GEO EPOCHE eBook Nr. 3: Gangster, Mörder, Attentäter -  - E-Book

GEO EPOCHE eBook Nr. 3: Gangster, Mörder, Attentäter E-Book

5,0

Beschreibung

Die todbringenden Machenschaften der Papstfamilie Borgia in der Renaissance, die Leichendiebe im London des 19. Jahrhunderts, die hochorganisierten Gangster-Imperien von Al Capone und Pablo Escobar - Verbrecher haben seit jeher den Lauf der Geschichte beeinflusst, haben menschliche Schicksale geprägt, sogar Gesellschaften und Staaten ins Wanken gebracht. GEO EPOCHE, das Geschichtsmagazin der GEO-Gruppe, präsentiert in diesem eBook ausgewählte historische Reportagen aus seinen Heften, die einige der berüchtigtsten Verbrechen der Vergangenheit und die Wege ihrer Täter rekonstruieren. Die Autoren erzählen die Geschehnisse in diesem reinen Lesebuch anschaulich, beleuchten ihre Vorgeschichte und ihre Folgen, porträtieren ihre Akteure - neben den Tätern etwa auch Opfer und Ermittler. Die so geschilderten Verbrechen sind mal die Tat Einzelner, wie (nach der plausibelsten aller Theorien) die Ermordung John F. Kennedys im Jahre 1963, mal das Werk komplexer Organisationen - etwa der Mafia. Sie können vom Wahn motiviert sein, noch mächtiger werden zu wollen, oder von verzweifelter Ohnmacht. Sie können als Dienst an einer politischen Sache gedacht sein oder wirtschaftlicher Gier folgen. Auch wenn es oft um Mord und Totschlag geht: Die konkreten Formen des Gesetzesbruchs sind dabei äußerst verschieden. Und sie wandeln sich im Laufe der Zeit. So ergibt sich aus den Darstellungen der verbrecherischen Umtriebe eine ganz eigene Version des Vergangenen: ein Bild von der spannend-düsteren Unterseite der Geschichte. Inhalt: 1. Aufstieg und Fall der Borgia, um 1500 2. Die Giftmischerin Cathérine Montvoisin, 1679 3. Die Body-Snatcher von London, um 1830 4. Gangs of New York, 1863 5. Die Mafia in Sizilien, um 1870 6. Stalin als Bankräuber, um 1905 7. Attentat von Sarajevo, 1914 8. Al Capone, um 1930 9. Das Kennedy-Attentat, 1963 10. Jagd auf Pablo Escobar, um 1990

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Gangster,

Mörder, Attentäter

Zehn historische Reportagen über Verbrechen, die den Lauf der Geschichte verändert haben

Herausgeber:

Michael Schaper

GEOEPOCHE

Das Magazin für Geschichte

Gruner + Jahr AG & Co KG, Druck- und Verlagshaus, Am Baumwall 11, 20459 Hamburg

www.geo-epoche.de

Titelbild: Al Capone; akg

Liebe Leserin, lieber Leser,

am 22. November 1963 beendet – der schlüssigsten Theorie zufolge – die Mordtat eines einzelnen Mannes, des Lagerarbeiters Lee Harvey Oswald, binnen Sekunden die etwa 1000 Tage währende Ära von US-Präsident John F. Kennedy, die so viel Aufbruch und Neuanfang versprochen hatte.

Im 19. Jahrhundert entsteht auf Sizilien über Jahrzehnte ein Netzwerk aus unterschiedlichsten Personen, das Gewalt und Schutz in unruhigen Zeiten verkauft, Unternehmer erpresst, Politiker besticht, und schon bald das Leben der Insel prägt: die Mafia.

So unterschiedlich diese zwei Fälle auch sind – Einzeltäter gegenüber komplexer Organisation, einmalige Tat gegenüber dauerhaftem Phänomen: Beide sind eng mit der sie umgebenden Geschichte verwoben. Sind Beleg dafür, dass Verbrecher seit jeher die Historie beeinflusst haben, mit ihren Taten menschliche Schicksale formten, Gemeinschaften traumatisierten, sogar Gesellschaften und Staaten ins Wanken brachten.

Wer sich eingehend mit „Gangstern, Mördern, Attentätern“ der Vergangenheit beschäftigt, erhält daher mehr als nur kriminalistische Anekdoten. Der erfährt viel über die Skrupellosigkeit der Mächtigen, wie bei der Renaissance-Familie Borgia, oder über den Alltag der einfachen Bevölkerung im New York des 19. Jahrhunderts, in deren Slums wilde Gangs ihre Hauptquartiere haben. Über die politische Weltlage, die durch Attentate wie jenes auf den österreichischen Thronfolger 1914 in Sarajevo fatal aus dem Gleichgewicht gerät, oder über die mörderische Wirtschaftskraft eines Drogenimperiums, wie dem des Obergangsters Pablo Escobar.

Für diese eBook-Ausgabe hat die Redaktion von GEOEPOCHE zehn der spannendsten Texte über historische Verbrecher und Verbrechen, alle erschienen in GEOEPOCHE, ausgewählt und neu zusammengestellt. Faktisch fundiert und zugleich packend geschrieben, erzeugen sie, auch ohne Bilder, ein plastisches Erlebnis von Geschichte.

Die Autoren erzählen die Geschehnisse anschaulich im Stile von Reportagen, betten sie in den historischen Kontext, beleuchten ihre Vorgeschichte und ihre Folgen, porträtieren ihre Akteure – neben den Tätern etwa auch Opfer und Ermittler.

Auch wenn es dabei oft um Mord und Totschlag geht: Die konkreten Formen, die der Gesetzesbruch annimmt, sind äußerst verschieden. Und sie wandeln sich im Laufe der Zeit. So ergibt sich aus den hier versammelten Texten eine ganz eigene Version geschichtlicher Entwicklungen. Es ist ein Bild von der düsteren Unterseite der Welt.

Michael Schaper

Chefredakteur GEOEPOCHE

Inhalt

1.

Aufstieg und Fall der Borgia, um 1500

Der Schrecken von Rom

Von Jens-Rainer Berg

2.

Die Giftmischerin Cathérine Montvoisin, 1679

Der Engel des Todes

Von Gesa Gottschalk

3.

Die Body-Snatcher von London, um 1830

Finstere Geschäfte

Von Susanne Frömel

4.

Gangs of New York, 1863

Früchte des Zorns

Von Johannes Strempel

5.

Die Mafia in Sizilien, um 1870

Die ehrenwerte Gesellschaft

Von Mathias Mesenhöller

6.

Stalin als Bankräuber, um 1905

Aufstieg eines Gangsters

Von Mathias Mesenhöller

7.

