Georg Büchner - Jan-Christoph Hauschild - E-Book

Georg Büchner E-Book

Jan-Christoph Hauschild

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Beschreibung

"Das Leben ist überhaupt etwas recht Schönes." Georg Büchner starb im Alter von nur 23 Jahren im Zürcher Exil. Da hatte er ein naturwissenschaftliches Studium abgeschlossen, vier Werke verfasst, die heute zur Weltliteratur zählen, und galt wegen seiner Mitarbeit am "Hessischen Landboten" als "Hochverräter", nach dem die Justizbehörden seiner Heimat steckbrieflich fahndeten. Sein Leben stand im Zeichen eines Traums: eine Gesellschaft, in der alle Menschen in gleicher Weise ihre Glücksansprüche verwirklichen können - dafür kämpfte er mit aller Konsequenz. Jan-Christoph Hauschild recherchierte in zahlreichen Bibliotheken im In- und Ausland und legt nun über den vielgerühmten und vielgelesenen Autor eine Biographie vor, die sich zwischen spannender Nacherzählung und faktengestützter Rekonstruktion bewegt und die Person Georg Büchner auf besondere Art greifbar macht.

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Jan-Christoph Hauschild

Georg Büchner

Verschwörung für die Gleichheit

Hoffmann und Campe Verlag

Da alle unter gleichen Verhältnissen geschaffen werden, so sind alle gleich, die Unterschiede abgerechnet, welche die Natur selbst gemacht hat. Es darf daher jeder Vorzüge und darf daher keiner Vorrechte haben, weder ein Einzelner noch eine geringere oder größere Klasse von Individuen. Jedes Glied dieses in der Wirklichkeit angewandten Satzes hat seine Menschen getötet.

»Dantons Tod«

1Dr. Georg Büchner, Dozent an der Universität Zürich, erkrankt und muss seine Vorlesung ausfallen lassen. Nachbarn und Freunde übernehmen seine Pflege.

Georg Büchner, 17. 10. 1813 – 19. 2. 1837.

Bleistiftzeichnung von August Hoffmann, 1833/34

Ende Oktober ist in Zürich der erste Schnee gefallen. Straßen und Gassen sind weiß, aus den Kaminen steigt Rauch in Wirbeln und Säulen, senkrecht stehen sie über den Dächern, die schwarzen Silhouetten der entlaubten Bäume tragen weiße Polster.

Mitte November schwemmt Regen den dünnen Film fort. Von den Bäumen, den Dächern und Fenstersimsen plätschert und tropft es, man geht schlafen beim Geräusch des rinnenden Wassers und erwacht damit. Der Himmel ist ein graues Gewölbe, ohne einen Sonnenstrahl.

Ab dem 12. Dezember schneit es tagelang ohne Unterlass, bis rundherum alles weiß ist. Flockiger trockener Schnee bedeckt die Stadt, Wind jagt ihn durch die Gassen, stürzt und stäubt ihn von Dächern und Bäumen. Auf den gefrorenen Boden fällt neuer Schnee, Spaziergänger stampfen ihn zu einem festen Untergrund, die Räder der Droschken und Fuhrwerke ziehen darin tiefe Furchen. Nur auf dem See schmelzen die Flocken im schwarzen Wasser; am grauen Himmel kreisen Rabenvögel.

Am 5. Januar, etwa eine Stunde nach Mitternacht, wird in Zürich ein Meteor beobachtet, der in Gestalt eines hellen Feuers, ungefähr halb so groß wie der Vollmond, in südlicher Richtung vorüberzieht und den Himmel, trotz der nebligen Luft, für wenige Sekunden hochrot färbt.

In der Nacht des 10. Januar wütet ein heftiger Sturm, am nächsten Morgen spannt sich ein gleichmäßiger bleifarbener Himmel über der Stadt. Danach setzt Dauerregen ein. Lange Stunden fällt er dünn und gleichmäßig, verstärkt sich plötzlich, braust, fließt wieder dünner, als sei er ermattet, wird zum schwebenden Vorhang, den der Wind hin und her weht.

 

Mitte Januar muss Büchner seine Vorlesung »Zootomische Demonstrationen«, die er dreimal wöchentlich auf seinem Zimmer in der Steingasse hält, ausfallen lassen. Er habe sich verkältet und im Bett gelegen, schreibt er seiner Freundin nach Straßburg: Wenn man so ein wenig unwohl ist, hat man ein so groß Gelüsten nach Faulheit; aber das Mühlrad dreht sich als fort ohne Rast und Ruh. Heute und gestern gönne ich mir jedoch ein wenig Ruhe und lese nicht; morgen gehts wieder im alten Trab, Du glaubst nicht, wie regelmäßig und ordentlich.

 

In der Frühe des 24. Januar erschüttern zwei Stöße eines leichten Erdbebens den Kanton, am 25. folgt ein schwaches Nachbeben; abends ist ein Nordlicht zu sehen. Für zeitgenössische Wissenschaftler stellen derartige Erscheinungen schädliche Prozesse dar, die Wasser und Luft verderben und krankhafte Vorgänge in der organischen Natur auslösen können. Manche Ärzte bringen den Ausbruch einer Grippe-Epidemie in der Schweiz im selben Jahr in einen ursächlichen Zusammenhang mit den beobachteten Phänomenen. Auch für den Typhus, der in Zürich grassiert, werden als Ursache Witterungsveränderungen oder auch giftige Ausdünstungen der Erde erwogen. Dass die Krankheit durch ein Bakterium hervorgerufen wird, ist eine Entdeckung späterer Jahrzehnte.

 

Tagelang bewahrt der Himmel ein ebenmäßiges, kaum sich lichtendes Grau; Schnee und Hagel wechseln mit kalten Regenschauern. Am 2. Februar klart das Wetter auf, Stadt und Landschaft entschleiern sich, am Himmel ist erstes Blau zu sehen, mittags leuchtet die Wintersonne in blassem Rot.

