Genua - La Superba - Prisca Roth - E-Book

Genua - La Superba E-Book

Prisca Roth

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Beschreibung

Das dunkle Gassenlabyrinth, der unmittelbare Industriehafen, die höfliche Distanziertheit der Bewohnerinnen und Bewohner, die farbigen Gewänder der Afrikanerinnen, das stille Lächeln der Transvestiten … Genua ist nicht Venedig, Rom oder Florenz. Doch wer die ligurische Hafenstadt kennt, weiss, dass sie den berühmten italienischen Kulturstädten in nichts nachsteht. Dieses Lese- und Reisebuch führt in sechs thematischen Rundgängen durch La Superba, die Stolze, wie Genua auch genannt wird. Spektakuläre Kunstschätze in Kirchen und prunkvolle Palazzi, schmucke Piazze, verwunschene Parks und historische Geschäfte werden aufgesucht. Und es wird erzählt: von Kreuzrittern, Kaufmännern und Bankiers, die Genua zur Weltmacht aufsteigen liessen, von Architekten, welche die Stadt immerfort umgestalteten. Wir begegnen den Spuren von Bündner Zuckerbäckern, Innerschweizer Hotelköniginnen und Bergbahnpionieren, Tessiner Baumeistern und welschen Fussballern. Unterhaltsamer Lesestoff zu Kultur und Geschichte, mit informativem Serviceteil.

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per Guadench, in ricordo di tutte le volte che ci siamo persi nei caruggi di Genova

GENUALa Superba

Prisca Roth

Streifzügedurch die Kulturstadt

«Machst Du Reisen, um deine Vergangenheit wiederzuerleben?» war an diesem Punkt die Frage des Khans, die auch hätte formuliert werden können: «Machst du Reisen, um deine Zukunft wiederzufinden?»

Und die Antwort von Marco: «Das Anderswo ist ein Spiegel im Negativ. Der Reisende erkennt das wenige, das sein ist, und entdeckt das viele, das er nicht gehabt hat und nie haben wird.» Aus: Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, S. 35

Der Kaiser von China, Grosskhan Kublai Khan, hatte den venezianischen Kaufmann Marco Polo um 1275 zu seinem Präfekten ernannt. Als solcher besass dieser die Aufgabe, das Mongolenreich zu bereisen und dem Herrscher Bericht über seine vielen Städte zu erstatten. Stundenlang referierte Marco Polo vor Kublai Khans Thron und zeichnete dabei ein rotierendes Prisma von sublimen, skurrilen, fantastischen Städten, aber auch von Zerfall, Müll und Ungerechtigkeiten. Zusammen philosophierten sie darüber, ob und wie man eine Stadt erfassen könnte. Sie suchten nach Erzählmustern, um die labyrinthische Dichte der gebauten Umgebung zu ermessen. Kublai Khan war nämlich überzeugt, dass er Form und Struktur seiner Städte kennen müsse, um sie tatsächlich in Besitz nehmen zu können. Er verlangte von seinem Boten allgemeine Kennzahlen und quantifizierbare Daten zu den bereisten Städten. Für den Venezianer barg die Forderung des Kaisers aber die Gefahr der Verarmung. Und so setzte er alles daran, die Vielfalt der Orte hervorzuheben. Er berichtete Kublai Khan über die Städte in Form von Geschichten, hob dabei ihre Einzigartigkeiten hervor und betonte das Besondere.

Nach 17 Jahren im Dienste Kublai Khans trat Marco Polo 1292 die Rückreise in seine Heimatstadt Venedig an. Einige Jahre später geriet er in Genua in Gefangenschaft. Im Verlies des Palazzo del Mare (heute Palazzo San Giorgio) liess er seine Erlebnisse aus der Zeit im Reich der Mitte niederschreiben. Das Werk bekam den Titel «Il Milione». Lange wurde «Il Milione» als Fiktion betrachtet, da es nicht den Vorstellungen seiner Zeitgenossen entsprach. Erst 200 Jahre später bewogen Marco Polos Erzählungen den Genuesen Christoph Kolumbus dazu, einen neuen Seeweg nach Asien zu suchen.

Als ein «eigenwilliges Remake» von Marco Polos «Il Milione» wird Italo Calvinos Prosawerk «Die unsichtbaren Städte» aus dem Jahr 1972 gelesen. Calvino, einer der bedeutendsten italienischen Autoren der Nachkriegszeit, zeichnet darin auf poetisch-philosophische Art die Beschreibung der Städte und die Dialoge zwischen dem Kundschafter Marco Polo und dem Mongolenherrscher Kublai Khan nach. Calvino meinte einst zu diesem seinem Werk: «Ich glaube, ich habe so etwas wie ein letztes Liebesgedicht an die Stadt geschrieben, in einem Moment, in dem es immer schwieriger wird, sie als Stadt zu erleben.»

In Genua ergeht es uns Reisenden wie Marco Polo und Italo Calvino. Wie sie nehmen wir die italienische Hafenstadt abwechslungsweise als vielschichtige Erzählung, herausfordernde Vision und spannende Utopie wahr. Geschichte um Geschichte offenbart sich uns eine fantastische und sonderbare Stadt. Genua, die Geheimnisvolle, deren Gassen sich labyrinthisch bis ins Innerste zwirbeln. Genua, die Erhabene, die sich in die Höhe streckt, kompakt und symmetrisch. Genua, die Weltliche, in deren Hafen Menschen aller Nationen, Ethnien und Religionen seit Jahrhunderten eine gemeinsame Vision pflegen. Genua, stark und zerbrechlich zugleich. Genua, die Stolze – La Superba.

Es wird uns in diesem Reiseführer nicht gelingen, die eine Geschichte wiederzugeben, die uns die Stadt erklärt. Wir werden auch kein einziges Foto vorlegen können, welches das belegt, was wir von Genua gerne nach Hause mitbringen möchten. Denn Genua ist immer anders als ihr Augenschein. Genua, die ehrliche Illusionistin.

Es bleibt uns in diesem Sinne nichts anderes übrig, als Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, diese wandelbare Stadt ganz nach Marco Polos Einstellung zu präsentieren:

Marco Polo beschreibt eine Brücke, Stein für Stein.

«Aber welcher davon ist der Stein, der die Brücke trägt?», fragt Kublai Khan.

«Die Brücke wird nicht von diesem oder jenem Stein getragen», antwortet Marco, «sondern von der Linie des Bogens, den sie bilden.»

Kublai Khan bleibt eine Weile stumm und denkt nach. Dann fügt er hinzu: «Warum sprichst du dann von den Steinen? Für mich zählt nur der Bogen.»

Und Marco: «Ohne die Steine gibt es keinen Bogen.»

Aus: Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, S. 91

Auguriamo: buona lettura!

I.MIT KOLUMBUS AUF EINEN PIGATOAnkommen, aufbrechen und verweilen – Streifzüge durch den Hafen und seine Geschichte

Kolumbus: Hochstapler der Meere?

Ritter, Pilger und Päpste

Ein bisschen Istanbul, ein bisschen New York in Genua

Autobahn und Laubengang

Ein Platz unter dem Dampf der Geschichte

Von Georg zu Georg

Die Schöne, der Kopflose und zwei Chirurgen

Die Schatz- und Wunderkammer Santa Maria di Castello

Willst du Pisa sehen, musst du nach Genua gehen

Zwei vornehme Damen

Freihafen und Sperrbezirk

Verpasst Genua den Zug nach Norden?

Weltbauen am Mittelmeer

II.DIE HUNGRIGE STADTWie Genua das Gleichgewicht zwischen Kunst, Technik und Tourismus fand – Ein langer Spaziergang durch die Jahrhunderte

Der ideale Beginn der italienischen Geschichte

Seiler, Mönche und Komödianten

Das Kastell der Architekten

Das Meisterwerk in der Seitenkapelle

Vom Gemüsemarkt zur Erasmus-Generation

Städtebauliche Entstaubungsaktionen

Die Marchesa und ihr Eselchen

Die maghrebinischen bezagnin und ihr Gemüseladen

Die perfekte Liebe: die ungeschminkten caruggi

Sich zu verlieren, ist nirgends schöner als in Genua

Ein Schandmal und eine Prachtstrasse

Eine Bergwanderung auf Genuas Balkon

Sant’Anna: der schiefste Platz und die älteste Apotheke

Die Überwindung der Vertikale

Im Park des deutschen Napoleon

Poetry-Slam und Tunnelbau

Carlo Barabino: der Städteplaner und das Theater um sein Opernhaus

III.EL SIGLO DE OROGold, Macht und Glücksspiel – Eine Anleitung, wie man zur versteckten Weltmacht wird

Die Bank San Giorgio: ein Staat im Staat

Im Namen Gottes und des Profits

Wo das Gold begraben liegt

Genuas Sagrada Familia

Das Babuschka-Syndrom – oder die Politik ist ein Lottospiel

Jeans oder Denim?

Das Problem der Piazza

Besser nackt als mit Rüstung

Der Dessous-Herkules und die Regenrohr-Madonna

In jeder Auster eine Perle

Maniman

Der krönende Abschluss beim Prinzen

IV.GENUA: DAS MEER DER SCHWEIZVon Hotelköniginnen und Bergbahnpionieren, Zuckerbäckern und Prostituierten – Eine Hommage an Genuas Migrationsgeschichte

Tessiner Architekten und Bildhauer

Innerschweizer Bergbahnpioniere und Hotelkönige

Maultierpfade mit Meerblick

Seelenapotheke mit Ramschflair

Vom Einwanderungs- zum Auswanderungs- und wieder zum Einwanderungsland

Petit-Versailles mit Küche in Genua

Altes Gewerbe in alten Gassen

Eine Strasse nur für die Metzger

Dame mit Perlenkette und Laufmasche

Noch ein Cantoni und noch zwei Carlone

Vier Frauen und ein Schriftsteller

V.SOZIALE REBELLION UND URBANISTISCHER GEHORSAMAkteure und Kalendertage auf der Strasse – Vom Abstecher über Irrwege ins Paradies

Ein grosser Denker, ein royaler Trittbrettfahrer und ein kühner Haudegen

Die Strassen als kollektiver Geschichtskalender

Ein bisschen Paris in Genua

Erster Abstecher

Augenschmaus für die Gaumenfreude

Ein Bahnhof wie ein Opernhaus und ein Platz für tragikomische Operetten

Zweiter Abstecher

Eine Bombe, ein Spital und eine sonderbare Kirche

Dritter Abstecher

Der steinige Weg ins Paradies

VI.STAGLIENO: IN MARMOR GEMEISSELTES GEDÄCHTNISBürgerliche Tugenden und erotische Sinnlichkeit – Zu Besuch in der lebendigen Totenstadt

Wildschweine und Fussballfans

Die Marmorstadt

Die Toten auf der Beletage

Das patriotische Mausoleum und die Patchwork-Familienkapelle

Banken, Backstuben und Bälle

SERVICETEIL

Anreise und Mobilität

Übernachten, Essen und Trinken

Einkaufen

Kulturelles, Baden und Natur

Genua mit Kindern

Wandern und Ausflüge

Bildnachweis

Dank und Autorin

I.

