Geniale Bäume - Harriet Rix - E-Book

Geniale Bäume E-Book

Harriet Rix

0,0
22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Bäume – die stillen Strippenzieher unserer Erde Wir stellen uns Bäume als eine passive Spezies vor, die an einen Ort gebunden ist, dabei gestalten sie ihre Umwelt aktiv. Sie zerkleinern Felsen, verbreitern die Küsten, vergiften gezielt Tiere, kontrollieren Wasserkreisläufe und lösen sogar Waldbrände aus. Seit prähistorischen Zeiten beeinflussen Bäume so ganze Ökosysteme, das Klima und schließlich auch uns Menschen maßgeblich. Die britische Biochemikerin und Journalistin Harriet Rix nimmt uns mit auf eine atemberaubende Weltreise zu Wäldern in Kalifornien, Syrien, Brasilien, dem Himalaya, oder auf La Gomera. Sie erklärt uns das wahre Wesen und die Evolution der mächstigsten Pflanzen, die auf dieser Erde existieren, und bringt uns so die Wunder unserer Natur ein Stück näher.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 620

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Was wir Bäumen als Leistung für unser Ökosystem zugutehalten – die saubere Luft, der Schutz vor Überschwemmungen, die Speicherung von Kohlendioxid –, ist im Grunde nur die Nebenwirkung ihrer eigentlichen Fähigkeiten. Denn Bäume formen ihre Umwelt umfassend. Sie bestimmen den Verlauf von Flüssen, manipulieren die Elemente und beeinflussen die Tierwelt. Einige vergiften mit ihren Samen beispielsweise gezielt kleinere Säugetiere, die nicht nützlich für sie sind, wohingegen größere Primaten diese unbeschadet verbreiten können. Und wussten Sie, dass einzelne Faultiere oft einen speziellen Baum als ihr Zuhause betrachten? Grund dafür sind chemische Verbindungen, die der Baum aussondert und die auf das Faultierhirn wirken: So kommt er nämlich an nährstoffreiche Faultierhinterlassenschaften. Im Laufe der Zeit haben diese außergewöhnlichen Pflanzen sogar den menschlichen Körper geprägt, beispielsweise unser Gehirnwachstum. Unser Schicksal ist mit dem der Bäume verbunden, und wir werden sie auch in Zukunft zum Überleben brauchen. Kürzlich hat eine große Untersuchung gezeigt, dass sie eine noch größere Rolle bei der Bekämpfung der globalen Erwärmung spielen, als wir dachten: Bäume, von denen man annahm, dass sie Methan produzieren, verbrauchen es tatsächlich. Wir sollten diese einzigartigen Landschaftsarchitekten also niemals unterschätzen.

Harriet Rix

Geniale Bäume

Wie sie seit Jahrtausenden das Leben auf der Erde steuern

Aus dem Englischen von Elisabeth Liebl

 

 

 

 

Für meine Mutter und die Goatchers,die unzählige Bäume gepflanzt haben

Einführung

Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit, und diese Kraft ist grün. Aus lichtem Grün sind Himmel und Erde geschaffen und alle Schönheit der Welt.

Hildegard von Bingen[1]

Ich war noch nie gut im Neinsagen und so fand ich mich im Juni 2014, zum ersten Mal in meinem Leben, im Irak wieder. Ich war bei assyrischen Freunden in Amediye untergekommen, einem sehr alten, teilweise von einer antiken Stadtmauer umgebenen Ort auf einer Mesa, einem Tafelberg mit einer Hochebene und Steilhängen. Sie liegt südlich der Gebirgsketten, die den Irak von der Türkei trennen. Es war ein Festtag, an dem der sicheren Landung Noahs auf dem Berggipfel gedacht wurde. Die ganze Familie war zusammengekommen, um gemeinsam pacha zu essen, eine Art assyrisches Haggis aus Schafsinnereien, das schwer im Magen liegt. Das Gespräch kreiste um beunruhigende Themen, denn der IS hatte gerade Mossul eingenommen, das nur 80 Kilometer entfernt lag. Aber als wir uns ans Essen machten, kam unvermittelt Heiterkeit auf, denn der Sohn des Hauses kehrte erfolglos von seiner Wildschweinjagd zurück. Dabei lebten diese zu Hunderten in den Bergen, erzählte er, weil sie sich dort von Eicheln ernährten. In meiner Unbedarftheit staunte ich nicht schlecht, denn ich hatte den Irak nie mit Bäumen assoziiert.

Später an jenem Abend spazierten wir durch den Eichenwald am Fuße der Steilhänge. Anscheinend wuchsen dort viele verschiedene Arten, die sich durch unterschiedliche Blattformen, Rindentextur, Abzweigwinkel der Äste und Eichelgröße auszeichneten. Ein großer Baum hatte einen dicken, hohlen Stamm, der innen verkohlt, aber immer noch lebendig war. Seine langen, glatten dunkelgrünen Blätter verdeckten dunkelbraune und kugelrunde Galläpfel. Diese, so mein Gastgeber, waren der eigentliche Grund, weshalb Amediye im 12. Jahrhundert mit Reichtum gesegnet war: Die Galläpfel enthalten chemische Stoffe, die Tannine, mit denen sich der Baum vor Insekten schützt. Die Menschen hatten sie gesammelt, um daraus erste Tintenmischungen herzustellen.[2] Ein weiterer Baum hatte eine ganze Reihe von Stämmen, wie sie sich beim sogenannten Stockausschlag bilden, wenn die Haupttriebachse bodennah gekappt wird. Seine schmalen, spitzen und silbrig-grünen Blätter waren von einem dünnen Flaum überzogen. Ein anderer Baum schien aus einem gewaltigen Stein zu wachsen, als würde er keine Erde brauchen. Zwischen seinen großen, scharf gezackten Blättern hingen dicht mit Häkchen besetzte Früchte, die sich, wie man mir erzählte, im Herbst zu großen Eicheln entwickelten, einem Grundnahrungsmittel dieser Region. Alles war so ganz anders, als ich es von den europäischen Eichen kannte, mit denen ich in Devon aufgewachsen war. Trotzdem fühlte ich mich in diesem Wald zu Hause.

Wieder zurück in England besuchte ich meine baumforschende Großmutter, die mir schnell meine Wissenslücke aufzeigte. Sie wusste nicht nur von Menschen in den USA und in Griechenland zu berichten, die Eicheln aßen. Sie hatte das im Krieg selbst getan und fand sie gar nicht mal so übel, nur ein bisschen bitter vielleicht (was an den Tanninen liegt). Sie interessierte sich sehr für die Eichen, die ich im Irak gesehen hatte. Eichenarten unterschieden sich teils erheblich, erklärte sie mir. Und nachdem sie infolge der letzten Kaltzeit aus ihren alten Revieren vertrieben worden waren, eroberten sie jetzt weite Gebiete zurück. Eichenwälder erstreckten sich mittlerweile um den ganzen Globus, fuhr sie fort, sie bilden einen Baumgürtel aus miteinander verwandten Arten. Sie beherrschten die Wälder von Nordamerika bis zum Zagros-Gebirge im Irak. Diejenigen Arten, die ich gesehen hatte, versuchten vermutlich, die optimalen Blattformen für jene Regionen zu entwickeln, die sie bis jetzt noch nicht zurückerobert hatten. Bis jetzt? Meine Großmutter sagte das so leichthin, als wären mehr als 12000 Jahre gar nichts.

 

 

Als sich vor etwa 40000 Jahren der moderne Mensch entwickelte, gab es auf der Erde etwa sechs Billionen Bäume. Als wir auf der Bildfläche erschienen, hatten die Bäume bereits die Luft auf dem Planeten ebenso verändert wie das Fließen des Wassers. Sie hatten Feuer als Werkzeug benutzt und enge Beziehungen zu den Pflanzen und Tieren um sie herum geknüpft. Fast 400 Millionen Jahre lang gehörten Bäume zu den größten Organismen an Land. Sie hemmten mit ihren Ästen die Luftzirkulation. Mit ihren Wurzeln dirigierten sie den Fluss des Wassers und wurden so zu Landschaftsarchitekten, die andere Lebensräume in der Natur gestalteten – ein Mosaik von Mikrohabitaten. Wir können dies unschwer erkennen, wenn wir uns die Zeit nehmen, genau hinzuschauen: Ein Baum oder ein Blatt ist die Essenz des Ortes, von dem es stammt. Es trägt die Zeichen seiner Erfahrungen. Das Ginkgoblatt hat Adern, die vor 385 Millionen Jahren optimiert wurden: eine breite Fächerform, die fast zu seiner Ausrottung geführt hätte. Und es enthält die Pigmente einer sich wandelnden Ozonschicht. Noch schwieriger ist es, die komplexe Form des Baumes unterhalb der Erdoberfläche zu ergründen. Dort ist der Baum ein blinder Forscher, geleitet von Pilzen und Bakterien, für die er jedoch auch anfällig ist. Er trägt einen Kompass aus gravitationssensiblen Proteinen in sich, deren einziger Leitstern der Mittelpunkt der Erde ist.

Dieses Buch schreibt die Geschichte der Wirkmächtigkeit von Bäumen, eine Geschichte, die – erstaunlicherweise – bislang noch niemand erzählt hat. Wie Bäume kommunizieren und kooperieren oder was Bäume für die Menschen tun – diese Geschichten wurden bereits erzählt. Aber wie haben Bäume auf die Wechselfälle ihrer Evolution reagiert, und warum haben sie es getan? Hier geht es um die Geschichte des Baum-Seins der Bäume und wie sie die Welt zu einem Ort umwerfender Schönheit und außergewöhnlicher Vielfalt gemacht haben. Dieses Buch ist auch eine Geschichte davon, wie wir Menschen die Bäume sowohl unter- als auch überschätzen, und ein Appell, Verwurzelung nicht mit Inaktivität gleichzusetzen oder Subtilität mit Einfalt. Aber es geht auch um eine Geschichte der Wissenschaft und wie man den Blick über sie hinaus richten kann, denn zu Beginn unserer Evolution wurde unser Vorstellungsvermögen von Bäumen geprägt.

