann nicht mehr in Vorhersagen und Anweisungen übersetzt werden. Was sagen die Auguren, wenn Vögel tot vom Himmel fallen?1

I. NACH DER RUHE VOR DEM STURM

Wer das Richtige zu spät tut, tut doch das Falsche.

Es ist die grausame Ironie dieser Übergangszeit,

dass es so lange weniger schlimm kommt als angekündigt,

bis es schlimmer kommt als befürchtet.

Peter Sloterdijk

1

Das postnormale Wissen2 – Gelegentlich kommt es vor, dass ein Autor von seinem Gegenstand überholt wird. Das kann mir insofern nicht passieren, als mein Gegenstand die Überholung selbst ist. Nur überstürzen sich die Dinge in einem derart atemraubenden Tempo, dass ich die Vergeblichkeit meines Unterfangens nicht ganz ausschließen kann. Möglicherweise findet dieses Buch, wenn gedruckt, gar keine Leser, nicht unbedingt aufgrund seiner Mangelhaftigkeit, sondern weil zum Zeitpunkt des Erscheinens alle mit Lebensmittelsuche, Aufräumarbeiten, Schutz vor Hitze oder Atomstrahlung derart beschäftigt sind, dass sie keine Zeit für Bücher übrig haben, die ohnehin wegen der Papierknappheit und Hyperinflation unerschwinglich geworden sind. Dass ich trotz dieser Eventualität an meinem Projekt festhalte, sei als Zeichen des Optimismus verstanden – oder der Sturheit. Über zwei Jahre sind verstrichen, seitdem ich mit Notizen anfing, ursprünglich in der Absicht, etwas Unruhe in der trügerischen Stille deutscher Publizistik zu stiften. Gerade war Greta Thunbergs Aufruf »I want you to panic!« mit Sarkasmen und scheinheiligen Umarmungen erstickt worden. Noch bereiteten sich die Grünen vor, am Regierungslenkrad zu sitzen und die »Klimakurve« adrett hinzubekommen. Audi und VW entwarfen klimafreundliche Stadtgeländewagen. Ich erlebte nette Talkrunden über die Klimafrage und wie sie mit der sozialen Frage zu verknüpfen sei. Von Beunruhigung keine Spur. Noch wähnten sich die meisten Deutschen in einer Welt, die in Wirklichkeit nicht mehr existierte. Eine stabile, zuverlässige Welt mit vier Jahreszeiten, vollen Supermarktregalen, Urlaubsbuchungen, Karriereplänen und für alle Pannen technische Lösungen. Mich wunderte diese Unaufgeregtheit umso mehr, als in meinem Herkunftsland Frankreich die Vorstellung eines bevorstehenden, nicht genauer dargelegten effondrement* allgegenwärtig war und »Kollapsologie«-Bücher sich wie geschnitten Brot verkauften. Diese Diskrepanz wollte ich untersuchen. Doch kaum hatte ich mich an die Arbeit gemacht, ging es mit der Kalamitätenkaskade los. Pandemie. Lockdown. Überschwemmungen. Trockene Flüsse. Hitzewellen. Stürme. Waldbrände. Schneefreie Berge. Logistische Ausfälle. Missernte. Halbleitermangel. Insektenschwund. Energieknappheit. Krieg. Bald machten Nachrichten nur noch schlecht gelaunt und Natursendungen melancholisch. Selbst für professionelle Gute-Laune-Spender wurde es sehr schwer, die Evidenz weiterhin wegzureden: Nein, keine Katastrophe steht bevor, wir stecken bereits mittendrin. Düstere Zukunftsszenarien sind überflüssig geworden, die düstere Gegenwart reicht schon. Schnell wechselte die allgemeine Stimmung von Zwangsoptimismus zur Schockstarre, in einem potenziell giftigen Mix aus Resignation und Verwirrung. Unter all den Drohungen ist dies die unmittelbarste: Der Verstand hinkt der Wirklichkeit hinterher, und in den Zwischenraum drängen Ängste und Ersatzhandlungen. Dementsprechend weicht also das vorliegende Buch von meinem ursprünglichen Vorhaben ab. Sätze, von denen ich damals fürchtete, sie schienen vielleicht übertrieben, muss ich jetzt als Untertreibungen streichen. Bei jedem neuen Extremphänomen stellte sich die Frage, ob ich alles neu schreiben oder zumindest neu anordnen sollte. Aber das wäre doch zwecklos. Ohnehin werden sich bis zur Veröffentlichung weitere Katastrophen ereignen, darauf kommt es eh nicht an. Lieber das Ganze als ein Nebeneinander chronologisch ungeordneter Gedanken belassen. Das Chaos will doch chaotisch dargestellt werden. Für eine lineare Erzählung fehlt mir, fehlt jedem der Überblick. Ohnehin sind die Tatsachen bekannt. Sie zu wiederholen, bringt keinen Erkenntnisgewinn. Als die Corona-Pandemie anfing, schien manchen die Unterscheidung wichtig, ob jemand »an« oder »mit« dem Virus gestorben sei. Ähnlich schreibe ich nicht über, sondern mit Corona, Klima, Krieg und Krise. Der Geist wird heute vor unerhörte Arbeitsbedingungen gestellt. Es ist unmöglich, über die neue Realität nachzudenken, ohne zugleich auf die Frage einzugehen, wie die neue Realität auf das Denken einwirkt. So verschieden die Gefahren sind, die uns begegnen, eine Gemeinsamkeit haben sie zumindest: Sie sind menschengemacht, obgleich nicht gewollt. Auch das eklatante Versagen des Denkens muss also mitgedacht werden. Zugleich ist Vorsicht gegenüber Theorien geboten, die damit prahlen, radikal mit allen Denkkategorien der Vergangenheit zu brechen. Gerade weil Zukünftigkeit lichtdicht wie noch nie ist, ist ein Rückblick erforderlich, um den Irrweg zu rekonstruieren, der uns zu diesem aussichtslosen Punkt gebracht hat, und Seitenpfade wiederzufinden, die vielleicht auf eine Lichtung führen.