MIT KOLUMBUS AUF EINEN PIGATO

Ankommen, aufbrechen und verweilen – Streifzüge durch den Hafen und seine Geschichte

Distanz: 5,8 km

1

Kolumbus-Denkmal / Piazza Acquaverde

2

Commenda

3

Galata Museo del Mare

4

Sopraelevata

5

Sottoripa

6

Piazza Caricamento

7

Denkmal Rubattino

8

Palazzo San Giorgio

9

Chiesa di San Giorgio

10

Chiesa di San Torpete

11

Chiesa dei Santi Cosma e Damiano

12

Torre degli Embriaci

13

Chiesa di Santa Maria di Castello

14

Campo Pisano

15

Mercato del Pesce

16

Quartier Molo

17

Mura della Malapaga

18

Der Lange Heinrich

19

Porta Siberia

20

Magazzini del Cotone

21

Porto Antico

22

Stazione Marittima

23

Silos di Hennebique

Der Grosskhan besitzt einen Atlas, in dem alle Städte seines Reiches und der umliegenden Königreiche Palast für Palast und Strasse für Strasse eingezeichnet sind, mit allen Flüssen, Brücken, Häfen und Molen. Er weiss, dass es sinnlos ist, sich von Marco Polos Berichten genauere Angaben über jene Orte zu erwarten, die er im übrigen gut kennt: etwa wie in Kambaluk, der Hauptstadt von China, drei quadratische Städte eine in der anderen sind, jene mit vier Tempeln und vier Toren, die sich entsprechend den vier Jahreszeiten öffnen; oder wie auf der Insel Java das Rhinozeros mit seinem mörderischen Horn wütet; oder wie an den Küsten von Malabar Perlen auf dem Grunde des Meers gefischt werden.

Kublai fragt Marco: «Wenn du in den Westen zurückkehrst, wirst du dann deinen Leuten dieselben Geschichten erzählen wie mir?»

«Ich rede und rede», sagt Marco, «aber wer mir zuhört, behält davon nur die Worte, die er erwartet. Eine Sache ist die Beschreibung der Welt, der du gnädig dein Ohr zu leihen geruhst, eine andere ist jene, die am Tag meiner Rückkehr unter den Schauerleuten und Gondolieren auf dem Kanalufer vor dem Haus die Runde machen wird, und wieder eine andere jene, die ich in hohem Alter diktieren könnte, falls ich von Genueser Piraten gefangengenommen und zusammen mit einem Verfasser von Abenteuerromanen in dieselbe Zelle gesperrt werden sollte. Nicht die Stimme ist es, die der Erzählung gebietet. Es ist das Ohr.»

Aus: Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, S. 145

Und wenn es doch nicht Christoph Kolumbus war, der Amerika entdeckt hatte? – Wir stehen vor seinem marmornen Denkmal auf der Piazza Acquaverde beim Bahnhof Principe.

Was wir wissen: Die Mongolen wanderten vor über 20 000 Jahren, als die Beringstrasse noch trocken lag, von Sibirien nach Alaska. Kurz vor 1000 n. Chr. kamen dann die Wikinger mit ihren Schiffen in Neufundland an. Und gegenwärtig versucht Erdogan, das türkische Staatsoberhaupt, die Weltgeschichte umzuschreiben, indem er verkündet, islamische Seefahrer hätten ganze 314 Jahre vor Kolumbus den amerikanischen Kontinent erreicht. Mit seiner Formulierung der Erstentdeckung argumentiert er im Sinne der These der Vorherrschaft der islamischen Kultur und knüpft damit an ein von den Europäern lange gepflegtes Muster an. Da vertrauen wir doch lieber auf die C-14-Methode: 2010 zeigte die Radiokohlenstoffdatierung einiger auf der chilenischen Halbinsel Arauco ausgegrabenen Hühnerknochen, dass bereits 1392 polynesische Hühner an der Pazifikküste Südamerikas herumscharrten. Es waren demnach Seemänner aus Ozeanien, die Kolumbus zuvorkamen!

Kolumbus: Hochstapler der Meere?

Wir blicken nochmals hinauf zur imposanten Statue: Kolumbus’ linke Hand stützt sich auf einen Anker. Mit seiner Rechten präsentiert er uns ein barbusiges Mädchen, das adrett zu seinen Füssen sitzt. Auf dem zierlichen Kopf trägt es einen Federschmuck. Klar, das wunderschöne, unterwürfige Naturmädchen soll Amerika darstellen. Ihr wurde ein Kreuz in die linke Hand gedrückt – als Dankeszeichen dafür, dass die Europäer das Land mit ihrem christlichen Glauben zivilisiert haben.

Das Kreuz ist heute verschwunden was die junge Frau in der Hand hält, gleicht einer Vorhangkordel. Sie, Amerika, bleibt Statistin – oder Vorhangdame – im grossen Welttheater. Der Sockel, auf dem Kolumbus und seine Amerika thronen, ist von vier weiblichen Skulpturen umgeben. Die vier Allegorien symbolisieren die Grundpfeiler der christlich-europäischen Gesellschaft: La Pietà (die Frömmigkeit hält die Bibel in der Hand), La Forza (die Macht stützt sich auf einer Keule ab), La Scienza (die Wissenschaft demonstriert mit einer Kugel in der Hand, dass die Erde rund ist), La Prudenza (die Vorsicht spielt mit einer Schlange). Die Flachreliefs auf dem Sockel geben einige Szenen aus Kolumbus’ Leben wieder.

Denkmal Kolumbus, Piazza Acquaverde, fotografiert von A. Noack, um 1870.

Das Denkmal sollte auf der Piazza Acquaverde einen wichtigen Platz einnehmen. Was es früher auch tat, als die kleinen Parks um das Denkmal noch gepflegt waren und keine Autos und Busse den Vorplatz des Bahnhofs verstopften.

Das Fundament des Denkmals wurde bereits 1846 gelegt, anlässlich eines in Genua stattfindenden Wissenschaftskongresses. Weil einige Baumeister und Steinmetze entweder durch herabstürzende Marmorstücke starben oder am Monument verzweifelten (einer der Hauptkünstler wurde wahnsinnig), dauerte es 16 Jahre, bis es fertiggestellt wurde – gerade rechtzeitig zum ersten Jahrestag der italienischen Verfassung. Und so thront auf einem vorstaatlichen Fundament der ganze Stolz einer Nation (zur Einigung der italienischen Nation siehe Kap. V).

Es passt: Kolumbus war ganz offensichtlich der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Der Kolumbus-Mythos ist ein gelungenes Beispiel, wie sich Welt-, Technik- und Kommunikationsgeschichte zu einer Sternstunde der Menschheit zusammenfügen konnten. Davon zehrte auch noch die junge Nation Italien.

Ritter, Pilger und Päpste

Wir verlassen nun den etwas chaotischen Bahnhofsplatz, überqueren die Via Balbi und biegen in die Salita San Giovanni ein, welche hinab in Richtung Meer verläuft. Wir spazieren vorbei an der Apsis der Kirche San Giovanni Battista und gelangen in die Via di Prè. Hier biegen wir rechts ab und stehen nach wenigen Schritten vor der Commenda, der Komturei.

Wir versuchen, die Autobahnbrücke hinter uns, die Sopraelevata, wegzudenken, und lassen den Verkehrslärm vom Klatschen der Wellen gegen die Schiffsplanken übertönen, vom Scheppern schwerer Rüstungen und schliesslich dem Geschrei einer fanatischen Menschenhorde mit einem «Deus lo vult» auf der Zunge. Im 11. Jahrhundert wuchs Europas Bevölkerung stark an, Seerepubliken wie Genua, Pisa und Venedig blühten dank intensivem Handel mit dem Orient wirtschaftlich richtiggehend auf, während die Muslime das christliche Byzantinische Reich immer mehr bedrängten. Seit 1077 befand sich sogar die Heilige Stadt Jerusalem in den Händen der Turkmenen. Die Historikerinnen und Historiker mögen sich darüber streiten, ob nun der römische Papst Urban II. dem byzantinischen Kaiser Alexios I. Komnenos aus christlicher Nächstenliebe zu Hilfe eilte oder ob er damit machtpolitische Ziele verfolgte. Tatsache ist, dass er massiv an Einflussmacht über das Byzantinische Reich verloren hatte. 1054 hatten sich der Papst und der Patriarch Konstantinopels nämlich gegenseitig exkommuniziert. Dieses Kirchenschisma wirkte wie eine Zäsur zwischen der Ost- und der Westkirche, die Papst Urban II. mit einer Annäherung oder vielleicht sogar Einverleibung des Byzantinischen Reichs nun beenden wollte. Jedenfalls warteten in Europa Zehntausende junge, vorwiegend adlige Männer darauf, ihren Glauben unter Beweis zu stellen und ihre Haushaltskassen aufzubessern. Sie waren bereit, für ein bisschen Abenteuer Kopf und Kragen zu riskieren.