Als am frühen Nachmittag Johann Jakob Tschudi, ein achtzehnjähriger Student der Naturwissenschaften, zur gewohnten Stunde auf das Zimmer seines akademischen Lehrers kommt, findet er diesen sehr aufgeregt in seinen Schlafrock gehüllt, mit einem dicken wollenen Schal um den Hals auf und ab gehend. Er bedaure, das heutige Kolleg absagen zu müssen, erklärt Büchner, aber er leide an einem heftigen Schnupfen und Kopfweh und fühle sich sehr unwohl. Trotzdem bittet er Tschudi, ihm die Stunde über Gesellschaft zu leisten und auch am nächsten Tag wiederzukommen.

Anschließend geht Büchner, obgleich ihm fieberisch zumute ist, hinüber zu seinen Wohnungsnachbarn, dem befreundeten Ehepaar Caroline und Wilhelm Schulz aus Darmstadt, wo er auf dem Sofa bald einschläft. Caroline überredet ihn, ins Bett zu gehen, was er, nachdem sie ihm gegen die starken Kopfschmerzen ein Fußbad mit Senf bereitet hat, auch bereitwillig tut. Falls er in der Nacht etwas benötigt, soll er an die Wand klopfen, die an ihr Schlafzimmer grenzt.

Am nächsten Morgen verwandelt Caroline Büchners Zimmer in eine Krankenstube, indem sie an den Fenstern grüne Vorhänge anbringt, die für ein beruhigendes Dämmerlicht sorgen. Sie gibt ihm ein Rosshaarkopfkissen, das er als besonders wohltuend empfindet.

Als am Nachmittag Tschudi wieder zur Kollegstunde erscheint, wird er von Büchner erneut im Schlafrock empfangen. Er fröstelt, seine leicht geröteten Augen glänzen. Weil er sich kränker fühlt als tags zuvor, auch unter Schwindelattacken leidet und sich hinlegen will, verlässt Tschudi ihn bald.

Am nächsten Morgen ist Büchners Fieber leicht gestiegen, ohne dass es Anlass zu Besorgnis gibt. Der Kranke nimmt etwas Suppe und Obst zu sich und versichert, dass es ihm ganz wohl in seinem Bette sei. Aufmerksam hört er zu, als Caroline aus Darmstadt angekommene Briefe ihrer Angehörigen vorliest.

Am 5. Februar klagt Büchner erstmals über Schlaflosigkeit, ist dabei aber geduldig und ruhig. Tagsüber leistet ihm Carl Schmidt aus Gießen Gesellschaft, sein liebster Freund, während die Schulzens an diesem Sonntag einige auswärtige Besuche absolvieren. Nach ihrer Rückkehr fällt ihnen bei Büchner eine nervöse Überempfindlichkeit auf, die in den folgenden Tagen noch zunimmt und nicht leicht zu ertragen ist, denn man kann ihm kaum etwas recht machen.

Fastnachtsdienstag schickt Emilie Sell, eine nach Zürich verheiratete Cousine von Büchners Darmstädter Mitschüler Karl Stamm, ihrem Landsmann einen Topf Suppe; abends leistet ihm sein Freund Wilhelm Braubach aus Butzbach Gesellschaft.

Am 8. Februar zeigt sich eine leichte Besserung, der Kranke fiebert kaum. Von seiner Freundin in Straßburg sind Briefe gekommen, deren Lektüre ihm jedoch wegen der feinen Handschrift Schwierigkeiten bereitet. Das Angebot von Caroline, sie an seiner Stelle zu beantworten, lehnt er ab.

Tags darauf ist das Fieber weiter zurückgegangen, dennoch ist Büchner kleinmütig gestimmt. Wieder klagt er über Schlaflosigkeit, obgleich sich Schulz während einer längeren Nachtwache vom Gegenteil hat überzeugen können. Mittlerweile ist er auch von seinem Hauswirt Dr. Zehnder ärztlich untersucht worden, einem der besten und gefragtesten Ärzte in der Schweiz. Auf seine Verordnung bereitet ihm Caroline Mandelmilch, die ihn sehr erquickt, und wie jeden Abend legt man ihm eine durchblutungsfördernde Senfkompresse auf die Waden.

 

In der Nacht vom 9. auf den 10. Februar friert der See zu; das Takelwerk der Schiffe ist glasiert und mit Eiszapfen behangen.

Weil ihm seine Freunde raten, tagsüber ein wenig aufzustehen, um in der Nacht besser schlafen zu können, verlässt Büchner am Nachmittag des 10. Februar erstmals seit Tagen sein Krankenlager und geht hinüber zu den Schulzens, wo er sich daranmacht, die Briefe seiner Freundin zu beantworten. Doch kaum dass er die Feder ergriffen hat, erklärt er, nicht schreiben zu können. Als Caroline ihm abermals anbietet, es in seinem Namen zu tun, willigt er ein und setzt einige Worte hinzu.

Auch Büchners Eltern in Darmstadt werden informiert; in kurzen Abständen gehen ihnen Briefe mit Berichten über den Fortgang der Erkrankung ihres Sohnes zu.

Obgleich nichts darauf deutet, dass Büchners Leben in Gefahr sein könnte, wird nun rund um die Uhr ein Wachdienst organisiert, bei dem sich Schulz und die anderen Freunde abwechseln.