Es ist nur allzu leicht, unsere Sinne und unser technisches Geschick für selbstverständlich zu halten und darüber zu vergessen, wie wenig wir über diese andere Art von Genie wissen, das diese gewaltigen Organismen verkörpern. Wir könnten beispielsweise damit anfangen, von unseren Sinnen besseren Gebrauch zu machen, als wir es gewöhnlich tun. Was die physische Form eines Baumes zu einer atemberaubenden, virtuosen Polyphonie werden lässt, ist seine chemische Wirkung, und hier ermöglichen uns Geruchs- und Tastsinn den Zugang zu einem besseren Verständnis. Haben Sie sich je gefragt, warum Lorbeerblätter ein so würziges Aroma haben? Oder warum die Borke der chilenischen Araukarie nach Gurke riecht? Warum eine Truhe aus Zedernholz diesen warmen, anheimelnden Duft verströmt? Wissenschaftler können die verantwortlichen Stoffe benennen – Polyphenole, Sesquiterpene, Ester –, aber sie werden zögern, wenn man sie nach den Gründen für das Vorhandensein dieser Stoffe fragt. Dass ein bestimmter Geruch Pflanzenfresser abschrecken oder Fäulnis verhindern soll, ist nur eines von vielen Motiven, warum ein Baum seinen ureigensten Duftcocktail kreiert.[3]

Ebenso kann Ihnen eine Ernährungswissenschaftlerin die Menge des Vitamin C in einer Orange angeben sowie die Strukturformel des Vitamins, oder auch die gesundheitlichen Vorzüge von Açaí-Proteinen. Sie kann Ihnen auch zeigen, wie sehr die Fette aus einer Avocado Ihre Haut verbessern können. Aber die gesamte Entstehungsgeschichte dieser Stoffe umfasst etwa 20 Millionen Jahre an Anpassungsprozessen, biochemischen Zyklen und Geduld tief im Baum. Schließlich setzen Bäume bei den Grundlagen an. Luft, Wasser, Salze und Sonnenlicht. Selbst die KI findet nicht genug Informationen, um die ganze Geschichte zu erzählen.[4] Wir Menschen neigen dazu, Bäume zu unterschätzen, indem wir davon ausgehen, dass sie nach dem Anpflanzen einfach wachsen, dass wir sie einfach fällen und durch neue Setzlinge ersetzen können. Da Bäume sich nicht bewegen, vergessen wir leicht, dass sie chemische Ringe um uns herum bilden, während wir schlafen. Dass sie die Erde unter unseren Füßen bewegen und die Farben des Himmels über unseren Köpfen beeinflussen, nicht nur, weil sie uns vor Sonnenlicht schützen, sondern weil sie Kohlendioxid aufnehmen und Sauerstoff abgeben. Und wir vergessen auch, dass winzige Mengen unsichtbaren Stickstoffs eine Eiche mit einem Stamm so breit wie ein Auto zerstören können, einen Baum, der gepflanzt wurde, als die Waliser und die Engländer im 13. Jahrhundert noch Krieg miteinander führten.

Wir teilen mit den Bäumen eine Welt und wollen uns, wie sie auch, selbst erhalten. Im Laufe der Evolution hat die Komplexität der Bäume zu- und nicht abgenommen. Wenn die Atmosphäre der Erde unwirtlich wurde oder die Trockenheit überhandnahm, war die Reaktion der Bäume, dass sie sich diversifizierten – sie veränderten auf höchst erstaunliche Weise ihre Form, damit sie weiter perfekt in das neue Ökosystem passten. Die Flexibilität, die wir Tieren jederzeit zubilligen, weil Proteine sich leichter anpassen als Kohlehydrate, lässt sich bei Bäumen eher in den mikrometerfeinen Interaktionen zwischen Bäumen und ihrer Umgebung beobachten. Wo eine Baumart verkohlte, verhungerte oder vom Wind aus dem Boden gerissen wurde, kamen Hunderte nach.

Was aber ist ein Baum überhaupt? Und wie und warum entstanden Bäume auf der Erde? Die erste Frage können die meisten Menschen auf einen Blick beantworten: Ein Baum besteht aus Blättern, Zweigen und einem Stamm; er wächst in die Höhe und hat eine raue oder glatte Borke. Die fachliche Definition lautet: eine verholzte Pflanze mit einer aufrecht wachsenden Sprossachse; der Stamm weist in einer Höhe von 1,30 Metern einen Durchmesser von wenigstens sieben Zentimetern auf und bildet eine Krone aus Nadeln oder Blättern; ausgereift misst der Stamm eines Baumes wenigstens vier Meter Höhe. Aber wie bei allen Definitionen ist dies nur der Anfang.

Der Bambus etwa, so hoch er auch wachsen kann, fällt durchs Raster, denn die Struktur seiner Sprossachse sagt eindeutig: Es ist ein Gras. Ein Bonsai wiederum fällt unter die Baumdefinition, auch wenn er klein ist, weil seine chemischen Eigenschaften wie die aller Bäume sind und seine Miniblätter und -blüten die äußere Form eines Baumes bilden.

Warum aber teilen die Bäume diese Attribute miteinander? Das ist größtenteils Folge ihrer Art zu leben, um es mal so zu sagen. Bäume sind so erfolgreich, weil sie aus Sonnenlicht und Kohlendioxid Kohlenstoffgerüste in Form von Zucker herstellen, die Energie für alles Leben auf der Erde liefern. Das ist die sogenannte Photosynthese, ein Prozess, für den beide Stoffe – Sonnenlicht und Kohlendioxid – benötigt werden und die daher unverzichtbar sind. Über Jahrmillionen waren sie reichlich vorhanden, und Bäume haben die grundlegenden chemischen Komponenten, um sie zu verwerten, von ihren einzelligen Vorfahren geerbt. Eine wichtige Komponente war die DNA. Ihre stabile Doppelhelix – die Grundstruktur des Lebens – hat sich vor vier Milliarden Jahren entwickelt. Aber die verschiedenen Kombinationen ihrer Nukleotide sind immer noch der replizierbare Code, der hinter der Kontinuität und Entwicklung des Lebens steht. Chlorophyll wiederum entwickelte sich vor 3,5 Millionen Jahren in Bakterien, die im Wasser lebten. Dieses Molekül versetzt Bäume in die Lage, Sonnenlicht in Form von chemischer elektrischer Energie zu speichern. RuBisCo ist das am weitesten verbreitete Enzym der Erde. Es entstand vor 2,4 Millionen Jahren und macht fast 50 Prozent des Proteins in Blättern aus. Es ermöglichte den Photosynthese treibenden Cyanobakterien (die so genannt werden, weil die Bakterien bei diesem Vorgang eine bläuliche Farbe annehmen), die Energie des von ihnen aufgenommenen Sonnenlichts zu speichern, indem sie die Kohlendioxidmoleküle zwingen, eine Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindung einzugehen und sich in die stabile Kette des Lebens als Glukose einzuflechten – die ihrerseits wieder von anderen Lebensformen als Energiespender genutzt werden kann.[5]

Und vor etwa zwei Milliarden Jahren fanden Cyanobakterien eine Möglichkeit, viele Glukoseketten aneinanderzubinden, sodass Cellulose entstand. Dies wiederum ermöglichte den Bau von Zellwänden und die Bildung von festen Strukturen. Als die ersten Pflanzenzellen sich plötzlich an Sandstränden wiederfanden, wurden sie immer wieder von der Sonne verbrannt. Bis letztlich eine Reaktion mit freien Radikalen dazu führte, dass ein Molekül entstand (nämlich Lignin, der hölzerne Teil eines Baumes), welches zumindest einen gewissen Sonnenschutz bot.

So weit, so chemisch. Aber je mehr grüne Zellen sich zusammentaten, desto wichtiger wurden Strukturen. Die Kombination aus Lignin und Cellulose war bei der Entwicklung von Baumstämmen entscheidend. So konnte Wasser nach oben geleitet werden und die Außenhülle wurde entsprechend verstärkt (wie Kevlar®-Fasern), sodass sie Bakterien und Pilzen etwas entgegenzusetzen hatte.[6]

Solche Strukturen waren nötig für Effizienz und Schutz. Wieso dies zur Entstehung eines Organismus führte, der 116 Meter hoch wachsen kann, mehr als zweimal so hoch wie der Schiefe Turm von Pisa, ist die eigentlich interessante Frage. Um zu verstehen, wie sich diese Superstrukturen gebildet und diversifiziert haben, müssen wir der Evolution der Bäume auf ihren ungesicherten Wegen folgen, von denen nur noch schwache Spuren übrig sind, an Fossilienfundorten in französischen Minen, chinesischen Tälern und deutschen Steinbrüchen.

In der Zeit so weit zurückzugehen, führt uns in eine seltsame, offensichtlich beschleunigte Welt, in der Kontinente über die Meere drifteten wie Gummienten und dabei ständig kollidierten. Geologische Zeiträume werden gewöhnlich von großen Aussterbeereignissen begrenzt, durch die sich die ganze Welt abrupt verändert und nur ein kleiner Teil des Lebens auf der Erde fortbesteht. Im Silur zum Beispiel, das vor 440 Millionen Jahren begann, waren es die Pilze, nicht die Bäume, die die Sümpfe des Riesenkontinents Gondwana durchzogen. Zwischen ihnen wucherten Flechten, seltsame Organismen, die eine enge Lebensgemeinschaft aus einzelligen Algen und Pilzen bilden, um die unerbittliche neue Umgebung an Land zu besiedeln. Aber die ersten echten Landpflanzen mit einer Struktur und einem Gefäßsystem waren bereits in der Entwicklung begriffen, und als sich der Wettbewerb um Licht und Boden verschärfte, wuchsen sie auch in die Höhe und nicht mehr nur in die Breite.