Zuerst wurde 1096 jedoch das Fussvolk vorausgeschickt. Unter dem Deckmantel einer Pilgerfahrt einfacher Christen, auch «Volkskreuzzug» oder «Armenkreuzzug» genannt, marschierten Tausende Leute mit dem Ziel los, Jerusalem zu befreien und in der Heiligen Stadt auf das Jüngste Gericht zu warten. Auf ihrem Kreuzzug massakrierten sie unzählige jüdische Gemeinden und initiierten die ersten organisierten Judenpogrome des Abendlandes. Ihr Ziel, Jerusalem, erreichten sie nicht, und nur einige Tausend überlebten den türkischen Hinterhalt, in den sie in der Nähe von Nicäa gerieten. Nun setzte sich ein schlagkräftiges Heer in Bewegung, bestehend aus kampferprobten Herren aus dem Hochadel mit ihren Heerkontingenten. Ein Kreuzzugsheer setzte sich aus Adligen, Soldaten, Predigern, Bediensteten und Sklaven zusammen, eine sehr heterogene Gruppe, die sich mehr oder weniger zum gleichen Kriegsschauplatz begab und mit mehr oder weniger analogen Absichten unterwegs war. Die Teilnehmer schworen weder dem Papst noch sonst einem Herrn ihre Treue. Einzig ihr Glaube an Gott sowie familiäre und feudale Bindungen hielten diese Gesellschaft zusammen. Einmal losgezogen, liess sich ein solcher Kreuzzug nicht mehr kontrollieren. Nach monatelanger Belagerung der Stadt Antiochia (heute Antakya, Türkei) drangen die Kreuzfahrer endlich bis nach Jerusalem vor, doch die Einnahme der Stadt wollte zuerst nicht gelingen. Erst als ein genuesisches Kontingent zu Hilfe eilte, änderte sich die Situation. Der Mann der Stunde hiess Guglielmo Embriaco. Er stammte aus einer adligen Genueser Familie und war als Kaufmann im Orient unterwegs. Als er sich mit seiner kleinen privaten Flotte im Hafen von Jaffa (heute Tel Aviv-Jaffa) befand und erfuhr, dass eine mächtige ägyptische Flotte anrückte, beschloss er, seine Schiffe zu zerlegen und alles – Mannschaft, Proviant, Taue, Bretter, Schiffsgerüste etc. – im Landesinneren in Sicherheit zu bringen. So beladen, kam er in Jerusalem an, wo er sich den Kreuzrittern anschloss. Die Genueser Zimmermänner waren bekannt für ihre Fertigkeiten – und so zimmerten sie mit dem Material der zerlegten Schiffe fahrbare Holztürme und weitere Belagerungsgeräte.

Endlich gelang es den Kreuzrittern, die Heilige Stadt einzunehmen. Der Heldentat der Genuesen soll mit goldenen Lettern über dem Altar der Kapelle des heiligen Grabes gedacht worden sein: «Praepotens Genuensium Praesidium».

Santo Sepolcro, Heiliges Grab, so hiess auch die Kirche, die bis 1180 vor uns, anstelle der Commenda, stand. Darin wurde die Asche des Heiligen San Giovanni aufbewahrt, welche die Genuesen als Beute vom ersten Kreuzzug nach Hause zurückgebracht hatten. Das heutige dreigeschossige Gebäude mit den offenen Arkaden diente den Pilgern auf dem Durchmarsch ins Heilige Land – mittlerweile war der dritte Kreuzzug im Gang – als Unterkunft und Spital. Der Platz vor der Commenda mit der rechts angebauten zweistöckigen Kirche war während des ganzen Mittelalters die Drehscheibe von Genuas Hafen. Hier verkehrten Soldaten, Kaufmänner, Pilger, Geistliche und sogar Päpste, die zu unterschiedlichen Zwecken in Richtung Nordafrika unterwegs waren, in den Orient oder ins Heilige Land. Die Ritter bedienten sich sogar eines unterirdischen Gangs, der sie von der Commenda direkt zu den Bootsanlegestellen führte.

La Commenda

Die Commenda, wie sie heute vor uns steht, ist natürlich ein Produkt vieler Jahrhunderte. Mit dem im Jahr 1080 begonnenen Bau wurden die Magistri Antelami beauftragt. Diese waren ursprünglich eine Korporation aus dem Raum Lugano und Como (vorwiegend aus der heutigen Val d’Intelvi) stammender Baumeister, die ab dem 12. Jahrhundert in den wichtigsten Städten Norditaliens am Werk waren. In Genua sind sie omnipräsent.

Auch die späteren Maler und Stuckateure aus der Familie Carloni, denen wir noch mehrmals begegnen werden, stammen aus ebendieser Tradition. Als die Kreuzzüge abflauten, wurde die Commenda in erster Linie als Stadtspital genutzt und mit der Zeit zu einer wichtigen Institution, die mehrere Liegenschaften verwaltete – daher auch der Name «Commenda» (commendare bedeutet so viel wie verwalten). Ab dem 15. Jahrhundert überliess man viele Räume in der Commenda und Kapellen in den beiden Kirchen den Casacce. Casacce sind noch immer aktive katholische Bruderschaften, von denen es in der Erzdiözese Genua heute 180 geben soll. Sie führen im Laufe eines Jahres bis zu 200 Prozessionen durch. Mittelalterlich anmutende Mäntel hängen dann hier und da zum Auslüften von den Balkonen.

Vom damaligen Treiben, der Aufbruchsstimmung, dem Verhandeln des Preises für die Überfahrt, der Angst vor dem weiten Meer ist heute nichts mehr zu spüren. Ein Zeichen nur ist uns von damals geblieben: Das rote Georgskreuz auf weissem Hintergrund ist Genuas Flagge. Es ist das Symbol der Kreuzfahrer, die vor fast tausend Jahren hier die Segel hissten. Gewiss, auch England hat dieselbe Flagge, aber – und darauf sind die Genuesen noch heute stolz – nur dank freundlicher Genehmigung und natürlich gegen Bezahlung an die superbe Seerepublik.

Ein bisschen Istanbul, ein bisschen New York in Genua

Merken wir uns den Namen des Genueser Kreuzritters Guglielmo Embriaco, und machen wir uns auf zu neuen Ufern: Wir gehen der Via Antonio Gramsci entlang Richtung Porto Antico. Nach knapp 200 Metern sehen wir – halb verdeckt von der Sopraelevata – auf der gegenüberliegenden Seite der vierspurigen Strasse das Galata Museo del Mare.

Gàlata, Gàlata …

Irgendwoher ist uns dieser Name doch bekannt. Genau: Galatasaray Istanbul, 22 Mal türkischer Fussballmeister, werden die Kenner unter uns in die Runde werfen. Aber wie kam dieser Namenstransfer zustande? Galata, heute ein Quartier im östlichen Stadtteil Istanbuls, war während des Byzantinischen Reichs eine mit Mauern befestigte Stadt. Sie lag auf der Nordseite des Goldenen Horns, also auf jenem Meeresarm am Bosporus, auf dem alle Schiffe, die vom Marmarameer ins Schwarze Meer unterwegs waren, vorbeikamen. Und genau hier, an der Pforte zum Orient, entstand im 13. Jahrhundert die grösste genuesische Handelskolonie ausserhalb des lateinischen Kulturkreises. Ende des 19. Jahrhunderts, als das gesamte Hafenareal in Genua aufgewertet wurde, gab man dem ältesten Gebäude den Namen Galata – in ehrenvoller Erinnerung an die Zeit, als Genua noch eine Seerepublik war. Natürlich verewigten sich die Genuesen auch im türkischen Galata, mit einem fast siebzig Meter hohen Turm, dem Galata Kulesi, heutiges Wahrzeichen des Istanbuler Stadtviertels Karaköy.

Das heutige moderne Gebäude aus Glas und Stahl des spanischen Architekten Guillermo Vázquez Consuegra umhüllt einen historischen Kern. Es ist das älteste noch erhaltene Gebäude des Hafenbeckens. Ab dem 16. Jahrhundert diente es der Seerepublik Genua als Schiffswerft, und die für den Bau der Galeeren benötigten riesigen Räume beeindrucken die Besucher auch heute. Wir können dem Museum einen ersten Besuch abstatten und uns im Erdgeschoss Luftbilder in 3-D der aktuellen und der eventuell zukünftigen Hafenanlage anschauen. Der Genueser Architekt Renzo Piano hat sich 2005, ein Jahr nachdem Genua europäische Kulturhauptstadt geworden war und bereits eine erste Aufwertung des Hafenareals stattgefunden hatte, mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich die Stadt und der Hafen weiterentwickeln könnten. Es sei nur eine Skizze, un affresco, meinte der Stararchitekt damals. Und dabei ist es – bis heute, leider – geblieben. Die hintersten Säle sind Christoph Kolumbus gewidmet. Anhand von Schriftstücken aus dem 15. und 16. Jahrhundert, altem Kartenmaterial und Porträts, dank vielen interaktiven Inszenierungen erfahren wir einiges über Kolumbus, seine vier Reisen nach Amerika und darüber, wie er in den folgenden Jahrhunderten rezipiert wurde. Die Frage, wer er wirklich war und wie er aussah, beschäftigt die Forschung noch immer. Und manch einem Genuesen wird es bange bei den vielen Herkunftsansprüchen: Portugiese aus dem Städtchen Cuba soll Kolumbus gewesen sein – deshalb gab er ja auch der rettenden Insel nach 36 Tagen ungewisser Fahrt auf dem Meer den Namen Cuba. Nein, Schotte sei er gewesen, wird kolportiert, schliesslich trug er den Beinamen Colonne. Dieser Name war in den schottischen Familien in Genua, die in der Textilbranche tätig waren, weitverbreitet – und Kolumbus’ Vater war Wollweber. Oder war Kolumbus vielleicht doch Jude? Sein Nachname war in jüdischen Familien häufig, und seine Kenntnisse des Judentums waren ausgesprochen profund. Auch die Tatsache, dass die Könige in Spanien Kolumbus nur mithilfe eines zum Christentum konvertierten Juden mit der Entdeckungsreise beauftragt hatten, könnte dafür sprechen. Wer sich für prosaischere Aspekte interessiert, zum Beispiel für die Navigationsinstrumente und Karten, die Kolumbus zur Verfügung standen, wird sowohl im ersten als auch im zweiten Stockwerk des Museums fündig.