Attentat von Sarajevo, 1914

Der erste Tote des Weltenbrandes

Von Heinrich Jaenecke

8.

Al Capone, um 1930

Der König von Chicago

Von Jörg-Uwe Albig

9.

Das Kennedy-Attentat, 1963

Tod in Dallas

Von Ralf Berhorst

10.

Jagd auf Pablo Escobar, um 1990

Kampf dem Kokain-Baron

Von Philipp Mattheis

Aufstieg und Fall der Borgia, um 1500

Der Schrecken von Rom

Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts ducken sich die Römer unter der maßlosen Herrschaft einer Familie. Der Spanier Rodrigo Borgia regiert als Papst Alexander VI. elf Jahre lang den Kirchenstaat. Sein Lebensstil und der seiner Kinder ist zügellos, ihre Politik brutal und verschlagen. Und sie gilt nur einem Ziel: der Etablierung eines Borgia-Reiches inmitten Italiens. Mit französischer Hilfe gelingt es der Sippe tatsächlich, ein bedeutendes Territorium zu erobern. Doch am Ende verliert sie alles

Von Jens-Rainer Berg

Der letzte Tag des Jahres 1502 ist klar. Und kalt. Es wird ein Tag der Entscheidung. Cesare Borgia, Herzog der Romagna, reitet in voller Rüstung die Via Emilia hinunter, von Fano ins 15 Kilometer weiter südlich gelegene Senigallia. Zur Linken blitzt die Adria im Morgenlicht, zur Rechten zeichnen sich grau die Hänge des Apennin ab. Direkt um ihn herum schaben und klacken die Harnische und Kürasse seiner Schweren Reiter. Der Rest der Armee marschiert weit verteilt in kleinen Einheiten, denn niemand soll ihre wahre Stärke erkennen.

In Senigallia wird Cesare keinen Feind treffen, sondern seine condottieri – ihm untergebene Truppenführer, die gegen Geld und Beute mit ihren Heeren für ihn kämpfen. Sie haben zwei Tage zuvor die kleine Küstenstadt gut 20 Kilometer nördlich von Ancona eingenommen, so wie es ihr Dienstherr angeordnet hat, und warten nun auf dessen Erscheinen. Denn es gibt viel zu besprechen – und vor allem: Versöhnung zu feiern. Zumindest glauben sie das.

Keine drei Monate ist es her, dass sich die Condottieri in einer Rebellion gegen ihren Auftraggeber gewandt hatten. Cesare Borgia, der ehrgeizige Sohn des Papstes Alexander VI., war ihnen zu mächtig geworden, sein Expansionsdrang in Mittelitalien zu groß: Auf einmal schienen sogar ihre eigenen Herrschaften und Pfründen in Gefahr. Die Rebellen vereinbarten einen Gegenpakt, und binnen Tagen befreite die neue Koalition die Städte Urbino und Camerino aus Cesares Hand.

Doch dann ging alles so schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Cesares Vater erklärte die Abtrünnigen kraft seiner päpstlichen Autorität zu Feinden Christi, versprach jedoch zugleich Vergebung. Auch Cesare öffnete seine Arme den immer unsicherer agierenden Rebellen. Schon Anfang November waren die alten Bundesgenossen wieder die neuen. Eine andauernde Feindschaft mit dem Herzog war den Condottieri zu riskant.

Die Revolte wurde als Missverständnis dargestellt, und fortan herrschte Harmonie. Wären da nicht diese Gerüchte: Cesare stelle eifrig eigene Truppen auf; 12.000 Mann habe er schon beisammen; sein Hass gegen die Verräter sei ungebrochen. Kann man diesem Mann wirklich trauen?

Am Nachmittag erblickt Cesare endlich die Mauern von Senigallia. Etwa vier Kilometer vor der Stadt erwarten ihn vier Condottieri. Der Herzog begrüßt seine Verbündeten herzlich und schüttelt ihnen nach französischer Sitte die Hand, ehe er sie umarmt. Dann reiten sie gemeinsam stadteinwärts, angeregt plaudernd. Nichts deutet darauf hin, dass der Feldherr den Söldnern die zurückliegende Untreue übel nähme. Kein Gram und keine Vorwürfe.

Doch weshalb erscheint Cesare mit solch großer Streitmacht? Tausende seiner Soldaten sammeln sich jetzt, aus allen Richtungen kommend, vor der Stadt unter rot-gelben Fahnen, hundertfach blinken die langen Piken der Schweizer Söldner. Und noch etwas beunruhigt die vier Truppenführer: Jeder von ihnen wird von Schwerbewaffneten eskortiert, die sie keinen Moment aus den Augen lassen.

Die Gruppe erreicht über eine hölzerne Brücke das einzige offene Stadttor. Auf Befehl Cesares ziehen 1000 Kämpfer seiner Infanterie voraus in die Stadt, er selbst und der Tross der Condottieri folgen. Leise wird das Tor hinter ihnen geschlossen.

Im umfriedeten Kern Senigallias befinden sich jetzt nur noch Soldaten der Borgia-Armee – abgesehen von ein paar persönlichen Wachen der Condottieri. Die übrigen Truppen lagern vor den Mauern, so hat es der Herzog angeordnet. Isoliert und sichtlich verunsichert, begleiten die Söldnerführer Cesare zu dessen Quartier. Vor dem Haus versuchen sie sich zu verabschieden, ohne von ihren Pferden abzusitzen, doch der Herzog bittet sie leutselig, mit hineinzukommen.

Als die Gäste das Anwesen betreten, schnappt die Falle zu: Auf einen Wink des Borgia überwältigen bereitstehende Schergen die Condottieri, fesseln sie und führen sie wortlos ab. Noch in derselben Nacht ordnet Cesare an, zwei von ihnen zu erdrosseln. Um zwei Uhr früh, es ist der Neujahrstag 1503, werden ihnen, Rücken an Rücken sitzend, die Würgeisen umgelegt. Die beiden anderen werden zunächst eingekerkert und später ebenfalls ermordet. Ihre führerlosen Truppen draußen vor der Stadt haben inzwischen vor der Übermacht der gegnerischen Armee kapituliert. Die Rache des Herzogs ist vollkommen: Er steht auf dem Höhepunkt seiner Macht.

Bis heute ist es ein Rätsel, weshalb die Opfer von Senigallia so leichtgläubig und widerstandslos in ihr Verderben gingen, obwohl doch alles dafür sprach, dass sie bei diesem Gegner mit dem Äußersten rechnen mussten. Denn Cesare war Spross einer der berüchtigtsten Familiendynastien der Renaissance.