Für den 11. Februar notiert Caroline in ihrem Tagebuch: Büchner hatte viel Schleim im Hals und musste oft auswerfen. Der schwache Tee, den er morgens genossen, und die Suppen, die ich ihm selbst kochte, schmeckten ihm recht gut –, doch fiel uns eine Art Unempfindlichkeit an ihm auf. Ich fragte ihn an diesem Morgen, ob es ihm angenehm wäre, wenn ich mit meiner Arbeit mich zu ihm setzte, was er gerne zu haben schien. Da er viel Schleim im Munde hatte, fiel ihm das Sprechen schwer und er drückte sich oft durch Gebärden aus. An einigen Äußerungen, die er an diesem Tage tat, bemerkte ich, dass sein Geist nicht ganz helle war. Es sind die für Typhus charakteristischen Delirien, die sich jetzt, am zwölften Krankheitstag, zeigen. Sie wechseln mit klaren Bewusstseinsmomenten, in denen Büchner sich von der Irrealität seiner Phantasien überzeugen lässt und sie wie die eines Dritten kritisch analysiert.

Den Vorschlag, mit Dr. Schönlein, Professor für Klinische Medizin an der Universität, einen zweiten Arzt zu konsultieren, lehnt Büchner als übertrieben ab, gibt seinen Widerstand aber schon am nächsten Tag auf. Als man Schönlein rufen lässt, stellt sich heraus, dass er verreist ist. Den Krankenbesuch übernimmt sein Assistent, der die von Dr. Zehnder verordnete Therapie gutheißt.

Zur selben Zeit erhält Büchners Freundin in Straßburg Carolines Eilbrief, der sie Schlimmes befürchten lässt. Ohne die fünf von eigener Hand geschriebenen Worte würde sie bezweifeln, dass ihr Freund noch am Leben ist. Auf der Stelle will sie nach Zürich fahren und seine Pflege übernehmen. Weil sich aber zunächst keine weibliche Begleitung findet und Krankenbesuche zwischen Unverheirateten als unschicklich gelten, lässt ihre Familie sie nicht gehen.

Büchners Apathie dauert unterdessen an. Tagsüber ist er ganz bei sich, nachts stellen sich wilde Phantasien ein, er spricht im Schlaf.

 

Einen Tag und zwei Nächte hindurch ist Schnee in kleinen, dichten Flocken aus massigen Wolken niedergewirbelt. Jetzt liegt er silberweiß auf Straßen, Gärten und Dächern. Auf den Straßen bilden sich glatte Schlittenbahnen, schmale Fußpfade führen glitzernd von Haus zu Haus. Immer länger werden die Eiszapfen an den Dachtraufen, immer langsamer tauen am Morgen die Fensterscheiben.

Mittlerweile ist Dr. Schönlein von seiner Reise zurückgekehrt. Am 14. Februar kommt er zur Visite. Er billigt ganz das bisherige Verfahren des Dr. Zehnder und bestätigt auch die verordneten Medikamente. Büchner spricht sehr vernünftig mit ihm, später jedoch zeigen sich die ersten Sinnestäuschungen: So redet er Caroline mit »Schmidt« an und lächelt nur, wenn sie ihn korrigiert; eine von ihr gelesene Zeitung hält er für einen Brief; manchmal scheint es ihm, als stünde jemand in der Ecke.

Später erleidet Büchner einen heftigen Zitteranfall, wobei er ganz irre spricht. Zwar beruhigt er sich allmählich wieder, doch sorgt Caroline dafür, dass nun außer ihr immer auch einer seiner Freunde bei ihm ist.

Verstärkt treten Wahnvorstellungen auf; die Angst, der deutschen Justiz ausgeliefert zu werden, kehrt dabei häufig wieder. Obendrein ist Büchner überzeugt, sich verschuldet zu haben, was aber nicht zutrifft. Am 15. Februar deliriert er eine lange zusammenhängende Geschichte, wie man ihn dieser Schulden wegen gestern schon vor die Stadt gebracht habe, wie er zuvor eine Rede auf dem Markte gehalten u.s.w.

Als Caroline ihn damit zu beruhigen sucht, dass er doch hier in seinem Bett liege und alles nur geträumt habe, erwidert er, nur seinem Freund Escher von der Linth, der sich für ihn verbürgt habe, sei es zu verdanken, dass er wieder zurückgebracht worden sei.

Gelingt es seinen Freunden, ihm solche Wahnvorstellungen auszureden, verfällt er sogleich in neue Phantasien.

2Politische und soziale Kämpfe in Hessen. Gründung der »Gesellschaft der Menschenrechte«.

Der Frankfurter Wachensturm (Phantasiedarstellung).

Kolorierter Holzschnitt von François Georgin, Epinal: Pellerin, um 1833

Gießen, im Sommer 1834. Die oberhessische Provinzhauptstadt gehört zusammen mit Friedberg, Mainz, Offenbach, Worms und der Residenz Darmstadt zu den wichtigen Städten im Großherzogtum Hessen, dem mit rund 725000 Einwohnern nach Sachsen dichtestbesiedelten Mitgliedsstaat im Deutschen Zollverein. Doch wegen der relativen Rückständigkeit der deutschen Wirtschaft, die durch vielfältige Zölle und Abgaben und schlechte Verkehrswege gehemmt wird, hat die Entwicklung des Arbeitsmarktes mit der Bevölkerungszunahme nicht Schritt halten können. Fabrikmäßige Produktion gibt es kaum; nahezu die Hälfte der Gewerbetreibenden sind selbständige Kleinproduzenten, die das stetige Sinken ihres Realeinkommens mangels Kapital nicht durch den Einsatz von Maschinen, sondern allenfalls durch Ausdehnung des Arbeitstages und Doppelerwerb aufzuhalten vermögen. Für vierzig bis fünfundvierzig Prozent der Erwerbstätigen, Kinder ab zwölf Jahren und Greise eingerechnet, gilt ein Arbeitstag von zwölf bis achtzehn Stunden.