Verlassen wir das Museum, und setzen wir den Fussmarsch Richtung Porto Antico fort. Rechter Hand liegt das, was hier im Hafen vom Meer übrig bleibt, links zieht der Verkehr an uns vorbei, und über uns, auf Stelzen, dröhnt die Schnellstrasse Aldo Moro: La Sopraelevata, wie sie inzwischen im Volksmund heisst, polarisiert. Entweder man findet sie toll, weil sie, Anfang der 1960er-Jahre erbaut und noch immer futuristisch anmutend, das Gefühl von ein bisschen New York in Genua vermittelt.

Oder man stuft sie zumindest als extrem praktisch ein, ist sie doch die einzige direkte Verbindung zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil der Stadt. Die meisten jedoch finden die Stadtautobahn hässlich, ein Schlangenmonster auf Betonstelzen, das den ganzen Hafenbogen mit der schönen Häuserzeile kompromittiert. Es fällt uns schwer, in diesem Fall eine klare Position einzunehmen. Sie ist laut, ja, sie ist kein architektonisches Kunstwerk, nein, aber wie sähe es hier aus, wenn es sie nicht gäbe? Wir spinnen diesen Gedanken weiter und kommen zu einem für ein touristisches Lesewanderbuch nicht unbedingt tragbaren Fazit: Gäbe es die Sopraelevata nicht, wäre der Platz zwischen Häusern und Meer übersät mit schmucken Restauranttischen und Sonnenschirmen, Bars mit Plastikpalmen, aufblasbaren Hüpfburgen, mobilen Souvenirshops, überteuerten Markenläden. Cars würden Tausende von Menschen ausspucken, Schifftourenanbieter sich um die Kundschaft reissen … ein grosses Portofino eben. Die Sopraelevata hindert die Touristen nicht nur daran, dass sie es sich an einem runden Tischchen mit einem Glas Weisswein am Meer gemütlich machen, sondern sie schreckt sie richtiggehend ab. Sie ist wie eine Stadtwehrmauer, die viele davon abhält, sich in die düsteren Gassen, die vom Hafen aus in wirrem Durcheinander in die dunkelsten Ecken der Stadt führen, hineinzuwagen. Man will es dem fremden Besucher nicht zu einfach machen, Genua will erobert werden.

Nichtsdestotrotz: Nachts träumen wir, dass wir beim Bahnhof Principe in ein Taxi steigen, das uns auf die Sopraelevata fährt. Wir schauen aus dem Autofenster und staunen. Auf dem schwebenden Band aus Stahlbeton offenbart sich uns links eine bewundernswerte Sequenz von alten Palazzi, während sich rechts ein interessanter Blick über den innersten Teil des Hafens bietet. Es ist wie im Kino, nur mit vertauschten Rollen: Wir sind der Film, die Kulisse schaut uns zu.

Errichtung der Sopraelevata, verbunden mit dem Abriss des Ponte Reale, 1964.

Die Sopraelevata heute, nahe der Stazione Marittima.

La Sopraelevata

Der erste Pfeiler der Sopraelevata wurde am 12. Februar 1964 gesetzt, und nur eineinhalb Jahre später fuhren die Autos über die von Ingenieur Fabrizio de Miranda projektierte Hochstrasse. Die Bauleitung wurde der Firma Finsider anvertraut, ein 1937 in Genua gegründetes Stahlindustrie-Unternehmen, das zu einer staatlichen Finanzholding wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Geldern des Marshallplans, für den wirtschaftlichen Aufschwung Italiens sorgen sollte. In einem Werbefilm der Finsider wird der Bau in einem futuristisch anmutenden Film, unterlegt mit Free Jazz und einem suggestiven Text, dokumentiert. Eine Kostprobe: «… Vorhang, Streife, Seil, Peitsche, Blitz, Bahn, Terrasse, Balustrade, Aussichtspunkt, Brücke, Gerüst, Landungssteg. Vernünftig, rational, durchdacht, die luftige Meerstrasse, urban. […] Stahl für das Gerüst und die Hauptträger, für die Abschlussblende und die Auflageflächen. Stahl für die Zwischenblenden der Kastenbalken und der Pfeiler.

Stahl für die Verschraubungsvorrichtungen für die Übertragung von Kraft und Reibung. Für die Armierung der Stahlplatten; für die Ausdehnungsfugen, für die Geländer, für die Leitplanken Stahl … Aber man hat die Balustrade von Genua gebaut, die neue Kommandobrücke der Stadt, morgen wird sie enorm und familiär sein, wie ein Überseedampfer vor dem Fenster des Hauses. […] Weitere Hochstrassen werden auf Glanzprospekten vorgestellt, weitere Projekte werden aus dem Schatten der Sopraelevata geboren. Genua kann stolz sein auf die 4,5 Kilometer, die zwei Küsten verbinden, die, gleich der Flugbahn einer Schwalbe mit ausgespannten Flügeln, zwischen Meer und der Versteinerung der Geschichte fliessen. Genua kann stolz sein auf diese 4,5 Kilometer Intelligenz. Die Technik ist mit der Landschaft verschmolzen, sie ist zur Architektur geworden.»

Zu sehen unter:http://www.youtube.com/watch?v=27pMvgOkOKI

Autobahn und Laubengang

Wieder bei Tageslicht und nüchtern betrachtet, kann man der Sopraelevata eigentlich nur historische Konstanz vorwerfen. Sie führt fort, was baulich seit über 400 Jahren Realität ist: eine strikte Trennung zwischen Hafen und Stadt. Im 16. Jahrhundert nahm Admiral Andrea Doria (siehe Kap. III) die Geschicke der Republik in die Hand und bewirkte eine Annäherung der Hafenstadt an das Königreich Spanien. Indem man zum Freund Spaniens avancierte, machte man sich allerdings Frankreich zum Feind, und auf einen allfälligen Angriff wollte man vorbereitet sein. 1536 setzte man eine Magistratura delle Mura ein, die sämtliche bestehenden Mauern sanieren und umbauen musste, sodass sie den neuen, schwereren Geschützen standhielten. Erstmals in Genuas Geschichte wurde nun auch die Meeresseite der Hafenstadt befestigt. Auch wenn diese Befestigungsmauer beschönigend muragliette genannt wurde, so ging mit ihr der direkte Zugang zu den Bootsanlegestellen verloren, und das Meer war nur noch aus den Fenstern der oberen Stockwerke der ersten Häuserzeile sichtbar. Um 1835 wurde die Mauer abgerissen, und an ihrer Stelle baute man die monumentalen Marmorterrassen.

Diese terrazzi di marmo waren über 400 Meter lang, reichten von der Darsena bis zum Palazzo San Giorgio. Zur Stadtseite hin öffneten sich 73 Arkaden, in denen sich Lager und Geschäfte für die angelieferten Handelswaren befanden. Auf der mit weissem Marmor gepflasterten und 13 Meter hohen und ebenso breiten Terrasse liess sich stilvoll promenieren. Ein wunderbarer Ort mit Blick über das Meer, um dem bürgerlichen Spaziergang, wie er zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkam, zu frönen. Beim Flanieren stellte man nicht nur seine Garderobe zur Schau, sondern vor allem den Luxus, über freie Zeit zu verfügen. Vom Meer aus betrachtet, bot die Marmorterrasse einen weniger graziösen Anblick: Wie eine Festungsmauer versperrte sie den Zugang zur Stadt.

Doch diese Probebühne der neuen bürgerlichen Kultur hatte nicht lange Bestand. Im Jahr 1844 fertiggestellt, wurde sie 1885 bereits wieder abgebrochen. Zeitzeugen mutmassten, dass dies wohl aus hygienischen Gründen geschehen musste, denn der Marmorblock habe vermutlich verhindert, dass die frische Meeresbrise durch die engen und dicht bevölkerten Gassen strömen und so Hitze und schlechte Luft wegblasen konnte. Tatsächlich aber dürfte der Raum zwischen Marmorterrasse und Häuserzeile zu eng geworden sein, denn ab 1854 verkehrte dort die erste Eisenbahn mit Endstation Piazza Caricamento.

Marmorterrasse entlang des Hafenbeckens, 1875.

Die Marmorterrasse als Flaniermeile, 1884.

Kurz bevor wir rechter Hand das Piratenschiff Neptune (Drehort für Roman Polańskis Film «Piraten») erreichen und die vierspurige Via Antonio Gramsci in einem unterirdischen Tunnel verschwindet, wechseln wir die Strassenseite. Vor uns liegt ein Spaziergang unter den «ältesten öffentlichen Laubengängen» Italiens, wollen wir den Superlativen, wie sie in Reiseführern oft anzutreffen sind, Glauben schenken. Tatsächlich wurde dieser vormals über 900 Meter lange Laubengang, Sottoripa genannt, bereits im 12. Jahrhundert von den Stadtkonsulen in Auftrag gegeben. Man kann es als regelrechtes städtebauliches Projekt bezeichnen: Die Hausbesitzer wurden ab 1134 aufgefordert, vor ihren Häusern Arkaden in einem bestimmten Ausmass und mit vorgegebenen Materialien zu errichten. Sie durften den so neu gewonnenen Platz über dem Laubengang zu privaten Zwecken, also zur Vergrösserung der eigenen Wohnung, nutzen, während der überdachte Raum unter den Lauben der Öffentlichkeit dienen sollte. Typisch genuesisch, diese Vorgehensweise: Die Stadt, die kein eigenes Geld hat, zwingt die Privaten, die Kosten für öffentliche Bauten zu übernehmen, was natürlich nur funktioniert, wenn auch diese einen Nutzen davon haben. Die Laubengänge wurden fortan zum Umschlagplatz für die im Hafen ankommende Handelsware. Das Meer lag nur fünf Meter vom Laubengang entfernt, und von den Bootsanlegestellen wurde die abgeladene Ware unter die Arkaden geschleppt, wo sie in Magazinen und auf Hängeböden untergebracht wurde.