Gemeinsam mit seinem Vater Rodrigo – seit 1492 als Alexander VI. auf dem Papstthron – und seiner Schwester Lucrezia betrieb er um 1500 vom Vatikan aus eine skrupellose Machtpolitik von europäischem Ausmaß, die selbst die weiten Grenzen des damals Gewohnten überschritt. Ausschweifend im Lebensstil, gerissen in der Diplomatie, grausam im Umgang mit Feinden, war die Familie besessen von einer einzigen großen Vision: ein eigenes Reich im Herzen Italiens zu schaffen, einen unabhängigen Staat der Borgia.

Dafür wagten der Papst und seine Kinder alles – um schließlich alles zu verlieren. Die Zahl ihrer Gegner stieg ins Unermessliche. Nicht wenige Zeitgenossen sahen im Pontifex Alexander VI. den leibhaftigen Antichrist. Und der Nachwelt galten die Borgia bald als die Prototypen des amoralischen Renaissance-Herrschers.

Der Aufstieg der Familie beginnt gut 50 Jahre zuvor in der spanischen Provinz, bescheiden und weitab von den Zentren europäischer Politik. Alfonso de Borja, ein Abkömmling niederen Adels aus einem Dorf in der Ebene von Valencia, macht im frühen 15. Jahrhundert Karriere in der Kirche. Sein Erfolg ist beispiellos. Als brillanter Diplomat und dank der Unterstützung des spanischen Königs wird er 1444 zum Kardinal ernannt und geht nach Rom. Elf Jahre später wählt ihn das Konklave zum Papst. Die Borja haben ihren Namen inzwischen zu Borgia italianisiert, und der erste Pontifex nennt sich Kalixt III.

Für diesen hat sich damit eine Prophezeiung erfüllt. Ein alter Dominikanermönch hatte dem jungen Spanier einst verkündet, er werde einmal den Thron Petri besteigen. Kann es deutlichere Zeichen für die Auserwähltheit seiner Familie geben? Ohnehin ist es in diesen Zeiten üblich, seine Verwandten an den Segnungen des eigenen Aufstiegs teilhaben zu lassen. So holt Kalixt III. seinen Neffen Rodrigo aus Spanien nach Rom und erhebt ihn 1456 zum Kardinal.

Rodrigo ist jung, gerade einmal 25, aber er denkt schnell und zeigt früh Begabung fürs Verwalten und Herrschen. Sein massiger Körper, das wuchtige Haupt mit einer markanten Adlernase und vollen Lippen verleihen ihm schon jetzt etwas Gebieterisches. Seine joviale Art nimmt die Menschen für ihn ein.

Doch als sein päpstlicher Onkel nach nur drei Jahren Amtszeit stirbt, muss der Kardinal erleben, was es heißt, einen mächtigen Fürsprecher zu verlieren. Die Stimmung an der Kurie wendet sich gegen ihn. Der römische Pöbel plündert, im Hass gegen alles Spanische, sogar seinen Palast. Rodrigos Bruder verlässt fluchtartig die Stadt. Aber der junge Purpurträger hält sich. Geduldig und systematisch beginnt er, seine Position an der Kurie auszubauen.

Über die Jahre erwirbt Rodrigo eine beeindruckende Zahl von Ämtern und Einkunftsquellen: Er wird Bischof von Valencia, Vizekanzler der Römischen Kirche, Bischof von Albano, Bischof von Mallorca und von Eger sowie Dekan des Kardinalskollegiums; er herrscht über die Abtei S. Scolastia di Subiaco, die Lehen Nepi und Cività Castellana, das Lehen Soriano und das spanische Herzogtum Gandía. Um 1480 verfügt er über ein Jahreseinkommen von 35.000 Dukaten, mehr als ein Zehntel des gesamten Papstbudgets. Der Haushalt des Kardinals zählt rund 300 Personen, darunter etwa 140 Kleriker.

Und der Kardinal versteckt seinen Reichtum nicht. Der Luxus des Palazzo Borgia, den Rodrigo in Sichtweite zum Vatikan hat erbauen lassen, überwältigt die Besucher. Schwere Gobelins mit aufwendigen Historienszenen zieren die Wände, kostbares Mobiliar füllt Zimmer und Flure. Für hohe Prälaten in Rom sind fürstliche Behausungen nichts Ungewöhnliches, aber Rodrigo geht zu weit. Ein Übermaß an Pracht und Sinnenfreude attestieren ihm seine frommeren Kollegen, aber nicht die notwendige Würde des Amtes.

Möglicherweise ist es aber auch der Ruf des Kardinals, der dieses Urteil leitet. Rodrigos Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht gleiche der eines Magneten auf Eisenspäne, vermerkt ein römischer Humanist. Papst Pius II., Nachfolger von Rodrigos Onkel, hat den Kardinal bereits 1460 gerügt, weil der sich bei einem Gartenfest der höchsten Gesellschaft von Siena mit einigen anwesenden Damen vergnügt habe.

Bald gibt es handfestere Beweise für die erotische Abenteuerlust des Kardinals Rodrigo Borgia. Sieben Borgia-Sprösslinge leben nach und nach in Rom. Die drei ersten stammen von einer unbekannten Mutter, die anderen vier hat Vannozza de’ Catanei zur Welt gebracht, die Frau eines Verwaltungsexperten, der häufig auf Reisen ist. Zwar haben auch andere Kardinäle Mätressen und Kinder – empörend für die Zeitgenossen ist jedoch, dass Rodrigo seine Nachkommen auch öffentlich als solche präsentiert: Vor aller Augen und nicht ohne Stolz lässt er seine Vaterschaften notariell beurkunden.

Am 25. Juli 1492 stirbt Innozenz VIII., der vierte Papst nach dem Pontifikat von Rodrigos Onkel Kalixt III. 36 Jahre lang ist Rodrigo nun bereits Kardinal. Er ist jetzt 61, und das neuerliche Konklave könnte seine letzte Chance sein, selbst Kirchenoberhaupt zu werden.

In der gleißenden Sommerhitze Roms beginnt die Zeit der Wetten. Welcher der Kandidaten hat die besten Chancen? Wahrsager werden befragt, die Gestirne gedeutet. Die Karten stehen zunächst schlecht für Rodrigo. Zu stark scheint die Koalition seiner Gegner zu sein. Doch dann schlägt sich Ascanio Sforza auf seine Seite, ein junger Kardinal aus dem mächtigen Mailänder Herrscherhaus, der sich in den Jahren zuvor als Parteiführer an der Kurie profiliert hat.