* Zusammenbruch.

2

Entwöhnungsbedürftiges – Die Offenbarung war schon. Wann sie genau eintrat, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Allerdings war sie definitiv angekommen, als 2017 eine Initiative, obwohl außerordentlich, nicht die geringste Überraschung auslöste. Über fünfzehntausend Wissenschaftler aus der ganzen Welt und aus verschiedenen Disziplinen hatten sich zusammengetan, um einen dringenden Aufruf zu unterschreiben: Es bleibe der Menschheit nur noch sehr wenig Zeit, um den alarmierenden Entwicklungen begegnen zu können, die ihren Fortbestand gefährden. Wohlgemerkt: Gemeint war nicht nur die Erwärmung des Weltklimas, sondern auch die Extinktion der Arten, die dramatische Abnahme des Frischwassers, die wachsenden Todeszonen im Ozean, die fortschreitende Abholzung, und, und, und. Der Appell stellte sich als »zweite Warnung an die Menschheit« dar. In der Tat war eine erste bereits veröffentlicht worden, von der Mehrheit der lebenden Wissenschaftsnobelpreisträger unterschrieben, und zwar ein Vierteljahrhundert zuvor. Inzwischen hatte sich nicht nur nichts getan, in allen Bereichen hatte sich die Lage rasant verschlechtert. Dieses Mal hofften die Unterzeichner, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Vergeblich, wie wir heute wissen. Dieses systematische Scheitern ruft gleich mehrere Überlegungen hervor. Mit Sicherheit hätte vor hundert Jahren eine einzige Hiobsbotschaft prominenter Wissenschaftler gereicht, um die ganze Welt in tiefste Unruhe zu versetzen, wahrscheinlich sogar in Panik. Die Warnung wäre jedenfalls nicht ohne praktische Konsequenzen geblieben. Heute ist sie nur eine Kurznachricht wert. Was ist passiert? Wie in der berühmten Parabel des gekochten Frosches scheinen die allermeisten Menschen durch die graduelle Erwärmung im Kochtopf sowie die wiederholten Messberichte davon wie betäubt zu sein. Informiert sind alle, wirklich betroffen fühlt sich niemand. Nur noch wenig Zeit, jaja, wissen wir schon. Eine andere Zukunftserzählung kennen die jüngeren Generationen nicht einmal, sie sind in die Endzeit hineingeboren. Zur fatalen Gewöhnung trägt auch der Status solcher Informationen bei. Die Kunde des fortschreitenden Untergangs wird zwischen tagespolitische Meldungen und Realityshows platziert. Nicht, dass ihnen zu wenig Platz eingeräumt würde, zum Thema gibt es Tagesschwerpunkte und Sondersendungen, zumal Klimaaktivisten dafür sorgen, dass ihre Sorgen nicht untergehen. Vermutlich wäre dies betreffend ein Nachrichtenüberschuss sogar kontraproduktiv. Nein, unfassbar ist vielmehr, dass aus dieser einen allgegenwärtigen Bedrohung ein gesondertes »Thema« gemacht werden kann. Fünf Minuten Apokalypse, und nun zum Sport. Als ob die transzendente Hypothek nicht alle Affekte, Gedanken, Träume und Pläne belasten würde. Die Trennung zwischen Unheil und Alltag wird künstlich aufrechterhalten. Dadurch, und so bin ich meinem Sujet näher, wird nicht nur das Unheil entwirklicht, sondern auch und vor allem der Alltag.

