Gemeinsames Gebet -  - E-Book

Gemeinsames Gebet E-Book

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Beschreibung

Der Gottesdienst der im Namen Jesu Christi versammelten Gemeinde ist gemeinsames Beten. Dieses gemeinsame Beten hat immer eine Form und entfaltet immer eine Wirkung. Was macht aber die Form der Liturgie aus und worin besteht ihre Wirkung? In welcher Weise ist gemeinsam gefeierter Gottesdienst auf lange Sicht formativ für das Leben des oder der Einzelnen, der Gemeinde, der ganzen Kirche? Diese zentralen Fragen der Liturgik werden in den Beiträgen dieses Bandes im Dialog der verschiedenen konfessionellen Traditionen diskutiert. Vertreten ist unter anderem auch die Anglikanische Kirchengemeinschaft, die 2012 das dreihundertfünfzigste Jubiläum ihrer Agende, des "Book of Common Prayer", feierte.

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Praktische Theologie im reformierten Kontext

herausgegeben von Albrecht Grözinger, Gerrit Immink, Ralph Kunz, Andreas Marti, Christoph Morgenthaler, Félix Moser, Isabelle Noth, David Plüss und Thomas Schlag.

Band 9 – 2013

Die Reihe »Praktische Theologie im reformierten Kontext« versammelt Arbeiten aus der praktisch-theologischen Forschung, die in der konfessionellen Kultur der Reformierten verankert sind. er reformierte Kontext ist einerseits Gegenstand empirischer Wahrnehmung und kritischer Reflexion und andererseits das orientierende Erbe, aus dem Impulse für die zukünftige Gestaltung der religiösen Lebenspraxis gewonnen werden. Er bildet den Hintergrund der kirchlichen Handlungsfelder, prägt aber auch gesellschaftliche Dimensionen und individuelle Ausprägungen der Religionspraxis.

Luca Baschera, Angela Berlis, Ralph Kunz (Hg.)

Gemeinsames Gebet

Form und Wirkung des Gottesdienstes

TVZ Theologischer Verlag Zürich

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich, unter Verwendung einer Fotografie von Andreas Hoffmann (Ausschnitt) aus der Serie «Krethi & Plethi. Christliches und Nachchristliches in Zürich», 1999 © Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich und Katholische Kirche im Kanton Zürich

ISBN 978-3-290-17758-4 (Buch) ISBN 978-3-290-17229-9 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2014 Theologischer Verlag Zürichwww.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Titel

Inhalt

Vorwort

Luca Baschera, Ralph Kunz: Der Gottesdienst der Kirche im Widerspiel von formativem und expressivem liturgischem Handeln

Alexander Deeg: Der evangelische Gottesdienst als gemeinsames Gebet

Bernd Wannenwetsch: Die Widerständigkeit des Gottesdienstes am Beispiel der Lesungen

David Plüss: Die Musik liturgischer Bildung

Gottfried Wilhelm Locher, Frank Mathwig: Liturgie als Heimat?

Bruno Bürki: Die Form des reformierten Gottesdienstes

David Holeton: Lex orandi, lex credendi in Anglican Formation

Paul Avis: The Book of Common Prayer and Anglicanism

Thomas Roscher, Holger Eschmann: Der evangelisch-methodistische Gottesdienst zwischen Tradition und Erneuerung

Mattijs Ploeger: Kirchlichkeit, Gebundenheit und Freiheit der Liturgie in altkatholischer Sicht

Angela Berlis: Das missionarische Potenzial der Liturgie

Verzeichnis der Beitragenden

Fußnoten

Seitenverzeichnis

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Vorwort

«Eine Kirche schafft sich keine Liturgie an, so wie sie sich eine Orgel anschafft, sondern sie tritt in einem bestimmten Augenblick in den Gottesdienst der Kirche ein.»

Gerardus van der Leeuw

Überall dort, wo Gottesdienst gefeiert wird, geschieht dies auf der Grundlage einer gegebenen Liturgie. Die Liturgie einer Kirche ist allerdings keine statische Größe, sondern das Resultat einer geschichtlichen Entwicklung, die als solche nie abgeschlossen ist. Mit anderen Worten: Liturgie lebt im Horizont der Tradition und wird weiter tradiert.

Dies bedeutet einerseits, dass keine liturgische Form eine ein für alle Mal gültige Gestalt hat. Was tradiert werden kann, muss reformierbar bleiben. Andererseits wird aber deutlich, dass liturgische Formen auch nicht das Resultat einer vermeintlich «freien» Gestaltung durch Individuen und Gemeinschaften sein können. Ein solches Verständnis würde dem Phänomen «Liturgie» ebenfalls nicht gerecht. Denn, wie das oben angeführte Zitat aus Gerardus van der Leeuws Liturgiek (Nijkerk, 21946) betont: Liturgie wird nicht «angeschafft». Sie ist kein Gegenstand, der hergestellt oder erworben werden kann. Wenn mit liturgischen Fragen im Sinne einer traditionsvergessenen «Gestaltungsfreiheit» umgegangen wird, kann man daher nur auf Irr- und Holzwege geraten.

Jegliche Frage nach Liturgiereform muss somit die Tradition berücksichtigen. Aber von welcher «Tradition» ist hier die Rede? Ist der Usus einer Konfession, einer Territorial- oder diözesanen Ortskirche oder gar die gewohnte Gottesdienstfeier einer lokalen Gemeinde gemeint? Bliebe man auf einer dieser Ebenen stehen, hätte man zwar den Vorteil einer historischen Verortung. Wer so ansetzt, setzt sich aber umso mehr der Gefahr eines «musealen» und sich seiner Vereinzelung im Gesamt der Überlieferung nicht bewussten Umgangs mit der Geschichte der Liturgie aus. Ein rein historisches Verständnis dessen, was überliefert ist, verlangt, nicht zu schnell mit den alten Gewohnheiten und Usancen – wie sich diese auf lokaler, landeskirchlicher, diözesaner oder konfessioneller Ebene ergeben haben – zu brechen.

Gerardus van der Leeuw schlägt ein anderes Verständnis von Tradition vor. Wir halten es für verheißungsvoller. Seine Pointe wird durch die Setzung des unbestimmten und bestimmten Artikels noch schärfer. Er sagt, dass eine Kirche, wenn sie Gottesdienst feiert, in den Gottesdienst der Kirche eintritt. Damit wird zweierlei deutlich: Erstens geht die Tradition, auf die man sich in liturgischen Fragen beziehen sollte, über die lokale, landeskirchliche oder diözesane und auch |8| konfessionelle Ebene hinaus. Gottesdienst kann nur im Horizont des Gottesdienstes der una, sancta, catholica et apostolica ecclesia gefeiert werden. Es geht also nicht in erster Linie um die Pflege bestimmter Gewohnheiten, sondern im Horizont der liturgischen Geschichte der gesamten Kirche Jesu Christi um einen kritischen Blick auf das an einem bestimmten Ort Gegebene und historisch Gewachsene. Zweitens wird deutlich, dass die Vernachlässigung dieser kirchlichen Perspektive Folgen haben muss. Denn eine Kirche, die nicht mehr den Gottesdienst der Kirche feierte, würde zwar etwas feiern, aber ihre Feier wäre kein Gottesdienst mehr.

Im vorliegenden Sammelband wird die kühne Frage nach dem Gottesdienst der Kirche gestellt. Gibt es ihn im Sinne einer idealen Referenzgröße? Was macht ihn aus? Wie wird der eine Gottesdienst in verschiedenen Formen, aber dennoch erkennbar einheitsstiftend gefeiert? Dabei werden Stimmen aus verschiedenen konfessionellen Traditionen laut, unter anderem auch aus der anglikanischen Kirchengemeinschaft, in der 2012 das 350. Jubiläum des «Buchs des gemeinsamen Gebets» (Book of Common Prayer, 1662) für die Kirche von England gefeiert wurde.

Die Beiträge gehen zum Teil auf Referate zurück, die im Rahmen einer gemeinsam vom Lehrstuhl für Praktische Theologie (Universität Zürich) und dem interdepartementalen Kompetenzzentrum Liturgik (Universität Bern) im Juni 2012 in Zürich veranstalteten Tagung gehalten wurden, zum Teil sind sie speziell für diesen Sammelband entstanden. Für alle Beiträge ist die Frage nach der Wirkung der Liturgie leitend. Was macht das «gemeinsame Beten» mit der betenden Gemeinde? Was für eine Wirkung entfaltet es? Ist es bloß Ausdruckshandeln und sich Gott zuwendender Lobpreis der Gemeinde oder muss es vielmehr – theologisch – als eine Praxis betrachtet werden, derer sich Gott bedient, um (trans)formativ auf die Gemeinde zu wirken?

Der vorliegende Sammelband hat selbstverständlich nicht den Anspruch, diese Fragen endgültig zu beantworten. Er enthält aber programmatische Beiträge, die pointiert formuliert sind und – wie wir überzeugt sind – durch die Qualität ihrer Argumente die weitere Diskussion anregen werden.

Für einen großzügigen Publikationszuschuss danken wir dem Louis- und Eugène Michaudfonds des Departements für Christkatholische Theologie der Universität Bern. Dem Theologischen Verlag Zürich, insbesondere der Verlagsleiterin Lisa Briner Schönberger und ihrer überraschend verstorbenen Vorgängerin Marianne Stauffacher, sind wir erkenntlich für die gute Zusammenarbeit.