Fossilien aus Lindlar in Deutschland zeigen Pflanzen, die mit einer blattbesetzten Spitze nach oben wuchsen sowie krautige Pflanzen von etwa einem Meter Länge, die aussahen wie Tausendfüßler und den Waldboden überwucherten. Im Devon, vor etwa 383 Millionen Jahren, hatten die Bäume bereits verholzende Stämme entwickelt, die von Lignin gestützt wurden. Sie funktionierten bereits als eine Art Wald, fast so, wie sie das heute tun. Die Pilze aber hatten zu jener Zeit an Bedeutung verloren.

Es gibt eine aktuelle Denkschule, die davon ausgeht, dass die Bäume im Devon gediehen, weil sie angefangen hatten, auf ihre abiotische Umgebung – Wasser, Klima und Atmosphäre – einzuwirken. Das Festland war für das Leben immer noch ein relativ neues Umfeld und ein zerstörerisch chaotisches dazu. Taifune, elektrische Stürme, sich verlagernde Sedimente, blanker Felsen: Es handelte sich also nicht um das sanft geschwungene, fruchtbare Land, das wir heute kennen. Zumindest so lange nicht, bis die Bäume ihre Arbeit aufnahmen. Das beste Beispiel für einen rekonstruierbaren fossilen Wald wurde in den 1920ern in Gilboa entdeckt, im Staat New York. Dort finden sich fossile Stämme mit einem Durchmesser von gut einem Meter sowie Stämme von acht Metern Höhe, die in einem fächerförmig ausgebreiteten Blattschopf enden.

Die Ausgrabungsstätte zeigt, dass das Falllaub als dicke Schicht unter den Bäumen lag und nur langsam vermoderte. Das machten sich die Vorfahren von Tausendfüßlern und Spinnen zunutze. Unter den Bäumen wuchsen Sträucher und verflochten sich mit ihren Wurzeln. Verbindungen durch Wurzelableger und Inoskulation waren gang und gäbe. Man spricht hier buchstäblich von »Küssen«, wenn Bäume ineinander wachsen und miteinander verschmelzen. Das Bild des sumpfigen Waldbodens, das diese Fossilien uns zeigen, hat mit den modernen Plantagen, in denen die Bäume aufrecht in einer Reihe stehen, nicht die geringste Ähnlichkeit. Allerdings waren diese Wälder so produktiv, dass jeder moderne Forstwirt neidisch würde: schnelle Photosynthese und massenhafte Aufnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Im Übrigen lenkten sie das Wasser in der Umgebung in klar definierte Kanäle, wodurch Flüsse erst entstanden.

Eine Neuentdeckung aus dem Jahr 2019 lässt uns besser verstehen, wie Bäume vor 386 Millionen Jahren auf ihre Umwelt einwirkten. Ausgrabungen im Cairo-Steinbruch bei Gilboa in Albany im Bundesstaat New York legten ein riesiges Wurzelsystem von teils elf Metern Breite offen. Es gehörte zu einem Baum namens Archaeopteris, der in einem unerwartet trockenen Umfeld Gestein mit einer Geschwindigkeit zerkleinerte, die sich niemand vorstellen konnte. Dieser Vorgang war an und für sich nichts Neues, aber die Bäume industrialisierten ihn sozusagen. Sie brachen Felsen auf, sodass daraus Erde entstehen konnte und Sand, der ins Meer sank. Dort reagierte er mit dem sauren Wasser, wobei er unglaubliche Mengen Kohlendioxid band.

Diese Bäume, riesige Bärlappgewächse und Baumfarne, breiteten sich im Devon massiv aus und traten mit ihrer Umwelt in eine Beziehung, die wir heute unter Ökosystemleistung oder Naturkapital einordnen würden. Baumähnliche Pflanzen stabilisierten mit ihren Wurzeln Flussauen. Die mäandernden Flüsse wurden von den Stämmen riesiger Bärlappgewächse gestaut, was beinahe aussah wie heutige Biberdämme. Die Bäume bildeten schützende Gürtel und stabilisierten auch die Luftbewegung. Zu jener Zeit wehten vom Ozean her heftige Winde und trafen dabei auf Widerstand in Form dieses Schutzgürtels, der ihre Energie absorbierte und verteilte. Regen fiel auf die Küstenwälder, verdampfte und die so gebildeten Wolken zogen weiter ins Inland, wo sie abregneten. So ließen sie die enormen Trockenflächen im Inneren der riesigen Kontinente schrumpfen und sorgten dafür, dass die Bäume weiter ins Landesinnere vordringen konnten.

Wir besitzen zwar nur wenige vollständige Baumfossilien, doch die markanten Sporen jeder Art, die millionenfach produziert wurden, lassen sich über alle Kontinente hinweg in den Gesteinsschichten verfolgen. Dieses Sporengedächtnis zeigt uns, dass es in den ersten 50 Millionen Jahren der Baumentwicklung und -verbreitung zu massiven Veränderungen in der Verteilung der Arten kam. Als vor 300 Millionen Jahren das Karbon endete, hatten Bäume sich so weit über die Erde verteilt und dabei so viel Kohlendioxid gebunden, dass die Atmosphäre sich vollkommen veränderte. Ihr Sauerstoffgehalt stieg von 15 auf 35 Prozent, was das Leben auf der Erde verwandelte. Die Tiere wurden gigantisch groß, die Pflanzen hatten Schwierigkeiten mit der Anpassung, und Sauerstoff stand in solchen Mengen zur Verfügung, dass Brände riesige Waldflächen zerstören konnten. Ein spezieller Typ fossilen Kohlenstoffes ist das Fusain, das sich in den fossilen Lagerstätten des Karbons anreicherte. Die holzkohleähnliche Substanz belegt, dass es damals zu ausgedehnten Waldbränden kam.

Ihre Struktur und Chemie erlaubte den Bäumen, dem Wüten des Feuers und der anderen Elemente nicht nur zu widerstehen, sondern es für ihre Zwecke zu nutzen. Aus der Asche der Karbon-Wälder entstanden gut tausend neue Baumarten. Die Bäume hatten für sich eine Lebensform und einen Zeitrahmen gefunden, die sich als enorm erfolgreich erwiesen. Als Primärproduzenten und Architekten der Erde schafften sie es sogar, riesenhafte Pflanzenfresser wie die Dinosaurier zu überleben.

 

 

2018 reiste ich mit einem Team von Minenräumern wieder in den Irak. In der Provinz Anbar sollten wir ein nahe am Euphrat gelegenes Feld von improvisierten Minen-Sprengladungen räumen, die der IS gelegt hatte. Um vier Uhr morgens fingen wir mit der Arbeit an. Bis Mittag war es glühend heiß geworden, sodass ich mich in einen Dattelpalmhain flüchtete. Dort unterhielt ich mich mit einem Mann, der wegen der Minen schon zwei Ziegen verloren hatte und dem daher sehr daran gelegen war, dass sämtliche Sprengladungen entschärft wurden. Vielleicht lag es daran, dass die Wüste mich ohnehin schon aus meiner Komfortzone gerissen hatte. Oder daran, dass ich die Zerstörung der Stadt Ramadi mit eigenen Augen sah, all die Mauern, die sich übereinanderschoben wie die Rippen eines Akkordeons. Aber als der Mann meinte, die Zeiten seien schlecht und die Palmen stürben ab, eine nach der anderen, begriff ich zum ersten Mal, was Umweltzerstörung wirklich bedeutet – herausgerissen zu werden aus dem Lebensreigen, Stück um Stück, Baum um Baum. Wassermangel, Sandstürme, die Gluthitze, der Krieg – all das kam zusammen, um diese Bäume, einen nach dem anderen, zu vernichten. Wären sie erst verschwunden, würde auch alles andere verschwinden – Erde, Vögel, Pflanzen. Wir stünden allein im Kampf gegen Taifune und Sandstürme, durstig und hungrig, zurückgeworfen in eine baumlose Welt wie vor 385 Millionen Jahren.

Was konnte diese Entwicklung aufhalten? Mir wurde bewusst, dass ich schon vier Jahre zuvor auf die Antwort gestoßen war, in Amediye, als wir die Steinstufen von der Zitadelle herunterspaziert waren, durch das steinerne Tor und hinaus in die Wälder, die das Städtchen umgaben. Die Eichen, die ich dort gesehen hatte – knorrig, mehrstämmig, mit Blättern und Stämmen, die sich so sehr von den 3000 Kilometer entfernten Eichenwäldern in Devon unterschieden und ihnen dann doch wieder recht ähnlich waren –, lebten dort seit hundert, zweihundert, vielleicht sogar tausend Jahren. Sie hatten sich angepasst und prägten nun ihrerseits Mensch, Tier und Pflanzenwelt um sie herum. Ihre Wurzeln sprengten Fels zu mineralstoffreicher Erde. Ihre miteinander verflochtenen Zweige waren sensibilisiert für unzählige chemische Signale. Ihre Blätter hatten sich perfekt an die Umgebung angepasst und setzten Wasserdampf frei, der sich zu Wolken ballte und Regen abgab. Die Bäume kommunizierten nicht nur mit den Pflanzen in unmittelbarer Umgebung. Sie gehörten vielmehr zu einem Meta-Organismus, einer Baumlandschaft, die sich über Jahrtausende hinweg über die ganze Welt ausgebreitet hatte. Ich begriff, dass wir mittlerweile das große Ganze sehen können: Dass, in den frühen Tagen auf diesem sturmgepeitschten Planeten, Bäume sichere Orte geschaffen hatten, Räume mit einer tief verwurzelten Stabilität – und dass sie mit ihrer kommunikativen Verbundenheit auch heute noch dieses stabile Umfeld garantierten.