3

Unsternstunden der Menschheit – Ich muss mich zunächst für eine Bezeichnung entscheiden, die meine Absicht am geeignetsten ausdrückt. Worte sind wichtig. Entschieden zurückgewiesen werden zunächst einmal Krise und Katastrophe. Da beide Begriffe aus dem Theater kommen, sind sie dem aristotelischen Prinzip der drei Einheiten unterworfen: Wie auf der Bühne müssen Zeit, Raum und Handlung klar eingegrenzt sein. Eine Ölkrise oder eine Finanzkrise sind aber bloß akute Manifestationen von strukturellen Widersprüchen (der Erdölabhängigkeit, der Bewegung des fiktiven Kapitals), worüber sie jedoch wenig Auskunft geben. So kann getan werden, als ob Krisen bloß behebbare Störungen eines sonst funktionierenden Systems seien. Bei Katastrophen verhält es sich ebenso. Eine Überschwemmung oder ein Waldbrand sind Katastrophen. Wenn sie eintreten, gibt es für Ursachenforschung keine Zeit, Rettungsmaßnahmen kommen vor – doch sobald die Schäden behoben worden sind, kehrt der Alltag wie gehabt zurück. Von Krisen oder Katastrophen in Bezug auf globale, langfristige Prozesse zu sprechen ist also bereits eine Verharmlosung nach dem wohlbekannten Prinzip: Krieg den Symptomen, Friede den Ursachen! Obwohl weniger beruhigend, sind Vokabeln wie Kollaps oder Untergang wiederum allzu deterministisch. In ihnen ist der Schluss der Geschichte bereits vorweggenommen, für alternative Pfade gibt es keinen Platz. Nur: Wenn das Schicksal besiegelt ist, fragt sich schon, wieso noch darüber nachdenken und schreiben, geschweige denn etwas dagegen tun? Andersherum nähren Begriffe wie das Anthropozän oder das »neue klimatische Regime« die Illusion eines Wandels zu einer festen, absturzsicheren Neuzeit. So viel Optimismus ist wiederum wirklich fehl am Platz. Alles in allem ist also keine dieser gängigen Charakterisierungen der gegenwärtigen Situation wirklich brauchbar. Viel eher geben sie Auskunft über den subjektiven Zustand ihrer Benutzer. Ich für meinen Teil suche einen Begriff, der drei Affekte nicht ausschließt: das Entsetzen über das gigantische Scheitern einer ganzen Zivilisation, den Zorn angesichts der verheerenden Konsequenzen sowie die Bockigkeit, sich nicht damit abzufinden. Es fehlt in der deutschen Sprache ein genaues Äquivalent für das englische predicament, eine gefährliche, dauerhafte Lage, der man nur mit großen Schwierigkeiten entkommen kann. Nach reiflicher Überlegung werde ich vorläufig »das Desaster« schreiben. Nicht dass das Wort eindeutiger wäre (Des-aster bedeutet Unstern). Ganz im Gegenteil: Es ist für mein Anliegen unspezifisch genug. Zu oft wird nämlich das Desaster auf die Klimaerwärmung reduziert, als ob diese die Krankheit sei und nicht das Fieber, das auf die Krankheit hinweist. Gewiss verursacht das Fieber selbst furchtbare Schäden, die causa prima ist es jedoch nicht. Ebenso wenig das einzige Symptom. Glaubt man vielen Forschern, ist die Extinktion der Arten noch bedrohlicher als der Klimawandel. Nur kommt sie in den Nachrichten seltener vor, weil sie weniger wahrnehmbar ist, zumindest für Stadtbewohner, deren einzig verbliebener Bezug zur Natur das Wetter ist. Überdies lässt sich mit der Rettung bedrohter Tiere und Pflanzen im Gegensatz zur »Energiewende« kein Geld verdienen. Von einer selektiven Wahrnehmung des Desasters kann hier nicht die Rede sein: Die selektive Wahrnehmung ist Teil des Desasters. Darum ist mir die Ungenauigkeit des Wortes lieb. Es beschränkt sich nicht auf erkannte, lösbare Probleme, sondern schließt das Unfassbare ein. Das Effizienzdenken hat immer nur deshalb funktioniert, weil sämtliche Parameter ignoriert wurden, die ihm im Weg standen. Was scheren einen die »Nichtzielorganismen«, wenn Pestizide den Ertrag von Nutzpflanzen steigern? In der ökosozialen Szene wird gern die Redewendung bemüht, der kommende Wandel werde by design or by disaster geschehen. Übersehen wird dabei, dass das Desaster längst eingetreten ist und das Design dazugehört.

4

Mit dem Denken in nur zwei Wochen aufhören – Zweifelsohne ist der Grund für die Dauerstarre eine maßlose Überforderung. Vor dem Desaster versagt nicht nur die Vorstellungskraft, die Dimensionen sind einfach too big to grasp. Hallo Kontrollturm, wir haben ein Skalierungsproblem! Der Planet, die Menschheit, das Leben – wie können, bezogen auf die individuelle Existenz, solche Begriffe nicht hoffnungslos abstrakt sein? Wenn Wissenschaftler sich »an die Menschheit« wenden, kommt selbstverständlich ihr Schreiben mit dem Vermerk zurück: »unbekannt/verzogen«. Deswegen war ich auch ständig versucht, die vorliegenden Gedankenzüge aufs Abstellgleis zu stellen. Aus Furcht vor Vergeblichkeit und, schlimmer noch, vor Peinlichkeit. Es ist nämlich unmöglich, über disproportionale Dinge ohne disproportionale Worte zu sprechen. Es fragt sich also, ob der alte, ironisch gemeinte Ratschlag »Werde endlich Nichtdenker!« nicht doch ernst zu nehmen wäre. Natürlich nicht ganz. Aber wäre es nicht zumindest weise, über Themen nicht mehr zu grübeln, gegenüber denen man sowieso machtlos ist? Selig sind die Vorstellungsarmen. Was soll die Selbstqual? Besser sich greifbaren Vorhaben widmen, die immerhin kleine Verbesserungen ermöglichen. Lieber sich an Sonnenschein und Vogelsang erfreuen, als an Extremtemperatur und Vogelsterben zu verzweifeln. Beneidenswert unsere Vorfahren, die in aller Ruhe und ohne Gewissensbisse ihre Umwelt kaputtmachen durften. Die Wahl zwischen unwissend und unglücklich ist ein alter literarischer Topos, nur: Diese Wahl ist uns nicht vergönnt. Alle wissen bereits Bescheid. Steht einmal die Erkenntnis im Raum, heißt die einzig mögliche Alternative zum Denken: verdrängen. Nur wie wir aus der Psychoanalyse wissen, sind verdrängte Tatsachen nicht verschwunden. Sie agieren unbewusst weiter. Und sie gebären Monster. Angesichts der faden Produktionen der Unterhaltungsindustrie, der leidenschaftslosen Talkrunden, der inhaltsleeren Aggressivität in antisozialen Netzwerken, dem bipolaren Wechselbad von übertriebenem Enthusiasmus und depressiven Anfällen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Verdrängung der fundamentalen Unruhe nicht ganz geglückt sei. Der unterdrückte Gegenstand ist als Phantom allgegenwärtig. Gewiss kann Nicht-Verdrängen ebenfalls eine zwanghafte Form annehmen, eine noch schädlichere sogar. Geholfen ist mit apokalyptischer Besessenheit und Vernichtungsängsten niemandem. Aber selbst wenn sich schließlich herausstellen würde, dass das bewusste Ignorieren des Desasters von Vorteil sei, kann das nur das Ergebnis eines Denkprozesses sein, kontrollierte Verdrängung also und keine blinde, vergebliche Flucht nach vorn.