Luca Baschera, Angela Berlis und Ralph Kunz

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Der Gottesdienst der Kirche im Widerspiel von formativem und expressivem liturgischem Handeln

Luca Baschera, Ralph Kunz

Einleitung – die These

Gottesdienst der Kirche ist eigentlich ein Pleonasmus. Gibt es einen nicht-kirchlichen christlichen Gottesdienst? Welche andere Gemeinschaft soll die Liturgie der Christinnen und Christen feiern? Wo Gottesdienst gefeiert wird, ereignet sich Kirche.1 Das ist sicher unbestritten und doch nicht selbstverständlich. Denn die Rede vom Gottesdienst der Kirche setzt voraus, dass die Kirche an ihrer Liturgie wiedererkannt wird, was wiederum eine Einheit bzw. Wiedererkennbarkeit der Liturgie bedingt. Von der Einheit kommt man zur Apostolizität, Heiligkeit und Katholizität der Kirche und von daher zur Frage, wie es in der zerstrittenen und gespaltenen Christenheit um das Bewusstsein für die UnaSancta steht.

Es steckt also viel in der Klammer «Gottesdienst der Kirche». Das Bewusstsein für diese – im eigentlichen Sinne des Wortes – bedeutungsvolle Dimension des Gottesdienstes ist aber nicht in allen Konfessionen im selben Maße ausgeprägt. Im europäischen und insbesondere im deutschschweizerischen Kontext neigen vor allem die Reformierten dazu, stärker den Gottesdienst der Gemeinde zu betonen. In der Deutschschweiz gab und gibt es bis heute keine verbindliche Agende. Das hatte zur Folge, dass sich auf der Basis von minimalen Vorgaben, die in der Kirchenordnung, im Kirchenbuch oder im Gesangbuch festgehalten werden, lokale Gottesdiensttraditionen entwickeln konnten. Die historischen Hintergründe für diese Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Gottesdienstkultur sind hinlänglich bekannt und andernorts beschrieben.2 Sie müssen hier nicht weiter erläutert werden.

Wir wollen uns in unserem Beitrag nicht primär damit beschäftigen, sondern einen anderen Weg beschreiten. Im Fokus unseres Interesses ist eine bestimmte fundamentalliturgische Konstellation, die hinter der Entscheidung gegen ein agendarisches Gottesdienstkonzept steht, wenn sie auch weder historisch noch systematisch darauf reduziert werden kann. Uns interessiert das Verhältnis von |10| Expression und Formation, also die Frage, wie der Zusammenhang von Darstellung der Liturgie durch die Gemeinschaft der Feiernden und Prägung der am Gottesdienst Beteiligten durch die Liturgie bestimmt werden muss. Der Blick geht dabei über den hiesigen deutschschweizerischen Kontext hinaus in die USA, wo seit Jahren lebhaft über liturgische Anthropologie debattiert wird. Wer sich auf diese Debatten einlässt, wird erstaunt feststellen, dass auch reformierte Theologinnen und Theologen dezidiert für ein formatives Verständnis der Liturgie votieren und sich von einem expressiven Verständnis abwenden. Diese Präferenz ist deshalb auffällig, weil sie in einer gewissen Spannung zum Prinzip der liturgischen «Gestaltungsfreiheit» steht und nach einer stärkeren Beachtung der Form ruft. Welche Konsequenzen hat diese Gewichtsverschiebung auf die Wahrnehmung des kirchlichen Gottesdienstes? Welches Menschenbild und welches Verständnis von Ritus stehen hinter der Präferenz des formativen Handelns? Inwiefern kann eine solche Sicht der ständigen Reform des reformierten Gottesdienstes im Kontext der Deutschschweiz Impulse verleihen? Und welche Folgen hätte eine reformierte Liturgie der Kirche für den Gemeindegottesdienst vor Ort?

Wir finden, es lohnt sich, die Debatte jenseits des Atlantiks zur Kenntnis zu nehmen, den aufgeworfenen Fragen nachzugehen und die angezeigte Dialektik zu vertiefen. Dies kann im Rahmen eines solchen Beitrags nur skizzenhaft geschehen.3 Wir wollen einen Akzent setzen und zur Auseinandersetzung einladen, indem wir einen Verdacht formulieren. Wir sind der Meinung, dass sich die liturgische Diskussion der Evangelischen in eine Sackgasse manövriert, wenn sie einem expressiven Liturgieverständnis folgt, das u. a. auf Schleiermacher rekurriert. Mit diesem Verdacht geht es uns weniger darum, eine Schleiermacherdebatte vom Zaun zu reißen, als vielmehr darum, die unaufgebbare Dialektik von menschlichem und göttlichem Wirken im gottesdienstlichen Handeln kritisch zu diskutieren. Diese Dialektik halten wir für grundlegend. Wird sie aufgelöst, gerät das theologische Verständnis des Gottesdienstes in eine Schieflage. Wir behaupten, dass liturgisches Handeln – im doppelten Sinne des Wortes als Handeln der Liturgie und Handlung an der Liturgie – von einem pneumatisch-formativen Standpunkt her besser verstanden werden kann. Fasst man liturgisches Handeln hingegen grundsätzlich expressiv auf, so verunmöglicht dies, dass Liturgie als Ineinander von gottlichem und menschlichem Handeln gedacht werden kann.

Das will begründet sein. In einem ersten Schritt referieren wir, ausgehend von Schleiermachers Unterscheidung des darstellenden und wirksamen Handelns und der Rezeption in der evangelischen Liturgik, den expressiven Ansatz (1), um in einem zweiten Schritt den formativen Ansatz im Anschluss an James K. A. Smith eingehender vorzustellen (2). In der kurzen Konklusion zeigen wir auf, wie ein |11| Liturgieverständnis auf der Grundlage der Formation zur Reform des kirchlichen Gottesdienstes anleiten und sie begleiten kann (3).

1. Das expressive Gottesdienstverständnis: Liturgische Anthropologie nach Schleiermacher

1.1 Formel und Definition

Geht es um den Gottesdienst, zitieren evangelische Liturgiker oft und gern die sogenannte «Torgauer Formel»4. Im Gottesdienst geschieht nach Martin Luther (WA 49, 588) nichts anderes, «als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang». Viele, die mit Luther beginnen, setzen mit Schleiermachers Unterscheidung des herstellenden und darstellenden Handelns fort.5 Die beiden Definitionen stehen freilich in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Während Luther das gottesdienstliche Geschehen als Rede von Gott zu Gott beschreibt, zielt Schleiermachers Konzeption auf die zwischenmenschlich-rituelleKommunikation. Die Spannung, die zwischen den beiden Ansätzen zutage tritt, lässt wiederum nach Formeln fragen, die sowohl den theologischen wie den humanwissenschaftlichen Aspekt berücksichtigen. Eine Definition von Peter Cornehl, die häufig von Praktischen Theologen zitiert wird, integriert die beiden Hinsichten wie folgt:

Im Gottesdienst vollzieht sich das «darstellende Handeln» der Kirche als öffentliche symbolische Kommunikation der christlichen Erfahrung im Medium biblischer und kirchlicher Überlieferung zum Zwecke der Orientierung, Expression und Affirmation.6

Die Integration von allgemeiner und besonderer Kommunikation – man könnte auch von Form und Inhalt sprechen – wird über die Funktionen hergestellt. In dieser Formel ist die Spur von Schleiermachers Unterscheidung noch deutlich zu erkennen, während sich freilich die Spur Luthers verliert. Gottes heiliges Wort wird gleichsam übersetzt in christliche Erfahrung und aus dem Handeln Gottes wird über das Medium der Erfahrung ein Handeln der Kirche. Diese Definition entwirft eine Sicht des liturgischen Handelns, die wir fortan expressiv nennen. |12|

Sie ist insofern theologisch unterbestimmt, als sie darauf verzichtet, Gottes Selbstmitteilung in die Mitteilung der Liturgie einzuzeichnen. Dass der biblischen und kirchlichen Überlieferung eine (wie auch immer verstandene) Offenbarung vorausgeht, wird zwar nicht bestritten, aber in dieser Vor(an)stellung auch nicht länger thematisch. Damit verliert die Rede von Gott in der Rede über den Gottesdienst an Bedeutung. Denn wenn die göttliche Rede nur voran- und vorausgesetzt wird, spielt sie für die Wahrnehmung der Unterredung im Gottesdienst keine Rolle mehr. Die Wahrnehmung der Liturgie steht unter dem Prinzip etsi deus non daretur.

Die damit gegebene einseitige Wahrnehmung der Kommunikation hat eine Aufspaltung in eine liturgische Theologie und Anthropologie zur Folge. Sie verbindet sich gleichsam natürlich mit einer Tendenz zur disziplinären Aufteilung. In der Konsequenz von sachlicher Aufspaltung und fachlicher Aufteilung gibt es folglich einerseits eine Gottesdiensttheologie, die Liturgie im Binnenraum des Symbolsystems dogmatisch reformuliert, und eine stärker anthropologisch fundierte Liturgik, die das Gottesdienstliche auf dem Hintergrund einer human- oder sozialwissenschaftlichen Theorie der symbolischen und rituellen Kommunikation allgemein reflektiert. Die aufgeteilte Optik – um nicht zu sagen: das Schielen – ist typisch für die evangelische Liturgiewissenschaft im deutschsprachigen Raum.7

Wir wollen nun aber unsererseits keine Einseitigkeiten produzieren. Aufgabenteilungen und Perspektivendifferenzierungen haben zweifellos ihren Sinn. Die Übersetzung der religiösen Rede von Gott in eine wissenschaftliche Rede über den Glauben ist ein Leitprinzip der aufgeklärten Theologie. Historisch betrachtet, bildet die Rationalisierung des Religiösen den Hintergrund für die enzyklopädische Erfassung der Theologie in ein in sich differenziertes wissenschaftliches System. Zu den Vorzügen einer damit gegebenen Form-Inhalt-Unterscheidung gehört u. a. die Möglichkeit der Ausdifferenzierung funktionaler Bezüge, wie dies die oben zitierte Formel deutlich macht. Mit der Bestimmung des Gottesdienstes als darstellendem Handeln kann dieser einerseits vom Unterricht, der Diakonie oder der Mission als herstellendes Handeln abgegrenzt werden. Andererseits erweitert die zitierte Definition mit der Trias «Orientierung, Expression und Affirmation» die Perspektive von Schleiermachers Ansatz. Sie bleibt aber zugleich dem grundlegenden Impetus treu, Liturgie als Ausdruck der menschlichen Religiosität zu verstehen.