Die ersten drei Wahlgänge gehen unentschieden aus. In der Nacht vom 10. auf den 11. August tut der Sforza-Kardinal das Unerhörte: Mit umfassenden Vollmachten Rodrigos ausgestattet, begibt er sich in die abgeschotteten Räumlichkeiten des Apostolischen Palastes, wo die Kardinäle bis zum Abschluss der Papstwahl wohnen – um Stimmen zu kaufen.

Da jeder neu gewählte Papst auf all seine Bistümer und kirchlichen Lehen verzichten muss, um sozusagen mit leeren Händen den Thron zu besteigen, lassen sich diese Pfründen gut als Wahlgeschenke einsetzen. Das ist zwar illegal und als Simonie vom Kirchenrecht geächtet – aber wer fragt genau nach, wenn die höchsten Kleriker zu den Nutznießern gehören? So wirbt Kardinal Sforza in geheimen Gesprächen der Anhängerschaft der Borgia-Gegner Stimme um Stimme ab. Am Vormittag des 11. August 1492 ist die Wahl entschieden. Rodrigo Borgia wird Papst Alexander VI.

Die Reaktionen auf den gekauften Wahlausgang schwanken zwischen apokalyptischen Schreckensbildern und Verherrlichung des neuen Pontifex. Die einen warnen vor dessen Untugend und Unberechenbarkeit, andere loben dessen Tatkraft. In einem jedoch sind sich die meisten Beobachter einig: Dieser Papst wird einiges daran setzen, seine Familie dauerhaft unter den italienischen Herrscherhäusern zu etablieren.

Mit der Wahl betritt Rodrigo endgültig die Bühne der Macht. Als Papst ist er im ausgehenden 15. Jahrhundert nicht nur Oberhaupt der Christenheit und Hüter einer fast 1500-jährigen religiösen Tradition, sondern zugleich auch ein säkularer Fürst, der über einen Staat gebietet. Dieser im 8. Jahrhundert begründete Kirchenstaat umfasst zu Zeiten Alexanders VI. das Gebiet von Latium rund um Rom entlang der italienischen Westküste, erstreckt sich über den Kamm des Apennin bis zur Adria und reicht von dort nach Norden bis hinter Bologna.

In weiten Landstrichen, gerade im östlichen Teil, besteht die Oberhoheit des Papsttums allerdings nur auf dem Papier; tatsächlich herrschen dort lokale und regionale Feudalherren. Dennoch gehört der Kirchenstaat neben Venedig, Florenz, Mailand und Neapel zu den italienischen Großmächten, die als politisches Fünfeck in wechselnden Allianzen seit fast 100 Jahren die Verhältnisse in Italien bestimmen. Papst Alexander VI. spürt das empfindlich.

Ascanio Sforza, der Papstmacher, inzwischen neuer Vizekanzler, reißt nach Alexanders Amtsantritt die Außenpolitik der Kurie an sich. Gemeinsam mit seinem Bruder Ludovico, dem Herrscher von Mailand, schmiedet er eine Fülle von Bündnisplänen, die alle darauf abzielen, den Papst auf Dauer an die norditalienische Dynastie der Sforza zu ketten (siehe Seite 88). Im April 1493 kommt es tatsächlich zu einer Dreierallianz zwischen Mailand, Rom und der Republik Venedig – einem Pakt, der nach Absicht der Sforza den neapolitanischen König Ferrante einschüchtern soll.

Der Bündnisvertrag sieht vor, dass auch der französische König Karl VIII. der Entente beitritt. Der europäische Großmonarch träumt davon, Neapel, das frühere Erbe des französischen Hauses Anjou, für Frankreich zurückzuerobern. Gleichzeitig spart der fromme König nicht mit scharfer Kritik am Borgia-Papst. Dennoch stellt Alexander VI. jetzt auf Druck Ascanio Sforzas ein breve aus, ein Dekret, das Karl die rückhaltlose Unterstützung Roms zusagt, sollte dieser wirklich nach Neapel ziehen. In Rom spottet man bereits über die „Diktatur der Sforza“. Der Groll Alexanders VI. gegen das selbstherrliche Gehabe seines Vizekanzlers wächst. Der Papst braucht dringend einen Erfolg.

Vatikan, 12. Juni 1493. Alexander VI. sitzt in vollem Ornat auf seinem Thron, als seine Lieblingstochter den prächtig geschmückten Festsaal der päpstlichen Gemächer betritt. Lucrezia trägt ein Kleid mit einer langen Schleppe. Ihr blondes, langes Haar leuchtet im Gegenlicht des geöffneten Portals. Neben der Tochter des Papstes schreiten 150 Mädchen aus römischem Adel.

Die 13-jährige Lucrezia wird an diesem Tag verheiratet. Zwar ist die Vermählung mit Giovanni Sforza, einem Cousin Ascanios, ein hart verhandeltes machtpolitisches Arrangement, Teil der ungeliebten Anlehnung an das Haus Sforza. Doch feiern will der Brautvater trotzdem. Und aller Welt zeigen, dass das Papsttum eine Familienangelegenheit der Borgia ist.

Die Festgesellschaft wartet bereits: römische Barone und Baronessen, Kaufleute und Beamte, Verwandte und Freunde beider Familien, Kardinäle und Bischöfe, Gesandte aus ganz Italien.

Kurz nach der Braut zieht der Bräutigam ein, gehüllt in einen funkelnden Umhang im türkischen Stil. Das Paar tritt durch die Menge und kniet nieder auf einem goldenen Kissen direkt vor dem Papst. Umgeben von zwölf Kardinälen, wie einst Christus von seinen Jüngern, spendet er den Brautleuten seinen Segen.

Dann beginnen die Festlichkeiten. Vor dem Thron werden in langen Reihen wuchtige Holztafeln aufgebaut. Bedienstete tragen Speisen auf, servieren Hunderte silberner Schalen voller Zuckerwerk, Mandelgebäck und Obst, dazu Tassen mit edlem korsischen Wein. Das Mahl beginnt, Seite an Seite schlemmen Prälaten und Hofdamen. Schauspieler in Tierhäuten führen Theaterstücke auf – Komödien, die von unersättlichen Mätressen handeln, von Schnorrern, Kupplern und Lebemännern. Später wird zum Tanz aufgespielt, Sänger tragen anzügliche Verse vor, der Pontifex applaudiert. Diese Lustbarkeiten sind ganz nach seinem Geschmack, ebenso die vielen hübschen Frauen – und eine ganz besonders.