Die Hängeböden sind verschwunden, was uns nun erlaubt, die unterschiedlichen Arkadengewölbe zu betrachten: von den eleganten Kreuzrippengewölben, die noch aus dem 12. Jahrhundert stammen, bis hin zu den Betonplatten im Laubengang des Betonkastens, der anstelle der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Palazzi mitten in der mittelalterlichen Häuserzeile errichtet wurde.

Das Treiben in den Gängen jedoch ist geblieben. Von den Werkstätten und Läden, die früher die verschiedenen Handwerker betrieben, sind doch noch einige vorhanden. Fasziniert bleiben wir vor dem Schlüsselladen Steri stehen. Der Raum ist keinen Meter breit, dafür etliche Meter tief und randvoll mit Arbeitsutensilien und Werkbänken, alten Gegenständen und natürlich Schlüsseln in allen erdenklichen Formaten. In der Pescheria Granara (Ecke Sottoripa / Via al Ponte Reale) leuchten die roten Garnelen aus Portofino, die Goldbrassen glänzen, schön drapiert um eine Säule aus dem 13. Jahrhundert. Unter den Arkaden vor der Bar Delfino bekommt man den aperitivo serviert, in den Frittenbuden, ein unwürdiger Name für die schönen Lokale mit weissen und blauen Kacheln, isst man ganz anständig. Auch eine Weinhandlung, eine bestens ausgestattete Metzgerei, ein exquisiter Dörrfrüchteladen, eine Moschee, Imbissstände mit Angeboten aus aller Welt sowie haufenweise Läden mit asiatischen Billigwaren im Angebot buhlen um die Aufmerksamkeit der vielen Passanten im Halbdunkel der Laubengänge. Am schönsten ist es hier am späten Nachmittag, wenn die Sonne zwischen den Arkaden durchscheint und die Gänge mit goldenem Licht flutet. Man wähnt sich dann auf einem orientalischen Bazar.

Verlauf des Hafenufers Ende 15. Jahrhundert (rot) im Vergleich zu heute.

Tägliches Treiben unter den Lauben der Sottoripa.

Ankunft des königlichen Zugs auf der Piazza Caricamento, im Hintergrund die Marmorterrasse, 1854.

Statue von R. Rubattino auf der Piazza Caricamento, fotografiert von A. Klainguti, um 1899.

Sicht auf den Palazzo San Giorgio, Piazza Caricamento, Poststempel 1932.

Ein Platz unter dem Dampf der Geschichte

Bei der Piazza Caricamento angekommen, verlassen wir die Sottoripa und treten auf den grossen Platz hinaus.

Genua ist die Stadt der Gegensätze. Während unter den Lauben emsiges Treiben, ein tägliches Geschäften und Feilschen im Schatten stattfindet, steht wenige Meter daneben eine Touristengruppe im gleissenden Sonnenlicht, nordafrikanische Strassenverkäufer bieten ihre Waren an, wir schielen hinüber zur geordneten Schlange vor der Kasse des Aquariums, beargwöhnen die doppelte Reihe hoher Palmen, die mehr schlecht als recht versuchen, die Sopraelevata zu tarnen, studieren die Angebote einer Bootsfahrt durch den Hafen.

Am 20. Februar 1854 fand sich auf dieser Piazza – und wer sich einen besonders guten Aussichtspunkt ergattern konnte, stand wohl auf den Marmorterrassen – eine grosse Menschenmenge in Festkleidung ein. Ein kleiner, oktogonaler Tempel, eine Tribüne und ein Pavillon, über und über geschmückt mit der Trikolore und dem Adler des savoyischen Königshauses, wurden extra für die Ankunft des ersten Zuges aufgestellt. Denn dieser hatte eine royale Fracht geladen: Der zukünftige König Italiens, Vittorio Emanuele II., unterwegs mit seiner damaligen Gattin Adelheid von Österreich und dem gesamten Hof, eröffnete mit seiner Ankunft auf der Piazza Caricamento die Zugstrecke Torino–Genova. Das Reiterdenkmal zu seinen Ehren befindet sich auf der Piazza Corvetto, am anderen Ende der Altstadt (siehe Kap. V).

Von der Festausstattung ist auf dem Platz nichts mehr zu sehen, aber jemand, der entschieden dafür gesorgt hat, dass aus dem savoyischen König, der 1854 hier aus dem Zug stieg, sieben Jahre später der erste italienische König wurde, wacht auch heute noch auf der Piazza: Raffaele Rubattino. Seine Statue, die bis 2011 prominent vor dem altehrwürdigen Palazzo San Giorgio stand, befindet sich nun am anderen Ende der Piazza, vor dem ganz und gar unschönen Lückenbüsser aus Beton. Kein Genuese, keine Genuesin weiss, weshalb Rubattino zwangsversetzt wurde. O gh’aviâ avüo a só convenienza!, jemand wird wohl seinen Nutzen daraus gezogen haben, wird gemunkelt. Wie dem auch sei: Mit der Anbindung Genuas an das – wenn auch noch sehr rudimentäre – Schienennetz des Piemonts erfuhr die Hafenstadt einen spürbaren Aufschwung. Vor allem die Metall- und Maschinenbauindustrie, und in erster Linie das in Sampierdarena angesiedelte Grossunternehmen Ansaldo, profitierte von der komfortablen Erreichbarkeit der Po-Ebene. Die Ansaldo stand im Interesse der savoyischen Regierung und diente massgeblich den Plänen von Camillo Benso Graf von Cavour, ab 1852 dem Premierminister des Königs Vittorio Emanuele II., welcher Genuas Hafen modernisieren wollte. Das Unternehmen produzierte nicht nur die erste vollständig in Italien gebaute Dampflokomotive, sondern war ebenso an der Entwicklung der Dampfschifffahrt beteiligt. Raffaele Rubattino war Genuas wichtigster Reeder, Mitinhaber der Ansaldo und mit Cavour befreundet. Es war denn auch Cavour, selbst Unternehmer und Politiker, der Rubattino die Konzession des piemontesischen Staats für die Schiffsverbindung nach Südamerika und Nordafrika erteilte und ihm auch finanziell aushalf, wenn wieder einmal ein Dampfer in den Meereswogen verloren gegangen war. Was Rubattino im Mai 1861 unternahm, könnte man deshalb durchaus als einen Freundschaftsdienst werten, auch wenn sich bis heute eine weitaus dramatischere Version der Geschehnisse hält. In der Nacht vom 5. auf den 6. Mai soll der Haudegen und Revoluzzer Giuseppe Garibaldi seine Männer beauftragt haben, Rubattino zwei Dampfschiffe zu stehlen. Mit diesen reisten dann tausend italienische Freiwillige nach Sizilien, von wo aus die Befreiung Italiens von den fremden Mächten erkämpft werden sollte (siehe Kap. V). Es wird kolportiert, dass es sich in Wirklichkeit um ein abgekartetes Spiel gehandelt habe: Der piemontesische König Vittorio Emanuele II. sei über diesen «Zug der Tausend» bestens informiert gewesen, und Rubattino sei vorgängig nach Turin gereist, um sich die Entschädigung für seine zwei Dampfschiffe ausbezahlen zu lassen. Rubattino konnte mit der Abgeltung, die ihm ausbezahlt wurde, einen grossen Teil seiner schweren Schuldenlast abwerfen. Die historische Überlieferung hat, dessen ungeachtet, ganze Arbeit geleistet: Garibaldi und Rubattino gingen beide in die Nationalgeschichte ein, Ersterer als kämpferischer Freiheitsheld, Zweiterer als «fleissiger Patriot», wie auf dem Denkmal zu lesen ist. Weshalb in der Grabkapelle des Reeders Raffaele Rubattino auch ein Schweizer Konsul und zwei Frauen begraben liegen, erfahren wir im Rundgang zu Staglieno in Kap. VI.

Von Georg zu Georg

Wir kehren Rubattino nun den Rücken und gehen Richtung Palazzo San Giorgio. Von hier aus erkennen wir unschwer, dass der Palazzo zwei unterschiedliche Bauphasen aufweist. Der hintere, venezianisch anmutende Teil wurde Mitte des 13. Jahrhunderts erbaut. Er kam als Palazzo del Mare, wie er damals hiess, vor den Laubengängen der Sottoripa auf dem Meer zu stehen und war, wie die Häuser in Venedig, auf Holzpfählen erbaut. Sein wohl berühmtester, jedoch keineswegs freiwilliger Bewohner muss sich hier schon fast heimisch gefühlt haben: Der venezianische Kaufmann und Chinareisende Marco Polo, zwischen September 1298 und Juli 1299 im Gefängnis des Palazzo eingekerkert, soll hier einem Mitgefangenen die Erinnerungen an seine Reiseerlebnisse diktiert haben. Der wunderbare Reisebericht «Il Milione» wurde also in Genua verfasst. Venedig wird das nicht freuen, aber La Serenissima und La Superba waren noch nie befreundet. Mehr dazu werden wir später erfahren.

Der vordere, dem Meer zugewandte Teil des Palazzo San Giorgio wurde Ende des 16. Jahrhunderts hinzugefügt. Wir wollen den Palazzo von vorne genauer betrachten und begeben uns dafür unter die Sopraelevata.