Die eigentliche Pointe dieses Ansatzes tritt in ihrer Verbindung zur Theorie der Feier zutage, wie sie Schleiermacher in der «Praktischen Theologie» formuliert |13| hat.8 Darstellen – sagt er dort – hat seinen Zweck in sich selbst. Es nützt nichts, stellt nichts her und zielt nicht auf Produktion. Menschen, die Gottesdienst feiern, kommen zur Betrachtung und Besinnung zusammen, unterbrechen ihre Geschäftstätigkeit und werden durch die «Circulation der religiösen Gefühle» geistlich in Schwung gebracht. Im Spielraum der Feier kommen Gefühle auf: Gefühle der Erbauung, der Ergriffenheit, Erhebung und Ergötzung des Gemüts. In ihnen und durch sie bekommen die Beteiligten eine Ahnung vom Reich Gottes. Sie sind der Tempel, in dem der Glaube wohnt. Liturgie ist darum – um den Begriff «Darstellung» stärker zu akzentuieren – als aktualisierendes Ausdruckshandeln zu verstehen, insofern das Gefühl durch religiöse Virtuosität in der Gemeinschaft der Gläubigen geweckt und in Schwung gebracht wird.

1.2 Der spiritualistische Kurzschluss

Es ist kein Zufall, hat dieses Liturgieverständnis im Kontext der evangelischen Kirche eine gewisse Attraktivität erlangt. Im Unterschied etwa zum römisch-katholischen Ritus kennt die Kirchenbuchtradition keinen bestimmten Wortlaut, der für den Gottesdienst bindend vorgeschrieben wäre. Die Gebete werden frei gebetet und sind nicht gebunden. Die Liturgie wird zwar pragmatisch als Ordnung verstanden, ist aber nur syntaktisch festgelegt und wird semantisch offen gehalten. Die Affinität der freien Liturgie zur expressiven Konzeption des liturgischen Handelns ist offenkundig.9 Sie wurde insbesondere in der reformierten Liturgik geisttheologisch begründet. Um es mit einem locus classicus und Lieblingsbeleg von Zwingli zu sagen: Gott ist Geist und der Geist ist frei.10

Wir können diese Verknüpfung sowohl liturgiehistorisch als auch liturgietheologisch nachvollziehen, wollen aber dennoch den spiritualistischen Kurzschluss nicht übersehen, der hier insbesondere in der reformierten Liturgik droht. Es ist die Irrlehre, dass der Geist Gottes sich nicht mit Zeichen verbinden und durch Formen wirken kann. Wenn es im Gottesdienst tatsächlich darum geht, den Glauben im Medium biblischer und kirchlicher Überlieferung symbolisch zu kommunizieren, ist die Freiheit der liturgischen Sprache keine unbegrenzte Freiheit und vice versa tut der Freiheit Gottes die Selbstmitteilung durch Zeichen keinen Abbruch. Nicht Gott bindet sich an Zeichen, sondern die Zeichen vermitteln Gott |14| in verbindlicher Weise. Nicht die Zeichen sind heilig, geheiligt ist ihr Gebrauch. So sagt es die reformierte Lehre:

Heiligen und weihen heißt, ein Ding Gott widmen und heiligen Bräuchen, das heißt, es vom gewöhnlichen und weltlichen absondern und zum heiligen Gebrauch bestimmen. Die Zeichen bei den Sakramenten sind nämlich dem gewöhnlichen Gebrauch entnommen. […] Deshalb sind Wasser, Brot und Wein ihrer Natur nach und außerhalb der göttlichen Einsetzung und dem heiligen Gebrauch immer das, was ihr Name besagt und als was wir sie gewöhnlich empfinden. Wenn aber das Wort des Herrn dazukommt, unter Anrufung des Namens Gottes, mit der Wiederholung der ersten Einsetzung und der ersten Weihe, so werden diese Zeichen geweiht und als von Christus geheiligt erwiesen.11

Eine doppelte Intention wird aus diesen Zeilen erkennbar; die Unterscheidung zwischen Gott und Zeichen und die Unterscheidung zwischen den geheiligten und weltlichen Dingen und Bräuchen. Wir meinen deshalb, dass man die Pointe der reformierten Gottesdiensttheologie verkennt, wenn man die geisttheologische Begründung der Gestaltungsfreiheit auf ihre kritische Intention reduziert und sie von ihrer konstruktiven Intention, den semiotischen Überschuss zu wahren, abkoppelt. Gott ist mehr als Zeichen mitteilen können. Darum ist das gottesdienstliche Geschehen auch nicht hinreichend erfasst, wenn man die christliche Erfahrung nur mit dem Medium der kirchlichen Überlieferung, nicht aber mit Gott selbst in Verbindung bringt. Denn – mit Elazar Benyoëtz – wir richten nicht unsere Gebete an Gott; wir richten uns an Gott mit unseren Gebeten.

1.3 Zur Dialektik menschlichen und göttlichen Handelns

Das alles ist nicht gegen die expressive Funktion der Liturgie gesagt, die wir selbstverständlich nicht bestreiten. Uns liegt vielmehr daran, die Dialektik des menschlichen und göttlichen Handelns stark zu machen und zugleich aufzuzeigen, was verloren geht, wenn die daraus resultierende Spannung einseitig aufgelöst wird. Es würde zu weit führen, ausführlicher auf die systematisch-theologischen Debatten einzugehen, in der die religionsphilosophischen Grundlagen einer expressiven und formativen Position entfaltet, bekämpft und verteidigt wurden.12|15| Wir wollen wenigstens erwähnen, dass unsere Sicht der Liturgie und Liturgik nicht originell ist.13 Um das Ineinander präziser zu bestimmen, folgen wir Michael Meyer-Blanck, der im kritischen Anschluss an Daniel Friedrich E. Schleiermacher und Ernst Lange den Gottesdienst mit der Formel Mitteilung und Darstellung des Evangeliums versteht. Vor allem an Schleiermachers Gebetsverständnis erkennt man nämlich deutlicher, warum die geforderte Dialektik mit einer religionstheoretisch basierten und expressiv orientierten Liturgik nicht eingehalten werden kann.

Schleiermacher versteht das Beten als ein Einstimmen in die regierende Tätigkeit Christi.14 Beten ist gewissermaßen Gottesdienst in Reinform, weil hier der Charakter des wirksamen Handelns absolut zurücktritt.15 Zugleich ist ein Übergang im Blick. Religiosität tritt von Innen nach Außen. Schleiermacher denkt diesen Übergang vom Gefühl zum Ausdruck nicht einseitig, sondern wechselseitig. Erst «durch die mitteilende und erregende Kraft der Äußerung»16 kommt es zur Erweckung des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit. Schleiermacher spricht in seiner «Theorie des Gebets» von einem Fixieren des Gefühls durch den Gedanken und des Gedankens wiederum durch das Aussprechen.17 Der Leitgedanke dieser rational durchgebildeten und aufklärungstheologisch geläuterten Gebetslehre lässt sich als doppelter Widerstand fassen: Sie macht erstens Front gegen die magische Auffassung des Gebets. Beten soll gänzlich befreit vom Beeinflussen-Wollen Gottes als reiner Ausfluss der religiös erregten Seele gedacht werden. Schleiermacher bezieht zweitens Front gegen ein dogmatistisch und moralistisch enggeführtes Religionsverständnis, indem er mit dem Erleben des frommen Selbstbewusstseins auf eine eigene Provinz des Religiösen verweist. Mit eben dieser konsequenten Zuordnung zum darstellenden Handeln stößt Schleiermachers Gebetsverständnis aber auch an seine Grenzen.

Michael Meyer-Blanck bringt die theologische und spirituelle (bzw. psychologische) Problematik von Schleiermachers Gebetsverständnis wie folgt auf den Punkt: |16|

[D]as Gebet hat fast immer auch ein starkes wirksames Moment. Das gilt biblisch nicht nur im Hinblick auf das Bewusstsein von Gott, sondern auch im Hinblick auf das Handeln Gottes selbst.18

Natürlich ist mit dieser Kritik nicht der Stab über Schleiermachers Gebetslehre gebrochen. So kann man, wie Meyer-Blanck feststellt, von Schleiermacher neu lernen, dass Beten ein mehrdimensionales Geschehen ist, in dem das Hören und Gewahrwerden eine hohe Bedeutung hat.19 Schleiermachers Konzeption einer Erhöhung des religiösen Selbstbewusstseins gibt auch ein gewichtiges Argument gegen den schlechten Stil belehrender Gebete an die Hand. Aber eine Grundproblematik der religionstheoretischen Argumentation lässt sich gleichwohl – auch und gerade in der Begründung berechtigter Anliegen – erkennen. Diese liegt darin, dass die Gottesdienstlehre sich nicht ohne Verluste auf eine Religionstheorie reduzieren lässt. Daran erinnert die liturgische Fundamentaltheologie. Die fundamentaltheologische Gottesdienstlehre achtet nämlich auf die Verschränkung von Dogmatik und Empirie.

Sie ist eine der Praxis des Evangeliums, der Rede von Gott und der Feier Gottes nachdenkende Theorie, die vom bekennenden Reden und Feiern nicht getrennt werden kann und darum auch nicht ins Abstrakte verflüchtigt werden darf.20

Meyer-Blanck benennt die Gefahr der «wechselseitigen Selbstisolation von Liturgik und Homiletik» und fordert eine verschränkte Reflexion in einem bestimmten Interpretationsrahmen. Sein Fokus ist das Verhältnis von Wort und Ritus. Problematisiert wird aus dieser Warte eine reduktionistische Interpretation der Torgauer Formel.