5

Von der einfachen und der sekundären Verdrängung – Die erstbeste Art, Realität auszuweichen, ist die schlichte Verneinung. Es gebe keine menschengemachte Klimaerwärmung, es gebe keine Pandemie, es gebe gar kein Problem, das Leben gehe wie gehabt weiter. Die Leugnung hat einen Vorteil: Sie ist mit jener ökonomischen Denkart konsistent, in der Endlichkeit jeder Art, das Versiegen von Rohstoffen etwa, prinzipiell ausgeschlossen wird. Nur hat sie auch eine Schattenseite. Es muss nämlich erklärbar gemacht werden, wieso das Geleugnete von Forschungsergebnissen wie vom Common Sense bestätigt wird. Da muss eine Verschwörungserzählung her, so in etwa: Eine unheilige Allianz von profilierungssüchtigen Wissenschaftlern und apokalyptischen Revoluzzern hat die Meinungshoheit erobert, um die Grundpfeiler der Zivilisation zu unterminieren. Die Story muss nicht ganz überzeugend sein, sie versucht nicht einmal, hegemonial zu werden. Es reicht, wenn damit ein Verdachtsmoment gesät wird. Dann steht Erzählung gegen Erzählung, Meinung gegen Meinung, und keine endgültige Entscheidung wird getroffen. Bekanntermaßen wurde auf diese Weise die Leugnung der anthropogenen Erderwärmung jahrzehntelang von der Erdölindustrie finanziert und von gewissenlosen Publizisten propagiert. Verneiner wollen nur Zeit gewinnen, Reaktionen so lange verschieben, bis es für andere Lösungen zu spät ist als die, die sie parat haben. Zum Beispiel werden die geplanten, irreversiblen Eingriffe des Geo-Engineerings in die Erdatmosphäre nur als letzte Chance zugelassen. Also muss die Realität der Klimaerhitzung so lange geleugnet werden, bis nur noch die eine Notlösung bleibt. Wie man sieht, sind die Mechanismen der Verneinung ziemlich grob; es sind, könnte man sagen, aufrichtige Lügen. Raffinierter ist jene sekundäre Form der Verdrängung, die der Philosoph Günther Anders »Verniedlichung des Entsetzlichen« nannte. Hier wird das Desaster keineswegs geleugnet, es wird sogar dramatisch überhöht, nach dem Motto: »Es bleiben nur noch zehn Jahre, um die Welt zu retten!« Indes wird das Ausmaß des Desasters sukzessiv verkleinert, zunächst wie schon angesprochen auf die Klimakrise, dann quantitativ auf die CO2-Emissionen, dann auf die Energiewende, bis schließlich die Weltrettung an einem Wahlzettel und dem Kauf eines Elektrorollers hängt. Die sekundäre Verdrängung besteht also darin, das Desaster in einem ersten Schritt anzuerkennen, um es dann in sein Gegenteil umzudeuten. Zwischen Verneinern und Bagatellisierern werden nur Scheingefechte geliefert. In Wahrheit sind beide Optionen komplementär. Sie nähren sich jeweils aus den Widersprüchen der anderen, zwingen alle, sich entweder für die eine oder die andere zu erklären, und verhindern damit jede genuin kritische Position. Gewiss wird es zunehmend schwierig, Tatsachen ganz zu leugnen, die immer offensichtlicher sind. Gleichwohl wird das Versprechen eines sanften, kontrollierten Wandels immer unglaubwürdiger. Dennoch ist die Verknappung der herkömmlichen Verdrängungsmittel nicht unbedingt eine gute Nachricht. Dadurch mögen sich auch gröbere, aggressivere Verdrängungsvarianten entwickeln.