Eine der Superkräfte, die man bei den Eichen in Amediye entdeckte, ist, dass sie in einem bestimmten Alter das Geschlecht ändern können. Die meisten jungen Bäume sind männlich und produzieren Pollen, während die älteren weiblich sind und Eicheln hervorbringen. So können die Eichen sich in die Zukunft vortasten, denn die riesigen, alten weiblichen Bäume werden von vielen jungen männlichen bestäubt. Die etablierte Eiche, die erfolgreich überlebt hat, versieht ihre vielen fetthaltigen Eicheln mit der Energie für die nächste Generation. Die jungen Bäume können so heranwachsen und DNA produzieren, die über viele Jahre hinweg erfolgreich ist, selbst wenn Winde und Klima sich langfristig verändern. Die männlichen Schösslinge hingegen sind erst seit Kurzem da. Ihr Pollen enthält DNA und modifizierende Proteine, die sich erfolgreich gegen jüngere Krankheiten und Veränderungen von Wasser und Klima zur Wehr gesetzt haben. So erben die Nachkommen das Beste beider Welten: die angeborene Fähigkeit, durch jüngere Ereignisse modifizierte Elemente für sich nutzbar zu machen, aber auch, sich Jahr für Jahr gegen die unerbittliche Hand der Zerstörung zu verteidigen.

Wir halten Bäume nur allzu leicht für passiv, weil wir nicht sehen können, was sie tun. Für Opfer, weil wir jederzeit zur Kettensäge greifen und einen ganzen Hang abholzen können. Oder kann unsere ästhetische Wertschätzung für die Bäume uns bewegen, sie zu schützen? Haben Bäume diese Ästhetik vielleicht gar kultiviert? Die größte Weisheit liegt in der Einsicht, dass Wertschätzung und Schutz der Natur zwei Seiten derselben Medaille sind. Was wir für die Ökosystemleistungen der Bäume halten – die saubere Luft, der Schutz vor Überschwemmungen, die Speicherung von Kohlendioxid –, ist nur die Nebenwirkung der Fähigkeit eben dieser Bäume, ihre Umwelt zu formen. Dankenswerterweise sind wir in einer von Bäumen geprägten Umwelt aufgewachsen. Unsere Interessen sind auch die der Bäume. Denn unsere Existenz hängt ebenso von dieser Leistung ab wie die ihre.

Die Wirkmächtigkeit der Bäume schenkt uns Hoffnung für die Zukunft – zumindest, wenn wir unsere guten Absichten im Zaum halten und die Bäume machen lassen. Bestimmte Aufforstungsprogramme sind der Grund, warum Baumkrankheiten sich immer weiter ausbreiten. Eukalyptus zu pflanzen, den Baum, der sich von allen am leichtesten entzündet, um Kohlendioxid zu binden, ist nicht von Dauer. Ähnliches gilt für eine Wiederaufforstung mit Kiefern. Diese Bäume schießen schnell in die Höhe und zerstören sich am Ende selbst. Das Schreckgespenst der gescheiterten Wiederaufforstungsprogramme sollte uns lehren, dass es nicht das eine Allheilmittel gibt und dogmatisches Vorgehen der Natur nur Schaden zufügt. Wie bei allen sinnvollen Umweltschutzprogrammen geht es auch hier um eine globale Geschichte der Anpassung und des Austauschs. Bäume können nicht überall leben, aber das müssen sie auch nicht. Denn ihre ausgleichende Wirkung kann sich weit über ihren Standort hinaus erstrecken und Russland mit Amerika und China mit Chile verbinden.

Doch unsere Geschichte beginnt letztlich vor der Küste Afrikas, in einem Nebelwald auf der winzigen Insel La Gomera, wo uns der Duft wilden Lorbeers entgegenschlägt …

1Bäume und das Wasser

Wie Bäume das Wasser vom Himmel holten und wieder zurückschickten

Hinter dem Wald liegt ein Himmel, liegen unbegrenzte, brodelnde Meere, Wellen aus dem Schaum der Träume, der von Händen aus Licht aufgeschlagen wird.

Nazik al-Mala’ika[7]

Die Wolke schmeckte nach Mandeln. Der Baum mit dem graurindigen Stamm, den ich betrachtete, war gut dreißig Meter in die Höhe geschossen, wo er im dichtem Nebel verschwand. Alles an ihm – die dichten smaragdgrünen Blätter, die toten, schuppigen Zweige, die vermoosten Gabelungen zwischen den Blättern – sonderte dicke Wassertropfen ab, die die Welt in tausend kugeligen Reflexionen widerspiegelten. Es war eine überdachte Welt aus Wolken und Moos und tiefem Grün. Ich wusste, ohne es sehen zu können, dass an den Abhängen Lorbeerbäume gediehen. Würde ich aber nur ein paar Schritte den Berghang hinabsteigen, wäre der Himmel klar und die gleißende Sonne würde glühen. Ich könnte das Meer sehen und müsste mich durch Kakteen und Wolfsmilchgewächse in der sengenden Hitze nach unten kämpfen. Doch diese alternative Wirklichkeit schien hier weit entfernt. Es war Februar und ich war auf den Kanaren, wo ich die Wolkenwälder von La Gomera besuchte.

Bäume sind Wolkenjäger, und Wolkenwälder – bekannt für ihre Nebelschwaden, die sich nie auflösen – gibt es nicht nur auf den Kanaren. Wir finden sie ebenso in Brasilien und Costa Rica, in China und auf Borneo, in Australien und auf den Philippinen. Wolkenwälder kommen überall dort vor, wo die Landschaft Wasser aus der Luft sammelt – üblicherweise geschieht das in küstennahen Bergen. Aber Bäume dirigieren das Wasser nicht nur in Wolkenwäldern. Alle drei Billionen Bäume auf der Erde beeinflussen den Niederschlag und den Wasserkreislauf über und unter ihnen.

In einem gewissen Sinn haben Bäume sich entwickelt, um Macht über das Wasser zu erlangen. Während der Photosynthese benutzen Bäume kleine Päckchen Sonnenenergie, um Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zu spalten und Elektronen auf das Kohlendioxid zu übertragen, damit daraus Zucker entstehen kann.[8] Das heißt: Sie brauchen große Mengen Luft und Wasser – was sich ausschließt, sofern man nicht in die Vertikale geht. In den frühen Stadien ihrer Evolution, als die Urahnen der Bäume in staunassen Böden standen, fingen sie an, in die Höhe zu wachsen, sodass die grünen Teile der Pflanze über die Wasseroberfläche in die Luft ragten, wo sie Photosynthese betreiben konnten. In trockenen Regionen hingegen verschaffte ihnen ein vertikales Wachstum nach unten Zugang zu tieferen Wasserquellen.[9]

Nachdem diese Wuchsform sich als so erfolgreich und vorteilhaft erwiesen hatte, behielten die Bäume diese organisierte Anatomie zur weiteren Nutzung bei.[10] Über der Erdoberfläche sind Bäume Regenmacher. Sie wachsen hoch, um mit ihren Zweigen und Blättern den Luftstrom zu unterbrechen und dabei flüchtige organische Verbindungen wie Duftstoffe oder Alkohole zu verströmen, die als Kondensationskeime für Wolken fungieren können. Die Bäume lassen Wasserdampf aus ihren Stomata (Spaltöffnungen in der Epidermis) austreten, was einen dauerhaften Strom von Feuchtigkeit in der Luft erzeugt. Unter der Erdoberfläche sammeln die Wurzeln Wasser und verteilen es neu. Sie leiten gerade so viel Wasser in den Grundwasserspiegel ein, dass ihre Wurzeln immer auf stabilem Grund stehen. Und dazwischen kontrolliert der Baum das Wasser, das ihm zur Verfügung steht. So wie Menschen nach oben greifen und einen Apfel pflücken, diesen für den Verzehr gründlich kauen und dann das Gehäuse einpflanzen können, so nutzen Bäume alle drei Fähigkeiten, um das Wasser über die Erde zu lenken.

Alles in allem stellen die Bäume der Erde eine sinnvolle globale Wasserführung sicher. Die Bäume aller 73000 Arten nehmen ständig winzige Anpassungen vor. Normalerweise aber sind die daraus resultierenden Veränderungen so minimal, dass man sie bestreiten oder ignorieren kann. Oder sie sind, wie im Amazonas-Regenwald, so gewaltig, dass man sie nicht auf Anhieb versteht. Ich war nicht nur wegen des dramatischen Gegensatzes von Wüstenlandschaft und Nebelwald nach La Gomera gekommen, sondern auch, weil diese Bäume sich massiv anstrengen, um ihre Wolken zu halten. Man kann sehen, wie das Wasser von den Zweigen tropft. Man kann die Terpene riechen, die als Kondensationskeime dienen. Und wenn man die dunkelgrünen Blattformen über dem eigenen Kopf betrachtet, ist es recht offensichtlich, dass man es mit Wolkenfängern zu tun hat, mit Zweigen, die sich strecken, um den Bauch der Wolke zu kitzeln. Was Sie nicht sehen, ist der Effekt der Transpiration – die Wassermoleküle, die erst von den Wurzeln hoch- und dann mit ihren Mineralstoffen weiter den Stamm hinaufgesogen und in die Blätter geleitet werden, wo sie mit einem letzten Energieschub in die Luft austreten. Fühlen allerdings können Sie das, denn unter den Bäumen ist es ausgesprochen kühl, weil die Hitze den Wassermolekülen folgt, die nach oben wandern, um die Wolken anschwellen zu lassen.

Aber hat nun das Wasser den Bäumen die Richtung vorgegeben oder sind es die Bäume, die das Wasser lenken? Ein bisschen von beidem, aber Bäume sind nun einmal besonders gut darin, jeden verfügbaren Tropfen Wasser zu verwerten. Wenn das Umgebungsklima sich wandelt, dann entwickeln Bäume sich weiter, damit sie, wo immer möglich, die Veränderung durch noch bessere Wassernutzung ausgleichen können. Der Großteil der Bäume, die zum Beispiel in den Monteverde-Wolkenwäldern wachsen, den überwiegend immergrünen Wäldern, die in bergigen Regionen entstehen, sind seltene Lorbeerbäume. Sie sind Überlebende, die sich nach dem letzten großen Aussterbeereignis vor 66 Millionen Jahren diversifiziert haben, als in Chicxulub in Mexiko ein Asteroid einschlug. Danach war es auf der Erde dunkel, das Chaos brach aus, ein Mantel aus Iridium legte sich über den Planeten und ließ die (nicht-vogelartigen) Dinosaurier aussterben.