Für Luther ist die Predigt – nahezu in Parallele zu gegenwärtigen rezeptionsästhetischen Überlegungen – das gemeinsame Werk von Prediger und Gemeinde. […] Das Wort Gottes tritt also durch Reden und Hören zugleich in Geltung. Schon von daher verbietet sich eine Aufteilung gottesdienstlichen Geschehens in das Reden Gottes durch die Predigt und das Reden der Gemeinde durch die Antwort in Liedern und Gebeten. Es ist komplizierter. Gottes Handeln und das Handeln der Menschen lassen sich nicht säuberlich voneinander unterscheiden.21|17|

Dem Auseinanderfallen der Perspektiven will Meyer-Blanck mit einer zeichentheoretisch inspirierten praktisch-theologischen Hermeneutik und Bildungslehre begegnen.22 Man könne der Schwäche von Schleiermachers Systems auch dadurch begegnen, «dass die religionstheoretische Kategorie des ‹stärker erregten religiösen Bewusstseins› durch den religiös gebrauchten biblischen Begriff des ‹Evangeliums› ersetzt wird».23

1.4 Das Übergewicht des Expressiven

Auf Meyer-Blancks bedenkenswerten Versuch, Gottesdienst- und Predigtlehre verschränkt zu reflektieren, gehen wir an dieser Stelle nicht weiter ein. Wir wollen einen anderen Weg beschreiten und das, was in der Tat «komplizierter» ist, im folgenden Abschnitt mit einer vertieften Reflexion liturgischer Bildung bedenken (2), hier aber, um den Argumentationsbogen abzuschließen, eine liturgiegeschichtliche Einordnung des Gesagten versuchen.

Historisch betrachtet bildet die Zeit der Aufklärung einen wichtigem Meilenstein für das liturgische Bewusstsein, das wir als expressiv bezeichnen. Auch Schleiermachers Auffassung vom Beten baut auf diesem Fundament auf.24 Bekanntlich ist aber das Verdikt über die Liturgik der Aufklärung als einer Epoche, die den «Zerfall der Formen» zu verantworten hat, allzu einseitig.25 Was den einen als Zerfall erschien, sahen andere als Befreiung. Dass man nicht nur in der Predigt nach dem Zeitgeist fragt, sondern Liturgie als Ausdruck des Zeitgeschmacks begreift, ist eine moderne Erscheinung. Letztlich geht es bei der Anpassung nicht nur um das Modische, sondern um die viel grundlegendere Frage, wie einerseits dem biblischen Gebot, dem Herrn neue Lieder zu singen (Ps 99,1) und andererseits der Weisung, verständlich zu beten (1Kor 14), nachgelebt werden kann. In dieser biblisch-theologischen Zuspitzung wird deutlich, dass die evangelische Liturgik schon vor der Aufklärung und Schleiermacher in einer spiritualistischen Traditionslinie zu sehen ist.

Auf diesem Hintergrund lässt sich der Gewinn und der Verlust einer expressiven Grundlegung der Liturgie prägnanter konturieren. Sie erlaubt es, der Liturgie eine Funktion für den Fluss der Gefühle zuzuordnen und das Religiöse von magischen, gesetzlichen, metaphysischen und moralischen Voraussetzungen zu befreien. Aber eine in dieser Weise religionszentrierte Theologie des Gottesdienstes ist |18| zugleich – wie eingangs schon betont – zu voraussetzungsreich. Sie setzt voraus, dass der Gottesdienst der Kirche auf der Bibel basiert, sich am Bekenntnis orientiert und nach der Agende richtet, weil Gott zuerst gesprochen hat. So behält die Unterscheidung von Gottes Wort und menschlicher Antwort in der Torgauer Formel ihr unbedingtes Recht! «Gott hat das erste Wort» und der Gottesdienst ist insgesamt Antwortgeschehen, wie er insgesamt Wort ist. Denn er «ruft uns fort und fort»26. Die von Meyer-Blanck geforderte Verschränkung leitet zu einer gottesdiensttheologischen Unterscheidung. Unterschieden wird der Vorrang des Wortes Gottes vor aller Liturgie vom Vorgang des Wortes Gottes in der Liturgie. Wenn aber die Unterscheidung von Gott und Mensch aus der Theoriebildung fällt, verliert die Liturgik ihren kritischen Rückhalt, um der Verflüssigung der Religion ins Religiöse etwas entgegenhalten zu können. Es steigt das Risiko, dass sich die Zeichen des Glaubens in «Schall und Rauch» (Goethe) auflösen. Denn mit welchem Recht und unter Berufung auf welche Autorität kann Liturgik auf einen Gottesdienst der Kirche verweisen, wenn die Symbole zu Hüllen für das Eigentliche werden?

Für uns liegt es auf der Hand, dass der ganze theoretische Aufwand, der seit der «anthropologischen Wende» in der Liturgik getrieben wurde, um Liturgie symbol-, ritual-, kommunikations-, spiel- und zeichentheoretisch zu erklären, das Reden über den Gottesdienst bereichert und erweitert hat.27 Aber dieser Aufwand kann die theologische Aufgabe, den Gottesdienst der Kirche im Licht der Rede von Gott zu klären, nicht ersetzen. Wir wollen nicht zurück zu alten Fronten und falschen Alternativen. Man muss kein Verächter einer humanwissenschaftlich orientierten Liturgik sein, um unsere Einwände nachvollziehen zu können. Uns geht es darum, die Grenzen einer Gottesdiensttheorie hervorzuheben, die einer religionszentrierten Theologie folgt, und mit unserer Kritik auf eine aussichtsreichere Alternative zu verweisen. Programmatisch gewendet: Liturgik muss (auch) sagen, was die Feiergestalt des Glaubens mit den Menschen tut, und nicht nur, was Menschen mit ihren Feiern tun. Wenn Gottesdiensttheologie Rede von Gott ist und nicht nur Rede über das Reden von Gott, muss sie sagen können, was Gott in der Liturgie seiner Kirche geschehen lässt. Vor allem aber sollte es durch eine Ausdifferenzierung der liturgischen Anthropologie möglich werden, das Wirksame der Liturgie als heilsame Bildung und Prägung des Menschen besser zu verstehen.

Wird nämlich zu vehement nur die menschlich-subjektive Seite betont, bleibt vom innersten Kern der Feier nur noch ein Gespür für das Transzendente übrig. |19| Liturgie wird dann zum Gerüst und die Gestalt zu dem, was Konvention noch zulässt. Ist man einmal so weit, kann man die heiligen Dinge selbst nur noch negativ bestimmen. Flüssiges wird flüchtig. Aus Gott wird ein Geist mit gespenstischen Zügen und Gott ein Symbol, mit dem wir etwas zum Ausdruck bringen. Dann bekleiden und verhüllen die Gesten, Klänge und Formen der liturgischen Sprache letztlich etwas Numinoses und Unbekanntes. Aus dem Geheimnis wird etwas (Un-)Heimliches und aus Gott ein Geist, weil der Geist Gottes nicht mehr fassbar ist. Was aber nur für eine bestimmte Zeit Gültigkeit und Stimmigkeit beanspruchen kann, kann nicht mehr der Gottesdienst der Kirche und darum keine Referenz für den Gottesdienst der Gemeinde sein.

Halten wir deshalb noch einmal fest: Wird der Gottesdienst expressiv aufgefasst, stellt er ein Geschehen dar, dessen primäres Subjekt der Mensch als kulturell Handelnder ist. Daraus ergibt sich, dass der Gottesdienst grundsätzlich als «Ausdruckshandeln» des menschlichen Subjekts definiert wird. Diesem Gottesdienstverständnis stellen wir das «formative» gegenüber. Es zeichnet sich dadurch aus, dass dem Gottesdienst erstens eine konstitutiv prägende Wirksamkeit auf die feiernde Gemeinde zugesprochen wird und zweitens nicht der Mensch, sondern Gott als primäres Subjekt dieses Handelns betrachtet wird. Zwar vollziehen Menschen die den Gottesdienst ausmachenden Handlungen. Sie tun es aber nicht, um ihrem «religiösen Bewusstsein» Ausdruck zu verleihen, sondern weil sie darauf hoffen, dass der von ihnen angerufene, dreieinige Gott sich der Gebete, Lieder, Lesungen, der Predigt sowie der Sakramente bedienen wird, um auf die versammelte Gemeinde formativ und heiligend einzuwirken.

2. Für ein pneumatisch-formatives Gottesdienstverständnis: Liturgische Anthropologie nach James K. A. Smith

Der theologisch orientierte Ansatz einer liturgischen Anthropologie ist in seinen Grundzügen bereits in den Gottesdienstheologien Karl Barths und Peter Brunners zu finden28 und hat in den letzten Jahrzehnten in zahlreiche Studien sowohl in der Liturgik wie in der Ethik erneut Eingang gefunden.29 Was uns motiviert, den |20| Ansatz weiter zu vertiefen, sind Differenzierungen seitens der reformierten Theologie (und Religionsphilosophie), die bis anhin wenig Beachtung gefunden haben. Als besonders interessant erweisen sich in diesem Zusammenhang die neusten Arbeiten von James K.A. Smith.30

2.1 Philosophisch-theologische Grundlagen: Zur gegensetigen Ergänzung von «Reformational Philosophy» und «Radical Orthodoxy»

Smith entwickelt sein Gottesdienstverständnis, indem er zwei auf den ersten Blick sehr heterogene Traditionen miteinander ins Gespräch bringt: einerseits die auf Herman Dooyeweerd (1894–1977) zurückgehende «christliche Philosophie» (bzw. «Reformational Philosophy»),31 andererseits die – wesentlich jüngere – theologische Bewegung «Radical Orthodoxy».32 Die Möglichkeit eines solchen Gespräches ist Smith zufolge dadurch gegeben, dass Dooyeweerd und die Radical Orthodoxy ähnliche Ziele verfolgen. Beide üben scharfe Kritik am modernen Konzept eines vermeintlich neutralen und ungebundenen «säkularen» Bereichs.33 Dieses wollen sie als ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis mit eigenen ontologischen und epistemologischen Prämissen demaskieren,34 um ein alternatives – auf christlichen Prämissen basierendes – «postsäkulares» Konzept zu entwerfen.35 Dass eine gegenseitige Ergänzung notwendig sei, wird nach Smith wiederum an der Art und Weise deutlich, in der Dooyeweerd und die Radical Orthodoxy im Blick auf die Realisierung dieses Projekts vorgehen. |21|