Schon vor einiger Zeit hat Alexander ein stürmisches Liebesverhältnis mit Giulia Farnese begonnen, aber an diesem Abend zeigt er sich erstmals offen und ungeniert mit ihr. La bella, so nennen die Römer Giulia, kommt aus angesehenem Hause und ist 44 Jahre jünger als der wohlbeleibte Pontifex. Ihr Gatte, ein einäugiger Baron, ist inzwischen der berühmteste Gehörnte Roms. Für Giulias Familie ist die Beziehung vorteilhaft: Ihr Bruder wird Kardinal, der „Unterrock-Kardinal“ im Spott der Römer.

Die Hochzeitsfeier dauert bis in den frühen Morgen. Schon kurz darauf erzählen sich die Römer, wie es auf dem Fest zugegangen sein soll: Aus 150 Silberpokalen, dem Hochzeitsgeschenk Alexanders, sei nicht weniger als 150 Frauen der höchsten römischen Gesellschaft zur allgemeinen Belustigung Wein in die Dekolletés gegossen worden – während ihre Ehemänner vor der Tür warten mussten. So mancher in Rom fragt sich, welche Frevel von diesem Papst noch zu erwarten sind.

Der nächste Anlass, darüber nachzudenken, folgt nur drei Monate später, im September 1493. Cesare Borgia, der älteste Sohn aus Alexanders Liaison mit Vannozza de’ Catanei, ist bislang vor allem als Pferdenarr und Stierkämpfer in Erscheinung getreten. Zwar hat er schon mit 16 Jahren ein Bistum erhalten und in Pisa Kirchenrecht mit höchster Auszeichnung studiert – doch ein Mann Gottes ist dieser Heißsporn nicht. Mehrmals hat er den Degen gezogen, wenn Altersgenossen ihn einen Bastard oder Emporkömmling nannten. Und nun soll der 18-Jährige, so hat es Alexander entschieden, Kardinal werden. Sind die Borgia dabei, das Papsttum zu einer privaten Angelegenheit zu degradieren? Da fällt kaum mehr auf, dass Alexander zur gleichen Zeit elf weitere Kardinalate meistbietend verschachert. Auch das ist ein Novum.

Aber selbst Cesare kann nicht verhindern, dass der Papst in den folgenden Jahren in der Defensive bleibt. Als König Karl VIII. 1494 mit großer Streitmacht nach Italien kommt, gelingt es Alexander nur durch geschicktes Verhandeln, seiner gewaltsamen Absetzung zu entgehen. Als der Franzose ein halbes Jahr später von einer neu formierten Abwehrliga wieder vertrieben wird, kann der Pontifex dieser „Heiligen Allianz“ immerhin seinen Segen geben.

Derweil wächst die Kritik religiöser Kontrahenten. Der Bußprediger Girolamo Savonarola, spiritueller Meinungsführer in der florentinischen Republik, geißelt Sitten und Amtsführung des Papstes. Der Borgia überzieht den Mönch mit Mahnungen, Predigtverboten und Exkommunikation. Erst nach drei Jahren hitzigsten Disputs kann sich Alexander allmählich durchsetzen (siehe Seite 116).

Im Sommer 1497 scheint die Herrschaft der Borgia gefestigt, die Zeit der äußeren und inneren Krisen so gut wie vorüber zu sein. Ascanio Sforza, der unliebsame Vizekanzler, ist ins Abseits manövriert; Alexander arrangiert die Auflösung von Lucrezias Ehe mit Giovanni Sforza. Die offizielle Begründung soll für die Mailänder besonders peinlich sein: Nichtvollzug wegen Impotenz des Gatten. Fünf Jahre nach ihrem Einzug in den Vatikan gehen die Borgia zum Angriff über.

Doch dann, am 16. August 1497, wird die Leiche von Alexanders jüngerem Sohn Giovanni aus dem Tiber gezogen, die Kehle aufgeschlitzt, der Körper von acht Dolchstößen gezeichnet. Eines ist klar: So brutal tötet nur ein hasserfüllter Mörder. Aber so sehr die rasch ausgesandten Spione und Häscher des Papstes auch forschen, kein Täter wird gefunden.

Dafür schwirren Gerüchte durch die engen Gassen Roms: Haben die Sforza sich gerächt? Oder die Orsini, jene römische Adelsfamilie, deren Oberhaupt vor kurzem unter mysteriösen Umständen in Gefangenschaft des Papstes gestorben ist? Hat etwa ein brüskierter Edelmann, dessen Tochter der Weiberheld Giovanni nachstellte, die Fassung verloren? Oder hat gar Cesare, von Eifersucht getrieben, auf den jüngeren Bruder eingestochen?

Der Papst jedenfalls ist verzweifelt. Vor den versammelten Kardinälen und Botschaftern klagt der Pontifex, sieben Papstämter könnten diesen Verlust nicht ausgleichen. Und anscheinend überkommt ihn Reue: Dies sei wohl die göttliche Strafe für seine unzähligen Sünden.

Schon bald jedoch wird deutlich, dass der Mord eine ganz andere Wirkung entfaltet. Vielleicht schlägt Verzweiflung um in Aggression; vielleicht wird dem 66-jährigen Papst nun auch bewusst, wie wenig Zeit ihm noch bleibt. In jedem Fall verlieren die Borgia in diesem Sommer 1497 die letzten Hemmungen. Von nun an handeln Alexander und Cesare schnell und zielstrebig. Ihr Projekt: die unvergängliche Größe der Familie.

Zunächst beschließt Cesare, sein Kardinalsamt niederzulegen – eine Sünde gegen dessen Heiligkeit. Danach nehmen die Borgia diplomatische Verhandlungen mit Frankreichs neuem König Ludwig XII. auf. Die Ausgangslage ist günstig: Der Franzose – durch die italienischen Abenteuer seines Vorgängers keineswegs abgeschreckt – will sich Mailand einverleiben und benötigt dazu einen Verbündeten in Italien. Zudem möchte Ludwig, dass die Ehe mit seiner gegenwärtigen Gattin aufgelöst wird, damit er die Witwe seines Vorgängers und Erbin des Herzogtums Bretagne heiraten und dieses so an die französische Krone binden kann. Diesen Ehedispens kann nur der Papst gewähren.

Die Borgia wiederum fordern im Gegenzug eine angemessene Ausstattung für den nunmehr im Laienstand lebenden Papstsohn: ein einträgliches französisches Fürstentum, eine hochgeborene Braut – und vor allem Truppen sowie militärisches Gerät. Denn es ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass Cesare die Romagna, die reiche nördliche Provinz des Kirchenstaates, mit Krieg überziehen will, um die dort ansässigen Feudalherren zu vertreiben und ein eigenes Reich zu gründen: einen Borgia-Staat, der das Pontifikat seines Vaters überdauern soll. Ohne Hilfe ist dieses Unternehmen unmöglich.