Vor deren Aussterben hatten Wälder ein geschlossenes Laubdach und waren hauptsächlich von Gymnospermen (wörtlich: Nacktsamern) bevölkert. Diese wachsen hoch und gerade und leben lange. Sie verändern die abiotische Umgebung – Wasser, Luft, Erde und Feuer – dramatisch. In den ersten 300 Millionen Jahren der Baumexistenz prägten diese Bäume das Angesicht der Welt. Sie wachsen heute noch auf sechs von sieben Kontinenten, ja selbst in einigen der unwirtlichsten Weltgegenden. Zu ihnen gehören Tannen, Kiefern, Lärchen, Araukarien, Eiben und Wollemien, Mammutbäume und Steineiben (Podocarpus), die hochgewachsenen Zypressen und der mächtige Kauri. Einige von ihnen gehören zu den am stärksten vom Aussterben bedrohten Baumarten der Erde. Der Einschlag des Asteroiden hat für viele dieser Bäume den Anfang vom Ende markiert. Da sich die Bäume, die sich danach entwickelten, fundamental von ihren Vorgängern unterschieden, bitte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, um Nachsicht, wenn ich jetzt einen kurzen Abstecher in die Geschichte der Bäume unternehme. Bitte bleiben Sie bei mir, denn es geht ja letztlich nur um eine Seite. Die aber ist wichtig, wenn Sie verstehen wollen, welche Auswirkungen Bäume auf das Wasser haben. Aber nicht nur das: Es geht auch um ihr Aussehen und Wachstum. Und wie das unsere Welt geprägt hat.

 

 

Durch die Baumwelt verläuft eine saubere Trennlinie, die sie in Nadelhölzer (Koniferen oder wörtlich »Zapfenträger«) und Laubbäume teilt. Mit einigen Ausnahmen (zu denen die laubabwerfenden Erlen gehören, die gerne an Flussufern stehen, sodass ihre winzigen Zapfen von der Strömung flussabwärts getragen werden; die Kasuarinen aus Indien, den Philippinen und Australien mit ihren röhrenförmigen, hängenden Blättern, die wie grünes Rosshaar wirken, und den warzigen Zapfen; und Platycarya strobilacea, die als Fossil in den London-Clay-Formationen gefunden wurde und heute in China, Korea und Vietnam munter sprießt; sie wirkt fast wie ein Walnussbaum, bis man die zapfenförmigen Fruchtstände sieht) sind alle Bäume mit Zapfen Gymnospermen oder Nacktsamer.

Auf der anderen Seite dieser Trennlinie finden wir die Angiospermen oder Bedecktsamer. Vor 200 Millionen Jahren entwickelte sich unter dem dichten Dach der Gymnospermen eine Blütenpflanze, die später vom Einschlag des Chicxulub-Asteroiden profitierte und sich zu der vielfältigen und facettenreichen Pflanzengruppe entwickelte, die wir heute als Blühpflanzen kennen. Einige dieser Bedecktsamer wuchsen zu Bäumen heran. Sie weisen meist breite Blätter auf und sind sommergrün, was heißt, dass sie ihr Laub in der kalten und dunklen Jahreszeit abwerfen. Zu den Angiospermen gehören die Eichen und Eschen, Eisenholzbäume und Baobab, Eukalyptus und Lorbeer, Palmen und Rhododendren. Bedeckt wird der Same dabei von einem Fruchtblatt: ein dickeres Blatt, das sich um das Ovar windet. Der Pollen muss also zuerst eine Schranke passieren, die die Pflanze errichtet hat, bevor er Keimzellen hervorbringen kann. Das war ein extrem wirkmächtiger Mechanismus, weil er der weiblichen Pflanze – was hier einfach diejenige ist, die Samen produziert und daher den Großteil ihrer Nährstoffe in den potenziellen Nachwuchs investiert – eine Möglichkeit zu wählen gab. Sie hatte also die Möglichkeit, die DNA ihres Nachwuchses zu bestimmen und so die Evolution zu beeinflussen.

Mit dem Ergebnis, dass sowohl auf chemischer als auch auf physikalischer Ebene Diversität und Flexibilität sich ständig erhöhten. Es ist ja nicht nur unsere Vorstellungskraft, die Angiospermen jünger und weniger gravitätisch wirken lassen als ihre nacktsamigen Baumgenossen. Riesige Sequoiabäume und andere Gymnospermen haben häufig enorme Zapfen, die darauf warten müssen aufzuspringen, sobald sie den Boden berühren. Man nimmt an, dass dies damit zu tun hat, dass die Dinosaurier so manchen Baum einfach umschubsten. Angiospermen hingegen können sich überall verwurzeln. Selbst eine hundertjährige Buche kann aus dem Stamm wieder austreiben, wenn sie einmal umgestürzt ist. Das sind sozusagen die Phönixbäume. Auch genetisch sind die Angiospermen flexibler. Sie duplizieren ihre DNA und experimentieren mit neuen chemischen Stoffen. Die Fähigkeit, Blüten und Früchte zu produzieren, und die damit einhergehende kürzere Reproduktionsspanne sorgte dafür, dass Angiospermen ihre biotische Umgebung nachhaltig prägten – Bakterien, Pilze, Pflanzen, Tiere und vielleicht auch Menschen, deutlich stärker jedenfalls, als die Gymnospermen es taten.

Unter der Dunkelheit des auf den Einschlag folgenden Impaktwinters hatten vor allem die Gymnospermen[11] zu leiden, die alten immergrünen Bäume, die die Erde im Karbon bedeckten.[12] Ihre Blätter, die in einem Zeitalter mit hohem Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre ausgereicht hatten, waren nun plötzlich zu klein. Die Zahl der Gefäße, die Wasser und Nährstoffe zu den Blättern transportierten, reichte nicht aus für dieses dramatisch veränderte Klima. Auch ihre lange Lebensspanne gereichte ihnen in dieser chaotischen Welt zum Nachteil. Und so wurden sie von den Angiospermen verdrängt, die Wasser schneller nach oben leiten konnten und im Notfall ihre Blätter abwarfen. Sie konnten auf diese Weise ihre Energie konservieren, bis sich eine neue Gelegenheit zum Grünen ergab.

Der Aufstieg der Angiospermen führte dazu, dass die Produktivität der Bäume enorm anstieg. Während Gymnospermen damals (wie heute) in elegant weiträumigen Wäldern wachsen, in denen eine dominante Art das Feld beherrscht, waren die Regenwälder der Angiospermen total überfüllt. Es gab mehrere horizontale Schichten. Die Wälder entwickelten sich schnell und waren von den unterschiedlichsten Arten bevölkert. Der Lorbeerwald, der sich in Feuchtperioden vor etwa 40 bis 15 Millionen Jahren herausbildete, ist nur eine der Ökosystemformen, die das Wasser vom Himmel holen.[13]

Die Zeit, in der die Lorbeerwälder sich entwickelten, ist weithin bekannt als Tertiär. Die Bäume, die die Dürren und die darauffolgenden Eiszeiten überlebten und so quasi zum Ehegespons[14] eines toten Klimas wurden, werden heute als Tertiärrelikte bezeichnet. Vor etwa 15 Millionen Jahren breiteten die Monteverde-Wälder, die grünen tropischen beziehungsweise subtropischen Wolkenwälder der Berge, sich über ganz Europa und Nordafrika aus. Sie waren die Vegetation des Mittelmeerraums vor Beginn der letzten Kaltzeit und der Entwicklung der heißen mediterranen Sommer. Aber als sich dann das Eis über die nördliche Hemisphäre ausbreitete und immer mehr Wasser band, wurde das Klima trockener, was die meisten Lorbeerwälder nicht überlebten. Winzige Spuren davon finden sich auch heute noch rund ums Mittelmeer: der duftende Lorbeer im italienischen Gericht Ossobuco, die Zelkova abelicea von den Weißen Bergen, die Kreta als Regenfang dient, und die Liquidambaren (Amberbäume) der Feuchtgebiete an den Küsten Lykiens, wo die alte Welt aromatisches Baumharz für ihre Duftstoffe erntete.

In Küstennähe können die Bäume mit der Luftfeuchtigkeit arbeiten. Auf den Kanaren aber sieht man ganz deutlich, wie der Nebelwald das Klima zu seinen Gunsten anpasste.[15] Auf La Gomera, 322 Kilometer von der Sahara entfernt und 1000 Meter über dem Meeresspiegel, zeigt uns der winzige Überrest der Wolkenwälder unserer Erde eine Welt, die besser ins Hochgebirge passen würde: dichter Nebel, viel Regen und kühles, veränderliches Wetter. Dort existiert eine unglaublich vielfältige Flora, die eine große Menge Kohlendioxid speichert. Auf dem Gipfel des Garajonay in La Gomera konnte ich hautnah miterleben, wie Bäume Wasser zu ihren Gunsten manipulieren.[16] Ich stand unter einer Stechpalme und blickte hinab auf den nördlichen Teil der Insel. Schäfchenwolken trieben auf mich zu. Je näher sie kamen, desto höher schienen sie zu steigen. Drei Minuten später war ich klatschnass.

 

 

Ich war mit dem Boot nach La Gomera gekommen, auf die Südseite, wo Drachenbäume im Hausgarten stehen und die Häuser sich vor der Hitze ducken. Auf dem Hotelgelände gab es ein spektakuläres Exemplar von Dracaena draco zu bewundern, dessen Krone aus schwertähnlichen grauen Blättern besteht, während sein Saft rot wie Blut ist. Seine großen weißen Blüten verströmen einen intensiven Duft.[17] Am Abend suchte ich mir ein verschwiegenes Plätzchen unter eben diesem Baum und blickte durch seine seltsam fraktalen Zweige hinauf in den Himmel. Wie die Lorbeerbäume auf dem Garajonay ist er ein Überlebender eines der ältesten Ökosysteme der Erde, das in Teilen heute noch existiert: der feuchtwarmen Wälder des Tertiär. Aber anders als die Lorbeerbäume hat er sich so gut angepasst, dass er mit winzigen Mengen Wasser überleben kann und davon so wenig wie möglich durch Transpiration an die Umgebung abgibt. Seine Verwandten besiedeln Afrika, die Kapverden und die zum Jemen gehörige Insel Sokotra im Indischen Ozean, wo sie unter der gleißenden Sonne faszinierende Wälder an den Hängen der Insel bilden. Die entfernteren Verwandten haben in China, Vietnam und Thailand überlebt, von den tektonischen Plattenverschiebungen zu dünnen Vorkommen vereinzelt. Zwei Arten finden sich sogar in Zentralamerika.[18] Als Kolumbus 1492 von San Sebastián zur ersten Atlantiküberquerung aufbrach und seiner Mannschaft tunlichst verschwieg, wie groß die Distanz war, die sie zu überwinden hatte, und deshalb vor jedem Krebs, Vogel und anderweitigem Lebenszeichen zurückschreckte, das auf Land verwies, beeinflussten die schwertähnlichen Blätter der Dracaena schon seit Jahrmillionen das Klima auf beiden Seiten des Atlantiks.