Die mit der Radical Orthodoxy verbundenen Autoren betrachten die Theologie als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines dezidiert christlichen Wirklichkeitsverständnisses. Die Theologie solle wieder den Status einer regina scientiarum erlangen, weil nur sie den Rahmen bestimmen könne, innerhalb dessen alle anderen Disziplinen (von der Philosophie über die Soziologie bis hin zur Ökonomie) zur Entwicklung des anvisierten christlichen Wirklichkeitsverständnisses sowie zur Förderung einer entsprechenden Praxis beitragen können.36 Gerade an dieser zentralen Stelle bleibt aber die Argumentation in Bezug auf die Definition des Theologiebegriffs der Radikal-Orthodoxen – so Smith – sehr diffus. Je nach Zusammenhang wird mit «Theologie» nämlich der christliche Glaube, das Christentum allgemein oder aber eine spezifische akademische Disziplin bezeichnet; bisweilen wird dieser Begriff stillschweigend auch als Synonym für christliche Praxis verwendet.37

Angesichts dieser Ambiguität könnte nun Dooyeweerds Entwurf Smith zufolge als heilsames Korrektiv wirken. Die Reformational Philosophy, welche in der von Abraham Kuyper (1837–1920) initiierten Tradition des «Neo-Calvinismus»38 wurzelt, ist zwar ebenso wie die Radical Orthodoxy an der Entwicklung einer «deutlich christlichen Beschreibung aller Facetten des Daseins»39 interessiert, betrachtet aber die Theologie als eine Disziplin neben anderen, ohne eine Hierarchie zwischen den Disziplinen zu postulieren. Dass diese sich als christliche Wissenschaften profilieren, hängt nicht von ihrer Unterordnung unter die Theologie ab, sondern davon, ob sie ausgehend vom – wie Dooyeweerd sich ausdrückt – «christlichen Grundmotiv» betrieben werden.

Jede wissenschaftliche Untersuchung beruht laut Dooyeweerd auf philosophischen – d. h. sowohl ontologischen als auch epistemologischen – Prämissen. Jede Ontologie und Epistemologie gewinne wiederum ihre spezifische Ausrichtung und unterscheide sich von anderen dadurch, dass sie ausgehend von einem bestimmten «Grundmotiv» artikuliert werde. Im Gegensatz zur Ontologie und Epistemologie sowie im Gegensatz zu den auf einer bestimmten Ontologie und Epistemologie basierenden Wissenschaften haben Grundmotive aber einen prätheoretischen Charakter. Sie stellen weder eine Theorie noch ein Theorem dar und haben keinen propositionalen Charakter. Zudem eignet ihnen eine «religiöse» Qualität. Denn Grundmotive lenken und prägen als irreduzible Prinzipien, als «letzte bewegende |22| Kraft» die «ganze Lebens- und Denkhaltung» eines Menschen bzw. einer Gemeinschaft.40

Ausgehend vom christlichen Grundmotiv – sprachlich artikuliert als «das radikale und zentrale biblische Thema von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung durch Jesus Christus als inkarniertes Wort Gottes, in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes»41 – entwirft Dooyeweerd nicht nur eine bestimmte Ontologie,42 sondern übt auch Kritik an den anderen Grundmotiven, die für verschiedene Phasen der gesamten Philosophiegeschichte des Abendlandes prägend gewesen sind. Im Lichte des christlichen Grundmotivs erscheinen ihm diese jedoch nicht als bloße Alternativen dazu. Vielmehr bestehe zwischen dem christlichen und zwei der übrigen Grundmotive eine unauflösliche Dialektik, die Dooyeweerd «religiöse Antithese» nennt.43 Diese Form von Antithese ist unauflöslich, weil sie religiöser Natur ist; und sie ist religiöser Natur, weil ihre Pole den gleichen Absolutheitsanspruch erheben.44|23|

Die Möglichkeit, dass der Mensch die Wahrheit des christlichen Grundmotivs verkennen und sein Wirklichkeitsverständnis ausgehend von ihm antithetischen Grundmotiven entwickeln kann, gründet Dooyeweerd zufolge im Sündenfall. In Folge der grundsätzlichen Entfremdung zwischen Schöpfer und Kreatur blieb die Schöpfungsstruktur zwar erhalten, sodass der Mensch nach wie vor am «pistischen» Modalaspekt partizipiert und somit nicht umhinkann, einen «Glauben» und eine «Religion» zu haben.45 Von hier aus kann er ein philosophisches Wirklichkeitsverständnis entwickeln, um sich auf dieser Grundlage in den verschiedensten Bereichen geistig und praktisch zu betätigen. Die Ausrichtung46 dieser an sich erhalten gebliebenen Struktur wurde aber restlos idolatrisch und «apostatisch»: Der Mensch betete fortan nicht mehr den Schöpfer, sondern – in vielen unterschiedlichen Ausformungen – die Kreatur an.47 Christentum und Apostasie bilden somit zwei antithetische Aktualisierungen der pistischen Funktion, zwischen denen keine Kontinuität und kein «Anknüpfungspunkt» besteht.48 Genau einer solchen apostatischen Haltung entspringen nun jene zwar religiösen, aber idolatrischen Grundmotive, die die Denkgeschichte der Menschheit weitestgehend beeinflusst haben. Da die Kreatur sich vom Schöpfer entfremdet hatte, konnte auch die Schöpfung nicht mehr als solche wahrgenommen werden, mit der Konsequenz, |24| dass deren organische Komplexität immer wieder verkannt und Teilbereiche davon jeweils verabsolutiert werden.49

Anders als die Radikal-Orthodoxen betrachtet Dooyeweerd die Theologie also eindeutig als eine theoretische Wissenschaft unter anderen, deren Aufgabe die Untersuchung der gesamten Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten modalen Aspekts – nämlich des «pistischen» – ist. Als solche stellt sie auch keine regina scientiarum dar, deren Herrschaft die anderen Wissenschaften anerkennen sollten, um christliche Qualität zu gewinnen. Dass eine beliebige theoretische Disziplin zu einer christlichen Wissenschaft wird, hängt vielmehr davon ab, ob sie ausgehend vom – prätheoretischen – christlichen Grundmotiv betrieben wird oder nicht.

Verhilft die christliche Philosophie Dooyeweerds zu einer Klärung der Beziehung zwischen Theologie und den anderen Wissenschaften im Blick auf ihre (mögliche) christliche Prägung, so erscheint sein Insistieren auf der Differenz von biblischem Grundmotiv und Theologie doch als überzogen und problematisch. Smith macht darauf aufmerksam, dass ein solches Insistieren letztlich auf eine Verkennung der vermittelnden Funktion von Sprache und Tradition bezüglich der Überlieferung und Annahme des Grundmotivs hinausläuft. Da das christliche Grundmotiv einen bestimmten Inhalt hat, soll Smith zufolge auch anerkannt werden, dass dieser Inhalt nur auf dem Hintergrund der (orthodoxen) Auslegung der Bibel, so wie diese etwa in den ökumenischen Glaubensbekenntnissen zusammengefasst wird, zu benennen ist.50 Um die christliche Philosophie Dooyeweerds vor dem Vorwurf eines latenten Spiritualismus zu bewahren, sollte man Smith zufolge zwar an der Definition des Grundmotivs als prätheoretisch festhalten, in ihm aber die Präsenz eines theologischen Restes bzw. Kerns anerkennen. Nur auf diese Weise kann sowohl die Ambiguität des radikal-orthodoxen Theologiebegriffs vermieden als auch eine Auffassung des christlichen Grundmotivs, die der Gesamtheit «christlicher Reflexion» in Bezug auf «die Güte der Schöpfung» sowie in Bezug auf Inkarnation, Trinität und Sakramentalität gerecht wird, gefördert werden.51

Smith hält eine Ergänzung der Philosophie Dooyeweerds durch Anregungen der Radical Orthodoxy für sinnvoll – nicht nur im Blick auf die Bestimmung des Inhalts, sondern auch bezüglich der Klärung der Frage, wie das christliche Grundmotiv zu einer für die ganze Lebens- und Denkhaltung eines Menschen prägenden Kraft werden kann. Vielversprechend erscheint ihm die Einsicht, dass |25| die Wahrnehmung, die Denkweise und das Verhalten eines Menschen durch gemeinschaftliche Praktiken geprägt werden, an denen er in seinem Umfeld – meist unbewusst – teilnimmt. In diesem Sinne spricht etwa Daniel Bell von den «technologies of desire», welche dafür sorgen, dass die Individuen einer bestimmten Gesellschaft – beispielsweise der kapitalistischen – ihre Ziele und Handlungsweise so bestimmen, dass die Existenz jener Gesellschaft perpetuiert wird.52 Wenn aber die Grundmotive, von denen Dooyeweerd spricht, mit einer Grundausrichtung menschlichen Daseins gleichzusetzen sind und wenn man mit Bell davon ausgeht, dass diese Grundausrichtung durch die Teilnahme an gemeinschaftlichen Praktiken ausgebildet wird, muss daraus gefolgert werden, dass auch die Annahme des christlichen Grundmotivs ihre Wurzeln in einer entsprechenden Praxis hat.