6

Das neue deutsche Wunder – In den frühen 1980er-Jahren war die BRD von einem Grundgefühl geprägt, das sich in andere Sprachen nur schwer übersetzen lässt: Endzeitstimmung. Das ist lange her, hat aber einen negativen Vorbehalt hinterlassen. In Umkehrung zu damals dominiert heute in Deutschland die Angst vor German Angst. Mit landestypischer Gründlichkeit wird am sachlich-coolen Erscheinungsbild gearbeitet. Vergessen der Kulturpessimismus, vergessen die Fundis, und vor lauter Schmunzeln über die »Waldsterben-Hysterie« von einst sieht keiner, dass der Wald heute tatsächlich stirbt. Gefeiert wird stattdessen die Versöhnung von Industrie und gutem Gewissen, die Fortsetzung des Modernisierungsprojekts mit saubereren Mitteln. Der Feind ist identifiziert: fossile Konservative, die an fossilen Energien hängen. Mit der Verheißung der marktkonformen Kehrtwende werden progressive Menschen von der traurigen Vorstellung erlöst, an ihrer Lebensweise müsse sich etwas Substanzielles ändern. Der Weg zur Tugend ist mit Klimakochen, virtuellen Konferenzen und Emissionszertifikaten gepflastert. Dank des Umstiegs auf Elektro bleibt Deutschland führende Autonation und rettet obendrein die Welt. Da dieser Modus der Verdrängung auf allen Kanälen propagiert wird, sei hier kurz dargestellt, was dabei unter den Teppich gefegt wird. Zunächst ist die Behauptung leichtsinnig, die Einhaltung einer bestimmten Emissionsgrenze würde reichen, um ein heterogenes Problembündel mit unvorhersehbaren Rückkopplungen ganz aus der Welt zu schaffen. Ohnehin ist das stolze Ziel einer 1,5-Grad-Erwärmungsgrenze bereits verfehlt. Ferner ist der Begriff Energiewende irreführend. Die Geschichte zeigt, dass es keinen »Übergang« von Holz zu Kohle und von Kohle zu Erdöl gab, sondern eine Beimengung. Niemals hat eine Energiequelle die andere ersetzt, sie kam zu ihr hinzu. Selbst wenn der Verbrennungsmotor Geschichte würde, wird immer mehr Plastik hergestellt und zu diesem Zweck mehr Erdöl gefördert. Wind und Sonne werden nicht reichen, um den explodierenden Strombedarf zu decken, den ein genereller Umstieg auf Elektro verursachen würde. Doch selbst wenn eine solche Transition vollbracht werden sollte: Es gibt auch dann noch keine saubere Energie. Um erneuerbare Energie zu gewinnen, zu speichern und zu verteilen, sind Abermillionen Tonnen Kupfer, Blei, Zink, Aluminium, Silber, Lithium, Kobalt und weitere seltene Rohstoffe erforderlich. Pech für den globalen Süden, wo sich all diese Vorkommen befinden. Dort hieße der Green New Deal: mehr gigantische Bergwerke, gerodete Wälder, toxische Abfallhalden und vergiftetes Grundwasser. Kapitalismus 2.0. ist nicht grün.3 Ganz wie der alte, fossile Kapitalismus ist er ein Chamäleon, das opportunistisch die Farbe wechselt. Fortgesetzt werden so genau die Entwicklungen, die zur jetzigen Lage geführt haben, Neokolonialismus und Massenflucht eingeschlossen. Und schließlich bleibt, selbst wenn technische Lösungen theoretisch machbar sind, die Frage ihrer politischen Durchsetzung. Die Zeit wird knapp. Doch beim üblichen Tempo der Verhandlungen und Kompromissfindungen würde die Erzielung eines guten Ergebnisses wohl einige Jahrhunderte benötigen. Hinzu kommt das Kräfteverhältnis. Welche Regierung würde sich mit Wirtschaftslobbys und mächtigen Kapitaleigentümern anlegen? Es ist verständlich, dass solche Einwände lieber überhört werden. Wer in einem abstürzenden Flugzeug sitzt, will hoffen, dass der Pilot gefasst bleibt und alle Hebel und Geräte bedient, um die Notlandung zu versuchen. Nur hinkt der Vergleich. Hier kämpft man nicht mit defekter Technik, sondern mit schädlichen sozialen Verhältnissen.

7

Falsche Fußstapfen – Die Überforderung versucht mehr oder minder jeder, mit kleinen umweltschonenden Gesten und Verzichten einigermaßen wettzumachen. So ehrenwert die Sorge um die eigene Ökobilanz ist, überwiegt dabei der Eindruck, einen Flächenbrand mit einem Teelöffel löschen zu wollen. Trotz allem will man hoffen, dass ein Mensch plus ein Mensch plus ein Mensch in der Gesamtwirkung ihrer Einzelinitiativen das Schlimmste verhindern können. Die Vorstellung ergibt sich aus der Metapher des ökologischen Fußabdrucks, wodurch einem unsichtbaren Prozess die anschauliche Gestalt eines Menschenkörpers verliehen wird. Leider kommen diesbezügliche Untersuchungen zu anderen Ergebnissen.4 Selbst wenn die Weltbevölkerung ausschließlich aus ökologischen Helden bestünde (sprich Menschen, die gar kein Fleisch essen, nur Lokalprodukte und Gebrauchtwaren kaufen, wenig heizen, niemals fliegen, entweder mit dem Rad oder mit Carsharing fahren würden usw.), ergäbe sich daraus im Endeffekt eine Emissionssenkung von lediglich fünfundzwanzig Prozent; zu wenig also, um die vorgegebenen »Klimaziele« zu erreichen. Und natürlich werden sich niemals alle Erdbewohner gleich heroisch auf ökologischen Zehenspitzen fortbewegen wollen oder können. Die Erklärung für diesen auf den ersten Blick deprimierenden Befund ist, dass Hauptverursacher für das Desaster nicht so sehr das Individuum oder die Summe der Individuen ist, geschweige denn »die Menschheit«. Verursacher sind vielmehr die Infrastrukturen, Systeme, institutionelle wie räumliche Konfigurationen, die zwar »menschlichen Ursprungs« sind, doch unabhängig davon funktionieren, ob ich sie sparsam in Anspruch nehme oder nicht. Obwohl das Bild des Fußabdrucks hier nur im sehr übertragenen Sinne gilt, müsste das Augenmerk anstatt auf Einzelmenschen auf die glatt hundert Konzerne gerichtet werden, die für drei Viertel aller Treibhausgasemissionen der Welt verantwortlich sind. Dieser Perspektivenwechsel würde übrigens auch die bequemen Selbsttäuschungen offenbaren, durch die zum Beispiel der Flugverkehr (zu Recht) verdammt, dafür der Online-Verkehr reingewaschen wird, obwohl Letzterer der klimaschädlichere ist. Die Abwesenheit von sichtbarem Schmutz wird für Sauberkeit gehalten, und die sichtbaren Fußspuren müssen für den eigentlichen Verschmutzungsgrund einstehen.