Alexander verhandelt von Rom aus, während Cesare mit prunkvoller Entourage an den französischen Hof reist. Tage, Wochen, Monate des Nervenkriegs und der Intrigen vergehen. Doch am Ende ist es geschafft: Die französisch-römische Allianz wird geschlossen. Cesare heiratet Charlotte d’Albret, die Tochter des von Frankreich abhängigen Königs von Navarra, die als schönste Frau bei Hofe gilt, und erhält zudem das Herzogtum Valence südlich von Lyon. Im Oktober 1499 zieht er an der Spitze einer 5800 Mann starken französischen Armee Richtung Romagna.

Binnen Tagen erobert der Papstsohn die Stadt Imola mit ihren mächtigen Burganlagen. Noch im selben Jahr fällt auch Forlì, das immerhin fast zwei Monate der Belagerung standgehalten hat. Die Borgia-Truppen ziehen anschließend plündernd durch die Stadt. Das Wüten sei, so schreibt ein örtlicher Chronist, wie ein „Blick durch die Tore der Hölle“ gewesen.

Schon bald geht dem Feldherrn ein Ruf kalter Grausamkeit voraus. Vor Publikum massakriert er ausgewachsene Stiere mit dem Schwert – mitunter sieben am Stück. Einem Tier schlägt er, so ein Augenzeuge, den Kopf mit einem einzigen Hieb ab. Cesares Vorliebe für schwarze Gewänder ist allgemein bekannt. Selbst bei Familienfesten tritt er nur noch mit einer Maske auf, die einen Großteil seines Gesichts verbirgt. Wenn andere schlafen, in den dunklen Stunden nach Mitternacht, ist dieser Mann am aktivsten. Fast geräuschlos scheint er sich fortzubewegen. Zu Treffen taucht Cesare auf, wenn keiner ihn erwartet, und ist Minuten später wieder verschwunden.

Im Inneren des Kirchenstaates wächst allmählich das private Reich der Borgia. Stadt um Stadt fällt ihnen zu. Die unterworfenen Regenten lässt der Sieger meist ohne Umschweife hinrichten. Ihre Gebiete, die sie zuvor als Vasallen im Namen des Papstes beherrscht haben, gehen direkt auf den Papstsohn über, der sich nun Herzog der Romagna nennt.

Cesare regiert sein neues Imperium mit drakonischer Härte. Er baut Cesena mithilfe des Festungsingenieurs Leonardo da Vinci zur Hauptstadt aus und setzt den Hauptmann Ramiro de Lorqua als Gouverneur ein. Binnen Wochen ist der stämmige Spanier im ganzen Land gefürchtet – bis Cesare ihn enthaupten lässt.

Unterdessen gehört auch in Rom die Angst zum Alltag. Der Vatikan wird zur Festung. 600 bewaffnete Gardisten patrouillieren rund um die Uhr, die wuchtige Engelsburg am Ufer des Tibers hat Alexander VI. mit vier neuen Bastionen verstärken lassen – denn die Zahl der Borgia-Feinde, der Neider, Opfer und Empörten, wächst beinahe täglich.

Auf Beschimpfungen Cesares steht jetzt die Todesstrafe; vorher wird den Lästerern die Zunge herausgerissen – und das, obwohl in Rom der Spott bislang frei war. Die Römer ducken sich vor dem Terror der Borgia.

Und die Nachrichten von mysteriösen Todesfällen in der Stadt häufen sich: Ein Diener des Papstes wird tot im Tiber gefunden, neben ihm die Leiche einer Zofe Lucrezias. Der Mörder: unbekannt.

Dann werden die Opfer prominenter. Der neue Ehemann Lucrezias, Alfonso von Aragón, Herr des kleinen Fürstentums Bisceglie, wird erwürgt, als er sich gerade von einem brutalen Überfall erholt. Der Auftraggeber des Mordes: Cesare. Er gibt es offen zu.

Denn er braucht den Verblichenen nicht mehr – geht es nach den strategischen Planungen von Bruder und Vater, hat Lucrezia längst einen viel bedeutenderen Gatten verdient. Der nächste verordnete Bräutigam macht nur ein Jahr später seine Aufwartung. Es ist Alfonso d’Este, ein Sprössling der vornehmsten Adelsfamilie Italiens, Thronfolger der Herzogsdynastie von Ferrara.

Vater und Sohn haben keine Zeit, sich über diesen Coup zu freuen, denn Cesares Kriegszüge müssen finanziert werden. Bis zu 2000 Dukaten am Tag verschlingen die Militäraktionen, der erste, zweimonatige Teil der Expedition hat allein 130.000 Dukaten verbraucht, etwa ein Drittel des päpstlichen Jahreshaushalts. Alexander VI. kümmert sich inzwischen kaum noch darum, was ihm offiziell gestattet ist und was nicht: Die Einnahmen des lukrativen Ablasshandels – während des Heiligen Jahres 1500 lassen sich fast 200.000 Pilger in Rom per Ablass den Aufenthalt im Fegefeuer verkürzen – fließen direkt in die Kriegskasse seines Sohnes. Kardinalsämter werden längst offen verkauft.

Im Frühjahr 1501 tragen päpstliche Agenten aus den Palästen eines in Frankreich inhaftierten Prälaten Möbel und Wertgegenstände fort. Stirbt ein Kardinal, lässt Alexander seinen Besitz sofort konfiszieren. Bei dem greisen Purpurträger Giovanni Michiel helfen die Borgia ein wenig nach. Seine Mahlzeit wird in ihrem Auftrag mit einem „weißen, süßlich riechenden Pulver“ verfeinert. Eine Audienz bei diesem Papst wird zusehends zum Wagnis. Kardinäle fliehen aus Rom. Die Zahl der plötzlichen Todesfälle unter wohlhabenden Klerikern nimmt zu.

In der allgemeinen Hysterie steigern sich die Gerüchte ins Groteske. Am 31. Oktober 1501 verzeichnet der päpstliche Zeremonienmeister Johannes Burckard in seinem Notizbuch folgenden Vorfall: Am Abend vor Allerheiligen hätten „fünfzig Kurtisanen“ im Vatikanischen Palast vor den Augen des Papstes und seiner Kinder Lucrezia und Cesare „auf allen vieren nackt zwischen den Leuchtern umherkriechend“ hingeworfene Kastanien aufgelesen. „Darauf wurden Ehrenpreise ausgelobt für diejenigen, die am häufigsten mit den Kurtisanen fleischlich zu verkehren vermochten. Und so geschah es auch, und zwar öffentlich.“

Gruppensex im Vatikan? Wahrscheinlich ist die Geschichte erfunden. Sie reiht sich ein in eine Fülle von Legenden, die in dieser Zeit um die Borgia entstehen und die bis heute das Bild der Familie prägen: Alexander, der lüsterne Gotteslästerer; Cesare, der blutgierige Schlächter; Lucrezia, die Gift mischende Hure.