2.3 Intentionalität, Verlangen und «imagination»

Der Reflexion des Zusammenhangs von gemeinschaftlicher Praxis und (Charakter-)Bildung hat Smith bisher zwei Monografien gewidmet, welche die ersten beiden Teile eines auf insgesamt drei Bände angelegten Projekts darstellen.53 Im Blick auf die christliche Bildung möchte er die «Bildungsrelevanz des Gottesdienstes» (formative importance of worship) herausstellen.54 Damit distanziert er sich von einer in seinen Augen einseitigen Interpretation christlicher Bildung als Vermittlung einer «christlichen Weltanschauung» (Christian worldview).55 Die |26| Wichtigkeit der Entwicklung eines solchen, von der christlichen Botschaft geprägten Gesamtverständnisses der Wirklichkeit möchte er gar nicht in Frage stellen.56 Vielmehr macht er darauf aufmerksam, dass im Blick auf die Artikulierung eines vollständigen Programms christlicher Bildung auch eine Reflexion auf die formative Kraft liturgischer Praxis notwendig ist.57 Denn die an christlichen Hochschulen üblicherweise praktizierte Pädagogik setze eine reduktionistische Anthropologie voraus und verhindere deshalb die tatsächliche Entwicklung einer Christian worldview. Etliche Theoretiker der Christian worldview scheinen Smith nämlich einer modifizierten Form von Intellektualismus zu verfallen. Obwohl sie den cartesianischen Intellektualismus kritisieren und den Menschen nicht als «denkendes», sondern als «glaubendes Lebewesen» betrachten, resultiere daraus ein immer noch «sehr entkörperlichtes, individualistisches Menschenbild», welches wiederum die Entstehung einer auf die «zentrale Rolle von Verkörperung [embodiment] und Praxis» wenig bedachten Pädagogik bedingt.58 Eine solche Pädagogik vermag in den Augen Smiths höchstens zu «informieren», nicht aber zu «formen», weil sie die zentrale Rolle der Praxis im Prozess der Persönlichkeitsbildung ignoriert.59

Eine wirklich formative Pädagogik kann Smith zufolge nur insofern entwickelt werden, als die Relevanz der Liturgie für die Bildung des Menschen wiederentdeckt wird. Smith geht – in Anschluss an die phänomenologische Tradition – erstens davon aus, dass der Mensch ein grundsätzlich «intentionales» Wesen sei.60 Dies bedeutet ganz allgemein, dass der Mensch immer in Beziehung zu etwas steht, das sich wegen der Beziehung, die der Mensch dazu herstellt, jeweils als Objekt seiner Erkenntnis, seines Verlangens, seines Handelns definiert. Je nachdem, ob etwas als Gegenstand von Handeln, Verlangen oder Erkenntnis intendiert wird, geschieht die Intention in einem jeweils anderen Modus. Zweitens hält Smith daran fest, dass der vorrangige Intentionsmodus des Menschen nicht kognitiver, sondern präkognitiver Natur sei. Der Mensch intendiert die Welt primär nicht als erkennendes oder beobachtendes Subjekt, sondern als involvierter Teilnehmer.61|27| Der Mensch verhält sich somit zur Welt – wie bereits Augustinus erkannt hatte62 – primär im Modus der Liebe und des Verlangens. Drittens ist der Mensch, obwohl er die unterschiedlichsten Gegenstände zu intendieren vermag, in einem viel grundlegenderen Sinne immer auch auf etwas Letztgültiges ausgerichtet. Dieses Letztgültige ist das verborgene Ziel hinter all den kleinen Zielen, die er jeweils verfolgt. Es ist das, was der Mensch über alles und hinter allem liebt, das höchste Gut, nach dem er strebt, und der «Gott», den er anbetet.63 Der Mensch ist also nicht nur ein intentionales, liebendes Wesen, sondern hat immer auch eine Grundintention, die seine Gefühle, seine Denk- und Handlungsweise prägt und damit seine Identität ausmacht.64 Dabei ist – im Sinne der zweiten Prämisse – das, wonach er strebt, nicht sosehr eine Liste klar ausformulierter Propositionen, sondern vielmehr ein «Bild des guten Lebens».65

Setzt nun aber das Streben des Menschen nach einem bestimmten Ziel nicht voraus, dass er dieses Ziel zuvor (geistig) erkannt hat? Wenn dem so wäre, schiene der angeblich präkognitiven Intentionalität, von der Smith spricht, doch ein kognitives Moment vorauszugehen.66 Auf diesen Einwand geht Smith in Imagining the Kingdom ausführlich ein. Dort gibt er zwar die Existenz einer tieferen Ebene zu, die die Intentionalität des Menschen beeinflusst, betrachtet diese tiefere Ebene aber nicht als eine Form von verstandesgemäßer Erkenntnis (intellection), sondern als «Vorstellungsvermögen» (imagination). Die imagination wird als «eine Art Vermögen» definiert, «dank dessen wir die Welt auf einer präkognitiven Ebene deuten»67 oder aber als «a kind of midlevel organizing or synthetizing faculty that constitutes the world for us in a primarily affective mode».68 Da Smith seine Theorie in stetem Dialog mit Maurice Merleau-Pontys «Phänomenologie der Wahrnehmung» entwirft, ist die große Ähnlichkeit zwischen Smiths Begriff der imagination und jenem der praktognosia, wie dieser bei Merleau-Ponty begegnet, wenig überraschend.69

Wird die Welt primär in diesem präkognitiven, emotionalen Modus intendiert, so bedeutet dies für Smith jedoch nicht, dass praktognosia bzw. imagination bloß den «Rohstoff» für die spätere verstandesgemäße Erkenntnis der Dinge liefern würden. Vielmehr stellt die imagination einerseits eine bestimmte, von der |28| «objektiven» zu unterscheidende Form von «Erkenntnis» dar; andererseits bildet sie die Bedingung der Möglichkeit für die verstandesgemäße reflektierende Erkenntnis.70 Darüber hinaus hat die Qualität unserer «Wahrnehmung» der Welt auch ethische Implikationen. Denn unsere Handlungsweise ist in dieser Perspektive durch die Art und Weise bedingt, in der wir die Welt emotional intendieren (passional orientation to the world), wobei unsere Intentionalität wiederum unserer «Wahrnehmung» bzw. imagination entspricht.71

2.4 Liturgien als formative Praktiken

Die These Smiths lautet: Die Grundintention des Menschen – seine fundamentale Ausrichtung auf eine bestimmte Form von höchstem Gut – sowie die diese Grundintention bedingende «Wahrnehmung» der Welt sind nicht etwas, was sich augenblicklich ausbildet und ebenso augenblicklich verändert werden kann; vielmehr sind «Wahrnehmung» und Grundintention etwas Herangewachsenes. Sie machen unseren Charakter aus, welcher seinerseits aufgrund der Wiederholung bestimmter Handlungen eine ihnen entsprechende Form angenommen hat. Der Charakter bildet sich somit habituell aus. Wie der Habitus (diathesis) bei Aristoteles und die praktognosia bei Merleau-Ponty ist der Charakter des Menschen weder etwas Angeborenes noch ein Affekt, sondern er wächst allmählich in uns. Da der Modus der Grundintention bzw. imagination präkognitiv und emotional ist, wird deren Entstehung ferner nicht durch bewusste Erkenntnisprozesse bewirkt. Vielmehr hängt die Art und Weise, in der wir die Welt intendieren, damit zusammen, dass unsere «Wahrnehmung» durch bestimmte, für uns «paradigmatisch» gewordene Erzählungen (stories) beeinflusst und geprägt worden ist.72 Eine Erzählung wird insofern paradigmatisch, als wir uns in sie «hineinleben», sie absorbieren und Platz in ihr einnehmen, sodass diese Erzählung zum Schlüssel für die Interpretation unserer Existenz und das Verständnis unseres In-Der-Welt-Seins wird.73

Wie bekommt aber eine story diese paradigmatische Funktion? Wie kommt es dazu, dass Menschen sich in eine Erzählung so hineinleben können, dass ihre «Wahrnehmung» durch sie bestimmt wird? Smith zufolge geschieht auch dies nicht durch einen bewussten geistigen Vorgang, sondern durch die – bewusste oder unbewusste – Teilnahme an formativen Praktiken, die er «Liturgien» nennt. Als Liturgien versteht Smith solche «erzählungsgeladenen Praktiken» (story-laden |29| practices)74 bzw. «performierten Erzählungen» (performed stories),75 die den gesamten Menschen als «verkörpertes» (embodied) Wesen involvieren und ihm jene Vorstellung des höchsten Gutes (jene Vorstellung «Gottes») einprägen, die von der jeweiligen Liturgie implizit kolportiert wird. Liturgien sind für Smith also alle «rituellen Praktiken, welche als Pädagogik des letztgültigen Verlangens wirken»;76 Liturgien «formen und konstituieren unsere Identität dadurch, dass sie unsere fundamentalen Verlangen und unsere Einstellung zur Welt bestimmen».77

2.5 Christliche Liturgie vs. säkulare Liturgien

Vor diesem Hintergrund kann der Mensch berechtigterweise als homo liturgicus definiert werden, nämlich als ein Wesen, dessen Haltung und Charakter durch die «Liturgien» bestimmt werden, an denen er – bewusst oder unbewusst – partizipiert.78

Die «Liturgizität» des Menschen ist strukturell gegeben, weil sie ein wesentliches Merkmal seines Mensch-Seins darstellt. Diese Struktur kann jedoch auf ganz unterschiedliche, gar antithetische Weisen aktualisiert werden. Entsprechend der Unterscheidung zwischen Struktur und Ausrichtung der Schöpfung79 gilt auch für den Menschen als homo liturgicus, dass er diese Grundstruktur seines Daseins entweder christlich oder apostatisch aktualisieren kann, je nachdem, ob er den dreieinigen Gott oder einen Götzen – ein zum «Gott» gemachtes Geschöpf – anbetet. Aufgrund der Gefallenheit der Schöpfung ist nun die apostatische Orientierung des homo liturgicus der Normalfall. Diese wird von einer Vielzahl an säkularen Liturgien etabliert und gefördert.