8

Die Wirsager – Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebte in Deutschland ein heute vergessener, zu seinen Lebzeiten jedoch erfolgreicher Meinungshändler namens Ingar-Armin Blech. Ganz locker und imagebewusst saß der langhaarige Blech in allen möglichen Talkshows, um, so seine Gastgeber, »provokante Thesen« zu äußern. Entsprechend zugeschneidert waren die Bestseller, die er jedes halbe Jahr auf den Büchermarkt warf: Kurze Sätze, keine komplizierte Vokabel, allgemeinverständliche Gedanken, die entweder dem gesunden Menschenverstand entstammten oder komplexe Ideen anderer Denker extrem vereinfachten. Doch war sein Erfolgsrezept ein anderes. Ohne dass seine Leser und Zuhörer es wahrnahmen, kreisten all seine Aussagen um einen Fixpunkt, nämlich das Personalpronomen Wir. Ganz gleich, was das Thema war, es wirte furchtbar bei Blech. Wir haben. Wir sind. Wir sollen. Wir müssen. Wir werden. Welche Menschenansammlung genau gemeint war? Die ganze Menschheit? Die Deutschen? Das Bildungsbürgertum? Seine Zuschauer und Buchkäufer? Es blieb unausgesprochen. Ein schmeichelhafter Trick. So konnte sich jeder mitgenommen fühlen, ja sich ohne große Anstrengung einbilden, er gehöre einer aufgeklärten Geistesgemeinde an. Unbemerkt blieb indes, dass gerade die postulierte Existenz eines Kollektivsubjekts die zentrale Botschaft war. Egal, worum es augenscheinlich ging, Hauptsache, es konnte gesagt werden: Wir packen es gemeinsam an. Da der Kniff so gut funktionierte, wurde er bald von unzähligen Blech-Klonen nachgeahmt. Mittlerweile heißen über die Hälfte aller Sachbücher »Wie wir …« – wahlweise dann: denken, lieben, hassen, das Richtige tun, ein besseres Deutschland schaffen. Wie wir unsere Wirtschaft oder unseren Planeten oder uns vor dem Kapitalismus retten. Wie wir die Welt verändern, die Kontrolle verlieren, den Kollaps überleben, uns auf das Sterben einstellen. Ganz gleich, wie originell oder platt die Inhalte solcher Ratgeber sind, durch den übermäßigen Gebrauch der unbestimmten ersten Person Plural werden sie automatisch verfälscht und entleert. Das Einzige, was uns verbindet, ist gerade das Unvermögen, ein handlungsfähiges, souveränes Kollektivsubjekt zu sein. Ehrbar ist die Sehnsucht nach dem Wir, edel der Versuch, es zu verwirklichen (solange es nicht gegen ein essenzialistisches Feindbild des »anderen« konstruiert wird). Ein erster, notwendiger Schritt in diese Richtung ist allerdings die Einsicht, dass kein Wir vorhanden ist, es sei denn als Projekt. Bereits ein Liebespaar weiß, wie schwierig es ist, ohne zu lügen mit einer Stimme zu sprechen. Und da soll ein planetarisches Wir die Wirtschaft, das Klima und die Welt retten? Ach, wenn nur alle sich die Hand reichen würden. Imagine all the people. Alle Menschen werden Brüder. Nie wieder Krieg. Das Lied ist so alt wie die Frage, die sich daraus ergibt: Warum geschieht das denn nie und niemals? Oder anders gefragt: Warum sind Menschen, wenn man sie einzeln trifft, in der Regel einfühlsamer und gescheiter als das Menschenkollektiv? Eigentlich wurde die Soziologie begründet, um genau diese Frage zu beantworten (und nicht, von der »Singularisierung des Sozialen« zu faseln). Eine Gesellschaft ergibt sich eben nicht aus der Summe ihrer Mitglieder. Sie besteht aus Institutionen und Systemen, die gewisse Dinge ermöglichen, andere verhindern, Individuen einer bestimmten Funktion zuweisen, die ihre Handlungen bestimmt – und sie ausstoßen, sobald sie sich über ihre Funktion hinwegsetzen. Zur Lösung des Rätsels, was das Ganze zusammenhält, sind seit Étienne de La Boéties Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft wenig Fortschritte gemacht worden.