Vor allem in den ländlichen Regionen Oberhessens, dem Gebiet um Alsfeld, Büdingen, Butzbach, Grünberg, Lauterbach, Lich und Schotten, fristen Kleinbauern und eigentumslose Tagelöhner (insgesamt sechzig Prozent der Gesamtbevölkerung) ein Dasein am Rande des Existenzminimums. Nur der Einführung der Kartoffel zur Grundversorgung Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ist es zu verdanken, dass in den getreidearmen Mittelgebirgsregionen Hungersnöte nicht zur Dauererscheinung werden. Erst vier Jahre ist es her, dass sich die Erbitterung der Bauern und Gewerbetreibenden, Handwerker und Kleinhändler über die doppelte Belastung durch feudale Dienste und Abgaben und landesherrliche Steuern in der größten ländlichen Revolte seit den Bauernkriegen entladen hat.

Die schlechte Wirtschaftslage ist zum einen eine Folge der Kriege unter und gegen Napoleon, zum anderen bedingt durch die territoriale Zersplitterung des Landes, das durch angrenzende Staaten geteilt wird: Sein weitgesteckter Umriss macht das Großherzogtum zum unmittelbaren Nachbarn von nicht weniger als zehn deutschen Souveränen.

 

Die Verfassung von 1820 bestätigt dem Großherzogtum den Charakter einer erblichen Monarchie und sichert der Regierung die alleinige Staatsgewalt. Unter dem Ministerpräsidenten du Thil betreibt diese die Modernisierung der veralteten Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nur halbherzig.

Auch das hessische Zweikammernparlament ist nicht demokratisch legitimiert. Aufgrund des an das Steueraufkommen gebundenen Wahlrechts besitzen nur knapp zweitausend Staatsbürger des Großherzogtums das passive Wahlrecht; Kleinbürger, Handwerker und Bauern sind nicht darunter.

Für die Opposition gibt es kaum Möglichkeiten durchgreifender Initiativen: Die freiheitliche Presse wird durch Zensur und Totalverbote geknebelt, die Bildung politischer Vereine schon im Ansatz unterdrückt, jede Art von Versammlung, die einem politischen Zweck dient, kriminalisiert; liberale Parlamentarier werden mit einer Reihe von Zwangsmitteln in die Schranken gewiesen. Regierungsgegner, die sich strikt an das Gesetz halten, sind zur Untätigkeit verurteilt. Entschlossenen Reformern bleibt angesichts der Machtverhältnisse nur der Weg in die Illegalität. Sie organisieren sich überregional in Geheimbünden und bereiten den gewaltsamen Umsturz vor.

 

In Gießen sind viele Studenten heimlich in der verbotenen Burschenschaft organisiert; einige sind 1833 Mitwisser und sogar Beteiligte des Frankfurter Wachensturms gewesen, eines republikanischen Aufstandsversuchs, der das Signal für eine bewaffnete Erhebung in Südwestdeutschland sein sollte.

Georg Büchner, zwanzigjähriger Arztsohn aus Darmstadt, zu dieser Zeit Student der Medizin und Naturwissenschaften in Straßburg, hatte das mit Eklat gescheiterte Unternehmen kritisch beurteilt und dem Individualterror eine eindeutige Absage erteilt: Zwar sei er durchaus entschlossen, gegen das herrschende Unrecht, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh mache, mit Mund und Hand zu kämpfen, hatte er seine Eltern in einem flammenden Brief wissen lassen, doch teile er nicht die Verblendung derer, welche in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk sähen; sie schreiben, man liest sie nicht; sie schreien, man hört sie nicht; sie handeln, man hilft ihnen nicht. Der Massenstreik der Seidenweber in Lyon 1831 und der republikanische Aufstandsversuch in Paris 1832 haben ihm vor Augen geführt, dass eine durchgreifende Veränderung nur möglich ist, wenn sie sich auf die große Masse des Volkes stützt, die zuvor durch Flugschriftenpropaganda gewonnen werden muss. Alles Bewegen und Schreien der Einzelnen stellt für ihn vergebliches Torenwerk dar. Seine Hoffnungen gründen auf der Masse der Bauern und Handwerker, sie sollen Träger und Garanten einer sozialen Revolution sein.

Büchner ist weder gläubig noch zynisch genug, um das Weltgeschehen für sinnvoll und daher erträglich zu halten. Nach seiner Rückkehr aus Straßburg entscheidet er sich schon in seinem ersten Semester an der Landesuniversität Gießen für die politische Einmischung. Dafür setzt er nicht nur die akademische Karriere in seiner deutschen Heimat aufs Spiel, er riskiert auch seine körperliche Unversehrtheit. Denn sein Engagement erfüllt den Straftatbestand des Hochverrats, der mit langjährigen Haftstrafen geahndet wird.

 

Für seinen älteren Freund Wilhelm Schulz ist Büchner schlicht mit zu viel Tatkraft ausgerüstet gewesen, als dass ihn die Aufbruchstimmung, die seit der Julirevolution auch in Deutschland herrscht, hätte kaltlassen können. In drei Julitagen des Jahres 1830 gab das Volk von Paris ganz Europa ein revolutionäres Signal: Der Widerstand einer breiten Koalition aus Bürgertum, Arbeiterschaft und Studenten ließ den Versuch Karls X., verfassungsmäßig garantierte Rechte einzuschränken oder ganz abzuschaffen, scheitern. Anstelle des verjagten Bourbonenkönigs, der sich von Gottes Gnaden König von Frankreich hatte titulieren lassen, übernahm Louis Philippe, Herzog von Orléans, die Königswürde. Am 9. August 1830 leistete er seinen Eid auf die französische Verfassung, als König der Franzosen.