An der Hauptfassade, ganz im Stil der Renaissance gehalten, dominiert der Heilige Georg im Kampf mit dem Drachen die Szenerie, während unter ihm die Crème de la Crème der Stadtrepublik Genua dargestellt ist. Wir treffen auf alte Bekannte: Die vierte Figur (von links) mit der Kettenhaube und dem langen Schwert ist der Kreuzritter Guglielmo Embriaco, die fünfte Figur, mit der Kugel in seiner rechten Hand, stellt Christoph Kolumbus dar. Der Palazzo San Giorgio hat eine sehr interessante und wechselvolle Vergangenheit; wir werden im Rundgang in Kap. III näher darauf eingehen. Heute ist der Palast Sitz der Hafenbehörde. Wir gehen um den Palazzo herum (rechts befindet sich der Abgang zur Metro), bis wir wieder bei den Laubengängen der Sottoripa ankommen. Bevor wir unter die Arkaden schlüpfen, bemerken wir, dass sie hier keine architektonische Einheit bilden. Die einen sind hochgeschwungen, andere eher gedrungen und breit. Die unverputzten Stellen lassen erkennen, dass hier eine ältere Struktur vorhanden ist. Es sind dies die Reste des mittelalterlichen Aquädukts, die geschickt zu Arkaden umfunktioniert wurden. Wir überqueren die Via San Lorenzo, biegen ungefähr hundert Meter weiter links in die Via San Giorgio und kommen alsbald zum gleichnamigen Platz. An dieser Stelle befand sich womöglich in römischer Zeit das Forum. Heutzutage wähnt man sich jedoch, je nach Wochentag und Tageszeit, zu der man auf dem kleinen Platz steht, eher in Moskau als in Rom. Die grössere der beiden Kirchen, die Chiesa di San Giorgio, wird momentan von den Genueser orthodoxen Christen benutzt. In ihrem Innern türmen sich die goldenen Ikonen auf den barocken Altären, und an den russischen Feiertagen dringen orthodoxe Gesänge nach draussen.

Vorderer Teil des Palazzo San Giorgio, Ende 16. Jahrhundert erbaut.

Russisch-orthodoxe Liturgie in der Chiesa di San Giorgio.

Die Schöne, der Kopflose und zwei Chirurgen

Wir werfen auch einen Blick in die zweite Kirche, San Torpete. Wie eine Bonbonniere, die an keiner italienischen Hochzeit fehlen darf, ganz in Weiss und Gold, präsentiert sich das kleine, andachtsvolle Gotteshaus. Obwohl: So fromm und einträchtig ist die Stimmung in dieser Kirche nicht. Die Ankündigung des für San Torpete zuständigen Priesters, Paolo Farinella, aus Respekt vor Jesus nicht mehr die Weihnachtsmesse zu lesen, sorgte 2018 für Aufsehen. Paolo Farinella, der sich «durch Gnade Gottes» als atheistischer Priester bezeichnet, begründete seine Weigerung damit, dass Jesus zu einem Gadget unter dem masslosen weihnachtlichen Krimskrams geworden sei, ein Hohn gegenüber all jenen Kindern, die heute in einem Flüchtlingslager in der Türkei oder in Libyen zur Welt kommen. Eine Schande für die Europäische Union, die Millionen in diese Länder schickt, damit das Jesuskind nicht nach Europa gelangen könne. Jesus werde heute nicht in der Krippe seiner Kirche geboren, sondern im Mittelmeer, einem Sarg, meint der streitbare Kleriker traurig.

Da Musik und Kunst die Gabe haben, uns versöhnlich zu stimmen, noch zwei Informationen, bevor wir die Kirche verlassen. Die Orgel, vor dem Hauptaltar rechts, ist ein Juwel, auch wenn man es ihr nicht ansieht. Sie stammt aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und obwohl sie mehrmals umgebaut wurde, gelang es durch eine Renovation vor einigen Jahren, ihren ursprünglichen Klang wiederherzustellen. Bis Ende 2018 fanden in dieser Kirche immer wieder Barockmusikkonzerte statt. Leider ist damit nun Schluss, die Stadt hat ihre langjährige finanzielle Unterstützung aufgekündigt. Vielleicht könnte man der Kirche wieder zu mehr Anerkennung verhelfen, indem man «Die Geburt der Venus», das Gemälde von Sandro Botticelli, hier ausstellt. Denn in die Kirche San Torpete in Genua gehört das berühmte Bild tatsächlich, und nicht in die Uffizien in Florenz. Das Gotteshaus war nämlich die Patronatskirche der alteingesessenen Genueser Familie Della Volta, die später ihren Namen in Cattaneo abänderte. Die wohl berühmteste Repräsentantin dieser wohlhabenden Familie war Simonetta Cattaneo Vespucci. Sie wurde 1469 16-jährig an einen Cousin des Seefahrers und Entdeckers Amerigo Vespucci verheiratet und verkehrte fortan in den Kreisen der wohl prominentesten Familie in Florenz zu jener Zeit: der Medici. Der Bruder des berühmten Lorenzo de Medici soll sich unsterblich in sie verliebt haben. Sie war anscheinend so wunderschön, dass sie mehrere Künstler inspirierte, unter anderem auch Botticelli, der sie zu seiner Muse erkor. Simonetta soll ihm als Vorbild zur Darstellung der Göttin Venus, die vom Westwind Zephir auf einer Jakobsmuschel zum Strand von Zypern geblasen wird, gedient haben. Sie wird als die schönste Frau der italienischen Renaissance gehandelt. Wir dürfen uns freuen: Wir werden ihr bald nochmals begegnen.

San Torpete

Der Heilige Torpes, dem das Gotteshaus geweiht ist, ist ein christlicher Märtyrer aus Pisa. Gemäss einer mittelalterlichen Legende wurde er enthauptet und, zusammen mit einem Hahn und einem Hund, auf ein Schiff geladen. Nach einer Irrfahrt auf dem Tyrrhenischen Meer strandete er an der provenzalischen Küste, und Saint-Tropez ward geboren. Oder aber das Schiff wurde an einen Strand in Spanien gespült. Oder aber es legte nur mit dem kopflosen Christen ab, und das Haupt des Heiligen Torpes wurde von Engeln geborgen und dem Bischof von Pisa überbracht … In der Kirche ist eine Szene der Lebensgeschichte des Märtyrers in einem etwas düsteren Bild dargestellt. Der bärtige Torpes kämpft mit einem affenartigen Wesen, das ihm mit einem Messer zu Leibe rücken will – eine Folter unter vielen, die er über sich ergehen lassen musste, weil er dem christlichen Glauben nicht abschwören wollte. Das Gemälde «San Torpete illeso tra le fiere» aus dem 17. Jahrhundert, der Heilige Torpes unversehrt unter den wilden Tieren, stammt von Giovanni Carlone, einem Sohn des Tessiners Taddeo Carlone (siehe Kap. IV). Dass wir in Genua eine Kirche vorfinden, die einem Pisaner Heiligen gewidmet ist, mag erstaunen, bedenkt man, dass Genua für den Untergang der Seefahrerrepublik Pisa zuständig ist. Doch: San Torpete ist eine der ältesten Kirchen Genuas. Sie wurde bereits im 10. Jahrhundert von einer Kolonie von Kaufleuten aus Pisa gegründet, also lange bevor Genua und Pisa zu rivalisierenden Seerepubliken wurden.

«Venus und Mars», S. Botticelli, um 1485.

Weibliches Idealbildnis, S. Botticelli, um 1480.

«Geburt der Venus», S. Botticelli, 1485/86.

Simonetta Cattaneo Vespucci, P. di Cosimo, um 1480.

Sollten wir Hunger verspüren, dann befinden wir uns jetzt an einem strategisch günstigen Ort für ein feines Mittagessen. Es stehen uns zwei hervorragende Möglichkeiten zur Auswahl: Wir nehmen die Via dei Giustiniani und kehren dort nach wenigen Schritten in der Trattoria Sa Pesta ein. Oder aber wir gehen einige wenige Meter die Via delle Grazie hinauf und essen in der Trattoria delle Grazie (siehe Serviceteil).

Wir setzen unseren Rundgang bei der Trattoria delle Grazie fort, indem wir in den Vico di San Cosimo einbiegen, der uns auf einen so kleinen Platz führt, dass man versucht ist, diesem kleinen gepflasterten Flecken die Bezeichnung «Piazza» abzuerkennen. Zumindest verleiht die Basilika mit ihrem schmucken Portal und den Flachreliefs mit den wundersamen Wesen, wie sie in den mittelalterlichen Bestiarien zu sehen sind, dem winzigen Platz doch eine majestätische Würde. Die Kirche Santi Cosma e Damiano ist im Gassengewirr Genuas kaum zu finden, man geht nicht per Zufall an ihr vorbei, man muss sie schon bewusst suchen und wird sie höchstwahrscheinlich ohne Hilfsmittel auch kein zweites Mal finden … Nun stehen wir aber vor dem im romanischen Stil erbauten Gotteshaus und, wenn wir Glück haben, ist es sogar geöffnet. Cosmas und Damian waren laut Legende Zwillingsbrüder; die Statuen der beiden Heiligen in der Kirche weisen denn auch eine frappante Ähnlichkeit auf. Sie stammten aus Kilikien im Südosten Kleinasiens und waren als Ärzte tätig. Für ihre medizinischen Dienste verlangten sie jedoch nichts. Vielleicht ergab sich daraus eine gute Möglichkeit, um die eine oder andere geheilte Kranke zum Christentum zu bekehren? Als eines der grössten Wunder der beiden Ärzte gilt die Heilung eines Diakons, dessen eines Bein vom Wundbrand befallen war. Die beiden Heiligen schnitten dem Patienten im Schlaf das Bein ab und ersetzten es durch das Bein eines Äthiopiers, der kurz zuvor verstorben war. Der Diakon lebte fortan mit einem weissen und einem schwarzen Bein weiter. Wir schmunzeln bei der Vorstellung, dass ein solcher Eingriff bei den italienischen Rechtspopulisten, die sich momentan sehr dezidiert gegen die Einwanderung aussprechen, zu neuen Standpunkten führen könnte.

Weiss und Schwarz passen auch bestens zu dieser Kirche: Die wunderschönen Säulen sind so gehalten, und auch der Boden ist mit schwarzen und weissen quadratischen Steinen gepflastert. Weisser Marmor aus Carrara und schwarzer Schiefer von Promontorio, der Landspitze bei Genua, auf der die Lanterna, der Leuchtturm, steht. Diese beiden Baumaterialien sind das typische Markenzeichen der genuesischen Architektur des Mittelalters. Bevor wir die kleine Basilika verlassen, werfen wir einen Blick auf den im Boden des Hauptschiffes eingelassenen Grabstein: HOC EST SEPULCRUM ARTIS CHIRURGORUM ET TONSORUM. Die Genueser Chirurgen und Barbiere haben die beiden Ärzte Cosmas und Damian zu ihren Schutzheiligen gemacht. Unter dieser Grabplatte befindet sich deren letzte Ruhestätte. Vor dem Ausgang, auf der linken Seite, bleiben wir fasziniert vor dem mittelalterlichen Taufstein stehen. Qual grazia!