Selbst Inzest mit der eigenen Tochter werfen Zeitgenossen dem Borgia-Papst vor. Doch auch wenn es für solche schillernden Gerüchte reale Vorbilder gibt, entspringen sie häufig vor allem der Propaganda der zahllosen politischen und religiösen Gegner. Denen ist inzwischen fast jedes Mittel recht, um die verhassten Feinde zu bekämpfen.

Die Borgia spinnen derweil immer größere Machtfantasien: Siena, Pisa, ja sogar Florenz könne man über kurz oder lang an sich reißen. Selbst der florentinische Politiker Niccolò Machiavelli preist Cesare nach der Einnahme von Urbino überschwänglich als „wahrhaft glänzenden und großartigen“ Feldherrn, dem keine Herausforderung zu groß sei (siehe Seite 144).

Doch die Anzeichen verdichten sich, dass die engsten Verbündeten sich gegen den Herzog verschwören.

Mit Cesares Rachefeldzug nach Senigallia am Neujahrstag 1503 erreichen die Borgia den Höhepunkt ihrer Macht. In der Romagna, in Latium und in Teilen der Toskana gebieten sie nun über ein Reich, so groß, wie es kein Papst zuvor beherrscht hat. Ihr privater Besitz ist gewaltig, und ein Ende der Expansion kaum abzusehen: Neun weitere Kardinalsernennungen haben ihnen mindestens 120.000 Dukaten eingebracht, und Cesare hebt nördlich von Rom bereits neue Truppen aus. Gegen wen es diesmal geht, ist allerdings offen. Ebenfalls, mit wem. Die Allianz mit den Franzosen bröckelt.

Stattdessen ist eine weitere europäische Macht nach Italien gekommen: Spanien interessiert sich wie Frankreich für das Königreich Neapel. Ein Pakt mit der alten iberischen Heimat könnte sich für die Borgia nun als sehr viel günstiger erweisen.

Am Morgen des 12. August 1503 wacht Alexander VI., nachdem er am Abend zuvor den Jahrestag seiner Wahl gefeiert hat, mit einem Unwohlsein auf. Am Nachmittag hat er hohes Fieber und muss sich erbrechen. Sofort ist im Vatikan – dem Ruf der Borgia entsprechend – von Gift die Rede, aber alle Zeichen sprechen für Malaria.

Die Ärzte verordnen Aderlässe. Der Zustand des Patienten bessert sich, er bekommt wieder Lust, Karten zu spielen. Doch die Erholung währt nur kurz. In den Abendstunden des 18. August stirbt Papst Alexander VI. – und mit ihm der Traum von der ewigen Macht der Borgia.

Denn nach dem plötzlichen Tod des Pontifex fällt das monströse Machtgebilde der Familie in sich zusammen. Zu viele haben nur darauf gewartet, sich endlich rächen zu können.

Cesare muss hilflos mit ansehen, wie auch einstmals loyale Kardinäle von den Borgia abfallen; wie die enteigneten Adelsdynastien überall in der Romagna und in Latium aufbegehren und das Joch der verhassten spanischen Parvenüs abschütteln; wie die fremden Großmächte Spanien und Frankreich des eigensinnigen Papstsohns zunehmend überdrüssig werden; wie schließlich mit Julius II. ausgerechnet einer der Erzfeinde Cesares zum Papst gewählt wird.

Kurz hofft der Borgia auf den Großmut des neuen Pontifex. Doch als der Heilige Vater Cesare dessen Besitzungen im Kirchenstaat entzieht, setzt sich dieser vorsichtshalber nach Neapel ab. Vergebens. Auf Wunsch des Papstes lässt der dortige spanische Vizekönig Cesare verhaften und auf einer Galeere nach Spanien bringen. Dort gelingt dem Getriebenen zwar die Flucht zu seiner Frau und deren Bruder, dem König von Navarra. Aber nur ein Jahr später, im März 1507, fällt Cesare Borgia, der einst triumphale Herzog der Romagna, mit 31 Jahren im Dienste seines Schwagers – bei einem unbedeutenden Scharmützel irgendwo am Fuß der Pyrenäen.

Nur eine Person aus dem engsten Kreis der Borgia übersteht die Vergeltung ziemlich unbeschadet: Lucrezia. Am Hof ihres Ehemanns Alfonso d’Este im fernen Ferrara tritt sie aus dem Schatten von Vater und Bruder. Umsichtig leitet sie die Hofgeschäfte, organisiert prunkvolle Feste und Bankette und übernimmt die Regierungsgeschäfte, wenn ihr Mann unterwegs ist. Sie fördert die Künste, lässt die fürstlichen Wohnräume von bedeutenden Malern neu gestalten. Zu ihren Freunden und Bewunderern zählen angesehene Humanisten. Mit den Jahren befasst sich Lucrezia immer stärker mit der Religion, stiftet Klöster und tritt schließlich gar einer Laiengemeinschaft des Franziskanerordens bei. 1519 stirbt sie 39-jährig im Kindbett.

Die ehemaligen Borgia-Gemächer im Vatikanischen Palast zieren noch heute Fresken, auf denen die mythische Herkunft der Familie beschworen wird. Alexander VI. hatte sie von Pinturicchio an die Decke malen lassen. Dort verwandelt sich der ägyptische Gott Osiris, der Herr des Totenreichs, am Ende in das Wappentier der Borgia, einen kraftstrotzenden Stier. Wie ihr göttlicher Urahn, so die selbstbewusste Botschaft der Bilder, werden die Borgia dereinst unsterbliche Herrscher über die Welten sein.

Sie haben alles dafür getan – und sind gescheitert.

Die Giftmischerin Cathérine Montvoisin, 1679

Der Engel des Todes

Paris zur Zeit Ludwigs XIV. ist ein Moloch: laut, schmutzig, eine halbe Million Bürger, ein Dutzend Ermordete und Ertrunkene pro Nacht. Der Polizeichef kämpft gegen die Verbrecher und verhaftet 1679 eine Giftmischerin. Die gesteht unter der Folter mehrere Morde und erklärt vor ihrer Hinrichtung, dass auch Adelige ihre Auftraggeber gewesen seien. Nun wird die Fahndung ausgeweitet – und immer fürchterlicher werden die Taten, von denen die Polizisten erfahren. Die Spur führt schließlich sogar zum Hof des Sonnenkönigs

Von Gesa Gottschalk

Die Place de Grève ist an diesem Wintertag schwarz von Menschen. Seit dem frühen Morgen stehen sie hier, vor dem Pariser Rathaus, auf dem größten Platz der Innenstadt, wo sonst die arbeitslosen Tagelöhner auf Auftraggeber warten.