Auch in Deutschland erhielt die liberale und demokratische Opposition dadurch einen kräftigen Impuls: Am 7. September wurde der Herzog von Braunschweig von aufgebrachten Bürgern aus dem Amt vertrieben und flüchtete nach England; im Laufe der nächsten Tage kam es in Preußen, Mecklenburg, Sachsen und Thüringen zu Kundgebungen und Unruhen. Gleichzeitig erreichte die Revolution Hessen: In Hanau stürmte am 24. September eine große Volksmenge die Zollstation und verbrannte sämtliche Dokumente wie auch das Mobiliar; ein Vorgang, der sich am nächsten Tag an der Zollstätte zwischen Hanau und Frankfurt wiederholte. In der Nacht vom 25. auf den 26. September erfasste die Revolte standesherrschaftliche Gebiete des Großherzogtums. Während aus Rheinhessen keine und aus Starkenburg nur vereinzelte Ausschreitungen gemeldet wurden, kam es im östlichen Oberhessen, wo man in den Grenzbezirken besonders unter den Binnenzöllen litt, zu Szenen wie aus dem Bauernkrieg. In Darmstadt traf man schon Vorbereitungen zur Flucht der großherzoglichen Familie.

Durch seinen frühe gereiften Geist auf eine heitere Höhe gestellt, so Schulz weiter, sei Büchner in seinen politischen Ansichten von manchen Täuschungen frei gewesen, welchen sich die Jugend willig hinzugeben pflegt. Ein Feind jeder töricht unbesonnenen Handlung, die zu keinem günstigen Erfolge führen konnte, hasste er doch jenen tatenlosen Liberalismus, der sich mit seinem Gewissen und seinem Volke durch leere Phrasen abzufinden sucht, und war zu jedem Schritte bereit, den ihm die Rücksicht auf das Wohl seines Volkes zu gebieten schien.

 

Büchner leidet geradezu an der Unhaltbarkeit der gesellschaftlichen Zustände. Es fällt ihm nicht ein, die Meinung der irrenden Mehrheit zu teilen, die sich mit der Misere abfindet, darüber hinwegsieht oder in ihrer Wahrnehmung die Realität durch eine Illusion ersetzt. Er spürt Verantwortung und entwirft Pläne, die sich nicht nur auf sein eigenes Leben und sein berufliches Fortkommen beziehen, sondern auf das Gemeinwohl zielen. Diese verfolgt er mit Intensität und Hartnäckigkeit: Gegenüber der Sache, der er sich verschworen hat, ist er zu großen Leidenschaften und Gemütsbewegungen fähig.

Bei allem Engagement geht Büchner mit Vernunft und Umsicht zu Werk. In Straßburg hat er erlebt, wie radikale Demokraten mit dem Aufbau teils legaler, teils geheimer Organisationen auf die staatliche Unterdrückung republikanischer Institutionen reagieren, und sich eingehend über Kampfmethoden und Differenzierungsprozesse innerhalb der linken Opposition informiert.

Zunächst in Gießen, später auch in Darmstadt, gelingt es ihm, eine eingearbeitete Gruppe von Studenten und Handwerkern, von denen einige eben erst aus der Untersuchungshaft entlassen worden sind, in der »GESELLSCHAFT DER MENSCHENRECHTE« zu organisieren, einer revolutionären Geheimverbindung mit strikt republikanischer und egalitärer Tendenz. Fernziel ist die Gründung einer sozialen und demokratischen Republik in Deutschland, die auf den Idealen Volkssouveränität, soziale Gleichheit und gerechte Güterverteilung fußt. Die Republik gilt ihm und seinen Freunden als die einfachste und dem Naturgesetz, der Würde des Menschen, angemessenste Staaten- und Regierungsform. Zugleich soll sie die Wahrung der elementaren und unveräußerlichen Rechte des Menschen garantieren.

 

Diese sind auf unterschiedliche Weise definiert worden. In der Erklärung der französischen Nationalversammlung von 1789 beispielsweise wird auch das Recht auf Eigentum zu den natürlichen und unantastbaren Menschenrechten gezählt, wohingegen es Robespierre 1793 in seinem Entwurf für den Konvent zu einer gesellschaftlichen Einrichtung herunterstuft und der sozialen Nützlichkeit unterordnet.

Die von Büchner verfasste Erklärung der Menschenrechte, auf die er jedes neue Mitglied beim Eintritt in die »Gesellschaft« durch Schwur verpflichtet, strebt sogar die Herbeiführung einer völligen Gleichstellung aller an. Darunter versteht Büchner die gerechte Verteilung von Gütern, Lasten und Gewinnen. Durch gleiche Umstände, meint Büchner, würden wohl alle gleich werden; da die Umstände jedoch unserem Willen entzogen sind, kommt es darauf an, die Unterschiede durch Ausgleich zu kompensieren, um auf diese Weise Gerechtigkeit herzustellen.

Seine Auffassung legt er im Revolutionsdrama »Dantons Tod« dem rigorosen Jakobiner Saint-Just in den Mund, in dem er das eigentliche Genie der Revolution erkennt: Da alle unter gleichen Verhältnissen geschaffen werden, so sind alle gleich, die Unterschiede abgerechnet, welche die Natur selbst gemacht hat. Es darf daher jeder Vorzüge und darf daher keiner Vorrechte haben, weder ein Einzelner, noch eine geringere oder größere Klasse von Individuen.

In den Diskussionen der »GESELLSCHAFT DER MENSCHENRECHTE« ist auch von Gütergemeinschaft die Rede: Alles Vermögen ist Gemeingut, wird dort doziert. So sollen der Großgrundbesitz und die Großpachten in gleichwertige Parzellen zugunsten des landarmen oder besitzlosen Agrarproletariats umgewandelt werden – eine frühkommunistische Idee, die darauf hinausläuft, die versäumte ökonomische Modernisierung in einer Region, wo die alte feudale Elite politische und wirtschaftliche Reformen blockiert, durch eine Wirtschaftsform der assoziierten Kleinproduzenten gewaltsam nachzuholen.

Die Verschwörer bedenken nicht, dass für die von ihnen ersehnte Lösung der sozialen Frage die Entwicklung der Arbeitsproduktivität eine wesentliche Voraussetzung darstellt. Die gleichmäßige Verteilung des Mangels kann die notwendige Industrialisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft keineswegs ersetzen. In einer unterentwickelten Ökonomie generiert die Gütergemeinschaft daher zwecks Durchsetzung und Kontrolle eine Legion von Beamten, deren Verwandlung von einer bloß organisierenden in eine herrschende Kaste anscheinend historisch unausweichlich ist. Dies zu erkennen, hätte es allerdings der Erfahrung mehr als eines Menschenlebens bedurft.