Von der Piazza di San Cosimo gehen wir um die Kirche herum, unter dem Bogen am Ende des Vico di San Cosimo hindurch, biegen rechts in den Vico dietro il Coro di San Cosimo ein, um nach wenigen Schritten linker Hand im pechschwarzen Vico della Pece zu verschwinden. Am Ende der Gasse angekommen, nehmen wir die Treppe direkt vor uns und gelangen – über die Salita alla Torre degli Embriaci, der Name des Aufstiegs verrät es uns bereits – zum mittelalterlichen Turm. Guglielmo Embriaco, wir erinnern uns, war beim ersten Kreuzzug massgeblich an der Befreiung beziehungsweise Eroberung Jerusalems beteiligt gewesen. Die Kreuzzüge scheinen Suchtpotenzial gehabt zu haben. Guglielmo, inzwischen unter dem Spitznamen Testa di Maglio (Hammerkopf) bekannt, zog mehrmals als Kreuzritter und Kaufmann in den Orient. Zurück kam er jeweils reich beladen. So reich, dass seine Familie zur wichtigsten der Stadt wurde und während vieler Jahrhunderte die Geschicke Genuas mitbestimmte. Und wie es sich für eine einflussreiche Familie gehörte, musste dies auch symbolisch veranschaulicht werden. Heute stellt man dazu den Ferrari vor der Villa ab, früher baute man einen möglichst hohen Turm an seinen Palazzo. Das Stadtbild Genuas prägten im Mittelalter unzählige solcher Geschlechtertürme, im 13. Jahrhundert sollen es an die sechzig gewesen sein.

Ansicht von Genua im Jahr 1481 (Ausschnitt), 2,2 × 4 Meter grosses Bild von C. Grassi im Galata Museo del Mare.

Zur Veranschaulichung: In San Gimignano stehen heute «nur» elf solcher Bauwerke. Der Turm der Familie Embriaci war der höchste, denn sie musste als einzige die 1196 erlassene Verordnung, wonach über «sette cannelle» oder zwanzig Meter hohe Türme zurückgebaut werden müssen, nicht befolgen. Ihr Wahrzeichen durfte «quattordici cannelle», also 41 Meter, hoch bleiben. Die Türme dienten nicht nur als Statussymbol, sondern auch der Verteidigung und dem Angriff. Die Genueser Familien waren clanartig in sogenannten alberghi organisiert (siehe Kap. III) und beherrschten ganze Quartiere, wobei Späher auf den Türmen die Zugänge zu den Territorien bewachten. Während der kriegerischen Auseinandersetzungen unter den Familien wurden Holzbrücken von Haus zu Haus ausgelegt, und der Kampf fand zum Teil in luftiger Höhe statt. Von den Türmen aus liess er sich gut steuern.

Die Schatz- und Wunderkammer Santa Maria di Castello

Während die Geschlechtertürme in erster Linie mit ihrem Äusseren beeindrucken wollen, ist es beim Bauobjekt hinter uns gerade umgekehrt. Wir gehen ein paar Schritte das Strässchen hinunter und stehen vor einer ganz und gar unspektakulären Fassade. Was sich dahinter verbirgt, gehört unserer Meinung nach jedoch zum Interessantesten, was die Sakralkunst in Genua zu bieten hat.

Das Beste ist, sich beim Eingang der Kirche einem Freiwilligen, der mit einer Plakette als solcher ausgewiesen ist, anzuvertrauen. Er kennt die Geheimnisse der Kirche Santa Maria di Castello bestens und trägt vor allem den dicken Schlüsselbund bei sich, der die verschiedenen Schatzkammern öffnet. Dieses Gotteshaus befindet sich im ältesten Siedlungskern Genuas (siehe Kap. II) und wurde im 12. Jahrhundert von den Magistri Antelami an der Stelle errichtet, wo früher eine langobardische Kirche stand. Im 15. Jahrhundert wurde sie dann dem Dominikanerorden zugewiesen und stark erweitert, vergrössert und verschönert. Drei prächtige mehrstöckige Kreuzgänge und eine Sakristei kamen hinzu. Viele Patrizierfamilien liessen ihre Adelskapellen entlang der Seitenschiffe errichten und mit Kunstwerken der grössten Genueser Künstler ausstatten. Wir lassen uns gegen ein Trinkgeld, das nicht an die Freiwilligen geht, sondern der Erhaltung der Kirche zugutekommt, von den Experten die Geheimgänge in den Seitenkapellen zeigen. Sie werden uns über die portugiesischen Azulejos (Keramikfliesen) in der Cappella di Sant’Antonio aufklären und uns auf die über tausend Jahre alten Grabsteine mit kufischer (arabischer) Inschrift in den Stützarkaden der Obergaden hinweisen.

Wir staunen: Verse aus dem Koran in einer katholischen Kirche! Eben: Die Genuesen brachten so manch schweres Raubgut von ihren Kreuzzügen nach Hause. Einerseits als Zeugnis ihres Könnens, als Handelsgut oder auch als Souvenir. Zum anderen aber auch, weil sie ihre massigen Schiffe – auf der Hinfahrt schwer beladen mit Pferden, Geschütz etc. – bei ihrer Rückkehr zwar mit viel wertvoller Ware wie Gewürze und Seide beluden, die gewünschte Stabilität mit diesen vergleichsweise leichten Gütern jedoch fehlte. Es wurden also byzantinische Kapitelle, korinthische Säulen, römische Sarkophage etc. in die Laderäume der Schiffe verfrachtet und zwischen den Seidenballen und Gewürzkisten platziert. Im Hafen Genuas angekommen, wurden diese architektonischen Fragmente ganz selbstverständlich für den Bau neuer Gebäude wiederverwendet. Gut möglich also, dass die Bauherren der Kirche Santa Maria di Castello keine Ahnung hatten, mit welch ketzerischen Schriftstücken sie da gerade die Rundbögen ihres christlichen Gotteshauses verzierten. Die weissen Platten mit der schönen Schrift passten einfach besonders gut zu den schwarzen Steinen von Promontorio. Der gekreuzigte Jesus, der sich links bei einer Säule vor dem Hauptaltar befindet, scheint uns eine gelungene moderne Interpretation der Leiden Christi zu sein. Doch wir irren. Der Cristo Moro, wie er genannt wird, ist alles andere als zeitgenössische Kunst. Es handelt sich hier um eine Holzstatue von ungewisser Herkunft aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Den Dominikanern scheint sie nicht gefallen zu haben, und so haben sie sie mit einer Echthaarperücke und einem Vollbart ausstaffiert. Als bei einer Restaurierung in den 1970er-Jahren diese haarigen Attribute wieder entfernt wurden und der Christus in seiner ursprünglichen Form, sozusagen wieder nackt, dahing, erkannten die Gläubigen in ihm keinen anzubetenden Gottessohn mehr. Es musste eine Kopie des Cristo Moro hergestellt werden, der, barockisiert und behaart, heute wieder fleissig in der Cappella del Crocefisso (im linken Seitenschiff) verehrt wird. Wir lassen uns von den Kunstführern durch die Sakristei, die auch «Cappella Grimaldi» genannt wird, schleusen und werfen dabei einen hastigen Blick auf die wunderschönen Marmorarbeiten des Portalrahmens. Es ist dies ein bemerkenswertes Artefakt aus der Werkstatt der Familie Gagini (zu der aus dem Tessin eingewanderten Familie Gagini oder Gaggini siehe Kap. IV). Wir werden in einen der beiden noch bestehenden Kreuzgänge geführt und treten auf die Loggia dell’Annunciazione hinaus.

Hier trifft die Kunstfertigkeit aus dem Norden auf das Kunstinteresse des Südens und bringt Wunderbares zustande. Vor der Wandmalerei, welche die Verkündigung des Erzengels Gabriel an Maria darstellt, machen wir es uns gemütlich. Weil der Maler seine Visitenkarte hinterlegt hat – er hat sie an den Fensterladen ganz links im Bild geheftet –, wissen wir, wie er hiess, wann er das Bild malte und woher er stammte: JUSTIS DE ALLAMAGNA PINXIT 1451 CRDZ. Wobei das Kürzel CRDZ Kunsthistorikern gemäss als «Civis Ravensburgensis de Zella», «Bürger von Ravensburg aus Radolfzell», zu entziffern ist. Das Bild aus dem Jahr 1451 spricht Bände, es greift tief in die Allegorienkiste. Und es erinnert uns an Fabrizio De André und an sein Musikalbum «La buona novella» – Martin Luther würde das wohl mit «Die gute Mär» übersetzen. Faber, wie der cantautore von seinen Freunden genannt wurde, ist die authentischste, kritischste und poetischste Stimme Genuas. Seine Lieder beseelen auch über zwanzig Jahre nach seinem Tod die Stadt. Wir werden ihnen auf den Rundgängen immer wieder begegnen, an unerwarteten Orten wie hier vor der Verkündungserzählung. Der bekennende Anarchist Faber wartet denn auch mit einer eigenen, politisch brisanten und musikalisch meisterhaften Interpretation dieser religiösen Erzählung auf.