Sie schubsen, versuchen, über die Köpfe der anderen hinweg einen Blick zu erhaschen auf den Scheiterhaufen, auf den Henker, auf den Karren mit der Verurteilten oder wenigstens auf ihre Haube: Cathérine Montvoisin, genannt La Voisin.

Es ist der 22. Februar 1680. Während sie warten, tauschen die Pariser die furchtbaren Gerüchte über die Verurteilte aus: Gifte hat sie gemischt, Kinder abgetrieben und in ihrem Ofen verbrannt. Und ihre adeligen Kunden!

Der Herzog von Luxembourg, des Königs General, Marschall von Frankreich, soll eine Prozession abgehalten haben mit zwölf nackten Frauen, angeführt von einem Priester, der nur eine Stola trug.

Das ist fast sicher, denn ohne triftigen Grund sitzt der Aristokrat bestimmt nicht in der Bastille, vielleicht wird man auch ihn bald auf dem Weg zum Henker sehen.

Da kommt das Gefährt näher, bahnt sich eine Schneise durch die Menge. La Voisin trägt ein weißes Hemd, das Gesicht der Giftmörderin ist rot. Seit sie von der Bastille losgefahren ist, hält sie die Blicke ihrer Mitbürger aus, die an der Rue Saint-Antoine stehen, auf der Brücke von Notre-Dame, vor der Kathedrale.

Und noch vor ihr trifft die Nachricht auf der Place de Grève ein: La Voisin hat sich geweigert, vor Notre-Dame niederzuknien und Abbitte zu leisten vor Gott, dem König und ihren Mitmenschen.

Auch jetzt wehrt sie sich, mit Gewalt muss sie vom Karren heruntergezerrt werden, sie flucht entsetzlich. Mit Ketten bindet der Henker sie auf den Scheiterhaufen. Als er Stroh auf die Todgeweihte häuft, damit sie schnell verbrennt, stößt sie es mit den Füßen weg.

Schließlich gelingt es dem Henker doch, das Stroh zu entzünden, weißer Rauch hüllt sie ein, und die Menge intoniert das traditionelle Gebet an die heilige Jungfrau: „Salve Regina“. Gegrüßet seist du, Königin, Mutter der Barmherzigkeit.

Ob Gabriel-Nicolas de La Reynie, der Polizeichef, zufrieden ist? Der Mann, der La Voisin verhaften ließ, sie verhörte und verurteilte – er wird ihren letzten Akt sicher nicht verpasst haben.

Vielleicht verfolgt er das Schauspiel von einem Fenster des Rathauses aus. Manchmal wollen Delinquenten noch kurz vor dem Tod neue Aussagen machen, um ihr Ende hinauszuzögern, und werden dazu ins Hôtel de Ville gebracht. Gut möglich also, dass sich der Polizeichef hier bereitgehalten hat.

Die Menge zerstreut sich. La Reynie aber weiß, dass es noch nicht vorbei ist. Diese Stadt, die er heller gemacht hat, sicherer und sauberer, sie zeigt ihm seit Monaten ihre dunkelste, tödlichste und schmutzigste Seite.

Dutzende Gefangene sitzen noch ein im Schloss von Vincennes, östlich von Paris. La Reynie wird sie weiter verhören. Er glaubt, dass La Voisin Geheimnisse mit auf den Scheiterhaufen genommen hat. Doch er ahnt nicht, wie entsetzlich diese Geheimnisse sind.

Und wie nah seine Ermittlungen ihn an den König heranführen werden.

Der Tod scheint die Pariser Karriere von Nicolas de La Reynie von Beginn an zu begleiten. Gut 13 Jahre zuvor, im September 1666, ist sein Vorgänger, der Zivilleutnant der Stadt, unter schrecklichen Bauchschmerzen und Erbrechensanfällen gestorben. Seine Ärzte gehen von einem natürlichen Tod aus – sie tippen auf Gicht. Und die Mitglieder eines königlichen Rats, der sich zu dieser Zeit mit der Reform der städtischen Ordnung befasst, ergreifen ihre Chance: Denn plötzlich ist eine der wichtigsten Positionen der Stadt vakant.

Der Rat beschneidet kurzerhand die Rechte des Zivilleutnants und überträgt seine Macht auf einen neuen Posten: den Generalleutnant, der formal der Stadt, de facto aber dem König untersteht.

Damit dehnt Ludwig XIV. seinen Einfluss auf die Hauptstadt aus. Am 15. März 1667 ernennt er Nicolas de La Reynie zum lieutenant général de police.

Der 41-jährige fromme Christ stammt aus einer Familie, die seit Generationen Juristen und königliche Beamte hervorbringt. Er war Richter in Bordeaux, ehe er nach Paris zog. La Reynie hat keine familiären Bindungen an den Adel der Hauptstadt. Er kann der Arbeit für seinen König nachgehen, ohne Rücksichten nehmen zu müssen.

Doch der Generalleutnant steht vor einer kaum zu bewältigenden Aufgabe. Das Edikt, mit dem sein Posten geschaffen wurde, zählt auf 22 Zeilen seine neuen Pflichten auf: Überwachung der Straßenreinigung, Feuerbekämpfung, Hochwasserschutz, Versorgung der Stadt, Inspektion der Metzger, Markthallen, Jahrmärkte, Hotels, Kneipen und Spielhöllen, Kontrolle der Gewichte und Maßeinheiten, Untersuchung illegaler Versammlungen und Ruhestörungen.

Als Richter urteilt er zudem in Fällen von unerlaubter Bettelei, Prostitution oder Streitigkeiten zwischen den Eltern eines Lehrlings und dessen Meister. La Reynie ist der erste moderne Polizeichef Europas. Und noch mehr: Er bewältigt die gleichen Aufgaben, für die in späteren Jahrhunderten ein Bürgermeister zuständig sein wird.

Der neue Polizeileutnant bezieht eine Amtsstube im Châtelet, der ehemaligen Burg, die als Gericht, Gefängnis und Folterkammer dient. Er stürzt sich mit Eifer in seine Arbeit. La Reynie besucht Gefangene, liest Romane, um zu entscheiden, ob sie als pornografisch oder verleumderisch verboten werden müssen. In Zeiten schlechter Ernten verhandelt er mit den Getreidehändlern, um Hungerunruhen zu vermeiden.