«Säkular» werden diese Liturgien deshalb genannt, weil sie eine gegenüber der christlichen Liturgie alternative Formung menschlicher Intentionalität und imagination begünstigen. Die Tatsache, dass solche Praktiken jedoch bewusst als «Liturgien» bezeichnet werden, weist darauf hin, dass sie den Menschen eine «bestimmte, normative Vision menschlichen Gedeihens – ein implizites Verständnis des Letztgültigen» einprägen.80

Die Aufgabe der christlichen Liturgie besteht deshalb darin, der apostatischen Formung des Menschen durch die säkularen Liturgien entgegenzuwirken und eine ihnen antithetische, christliche Formung zu fördern. Im christlichen Gottesdienst |30| geschieht insofern eine «counter-formation»,81 als in ihm und durch ihn eine «dispositional deflection» bewirkt wird.82 Die gefallene Kreatur Mensch wird reorientiert, neu ausgerichtet auf denjenigen, dem allein Anbetung gebührt: den dreieinigen Gott, der sich in Christus offenbart. Im christlichen Gottesdienst geschieht also nichts weniger als jene Formung des Charakters, die den homo liturgicus lapsus zum homo liturgicus christianus macht.

The [Christian] liturgy is a «hearts and minds» strategy, a pedagogy that trains us as disciples precisely by putting our bodies through a regimen of repeated practices that get hold of our heart and «aim» our love toward the kingdom of God.83

Durch die Teilnahme an der christlichen liturgischen Praxis werden Menschen als Gemeinde von Jüngerinnen und Jüngern konstituiert, deren imagination durch die christliche Erzählung (story) geprägt und deren desire auf Gottes Reich ausgerichtet ist. Als solche zum Dienst an Gott «im Alltag der Welt» ermächtigte begnadigte Sünder werden sie in alle Welt gesandt, damit sie «als Träger des Ebenbildes Gottes» ihren «Auftrag, die Stadt zu reformieren, wahrnehmen».84 Der christliche Gottesdienst hat somit sowohl einen zentripetalen als auch einen zentrifugalen Aspekt, wobei der letztere abgesehen vom ersteren nicht zu denken ist. Die zentripetale Teilnahme an der Liturgie als jener Praxis, durch die sich Menschen der transformativen Wirkung des Heiligen Geistes aussetzen, stellt die Bedingung der Möglichkeit für die zentrifulgale Sendung in die Welt dar.85

2.6 Christliche Liturgie als Ort des heiligenden Handeln Gottes

Die Aufgabe der christlichen Liturgie besteht somit darin, «eine Begegnung mit Gott zu fördern, die unser Vorstellungsvermögen [imagination] transformiert und mithin unsere Wahrnehmung [perception] heiligt».86 Hier kommen beide Dimensionen des christlich verstandenen liturgischen Geschehens in ihrer Verschränkung und Irreduzibilität prägnant zur Sprache. |31|

Auf der einen Seite feiern Menschen Gottesdienst. Dies bedeutet, dass sie im Blick darauf Verantwortung tragen, dass die Liturgie die Begegnung mit dem dreieinigen Gott fördert. Gefördert wird diese Begegnung wiederum, wenn die Liturgie so beschaffen ist, dass durch sie «die story von der erlösenden Liebe Gottes in unseren imaginativen Hintergrund herabsinken» kann.87 Zu diesem Zweck ist die Form der Liturgie genau so wichtig wie ihr Inhalt, denn Form und Inhalt sind – entgegen einer verbreiteten Meinung – nicht voneinander zu trennen. «Formen sind nicht neutral», sondern an sich schon immer «ausgerichtet [aimed] und geladen»: «They carry their own teleological orientation and come loaded with a complex of rituals and practices that carry a vision of the good life.»88 Deshalb wäre es fatal zu denken, dass liturgische Formen einfach untereinander austauschbar wären, ohne dass der Formtausch einen Einfluss auf den durch sie vermittelten Inhalt ausübte. Eine erneute Wahrnehmung der formativen Kraft der Liturgie auf dem Hintergrund der von Smith entwickelten «liturgischen Anthropologie» sollte vielmehr bei reformierten Liturgen sowohl ein erhöhtes Formbewusstsein als auch eine größere Sorgfalt bei der Planung bzw. Revision von Liturgien fördern.89

Tragen die Menschen Verantwortung dafür, dass die Liturgie so beschaffen ist, dass sich der christliche Gott ihrer bedienen mag, so geht das tatsächliche Stattfinden der formativen Begegnung mit ihm in der und durch die Liturgie allein auf das Handeln Gottes zurück. In der christlichen Liturgie handeln in diesem Sinne primär nicht Menschen; vielmehr handelt Gott der Heilige Geist an den Menschen. Der Gottesdienst stellt daher ein pneumatisches Geschehen dar, bei dem «der Geist durch und in solchen […] Praktiken uns begegnet, nährt, transformiert und ermächtigt».90|32|

The material practices of Christian worship are not exercises in spiritual self-management but rather the creational means that our gracious God deigns to inhabit for our sanctification. […] Christian worship is primarily a site of divine action.91

Smiths Gottesdienstverständnis weist damit beide Merkmale eines im engeren Sinn formativen Gottesdienstverständnisses auf. Einerseits wird christliche Liturgie als konstitutiv wirksam definiert, weil sie immer eine formative Wirkung auf die an ihr teilnehmenden Menschen freisetzt. Andererseits wird diese Wirkung als eine solche betrachtet, die weder aus den Menschen noch aus der Handlung als solcher hervorgeht, sondern aus Gott, dem primären Subjekt liturgischen Handelns. Gott wirkt formativ auf Menschen in Handlungen, die Menschen vollziehen. Zugleich wird auch die Distanz zwischen Smiths Ansatz und jeglichem expressivistischen Gottesdienstverständnis – bei dem der Gottesdienst in erster Linie als Ausdruckshandeln und der Mensch als dessen primäres Subjekt betrachtet werden – deutlich. Diese Distanz bringt Smith unmissverständlich zur Sprache:

Wide swaths of contemporary Christianity tend to think of worship as only an «upward» act of the people of God who gather to offer up their sacrifice of praise, expressing their gratitude and devotion […]. [S]uch expressivist understandings of worship feed into (and off of) some of the worst aspects of modernity. Worship-as-expression is easily hijacked by the swirling eddy of individualism. In that case, even gathered worship is more like a collection of individual, private encounters with God in which worshipers express an «interior» devotion.92

2.7 Zusammenfassung

Anlass zur Entwicklung seines dezidiert formativen Gottesdienstverständnisses war bei Smith die Reflexion auf die Frage nach dem Ursprung bzw. der Herausbildung des christlichen Grundmotivs, von dem Dooyeweerd sprach. Dieses intepretiert Smith auf dem Hintergrund einer augustinisch geprägten Anthropologie als eine mögliche Bestimmung der Intentionalität des Menschen. Anregungen aus dem Umfeld der Radical Orthodoxy rezipierend, gelangt Smith ferner zur Erkenntnis der fundamentalen Rolle der Praxis – und speziell der gemeinschaftlichen Praktiken – für die Ausbildung des menschlichen Charakters. Unter den gemeinschaftlichen Praktiken kommt aber nur jenen, die das «letztgültige Verlangen» des |33| Menschen beeinflussen, ein spezifisch «liturgischer» Charakter zu. Denn Liturgien sind in den Augen Smiths genau das: Pädagogik des Verlangens. Der christliche Gottesdienst erscheint somit als jene Liturgie, in der Gott der Heilige Geist wirkt, um die imagination und die Grundintention des Menschen in einem spezifisch christlichen – und somit gegenüber den vielen «säkularen» Liturgien, denen die Menschen ebenso ausgesetzt sind, alternativen – Sinne zu prägen.

3. Implikationen des Formativen – Anleitungen zur Praxis

3.1 Der Geist, die Form und die Wiederholung

Die erneute Wahrnehmung des Gottesdienstes als formendes Handeln Gottes an der Gemeinde in und durch die liturgischen Handlungen, die diese vollzieht, bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Praxis sowohl der Liturginnen und Liturgen als auch der Gemeinde insgesamt.

Eine erste Konsequenz besteht in einer Veränderung der allgemeinen Einstellung aller Gottesdienstfeiernden. Wer den Gottesdienst als formatives Handeln versteht, begibt sich in den liturgischen Raum als einen Ort, an dem Menschen der erneuernden Wirkung des Heiligen Geistes ausgesetzt werden. Man beachte: Der Gottesdienst wird nicht als Ort betrachtet, an dem der Heilige Geist vorhanden oder verfügbar wäre, noch werden die liturgischen Handlungen als Rituale verstanden, die dank der Mitwirkung eines «Virtuosen» den Geist heraufbeschwören können. Vielmehr feiert die Gemeinde Gottesdienst im Lichte der Verheißung des Herrn (Mt 18,20) und in der Hoffnung, der dreieinige Gott möge sich der in Gehorsam gegen ihn vollzogenen liturgischen Handlungen bedienen, um die Gemeinde zu transformieren.

Das formative Gottesdienstverständnis fördert ferner die Anerkennung des engen Zusammenhangs von Inhalt und Form der Liturgie. Erstens tritt die Unentbehrlichkeit der liturgischen Form deutlich zutage. Dass Gott an den Menschen durch liturgische Handlungen handelt, kommt daher, dass sich der Schöpfer kreatürlicher Mittel bedient, um die Menschen, die ja Kreaturen sind, zu heiligen. Gewöhnliche Dinge und Handlungen wie Wasser, Brot, Wein, die Sprache und das Hören, Essen, Trinken und Baden sind und bleiben kreatürliche Mittel, die Gott aber «weiht» und «zum heiligen Gebrauch bestimmt», damit er durch sie an den Menschen handeln kann.93 Das Zeichen ist nicht die Sache selbst, wohl aber das, was überhaupt Zugang zur Sache verschafft.94 Liturgische Formen sind also unentbehrlich. |34|

Sie sind jedoch nicht nur unentbehrlich für die Vermittlung des Inhalts, sondern auch – zweitens – qualitativ mit dem vermittelten Inhalt verbunden. Formen sind keine neutralen Werkzeuge, die man beliebig austauschen könnte, um den vermeintlich gleich bleibenden Inhalt zu vermitteln. Formen haben vielmehr eine bestimmte «teleologische Ausrichtung»,95 sodass eine Veränderung der Form immer auch eine Veränderung des Inhalts mit sich bringt. Dies darf selbstverständlich nicht als Plädoyer für den totalen liturgischen Konservatismus missverstanden werden. Vielmehr geht es darum, ein klares Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass liturgische Reformen immer auch den Inhalt und damit die formative Wirkung der Liturgie beeinflussen, um in diesem Bewusstsein verschiedene Ideen und Vorschläge kritisch reflektieren zu können.