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Kapitalozän – Sind auch meine linken Freunde in einem Verdrängungsprozess gefangen? Von ihnen wird das Desaster zumindest weder geleugnet noch kleingeredet. Sie sind darauf bedacht, Ursachen und Verursacher möglichst genau zu benennen, anstatt die Schuld einem abstrakten Menschengeschlecht zuzuschieben. Lassen nicht soziale Ungleichheiten hinter einem »Wir« verschwinden. Dennoch passiert etwas Sonderbares. Wir sind bei einem Treffen mit der Überschrift »Kapitalozän« – kein besonders glückliches Wort, immerhin ein brauchbarer Kampfbegriff der pseudoneutralen Bezeichnung Anthropozän gegenüber. Gekonnt referiert der US-amerikanische Historiker Jason W. Moore über die Genealogie des Desasters in ihrer ökologisch-wirtschaftlich-sozialen Verwobenheit. Alle sind sich darüber einig, dass das Ziel, hieße es auch Sozialismus, Feminismus oder Anarchismus, durch das Präfix Öko- aufgefrischt werden muss. Die linksemanzipatorische Perspektive wird also auf die Biosphäre erweitert, dabei wird die ökologische Herausforderung zugleich als Bestätigung wahrgenommen, dass die besagte Perspektive schon immer die richtige war. An diesem Punkt aber verzweigen sich die denkbaren Wege, die über den kapitalistischen Horizont führen sollen. Also wird einmal wieder über die richtige Strategie gestritten. Partei oder Bewegung? Soziale Bündnisse oder Klassenstandpunkt? Zivilungehorsam oder Gewalt? Die Argumente sind einem vertraut, im Grunde haben sie sich in den letzten hundert Jahren kaum verändert. Und genau das ist das Merkwürdige: Die Diskussion wäre nicht anders gelaufen, hätte es kein ökologisches Desaster gegeben. Das radikal Neue entschwindet hinter den Grundsatzdebatten, Flügelkämpfen und Spaltungen, die das linke Wesen seit jeher ausmachen. Angesichts der Dringlichkeit des Augenblicks muten solche Auseinandersetzungen an wie ein Ritual aus anderen Zeiten. Das Projekt der Linken – zumindest der Besten unter ihnen – war schon immer, die Geschichte in die eigene Hand zu nehmen. Aber »Kapitalozän« bedeutet doch, dass die Geschichte zur Naturgewalt mutiert ist. Außergeschichtliche Prozesse gewinnen die Oberhand, die sich nicht steuern lassen, irreversibel sind und keinen geduldigen Aufbau zulassen. Das ist für Linke eine schwer zu überwindende Kränkung: Nicht nur ist wie bisher angenommen das kapitalistische System auf eine unüberschreitbare Frist terminiert, auch für alternative Gesellschaftsentwürfe gibt es ein unbestimmtes Enddatum. Das mag eine Erklärung sein für die schwindende Aufmerksamkeit, die mitten im Desaster linke Positionen bekommen.

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Es lebe die Gegeninvolution! – In Anbetracht der radikalen Maßnahmen, die laut Fachmenschen erforderlich sind, um das Desaster zumindest in Grenzen zu halten; in Anbetracht der Macht der Konzerne und Lobbys, die zu allem bereit sind, um solche Maßnahmen zu blockieren; in Anbetracht der Regierungen und politischen Instanzen, die zumindest in ihrer jetzigen Zusammensetzung weder willig noch fähig sind, besagten Konzernen und Lobbys die Stirn zu bieten; in Anbetracht der Leitmedien wie der fragmentierten Öffentlichkeit, die den erforderlichen Druck auf Konzerne, Lobbys, Regierungen und politische Instanzen hemmen; in Anbetracht des Gesinnungswandels, der für die Überwindung oben erwähnter Hindernisse erfolgen muss; in Anbetracht der Dringlichkeit, die keinen geduldigen, allmählichen Übergang zulässt, in Anbetracht all dessen wäre die einzige denkbare Lösung – scheuen wir das Wort nicht: eine Revolution. Und kaum ausgesprochen, wird die Lösung zum Problem. Selbst Linke trauen sich heute nicht mehr, das R-Wort laut auszusprechen. Damit sind Scheußlichkeiten verbunden, Polizeiterror, Parteidiktatur, inkompetente Bürokratie, die freilich mit der ursprünglichen Idee nichts gemein hatten, sie jedoch für sich beanspruchen konnten. Darum übt man sich in salonfähigen Euphemismen wie »Paradigmenwechsel«, »Kehrtwende« oder »radikaler Wandel«. Jeder kennt die alte Leier: Wer mit zwanzig nicht revolutionär war, hat kein Herz, wer es mit vierzig noch ist, hat keinen Verstand. Dazwischen führe der lange Marsch vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip. Von den Jusos zum Kanzleramt. Zum langwierigen langweiligen Bohren dicker Bretter. Zum Sich-Abfinden mit dem kleineren Übel. Vielen Zeitgenossen ist es nicht bewusst, aber die lange Gegenwart, die vor etwa einem halben Jahrhundert einsetzte, ist die erste Epoche seit Ende des Mittelalters, die mit keinem großen revolutionären Begehren schwanger geht.5 In der Regel wird das als Fortschritt gefeiert. Nur Pech, dass gerade in derselben Zeitspanne das, was bisher für Fortschritt gehalten worden war, sich als Wettrennen in den Abgrund entpuppte. Kaum stand die Hausordnung unumstritten fest, begann die ganze Bude zu zerbröckeln. Wie in Andersens Märchen brauchte es ein skandinavisches Schulkind, um laut zu sagen, was die Erwachsenen so rational und unaufgeregt verdrängten: »Ihr sprecht nur darüber, mit denselben schlechten Ideen weiterzumachen, die uns in dieses Chaos gebracht haben, wobei das einzig Vernünftige wäre, die Notbremse zu ziehen!« Vermutlich war Greta Thunberg nicht bewusst, dass der Griff nach der Notbremse Walter Benjamins Allegorie der Revolution war. Selbstverständlich hat heute kein Mensch den leisesten Schimmer, wie die Umwälzung auszusehen hätte, welche Kräfte sich dafür bündeln müssten, und vor allem wie eine blutige Niederlage abgewendet werden könnte. Zum Glück hat niemand einen Plan, muss dazugesagt werden, denn entsprechende Pläne sind stets gescheitert. Der Hauptgrund, weshalb kein Mensch an eine Revolution wirklich glaubt, ist die Gewissheit, dass niemand an eine Revolution wirklich glaubt. Gegen diese subjektive Schranke stößt jedoch die objektive Notwendigkeit, Maßnahmen zu ergreifen, die eine völlige Umwandlung der Weltgesellschaft voraussetzen. Wir stehen also vor dem paradoxen Umstand, dass eine Revolution sowohl unmöglich als auch unabdinglich ist. Das ist die Tragödie der Gegenwart. Sie lässt sich auch andersherum formulieren. Immer lautete das konservative Prinzip: Man kann die Dinge nicht ändern, es sei denn zum Schlechteren. Was aber wird aus diesem Prinzip, wenn die Dinge sich selbst zum Schlechteren ändern? Im Unterschied zu früheren Epochen, sagte bereits Albert Camus 1957 in seiner Nobelpreisrede, kann unsere Aufgabe nicht mehr sein, die Welt neu zu erbauen; »sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern«. Eine Selbstzerstörungsmaschine von ihrem Zweck abzuhalten, setzt aber einen kompletten Umbau der Maschine voraus. Ein – zumindest gedanklicher – Ausweg aus der Zwickmühle wäre vielleicht, auf eine positive Definition von Revolution zu verzichten, um stattdessen zu fragen: Wie heißt heute die Alternative? Nicht mehr Reform, und auch nicht Reaktion. Die Erhaltung des Status quo erst recht nicht. Die Alternative zur Revolution ist die Involution. Nicht zufällig kommt das Schlagwort in seiner aktuellen Bedeutung aus China (neijuan heißt es dort), um ein weit verbreitetes Gefühl zu beschreiben: Alle stecken in einem Hamsterrad fest, in einem immer weiter auszehrenden Wettbewerb ohne Gewinner.6 Involution ist Wachstum ohne Fortschritt, Nullsummenspiel mit eliminatorischem Ausgang, Zerreibung der Gesellschaft und Zermürbung der Individuen. In diesem Sinne kann ein Ausweg nur im Bündnis aller gegeninvolutionären Kräfte gefunden werden.