 

Mit der Organisationsform, ja sogar mit der Namensgebung folgt Büchner dem französischen Vorbild der »SOCIÉTÉ DES DROITS DE L’HOMME ET DU CITOYEN«, einer geheimen Massenverbindung, die in Straßburg fast dreitausend Mitglieder zählt. Nach einer Phase interner Auseinandersetzungen hat sich in der Führungsspitze eine Strömung durchgesetzt, die die soziale Umwälzung anvisiert, gütergemeinschaftliche Prinzipien propagiert und sich dabei auf die politischen, sozialen und ökonomischen Theorien von François Noël Babeuf beruft.

Babeuf, Zeitgenosse von Robespierre und Danton, hatte die gerechte Teilhabe an Lasten wie an Genüssen als natürliches Recht aller Menschen bezeichnet und schon vor Ausbruch der französischen Revolution nach Lösungen gesucht, die sowohl die politischen Strukturen als auch das soziale Gefüge der Gesellschaft entscheidend verändert hätten. Ein Grundfonds an Gemeineigentum, bestehend aus ehemaligen Staats-, Kirchen- und Emigrantenländereien, sollte im Verlauf von Generationen durch Aufhebung des privaten Erbrechts vergrößert und entwickelt werden und den Kleinproduzenten erträgliche Wohnverhältnisse, Nahrung, Kleidung, Gesundheitsfürsorge sowie eine solide Ausbildung sichern.

1796, knapp zwei Jahre nach Robespierres Hinrichtung – Frankreich wurde mittlerweile von einem Direktorium aus gemäßigten Republikanern unter Führung des korrupten Vicomte de Barras regiert –, plante Babeuf mit seinen Anhängern den bewaffneten Aufstand. An dessen Vorabend wurde er verhaftet und ein knappes Jahr später guillotiniert. Seine Theorien aber bleiben durch die Propaganda seiner Anhänger in Bildungszirkeln, Zeitungen und Flugschriften lebendig.

3Bekanntschaft mit dem Butzbacher Lehrer Weidig. Politischer Meinungsstreit.

Friedrich Ludwig Weidig, 15. 2. 1791 – 23. 2. 1837.

Anonyme Kreidelithographie, um 1848

Am späten Nachmittag des 5. Juli 1834 macht sich Büch-ner von Gießen auf den Weg in die Wetterau. Begleitet wird er von seinem Kommilitonen Jakob Friedrich Schütz, einem Schuhmachersohn aus Mainz, der seit 1832 Jura studiert. Als radikaler Burschenschafter hat er zu den Unterstützern des Frankfurter Wachensturms gehört, ist im Mai 1833 verhaftet und erst elf Monate später auf freien Fuß gesetzt worden.

In Butzbach, einer Kleinstadt an der Chaussee nach Frankfurt, wollen sie bei dem Schulrektor und Theologen Friedrich Ludwig Weidig das Manuskript einer politischen Flugschrift abholen: Büchner hat es vor einigen Monaten verfasst, Weidig überarbeitet und ergänzt und »Der Hessische Landbote« betitelt.

Weidig, noch keine vierzig Jahre alt, ist seit 1830 im Großherzogtum Hessen einer der entschiedensten Befürworter des gewaltsamen Umsturzes. Angesichts der Zwangsverhältnisse hält er ihn für ein legitimes Mittel zur Herbeiführung einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung. Bemüht, auch den kleinsten revolutionären Funken zu sammeln, wenn es dereinst brennen solle, schließt er Zweckbündnisse sowohl mit bürgerlichen Oppositionellen als auch mit republikanischen Geheimverbindungen. So gehören auch die Handwerker und Studenten der »GESELLSCHAFT DER MENSCHENRECHTE« in Gießen zu seinen Unterstützern.

 

Büchner und Weidig haben sich im Januar 1834 durch Vermittlung August Beckers kennengelernt. Becker, Sohn eines Pfarrers in Biedenkopf, hat 1832 sein Theologiestudium aus Geldmangel abbrechen müssen und lebt seitdem arbeitslos im Haushalt seiner verwitweten Mutter. Weil er in Gießen meist nur mit einem alten verwaschenen russischen Hemd und einem schwarzen Samtbarett bekleidet herumläuft und darüber hinaus noch einen antibürgerlichen, bis auf die Brust herabhängenden roten Bart zur Schau trägt, gilt er dort als verlottertes und verlumptes Genie.

Weidig macht ihn zu einem seiner engsten Vertrauten und schickt ihn auf diverse geheime Missionen: In seinem Auftrag verbreitet Becker Flugschriften, sammelt Geld für die Untergrundpresse, hilft bei der heimlichen Kommunikation mit den politischen Gefangenen und versucht sich in der Agitation der Landbevölkerung. Seit dem vergangenen Herbst ist Büchner, bei dem er häufig übernachtet, Beckers bester, ja einziger Freund, dem er bedrückende Einzelheiten aus seinem Leben anvertraut. Umgekehrt ist er der einzige Mitwisser von Büchners teuersten Herzens-Angelegenheiten: der heimlichen Verlobung mit der Straßburger Pfarrerstochter Wilhelmine Jaeglé.

 

Nur in einigen Grundzügen stimmen Büchners und Weidigs politische Ansichten überein, meist liegen beide miteinander im Streit.

Gemeinsam ist ihnen die Erbitterung über die politischen Verhältnisse. Doch bei Büchner verbindet sie sich mit einem unbegrenzten Mitleiden mit den niederen Volksklassen und ihrer Not. In der ungleichen Verteilung der materiellen und geistigen Güter, vor allem in den schneidenden Gegensätzen des Reichtums und der Armut, glaubt er die Quelle aller Übel erkannt zu haben.