Wie aber passen sich unterschiedliche Bäume an ihre speziellen ökologischen Nischen an und lenken dort das Wasser? Der schnellste Weg läuft sicherlich über die Anpassung der Blätter, vor allem der Stomata. Das sind mikroskopisch kleine Poren in der Epidermis der Blätter, durch die Wasser, Gase und andere chemische Stoffe ein und aus gehen. Ich hatte die grauen Blätter der Dracaena in einem Labor in Oxford unter dem Elektronenmikroskop betrachtet.[19] Man erkennt verschiedene Lagen von flockigem Wachs auf der Epidermis, wo sich rechteckige Zellen aneinanderreihen. Die navettenförmigen Stomata sind tief in die Epidermis eingebettet. Wenn die Epidermis eine Schutzschicht ist – ein Wall von Zellen zwischen dem Baum und der Außenluft mit all ihren Gefahren wie Bakterien, Pilzen und Sporen, die nur darauf warten, dem Blatt Zucker zu rauben –, dann sind die Poren Ventile, die sich öffnen lassen, damit Luft hineinströmen kann. Andererseits ist es Aufgabe der Epidermis, das Wasser in der Pflanze zu halten. Gerade bei Dürren können diese Poren schnell zur Belastung werden, wenn sie mehr Wasser verströmen, als die Pflanze verkraften kann.

Die Poren oder Stomata (von altgriechisch stóma für »Mund«) sind die Tore für das Kohlendioxid, und da diese für das Überleben des Baumes so zentral sind, können sie sich nicht allzu schnell verändern. Das wäre genauso riskant, als würde unsere Lunge plötzlich eine andere Form annehmen. Deshalb sehen die Stomata aller Dracaena-Arten weltweit gleich aus. Allerdings haben die Drachenbäume das Wachs, das die Stomata in den feuchtwarmen Tagen des Miozäns davor schützte, überflutet zu werden, heute zum Schutzschild gegen Wasserverlust umfunktioniert. Und im Winter können ihre schwertähnlichen Blattbüschel dank der glatten Wachsfläche auch noch den feinsten Nebelhauch, den der Wind über sie hinwegträgt, einfangen.[20] Die Wassertropfen, die auf den Blättern landen, wandern dann das Blatt entlang bis zur Blattbasis und zum Stiel, wo sie »Rücklagen« für den Sommer bilden.[21] Über die wassergefüllte Blattbasis legt der Drachenbaum seinen leuchtend roten Saft, ein Harz voller Ringmoleküle – granatrote Flavonoide, Steroidsaponine und antimikrobielle Polyphenole. Sie versiegeln die Öffnung und wehren tierische Schnorrer ab, die ebenso verzweifelt nach Wasser suchen. Diese heilsamen Verbindungen mit ihren antimykotischen und blutstillenden Eigenschaften erregten bald das Interesse der Menschen. Wer würde nicht den Saft eines Baumes anzapfen für solche Komponenten?

Nicht das ganze Wasser, das Drachenbäume aus der Luft holen, wird eingelagert. Ein Großteil davon tropft einfach auf die Erde und trägt so zum Überleben anderer Pflanzen bei. Nach starken Regenfällen öffnen sich die navettenförmigen Stomata und erhöhen so die Menge an Wasserdampf, die sie durch Transpiration an die Umgebungsluft abgeben. Auf diese Weise stellen sie Kondensationskeime für die nächste Wolkenwelle bereit. Doch trotz dieser Anpassungsleistungen haben die Drachenbäume mitunter selbst Schwierigkeiten zu überleben. Da die Menschen sie in immer größere Höhen treiben, wo die Luft trockener und die Hänge steiler sind, sodass sie mitunter sogar von Klippen herabhängen, nimmt ihr Vorkommen in der Wildnis massiv ab. In Gärten allerdings, wie dem in La Gomera, gedeihen sie prächtig weiter. Sie finden Wasser in Quellen oder versorgen sich aus dem Grundwasser, was viele ihrer evolutionären Anpassungen wiederum überflüssig macht.

 

 

Schon früh am nächsten Morgen marschierte ich, versorgt mit Trockenfrüchten und Wasser, los. Raus aus der Stadt und entlang des in ein enges Betonbett gezwängten Flusses hinauf zum Vulkan. Anfangs gab es dort neben den Kanarischen Dattelpalmen (Phoenix canariensis) nur wenig Bewuchs, und wie eine Eidechse, die sich in der Sonne aalt, genoss ich die sengende Hitze. Bald stieß ich auf Zeichen von Bewässerung: Obstbäume und Weinreben wuchsen an Bächen und Rinnsalen. Dann, als ich den Fluss hinter mir ließ und mich nach rechts wandte, auf den Zickzackpfad, der direkt zum Vulkan führt, änderte sich mit einem Mal die ganze Landschaft. Es war, als laufe man in einen Instagram-Grünfilter hinein. Moose, Stechpalmen, alles wandelte sich von Grasgrün zu tiefem Smaragdgrün. Die Vegetation wurde dichter, die Bäume waren dicker und wuchsen aus jeder Felsspalte. Epiphyten hatten sich auf ihnen angesiedelt, die Blätter wurden zu langen Nadeln oder schlanken, dunkelgrünen Ovalen. Zweige und Stämme nahmen jeden freien Platz ein. Und als ich den Bergkamm erreicht hatte und auf die andere Seite der Insel hinunterblickte, stand ich mitten in einer Wolke, einem tiefen, tropfenden Schatten.

Lorbeerbäume umgaben mich. Rund 30 Meter hoch, mit glattem braunem Stamm und speerförmigen Blättern. Sie dufteten aromatisch. Ein Geruch nach Wald und Bittermandeln umfing mich. Schon schob sich eine neue Wolke über uns. Ich richtete den Blick auf den Baum neben mir, eine Ocotea foetens mit glatter Borke und Zweigen, die sich wie betend der Wolke entgegenstreckten. Der Nebel hinterließ Tropfen auf den Blättern, die ihrerseits die auf dem Baum wachsenden Laubmoose benässten. Wenige Minuten später fiel rund um mich Regen. Das Wasser strömte aus den Bäumen, als seien sie Quellen. Und ich war keineswegs der erste Mensch, der dies bemerkte. Ein Baum derselben Art namens Garoé war das Totem der Bimbaches, des ersten Volkes, das auf der Kanareninsel El Hierro lebte.[22] Ein spanischer Beobachter bemerkte bewundernd: »Über dem Baum steht stets eine kleine Wolke […] alle Blätter und Zweige tropfen Tag und Nacht, am stärksten aber am Morgen und am Nachmittag.«[23]

Als würde man zusehen, wie der Baum den Himmel melkt. Der mechanische physikalische Prozess der Kondenswassergewinnung war schön anzusehen und so greifbar, als wäre der Baum ein Alchemist mit einem Destillierapparat. Doch ich wusste ja, dass das, was über dem Laubdach passierte, viel wichtiger war. Die unsichtbaren chemischen Stoffe, die mir in die Nase strömten – diese intensiven Noten von Bittermandel und Kampfer und Zimt –, wurden hoch im Himmel aktiv und sorgten dafür, dass sich Wolken bildeten, die die Bäume einfangen konnten. Kleine, ringförmige Kohlenstoffmoleküle agierten wie das Sandkorn in der Auster. Sie waren die Keime der Wassertropfen und ließen diese zu Wolken anwachsen. Menschen haben jahrhundertelang Weihrauch als Brandopfer für den Himmel dargebracht. Einige der faszinierendsten Moleküle, die Bäume hervorbringen, verflüchtigen sich in der Luft, ein energetisches Opfer für wechselseitigen Gewinn. Nur dass wir im Fall der Bäume eine wissenschaftlich messbare Antwort erhalten.

In den Tropen entlassen 30 bis 50 Prozent der Bäume solche aromatischen Stoffe in die Lüfte. In den Monteverde-Wäldern der Kanaren wurden diesbezüglich noch keine Forschungsarbeiten angestellt, aber ich nehme an, dass es hier eher 80 Prozent sind. In dem kleinen Wald auf dem Bergkamm, in dem ich zu jener Zeit stand, duftete nicht nur der Stinklorbeer (Ocotea foetens) stark, sondern auch Rhamnus glandulosa (Drüsiger Kreuzdorn[24]) und Apollonias barbujana subsp. ceballosi (Barbusano) – ein klarer Hinweis, dass sie ein paar interessante Moleküle als Opfer darbringen. Diese Moleküle werden als flüchtige organische Verbindungen bezeichnet (oder »VOC« von volatile organic compounds). »Flüchtig«, weil sie leicht verdampfen; »organisch«, weil es sich um Kohlenstoffverbindungen handelt; und »Verbindungen«, weil ihre chemische Vielfalt beeindruckend komplex ist und aus vielen verschiedenen Atomen besteht. Bäume optimieren diese chemischen Stoffe seit Jahrtausenden, aber wir wissen immer noch sehr wenig darüber, wie sie genau funktionieren. Nur dass sie unterschiedliche Effekte auslösen.