La buona novella – Die gute Mär

1970 erscheint Fabrizio De Andrés viertes Album, ein sogenanntes Konzeptalbum, auf dem die einzelnen Titel nicht isoliert, sondern in ihrer thematischen Beziehung zu den anderen Teilen des Albums als Gesamtwerk betrachtet werden. Er schreibt die Lieder während der studentischen Unruhen 1968/69, und mancher Freund wirft ihm vor, dass er völlig anachronistisch handle: Statt mit den Studierenden auf der Strasse gegen die Ungerechtigkeit zu protestieren, schliesse er sich ein und studiere die Heilige Schrift, um ihnen eine uralte Geschichte zu erzählen, die sie in- und auswendig kennen würden! De André zog jedoch nicht die Bibel für seine Liedtexte heran, sondern die Apokryphen zum Neuen Testament. Oftmals werden diese als die «falschen» Evangelien bezeichnet. Tatsächlich meint apokryphos jedoch «verborgen», «dunkel». Es handelt sich um religiöse Schriften, die zwischen dem 2. und dem 4. Jahrhundert n. Chr. verfasst, aber nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden. Sie enthalten Informationen, welche die Evangelien der vier Evangelisten nicht wiedergeben, wie beispielsweise die Erzählung der Geburt Christi in der Grotte im Beisein des Esels und des Ochsen, die Namen der Drei Könige etc. Eine Besonderheit der apokryphen Evangelien ist die Betonung des Menschlichen. Sie geben besonders genau Auskunft über die Kindheit von Maria und Jesus, aber auch Josef bekommt durch sie eine aktivere Rolle zugeschrieben als in den vier offiziellen Evangelien. Viele namhafte Maler und Schriftsteller, unter ihnen beispielsweise Giotto, Michelangelo und Dante, liessen sich für ihre Darstellungen von den apokryphen Evangelien inspirieren. So auch Justus von Ravensburg – und eben auch der Liedermacher Fabrizio De André.

De André verstand sein Album «La buona novella» als eine Allegorie. Er wollte seinen Mitstreitenden damit aufzeigen, dass mit Jesus, dem grössten Revolutionär der Geschichte, bereits vor dem berüchtigten Jahr 1968 jemand gegen das Establishment aufbegehrt hatte. «Zudem hatte ich das Bedürfnis, das Christentum vom Katholizismus zu befreien», meinte er. «Die apokryphen Evangelien sind eine wunderbare Lektüre, die viele Anknüpfungspunkte zur anarchistischen Ideologie bieten.»

Nach einem Laudate Dominum, einem Lied über die Kindheit von Maria und der beunruhigenden Feststellung Josefs, dass Maria ohne sein Zutun schwanger wurde, berichtet das vierte Musikstück auf dem Album über einen sonderbaren Traum Marias: Dem Mädchen, halb träumend, halb wachend, im dunklen, feuchten und von Weihrauch erfüllten Tempel, erscheint, wie jeden Abend, der Engel. Diesmal verwandelt er ihre zum Gebet gefalteten Hände in Flügel, und zusammen fliegen sie davon. Im Grünen, wo die Rebe den Olivenbaum umschlingt, zählt der Engel nach jedem Gebet einen Rückenwirbel Marias … Als Maria, von den Stimmen der Priester geweckt, davonfliegen möchte, bemerkt sie, dass ihre Flügel wieder zu Armen geworden sind, und eine düstere, in den Bauch eingeprägte Vorahnung lässt sie in Tränen ausbrechen. Josef streicht ihr mit seinen alten, steifen Fingern ängstlich über die Stirn.

«Die Theologen haben Maria der sinnlichen Liebe beraubt, sie haben sie zur Jungfräulichkeit verdammt», sagte der Genueser cantautore und forderte: «Geben wir ihr die Sexualität wieder zurück. Maria muss einen alten Mann heiraten, eines Tages aber begegnet sie einem jungen, wunderschönen, mysteriösen Individuum. Im Glauben, dass es sich um einen Engel handelt, lässt sie sich schwängern. Das möchte ich erzählen.» Er tut es so poetisch und zart, dass er uns unserer Fantasie überlässt: Nach jedem Gebet zählt der schöne Engel einen Rückenwirbel Marias …

Die RAI, die staatliche Rundfunkanstalt Italiens, weigerte sich, die theologischen Lieder von Fabrizio De André zu senden, weil sie sie als «blasphemisch» einstufte. Der Rundfunk des Heiligen Stuhls, Radio Vaticana, zeigte weniger Berührungsängste und sendete während einiger Wochen die Lieder des Albums «La buona novella».

Zum Nachhören:http://www.youtube.com/watch?v=wWys4JSTBys

Justus von Ravensburg entschied sich, die Verkündung nach dem Protoevangelium des Jakob aus den apokryphen Schriften zu erzählen, natürlich unter Berücksichtigung des Geltungsbedürfnisses der Auftraggeber und des Ausführungsorts. Die Kunst stand zur Zeit der Renaissance ganz im Dienst der kirchlichen und der weltlichen Macht. Das Bild gab die Genueser Kaufmannsfamilie Grimaldi-Oliva in Auftrag. Sie verewigte sich darin einerseits mit ihrem Wappen (links oberhalb des Fensters) und liess andererseits die Szene in ihrem eigenen Haus arrangieren – es ist der Blick aus den drei Fenstern der Villa der Familie in Albaro (heute ein Quartier Genuas), der uns dies verrät. Auch der Dominikanerorden hat sich geschickt in Szene gesetzt. Schon fast nonchalant liess man hier und dort einige Attribute einfliessen, wie beispielsweise den Rosenkranz, den die Dominikaner gemäss Legende von der Muttergottes erhielten. Er liegt schön drapiert um die Blumenvase herum. Auch trägt der Erzengel Gabriel einen weissen Habit, eine Tracht, wie sie Dominikanerpriester tragen. Einem Gott ähnlich, hält er in seiner linken Hand den Merkurstab, und die Pfauenfedern im Innern der Flügel sind als Symbole der Unsterblichkeit zu werten. Die Dominikaner sind ein Predigerorden, sie setzten als Missionare allein auf das Wort Gottes und auf die Predigt. Das göttliche Wort wird in dieser Malerei prominent versinnbildlicht: Es kommt in goldigen Lettern aus dem Mund des Erzengels, es fliesst Richtung Bücher, die bis auf eines noch verschlossen sind, weil sie auf die asketische Interpretation der Dominikaner warten. Wie im Protoevangelium des Jakob beschrieben, war Maria mit dem Spinnen für den Tempel, wo sie heranwuchs, beschäftigt. Wir erkennen das Nähkästchen mit den Spulen auf dem Fenstersims und die Ringe an ihren Fingern. Wir sehen zudem, dass Maria eine erleuchtete Frau war: Auf ihrem Pult steht das einzige aufgeschlagene Buch. Während Gott ihr von oben das Leben Jesu einhaucht, bekommt Maria ihre ganze Zukunft erklärt: Die Empfängnis war unbefleckt, dafür stehen die weissen Lilien; die schwangere Maria wird der ebenfalls schwangeren Elisabet einen Besuch abstatten, wie unter der Hügellandschaft im dreibogigen Fenster zu sehen ist; der Stall in Betlehem, in dem sie ihr Kind zur Welt bringen wird, befindet sich im Garten, oben links im Bild; ihr Kind wird Jesus heissen, sein Nomen Sacrum, IHS, steht an der Decke; ihr Sohn wird sterben. Der Distelfink, Vorbote der Passion und des Opfertodes Jesu, trinkt aus der Schale, die das Blut des Sohnes Gottes sammeln wird. Draussen, unter dem Baum der Erkenntnis, der hier keine Äpfel, sondern Orangen trägt, heult der Wolf, Sinnbild für die Häresie, die man in den Schatten verbannt hat.

Neben diesen tief religiösen Glaubensbotschaften sind aber auch ganz alltägliche, typisch genuesische Besonderheiten im Bild festgehalten, beispielsweise das macramè. An der Pariser Weltausstellung 1867, die unter anderem dem Spitzenhandwerk wieder zu mehr Anerkennung verhalf, wurden neben den vornehmen venezianischen Spitzen auch genuesische Makramees präsentiert. Makramee stammt vom arabischen migramah für Fransen oder mahramatun für Taschentuch und meint die Knotentechnik, mit der aus den Leinenfransen eines Tuches kunstvolle Verzierungen hergestellt werden. Diese Kunstfertigkeit kam wohl mit den Seeleuten um 1400 nach Genua. Um der Langeweile auf dem Meer zu entkommen, knüpften die Männer, nach arabischer Technik, die Fransen der Tücher. Diese Methode dürfte sich verfeinert haben, als die Arbeiten mit der Zeit von den rauen Fingerkuppen der Matrosen zu den kleinen, flinken Händen der Kinder und Frauen im Albergo dei Poveri übergingen (siehe Kap. IV).

Auf jeden Fall wurde das Makramee so intensiv betrieben, dass bald einmal das Handtuch im Genueser Dialekt als macramè bezeichnet wurde. Ein solches macramè, in den Farben Weiss und Hellblau, besass offenbar schon Maria; es hängt neben der Wasserschüssel, halb verdeckt von der Säule.

Wir bitten unseren Kunstführer, uns den zweiten Kreuzgang zu zeigen. Im Frühling blühen hier Mimosen und Orangenbäume. Auch die vielen weiteren Schätze, die das Museum des ehemaligen Klosters zu bieten hat, möchten wir noch sehen, allen voran das kunstvolle Gruselkabinett, ein Saal voller Reliquien in prunkvollen Schreinen. Sogar der Schwanz der Eselin, auf der Jesus vom Ölberg nach Jerusalem ritt, soll im Mittelalter hier verehrt worden sein, berichtet Giordano Bruno in seinem Theaterstück «Il candelaio» (Der Kerzengiesser, 1582). Und dann ist da noch ein Raum für Schaulustige! Die Unglücklichen auf den zahlreichen Votivbildern an den Wänden erzählen uns vom erlittenen Schiffbruch und der mirakulösen Rettung. Wir kommen uns beim Anblick des vielen Elends schon fast ein bisschen voyeuristisch vor. Who is who?, fragen wir uns hingegen vor einem spektakulären Wimmelbild aus dem Jahr 1513 des aus Nizza stammenden Malers Ludovico Brea. 215 Personen sind abgebildet. Eine kommt uns bekannt vor.

Loggia dell’Annunciazione, Chiesa di Santa Maria di Castello, J. von Ravensburg, 1451.

Azulejos (Keramikfliesen), Cappella di Sant’Antonio, Chiesa di Santa Maria di Castello.

Kunstwerk, Detail, Museo di Santa Maria di Castello.

La Pala di Ognissanti

Die Edelfrau – nobildonna –