Er weiß indes, wie schwierig es ist, die Bauern und Handwerker aus ihrer Erniedrigung hervorzuziehen, weil das dumpfe Ertragen der Leiden ihrem Naturell weit eher entspricht als der Massenaufstand. Nicht einmal unter den Kleinbauern hat die Gleichheit der prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse Gemeinsamkeiten erzeugt, eine politische Organisation begründet oder eine überregionale Verbindung geschaffen.

Im Unterschied zu Weidig teilt Büchner nicht die Fortschrittszuversicht der bürgerlichen Liberalen, deren Reformbestrebungen er gründlich misstraut. Sein knapp zweijähriger Frankreich-Aufenthalt hat ihm Gelegenheit gegeben, gesellschaftliche Prozesse in einem gegenüber seiner hessischen Heimat fortschrittlichen politischen System über einen längeren Zeitraum hinweg zu verfolgen. Unter dem Regime von Louis Philippe ist die Vormachtstellung des Adels zugunsten der bürgerlichen Bankiers, Großgrundbesitzer, Kaufleute und Industriellen beseitigt und so die Identität von wirtschaftlicher und politischer Macht hergestellt worden; Geldumlauf und Wertpapierhandel erreichen ein zuvor nicht gekanntes Volumen. Bauern, Kleinbürger und Arbeiter aber sind weiterhin von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen: Wie man die Pflastersteine, die man in den Juliustagen als Waffe gebrauchte, und die an einigen Orten noch seitdem aufgehäuft lagen, jetzt wieder ruhig einsetzt, damit keine äußere Spur der Revolution übrig bleibe: so wird auch jetzt das Volk wieder an seine vorige Stelle, wie Pflastersteine, in die Erde zurückgestampft, und, nach wie vor, mit Füßen getreten, konstatiert Heinrich Heine von seinem Beobachtungsposten in Paris aus.

Büchner ist überzeugt, damit einen Blick in Deutschlands nahe Zukunft getan zu haben, sollte es der demokratischen Opposition dort nicht gelingen, die Interessen der Bevölkerungsmehrheit gegen den Egoismus der neuen liberalen Wirtschafts- und Finanzeliten durchzusetzen, die nur auf schnelle Gewinne aus sind. In deren Konzeptionen und Sozialmodellen sind Lohnabhängige der unteren Schichten (Tagelöhner, Gesinde, Dienstboten, Manufakturarbeiter und Gesellen) nicht als mündige Bürger vorgesehen.

Weil Büchner in Darmstadt inmitten halbfeudaler Verhältnisse aufgewachsen ist, weiß er um die Arbeitsbedingungen des städtischen Proletariats, und auch die Belastung der Landbevölkerung durch Frondienste, Abgaben und rechtliche Privilegien zugunsten der adeligen Großgrundbesitzer ist ihm nicht fremd. Die deutschen Metropolen Berlin, Hamburg oder München dagegen kennt er nicht; auch Bildungsreisen ins europäische Ausland hat er noch nicht unternehmen können. Im politischen Liberalismus, wie er sich vor allem in den großen Zentren entwickelt, vermag er daher nicht die bürgerliche Avantgarde zu erkennen. Stattdessen meint er, anders als einige Jahre später Karl Marx, mit einer agrarproletarischen Revolution in Deutschland das kapitalistische bürgerliche Regime mit seinem zynischen Geschäfts- und Spekulationsgeist gleichsam überspringen und damit auf immer ausschalten zu können.

 

Gleichwohl ist Büchners Konzept durchaus pragmatisch und ohne Selbsttäuschung: Er geht keineswegs davon aus, dass alle objektiven Bedingungen der Revolution schon vorhanden sind und es nur noch eines Fanals bedarf, um sie auszulösen. Zuvor müssten seines Erachtens erst die materiellen Interessen der Bevölkerung mit den politischen Zielen der bürgerlichen Revolutionäre vereinigt werden. Die Verweigerung der Menschen- und Bürgerrechte treffe zwar sowohl die intellektuelle Elite als auch die niederen Volksklassen, doch seien die Letzteren nicht ohne weiteres bereit, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Ansatzpunkt könne nur ihre echte und dringende Sehnsucht nach einer Besserstellung sein; diese müsse, solange es noch Zeit sei, von der revolutionäre Agitation berührt werden. Denn sollte es den Fürsten einfallen, den materiellen Zustand des Volkes zu verbessern, sollten sie ihren Hofstaat, der ihnen fast ohnedem unbequem sein muss, sollten sie die kostspieligen stehenden Heere, die ihnen unter Umständen entbehrlich sein können, vermindern, sollten sie den künstlichen Organismus der Staatsmaschine, deren Unterhaltung so große Summen kostet, auf einfachere Prinzipien zurückführen, dann, so Büchner, sei die Sache der Revolution in Deutschland auf immer verloren. Seht die Östreicher, sie sind wohlgenährt und zufrieden! Fürst Metternich, der Geschickteste unter allen, hat allen revolutionären Geist, der jemals unter ihnen aufkommen könnte, für immer in ihrem eigenen Fett erstickt.

 

Die eigentliche Revolte stellt er sich nicht als Spontanaktion, sondern als geleitete Unternehmung vor. Soll jemals die Revolution auf eine durchgreifende Art ausgeführt werden, so kann und darf das bloß durch die große Masse des Volkes geschehen, durch deren Überzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam erdrückt werden müssen. Daher komme es zunächst darauf an, diese große Masse zu gewinnen, was vorläufig nur durch Flugschriften geschehen könne. Ihr Ziel, das landlose Agrarproletariat und die sozial Deklassierten im Handwerk und in den Gewerben zu einem Massenaufstand aufzureizen, würden sie jedoch nur erreichen, wenn sie sich nicht abstrakten Rechtsgrundsätzen, sondern ausschließlich den naheliegenden Interessen des Volks widmeten.