Nehmen wir ein Phenylpropanoid-Molekül als Beispiel für einen Kondensationskeim. Sehen wir uns ein Himmelsopfer des Barbusano an, der mit der Avocado verwandt ist. Die Struktur dieses chemischen Stoffes wurde 1995 offengelegt: 2-(3-methoxy-4-hydroxyphenyl)-1,3-Propanediol. Auch wenn der Name kompliziert klingt, ist die Struktur des Moleküls einfach: ein hexagonaler Kohlenstoffring. Ein Kohlenstoffatom steht hervor, ebenso verschiedene Stachelfortsätze aus Wasserstoff und Sauerstoff. Das Molekül reist, in Wasser eingebettet, den Baumstamm hinauf und hinunter. Wenn es durch die Stomata in die Luft austritt, löst es sich von den umgebenden Molekülen und steigt in die Atmosphäre auf. Nach Minuten oder Stunden hat es für gewöhnlich mit Ozon oder Sauerstoff reagiert, manchmal auch mit Stickoxiden oder vom Menschen verursachten Luftverschmutzungsmolekülen, und es wird ein winziges festes oder flüssiges Teilchen. Anschließend lagern sich unaufhaltsam Wassermoleküle an, sodass das Teilchen zum Tropfen wird und als Regen auf die Erde fällt.

Ich war sicher, dass ich das Molekül riechen konnte, als ich in jener Nacht frierend in meinem Biwaksack lag, auf einem flachen Moospolster unter einer kanarischen Stechpalme. Und ich konnte seine Wirkung fühlen, denn ich war klatschnass. Kiefern und Zedern, Eichen und Lorbeerbäume: Ihr Duft, den der Nebel weiterträgt, ist eine der Superkräfte unserer Bäume. Unsere Nasen können gar nicht alle flüchtigen organischen Verbindungen unterscheiden, die Bäume zu Hunderttausenden produzieren. Sie dienen ihnen als grundlegender Teil ihres Immunsystems, aber auch zur Kommunikation. Und sie beeinflussen nicht zuletzt deren Fähigkeit, sich mit Wasser zu versorgen, indem sie den Regen aus den Wolken holen. Sie sind der rote Faden, der sich durch dieses Buch zieht, das merkurische Quecksilber, das durch die Adern der Bäume strömt und ihrer unbeweglichen Macht erlaubt, auf Distanz zu agieren und auf oder unter der Erdoberfläche ein Netz zu spinnen. Der Großteil der Lorbeerbäume auf La Gomera wächst dort schon so lange isoliert, dass sie mittlerweile zu sehr seltenen Unterarten geworden sind. Doch was das Wolkenfangen angeht, verhalten sie sich wie alle anderen Bäume auf der Welt.

Bislang haben nur wenige Wissenschaftler sich der Erforschung flüchtiger organischer Verbindungen außerhalb des Labors gewidmet. Und so wurde 2014 das Amazon Tall Tower Observatory (ATTO) gegründet, um mehr über die Verbindungen zu erfahren, die Bäume so in die Luft entlassen.[25] Brasilianische Wissenschaftler errichteten einen spindeldürren Turm, der sich weit über das Laubdach des Amazonas-Regenwaldes erhebt. So lassen sich Luftproben in verschiedener Höhe entnehmen, die sodann auf die Konzentration verschiedener organischer Komponenten untersucht werden sowie auf deren Auswirkung auf die Wolken und die Interaktion mit menschengenerierten Verschmutzungsstoffen. Als die Wissenschaftler mit einem Kleinflugzeug über Manaus[26] unterwegs waren – für Tausende Kilometer die einzige größere Stadt –, konnten sie die menschengemachte Schadstofffahne messen und stellten fest, dass die flüchtigen organischen Verbindungen von Bäumen mit dieser interagierten. Mit dramatischen Ergebnissen: Überschwemmungen und Wasserfluten. Sie vermaßen die verschiedenen Formen der Wechselwirkungen, und fast alles hatte eine Auswirkung: Baumart, Temperatur, Licht, Blattalter und Kohlendioxidkonzentration in der Nähe des Baumes. Einige Bäume nahmen die flüchtigen organischen Verbindungen auch auf und gaben sie wieder ab. Die Forschungsarbeiten offenbarten auch Mechanismen bei der Wassergewinnung durch Bäume, die von der satellitengestützten Forschung bislang übersehen worden waren.[27] Eine wichtige Entdeckung war auch, dass das Isopren, der häufigste Kohlenwasserstoff, der von den Bäumen freigesetzt wird, dreimal so häufig ist wie bislang angenommen. Die Messungen zeigten auch, dass die Menge an freigesetztem Isopren zunahm, wenn die Bäume unter Dürre oder anderen Stressfaktoren litten. Das ist eine ganz wesentliche Entdeckung, denn das bedeutet, dass die Bäume versuchen, mehr Wasser zu bekommen, wenn es ihnen an dem kostbaren Rohstoff fehlt. Sie stabilisieren also das Ökosystem.[28]

 

 

Wenn Bäume Regen rufen können, führt Entwaldung dann zu mehr Dürren? Der russische Autor Anton Tschechow war davon überzeugt. In seiner Kurzgeschichte Die Hirtenflöte beklagt ein alter Hirte, wie nach dem Fällen der Wälder der Regen ausblieb:

»Und wo sind die Bäche?«, sagte er. »Hier durch diesen Wald lief einst ein Bach, in dem die Bauern mit Netzen Hechte fingen, in dem die Wildenten überwinterten, heute ist aber selbst im Frühjahr kein richtiges Wasser darin.«[29]

Die meisten viktorianischen Wissenschaftler glaubten im Übrigen dasselbe. Die Dürre von 1877 bis 1879 in Bengalen und die folgende Hungersnot veranlasste mehrere Forscher, den Zusammenhang zwischen Regen und Entwaldung zu untersuchen. Und die Yanomami, die am Amazonas leben, wie auch die in Indien lebenden Bishnoi gehen davon aus, dass das Fällen von Bäumen immer eine Dürre nach sich zieht.

Merkwürdigerweise wurde das nie bewiesen, und einige Gelehrte behaupteten gar das Gegenteil.[30] Die Wälder der Welt sind ein Ensemble von ebenso verwirrenden wie zufälligen Zyklen, in denen Millionen unterschiedlicher Organismen zusammenwirken, die sich einen komplexen Lebensraum teilen. Es gibt kein einziges auf breiter Basis akzeptiertes Modell, das zeigen könnte, wie Wälder die Niederschläge beeinflussen. Mangels einer solchen Theorie wurde es als gegeben erachtet, dass Niederschläge abnehmen, je weiter sie über Kontinenten landeinwärts ziehen. Die Erklärung hierfür wurde nicht in der Vegetation gesucht, sondern im Vorhandensein von Seen und Bergen. Obwohl dieses Modell nicht zu den tatsächlichen Niederschlagsdaten passte, konnte durch die Vielzahl an Faktoren, die diese Daten möglicherweise beeinflussten - Berge, Seen, Lufttemperatur und so weiter - , immer eine Erklärung gefunden werden.

Eine Idee, die seitdem viel Zuspruch erfahren hat, ist die Theorie der biotischen Pumpe: dass Bäume durch ihre Transpiration Wasser von der Küste ins Binnenland transportieren – zumindest solange der Baumbestand gleich bleibt. Als die Bäume erstmals ihre Blätter ausbreiteten, stießen sie nämlich auf ein Problem. Energie aus dem Sonnenlicht aufzunehmen, war zentral für die Photosynthese. Gleichzeitig aber konnte die Wärme der Sonne die Proteine im Blatt zerstören. Die Bäume überlebten dies, indem sie über ihre Blätter Wasser verdunsteten. Beim Verdampfen nahmen die Wassermoleküle die Sonnenhitze mit, und das Blatt kühlte sich ab. Das bedeutet, dass die Bäume einen Großteil – fast 97 Prozent – des von ihnen aufgenommenen Wassers verwenden, um sich Kühlung zu verschaffen. Ein einzelner Baum kann gut tausend Liter Wasser täglich freisetzen. Und wenn der Wasserdampf aufsteigt und dabei abkühlt, kondensiert das Wasser und senkt damit den Luftdruck über dem Wald. Wenn dies in Küstennähe passiert, wird Luft angesogen und stößt einen Kreislauf an, der sich kilometerweit ins Binnenland fortsetzt.

Die Theorie wurde nach Feldforschungsarbeiten von Anastassia Makarieva formuliert, einer theoretischen Physikerin, die im Institut für Atomphysik in Petersburg arbeitet. In den Ferien reist sie gewöhnlich an die nördlichen Küsten Russlands, in die Feuchtwälder aus Lärchen und Kiefern an der Karasee. Irgendwann fing sie an, sich für die physikalischen Mechanismen zu interessieren, die bewirkten, dass solche Mengen von Regen und Schnee über das Jenissei-Becken nach Süden transportiert wurden, ja im Landesinneren sogar die Mongolei erreichten. Nach gut 60 Monaten Feldforschung im hohen Norden veröffentlichte sie zusammen mit ihrem Kollegen Viktor Gorshkov ihre Theorie. Auf entwaldeten Kontinenten gelangt das Wasser nicht ins Binnenland, über Flussbetten aber wie dem des Jenissei oder des Amazonas schafft der Regen es auch ins Binnenland. »Das weist auf die Existenz einer aktiven biotischen Pumpe hin«, schreiben die Autoren, »die atmosphärische Feuchtigkeit vom Meer ins Binnenland lenkt.« [31]

Mit anderen Worten: Ähnlich wie der Schwengel einer Pumpe durch seine Bewegung bewirkt, dass im Pumpeninneren ein Unterdruck entsteht, der das Wasser nach oben transportiert, um das Druckgefälle auszugleichen, so erzeugen Bäume, indem sie die Luft über dem Wald mit Kondensationskeimen füllen, einen Luftdruckabfall, der weiter horizontal wassergesättigte Luft von den Ozeanen abzieht – Luft, die kondensiert und als Regen niederfällt. Ein durchgehender Wald von der Küste ins kontinentale Binnenland setzt ein Druckgefällesystem in Gang, das einen wassergefüllten Luftstrom verursacht – einen »fliegenden« Fluss.