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Live-Übertragung – Ich war bereits mit dem vorliegenden Themenkomplex beschäftigt, als die Covid-Pandemie ausbrach, die sowohl die praktischen Bedingungen als auch den Inhalt meines Vorhabens veränderte. Zweifellos gehört die sogenannte Corona-Krise zu dem allgemeinen Desaster in dem Sinne, wie ich es zu umreißen versuche. Nicht minder als für die Klimaerwärmung ist die Ursache eine menschengemachte. Ein Virus gehört zur Natur, eine Pandemie nicht. Mit der Verdrängung wilder Habitate (plus Massentierhaltung plus »Gain-of-function«-Laborexperimente) wächst die Wahrscheinlichkeit infektiöser Übertragungen. Wie die Grenze von Tier zu Mensch übersprungen wird, so auch die Grenze zwischen Lokalem und Globalem. Die allgemeine Vernetzung und die Beschleunigung des Verkehrs schaffen die idealen Voraussetzungen für eine planetare Verseuchung. Der wichtigste Punkt ist jedoch ein anderer. Eine Pandemie, das hat uns diese Erfahrung gelehrt, lässt sich nicht auf den hygienischen Aspekt reduzieren. Sie entpuppt sich als »totale soziale Tatsache« in dem von Marcel Mauss definierten Sinne: In ihr sind medizinische wie massenpsychologische, wirtschaftliche und politische Aspekte ineinander verwoben. Das Pandemie-Management hat einen fundamentalen Widerspruch zutage gelegt, der die Weltgesellschaft noch lange beschäftigen wird. Wenn nämlich Menschen wie Schafe behandelt werden könnten, dann wäre das Eindämmungsverfahren ganz einfach: Entweder wird auf die Immunität der Herde gesetzt, oder jedes Einzelne wird in seinem Stall eingesperrt, bis die Gefahr gebannt ist. Freilich muss es auch gefüttert werden, weshalb zur »Zero-Covid«-Strategie die linke Forderung eines staatlich finanzierten Einkommens erhoben wurde. Die Überlegung war: Lieber ein kurzer, kompletter Stillstand als ein sich ewig dahinschleppendes Elend. Nur unterscheidet sich der Mensch vom Schaf dadurch, dass er mehr oder weniger mit Willensfreiheit ausgestattet ist. Das heißt, dass er zum harten Shutdown entweder überredet oder gezwungen werden muss. Zero-Covid hätte von einer massiven Propagandakampagne plus polizeilichen Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen gegen Aufsässige begleitet werden müssen, zumal Letztere nicht nur sich selbst gefährdeten, sie hätten auch andere anstecken können. So hätte sich das merkwürdige Triptychon etabliert: Solidarität, Sicherheit, Diktatur (zumindest temporär, obschon zu jedem epidemischen Geschehen wieder abrufbar). Doch ebenso bizarr war die Orwell’sche Gegenparole US-amerikanischer Reaktionäre: Social distancing is communism! Selbstredend kristallisierte sich die Gegenseite um die Forderung nach »Freiheit«, wobei alle Ambivalenzen miteinbezogen wurden, die der Begriff aufweisen kann: bürgerliche Freiheit gegen staatliche Eingriffe, Wirtschaftsfreiheit gegen Notstandsregeln, egoistische Freiheit gegen das Gemeinwohl, schließlich die Freiheit, gegen die »Gesundheitsdiktatur« den Massentod in Kauf zu nehmen.