Neben Unentbehrlichkeit und Nicht-Indifferenz eignet der liturgischen Form als drittes Merkmal auch die Gebrochenheit.96 Da die Mittel kratürlich sind, bleibt die liturgische Form angesichts der Gefallenheit der Schöpfung immer gebrochen. Dass sie ihre Wirkung wirklich entfaltet, hängt von Gott allein ab. Die Gemeinde begnadigter Sünderinnen und Sünder feiert ihren Gottesdienst im Zeichen der Hoffnung. Es wäre aber fatal, aus diesen Überlegungen eine Relativierung der Unentbehrlichkeit liturgischer Formen herzuleiten. Liturgische Formen sind vielmehr sowohl unentbehrlich als auch gebrochen; unentberhrlich in ihrer Gebrochenheit und gebrochen in ihrer Unentbehrlichkeit. Die Herausforderung besteht somit darin, die liturgische Form zu pflegen, indem man Spiritualismus (Leugnung der Unentbehrlichkeit) und Ritualismus (Leugnung der Gebrochenheit) meidet.

Durch die gebrochene Form der Liturgie wirkt also der Geist. Gott handelt an der gefallenen Kreatur entsprechend ihrer Kreatürlichkeit, die er nicht aufheben, sondern heiligen will. Der Mensch bleibt homo liturgicus, wird aber durch die christliche Liturgie auf eine bestimmte Weise geformt, nämlich zum homo liturgicus christianus. Wenn man aber davon ausgeht, dass die Formung des Charakters immer liturgisch geschieht, dann impliziert dies schließlich auch eine erneute Wahrnehmung und Würdigung der Wiederholung in liturgischen Belangen. Denn die von Gott intendierte «spiritual deflection» geschieht nicht augenblicklich, sondern sie erfordert Wiederholung und «habituation»:

There will be no sanctification of our perception apart from a regular, repeated recentering of our imagination in the Story of the gospel as rehearsed and enacted in the «practical logic» of Christian worship. So it is precisely our [the Protestants’] allergy to |35| repetition in worship that has undercut the counterformative power of Christian worship – because all kinds of secular liturgies shamelessly affirm the good of repetition. […] Unless Christian worship eschews the cult of novelty and embraces the good of faithful repetition, we will constantly be ceding habituation to secular liturgies.97

3.2 Formation durch Liturgie – ein liturgiedidaktischer Ausblick

Die wichtigste liturgiedidaktische Schlussfolgerung, die wir aus dem formativen Ansatz ziehen, lässt sich im Lichte unserer Ausführungen auf den einfachen Nenner bringen: Gottesdienstfeiern übt man. Damit sind zwei Bezugspunkte im Blick, auf die sich jede liturgische Didaktik bezieht. Es ist dies einerseits die Spiritualität und andererseits die Bildung. Spiritualität im Sinne einer Übung bzw. Ein- und Ausübung des Glaubens und Bildung als Ausbildung eines Habitus kommen im Gottesdienst zusammen. Anders gesagt: Wenn man dem heiligen Spiel des Gottesdienstes eine charakterbildende Wirkung zutraut, rückt die Liturgie als Ort des Feiernlernens selbst ins Zentrum. Das wiederum lässt uns zum Schluss nach Konzepten Ausschau halten, die über eine Bildung zum Gottesdienst hin nachdenken lassen und in der katholischen und orthodoxen Tradition mit dem Begriff der Mystagogie in Verbindung gebracht werden.

Der römisch-katholische Religionspädagoge Rolf Sauer spricht in diesem Zusammenhang von der «Kunst, Gott zu feiern». Auf dem Hintergrund der konziliaren Gottesdiensttheologie und einer liturgischen Anthropologie, die er im Anschluss an Romano Guardinis Überlegungen zur Liturgiefähigkeit entfaltet, stellt Sauer den gemeinschaftlichen Vollzug des Gottesdienstes ins Zentrum.98 Aus dem Verständnis des Gottesdienstes als normativen Selbstvollzug der Kirche, in dem die Gemeinde als Subjekt und Träger des liturgischen Tuns nicht nur sich selbst, sondern Gott erfährt, leitet er die Forderung einer mystagogischen Liturgie ab. Gemeint ist damit eine Praxis, die Praktiken, die den Zugang zum Geheimnis Gottes vorbereiten, im Vollzug lehrt und üben lässt. Feier wird zur Gebetsschule.99 Sie wird zum bedeutsamsten Ort liturgischer Bildung, «der die Mitfeiernden durch den Vollzug der Liturgie liturgisch formt».100 Dies hat wiederum zur Konsequenz, dass auch der Religionsunterricht in wesentlichen Teilen zum Gottesdienst hinführen und gottesdienstfähig machen soll. Die Inhalte des Ministrantenpastorals – das Vertrautmachen mit dem Kirchenjahr, die Erschließung liturgischer Zeichen, der Aufbau der Eucharistiefeier, die Pflege des Liedgutes und die Verbundung von |36| Liturgie und Diakonie101 – werden zu elementaren Lernzielen des gesamten Katechumenats.

In eine ähnliche Richtung zielen Überlegungen des amerikanischen Theologen Gordon W. Lathrop, der am Lutherischen Theologischen Seminar in Philadelphia eine Professur für Liturgie bekleidet und in vielerlei Hinsicht als Brückenbauer zwischen den liturgischen Kulturen der Orthodoxie und des Protestantismus gelten kann.102 Sein Dreischritt einer liturgischen Theologie, Ekklesiologie und Kosmologie103 basiert auf auf einer Kernaussage aus Cyrills von Jerusalem mystagogischen Katechesen: das Heilige den Heiligen.104 Der Zugang zu den heiligen Dingen wird von Lathrop als Vollzug einer Primary Liturgical Theology begriffen, die in einer Secondary Liturgical Theology mit Bezug auf Quellen historisch und systematisch und in einer Pastoral Liturgical Theology mit Bezug auf die Gemeinde praktisch reflektiert wird.105 Stärker als Sauer sehen wir bei Lathrop das Bemühen, die Theologie an ihre Bildungsaufgabe zu erinnern und nach dem inneren Zusammenhang der ersten, zweiten und dritten Theologie zu fragen.106

Der Seitenblick auf Liturgiker der Schwesternkirchen am Ende unseres Beitrags soll noch einmal das Stichwort ins Gedächtnis rufen, von dem wir ausgegangen sind. Letztlich erkennen wir auch in der didaktischen Reflexion jene Grundfigur der Dialektik göttlichen und menschlichen Handelns wieder, die sich für ein theologisch fundiertes Nachdenken über den «Gottesdienst der Kirche» als zentral erwiesen hat. Die Bildung zum Gottesdienst klärt Voraussetzungen und macht Vorbereitungen, um die Bildung im Gottesdienst geschehen zu lassen. Was das heißt, muss sowohl im konfessionellen wie ökumenischen Rahmen neu bedacht werden.107 Dass wir immer noch reformierte, römisch-katholische und orthodoxe Theologie treiben, hat eben damit zu tun, dass wir immer noch reformiert, katholisch und orthodox Gottesdienst feiern. Also sind auch die Übergänge der symbolisch-metaphorisch-performativen Kommunikationsmodi des Gottesdienstes in die diskursiv-propositionalen Denk- und Sprachformen der Theologie |37| immer noch konfessionell geprägt. Daraus zu schließen, dass es keinen Gottesdienst der einen, heiligen und katholischen Kirche geben kann, wäre nicht nur ein fataler theologischer Fehlschluss, sondern würde auch das Fundament einer Liturgiedidaktik in Frage stellen, die nach dem Ordo der Una Sancta fragt, der in der Feier des Gottesdienstes am Werk ist – auch wenn wir diesen einen Gottesdienst nur in der Vielfalt der Formen haben.

Wenn wir also ernst nehmen, dass die Liturgik vom und im Gottesdienst der Kirche lernt und nicht nur über ihn lehrt, nehmen wir auch ernst, dass die Liturgie kein Besitz unser Konfession bzw. unserer Kirche ist. Liturgie muss uns dann aber immer auch fremd bleiben – gerade weil ihre Quelle der Gottesdienst der Kirche ist. Lathrop notiert mit einer Referenz auf die Didascalia Apostolorum diesen u. E. wichtigen Gedanken:

Liturgical formation […] will not be the creation of the ownership nor the taming of the symbols, but rather the passing on of polarity. It will involve a welcome to here that always is open to there, an invitation that does not forget the warning, a warning always paired with invitation.108

Wenn man den Gottesdienst auf einen Ausdruck religiöser Gefühle reduziert, schlägt man diese Warnung in den Wind und verpasst die Einladung. Liturgische Bildung ist darum gut beraten, dem ungezähmten Symbol in der eigenen Konfession Beachtung zu schenken. Darum gehört zu einer theologisch fundierten Liturgiedidaktik zwingend auch die Begegnung mit Liturgien von Christen, die anders feiern. Um dann hoffentlich zu erfahren: Sie feiern anders, aber sie feiern denselben Jesus Christus heute, morgen und in Ewigkeit (Hebr 13,8). |38|

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Der evangelische Gottesdienst als gemeinsames Gebet

Fundamentalliturgische und liturgiepraktische Herausforderungen

Alexander Deeg

1. Gottesdienst und gemeinsames Gebet oder: Die grundlegende Aporie des evangelischen Gottesdienstes

1.1 Der Gottesdienst – ein Gebet?