Diese Flüsse sind über dem Amazonas so stark, dass sie auf Satellitenbildern zu sehen sind: Wolken bilden sich über dem Regenwald und laufen wie ein weißes Band aus Morsezeichen ins Binnenland weiter – Regen und Transpiration, Regen und Transpiration. So gelangt der Regen weit ins Landesinnere.[32] Die verschiedenen Schichten des Regenwaldlaubs – Bäume aus der Gruppe der Urwaldriesen wie Diniziaexcelsa, die fast so groß wird wie der Turm, der Big Ben beherbergt; die Pflanzen der oberen Baumschicht wie der Kautschukbaum (Hevea brasiliensis) und der Kakaobaum (Theobroma cacao), der in der unteren Baumschicht gedeiht – erzeugen Turbulenzen, die man den »Wäscheleineneffekt« nennt. Die Regenmenge, die auf den Blättern verdunstet, nimmt zu, und die Transpiration erhöht den Wasserdampfgehalt der Luft. Vom Amazonas steigen Tag für Tag 20 Milliarden Tonnen Wasser auf und fallen als Regen wieder zur Erde. Ein durchgehender Regenwald-Damm leitet Wasser ins Innere des Kontinents, was wiederum dafür sorgt, dass auch dort Wälder gedeihen. Diesbezügliche Experimente konnten für Brasilien zeigen, dass eine küstennahe Entwaldung von nur 1 Prozent dazu führt, dass die Niederschläge 200 Kilometer weiter im Landesinneren pro Monat um einen Viertelmillimeter sinken.[33]

Könnten ein paar von Menschen gepflanzte Bäume tatsächlich so einen gravierenden Effekt haben? Als ich als Beraterin an einem Dokumentarfilm über den Klimawandel mitgewirkt habe, sind wir dazu in die Türkei gereist, genauer gesagt nach Anatolien, wo wir in der Nähe von Konya Filmaufnahmen machten. Ich sprach mit dem Leiter des Mevlana-Klosters, der traditionellen Heimat der tanzenden Derwische, über die Umweltprobleme der Region. Er beklagte den Defätismus, den so viele Menschen bei diesem Thema zeigen, und zitierte den Religionsgründer Mohammed: »Selbst wenn du weißt, dass morgen die Apokalypse über uns hereinbricht, solltest du heute noch einen Baum pflanzen.« Und wir besuchten die Bauern, die in dieser flachen, ariden Landschaft genau das taten: Eine Gemeinschaft von Zuckerrübenbauern, die mit dem Geld der Konya Šeker, einer der größten Zuckerfabriken der Türkei, auf ihrem Land sage und schreibe 24 Millionen Bäume gepflanzt haben. Diese neuen Wälder aus Walnussbäumen und Platanen, Buchen und Zedern waren wirklich beeindruckend. Interessanterweise sagten beinahe alle Bauern, dass die Niederschläge dank ihres jungen Waldes zugenommen hätten. »Vor 25 Jahren hatten wir noch kaum Regen«, meinte einer der Bauern. »Heute vermehren sich die Niederschläge jedes Jahr um etwa ein Drittel, weil die Bäume immer größer werden.«[34]

Das eröffnet spannende Aussichten. Makarieva und Gorshkov nannten in ihrer ersten Veröffentlichung Australien als Beispiel einer von Menschen verursachten Trockenheit, die sich schnell über den ganzen Kontinent ausbreitete, weil man die Küstenwälder brandgerodet hatte. Ein weiteres, häufig zitiertes Beispiel für eine frühe Entwaldung findet sich im sumerischen Gilgamesch-Epos: Der Held fällt die Libanon-Zedern, jene Wälder, die früher alle Berge rund ums östliche Mittelmeer bedeckten: das Libanongebirge, den Dschebel Ansariye in Syrien und das Taurusgebirge in der Türkei. Die Region um Konya ist heute eine Hügellandschaft aus nacktem Fels und trockenen Feldern. Früher hätten die massigen Stämme und dunklen Nadeln der Zedern die ganze Südwestküste der Türkei bedeckt und Wasserdampf abgegeben, der als Regen wieder auf die Erde niederging, vielleicht sogar in der Nähe von Konya. Wenn die Baumpflanzungen von Konya Šeker das Wasser zurückholen konnten, besteht dann vielleicht die Möglichkeit, dass Baumpflanzungen in der Türkei, im Libanon und Syrien die Wasserknappheit im Nahen Osten lindern könnten? Es gibt Belege dafür, dass die Küstenwälder schon im Neolithikum abgeholzt wurden. Es gibt auch archäologische Belege dafür, dass etwa um dieselbe Zeit ein Klimawandel einsetzte, der dazu führte, dass wichtige Siedlungen im östlichen Syrien aufgegeben wurden. Leider lässt sich unmöglich vorab sagen, ob die Wiederaufforstung dieser Regionen die Trockenheit im Irak beseitigen würde oder ob Australien nicht auch ohne Brandrodungen ausgetrocknet wäre. Was wir gesichert wissen, ist: Es ist Teil der DNA von Bäumen, dass sie um das Wasser kämpfen, das ihnen so guttut.

 

 

Wie aber fingen die Bäume überhaupt an, das Wasser zu lenken? Und warum? Stellen Sie sich eine Welt ohne Bäume vor. Vor 390 Millionen Jahren, als sich an Land die ersten Bäume entwickelten, gab es kein Gras, kein Erdreich, keine Flüsse und ganz bestimmt keine Landtiere. Hohe Berge türmten sich auf und stürzten wieder zusammen. Stürme peitschten vom Ozean her, und der Regen, der auf die Felsen niederprasselte, ergoss sich in Strömen sofort wieder ins Meer.[35]

Am ehesten können wir uns eine Vorstellung von dem damaligen Chaos machen, wenn wir uns neu gebildete Bergketten ansehen, bei denen der blanke Felsen immer höher steigt. Ich habe einige Zeit im Hindukusch verbracht, in der Provinz Chitral im nördlichen Pakistan. Dort war ich auf der Suche nach seltenen Blumenzwiebeln von Fritillaria chitralensis, und es verblüffte mich, wie spannungsgeladen dieses junge Gebirge wirkte, als würde es immer noch zittern, während seine Felsen wachsen. Junge Berge mit ihrem harten, brüchigen Chaos gehören zu den furchterregendsten Orten der Erde. Die reißenden Flüsse führen häufig das Sediment riesiger Erdrutsche mit sich. Während der ersten Woche ließen mich Erdbeben jede Nacht erschrocken auffahren.

Dagegen fühlen sich die Catskill Mountains in den USA schläfrig und friedlich an. »Die Zeit heilt alle Wunden«, dachte ich, als ich die roten Ahornblätter und die Weidenbäume bewunderte, während der Zug mich von New York aus durch das Tal des Hudson trug. Im Geiste verglich ich die weichen Konturen der Catskills mit den Zacken des immer noch weiter wachsenden Hindukusch. Aber es ist ja nicht nur die Zeit, die die Gebirge abschleift – es ist auch das Leben. Der Hudson strömt gemächlich über Flussbänke, die von Salweiden und Hickorybäumen zusammengehalten werden. Das Wasser aus den verwitternden Catskills fließt von den dicht mit Buchen und Hemlocktannen bestandenen Bergen ins Tal.

Diese idyllische Szenerie stellt den krönenden Abschluss für die Bändigung einer Landschaft dar, die diese Bäume schon in den frühesten Jahren ihrer Entwicklung geschaffen haben. Von diesem Geschehen wissen wir, weil in den Felsen der Catskills entsprechende Beweise entdeckt wurden. Denn im Stein fanden sich fossile Wurzelsysteme und Baumstümpfe von einigen der ältesten fossilen Wäldern auf der Erde. Das sind Bäume, die vor 390 Millionen Jahren gewachsen sind, zu einer Zeit, als Europa noch heftig gegen Amerika drückte. An der konstruktiven Plattengrenze schoben sich immer noch in Veränderung befindliche Hochgebirge wie die Anden oder Gebirge mit hoher Gesteinsspannung wie der Hindukusch steil nach oben. Berge, die unter den zahllosen Blitzen und Erdbeben jener Zeit wieder auseinanderbrachen und Erdrutsche in das flache Meer schickten.

Die Spuren jener vergangenen Welt, die sich in die Felsen des Devon eingegraben haben, erzählen eine Geschichte von absolutem Chaos. An manchen Orten überzog eine harte Kruste die Erde, die aus Bakterien und Pilzen bestand, jedoch häufig einfach weggeschwemmt wurde. Die Flüsse schlängelten sich damals nur selten friedlich ins Tal, sondern rauschten wild bergab und hinterließen Sedimentschleppen, die sich übereinanderschoben wie Fischschuppen. Langsamere Flüsse bildeten Zopfmuster und sogen dabei alles verfügbare Land auf. Sie teilten sich in Nebenarme, die sich später wieder vereinigten, ohne ein klar definiertes Flussbett zu graben. Für die frühesten Bäume war es wichtig, dass genau die richtige Menge Wasser verfügbar war. Zu viel Wasser, und sie konnten sich nicht im Boden halten. Zu wenig, und sie konnten keine Photosynthese betreiben. Sturzbäche entwurzelten sie oder rissen sie mit. Daher entwickelten sich die ersten Bäume an dem friedlichsten Ort, den es damals gab: die Flachgewässer an den Meeresufern. Dort wuchsen sie versuchsweise zu Wäldern heran.[36]

Die Fossilien der ältesten Wälder werden im New York State Museum in Albany aufbewahrt. Das Gebäude, erbaut von Gouverneur Rockefeller, erinnert an ein riesiges Raumschiff aus Beton. Seit den 1970ern verunziert es die schöne Stadt, in der Henry James aufwuchs.[37] Ich war dort, um Bill Stein und sein Team zu besuchen, die für die Baumfossilien zuständig sind. Man führte mich durch zehn verschlossene Türen in eine Art Bunker, in dem die fossilen