Die früheren Flugschriften, welche zu diesem Zweck etwa erschienen sind, entsprachen demselben nicht; es war darin die Rede vom Wiener Kongress, Pressfreiheit, Bundestagsordonnanzen und dergleichen, lauter Dinge, um welche sich die Bauern nicht kümmern, solange sie noch mit ihrer materiellen Not beschäftigt sind; denn diese Leute haben aus sehr naheliegenden Ursachen durchaus keinen Sinn für die Ehre und Freiheit ihrer Nation, keinen Begriff von den Rechten des Menschen u.s.w, sie sind gegen all das gleichgültig und in dieser Gleichgültigkeit allein beruht ihre angebliche Treue gegen die Fürsten und ihre Teilnahmlosigkeit an dem liberalen Treiben der Zeit; gleichwohl scheinen sie unzufrieden zu sein und sie haben Ursache dazu, weil man den dürftigen Gewinn, welchen sie aus ihrer saueren Arbeit ziehen, und der ihnen zur Verbesserung ihrer Lage so notwendig wäre, als Steuer von ihnen in Anspruch nimmt.

Über den Charakter der steuerzahlenden Kleinbauern ist Büchner sich durchaus im Klaren. Er weiß, dass von dieser ausgebeuteten, ihr Leben kümmerlich fristenden, mehr leidenden als aufbegehrenden, führerlosen Masse keine politisch sinnvollen Aktionen zu erwarten sind: Bei aller parteiischen Vorliebe für sie müsse man einräumen, dass sie eine ziemlich niederträchtige Gesinnung angenommen haben; und dass sie, es ist traurig genug, fast an keiner Seite mehr zugänglich sind, als gerade am Geldsack. Dies muss man benutzen, wenn man sie aus ihrer Erniedrigung hervorziehen will; man muss ihnen zeigen und vorrechnen, dass sie einem Staate angehören, dessen Lasten sie größtenteils tragen müssen, während andere den Vorteil davon beziehen; – dass man von ihrem Grundeigentum, das ihnen ohnedem so sauer wird, noch den größten Teil der Steuern erhebt, – während die Kapitalisten leer ausgehen; dass die Gesetze, welche über ihr Leben und Eigentum verfügen, in den Händen des Adels, der Reichen und der Staatsdiener sich befinden u.s.w.

 

Ihre Überzeugungsgründe, so Büchner weiter, sollten die Flugschriften aus der Religion des Volkes hernehmen: In den einfachen Bildern und Wendungen des neuen Testaments müsse man die heiligen Rechte der Menschen erklären.

Auf die Autorität der Bibel haben sich seit der Reformationszeit immer wieder geistliche und nichtgeistliche Sozialreformer und -revolutionäre berufen. Die fortschrittliche Auslegung der Heiligen Schrift soll den alten Glauben an die höhere Weihe der Herrschenden untergraben, entsprechende Textstellen dienen zur Rechtfertigung sozialer Forderungen und zur Beglaubigung naturrechtlicher Wahrheiten.

Büchner geht noch einen Schritt weiter. Ein Mitverschworener zitiert ihn mit dem Satz: Die Religion des Volkes ist der Fels, auf dem man Blutgerüste für die Tyrannen und Altäre für die Freiheit bauen muss. Ob er sich aber über den zwiespältigen Impuls, den die Furie des Fanatismus sozialen Bewegungen verleiht, in all seinen Konsequenzen wirklich im Klaren ist, scheint zumindest fraglich.

 

Im Zentrum von Weidigs Volksbegriff steht dagegen das steuerzahlende, mündige Bürgertum. Sein Ideal ist die vereinigte deutsche Republik mit einem gewählten Oberhaupt; ein harmonischer Ständestaat, in dem die Eigentümer Entscheidungen zum Wohle aller, auch der unterbürgerlichen Schichten, treffen. Während Büchner das landlose Agrarproletariat durch die Revolution befreien will, will Weidig es für die bürgerliche Revolution lediglich benutzen; unmittelbare oder per Mandat vermittelte politische Mitbestimmung mag er ihm nicht einräumen.

Über diese Frage kommt es eines Tages, wie August Becker bezeugt, zu einer Auseinandersetzung zwischen Büchner und Weidig: Büchner meinte, in einer gerechten Republik, wie in den meisten nordamerikanischen Staaten, müsse jeder ohne Rücksicht auf Vermögensverhältnisse eine Stimme haben, und behauptete, dass Weidig, welcher glaubte, dass dann eine Pöbelherrschaft, wie in Frankreich, entstehen werde, die Verhältnisse des deutschen Volks und unserer Zeit verkenne.

Gegenüber dem Butzbacher Weidig-Schüler Karl Zeuner hat sich Büchner einmal sehr heftig über diesen Weidig’schen Aristokratismus geäußert; weil Zeuner später die Indiskretion begeht, es dem Weidig wiederzusagen, kommt es zu einem offenen Streit.

Auch widerspricht Weidig Büchners Ansicht, dass die liberale Bourgeoisie, an die Macht gelangt, die soziale Revolution durch materielle Zugeständnisse an die Volksmassen abfangen und am Ende eine neue Geldaristokratie den Platz des alten Besitzadels einnehmen werde. Bei solchen Grundsätzen, so Weidigs polemisches Fazit, werde sich kein ehrbarer Mensch mehr mit ihnen verbünden, was Büchner gegenüber August Becker mit der Bemerkung kontert, es sei keine Kunst, ein ehrbarer Mensch zu sein, wenn man täglich Suppe, Gemüse und Fleisch zu essen habe.

Im Kreis der Weidig-Schüler macht seitdem das Wort von Büchners Maratismus und seinen der Pöbelherrschaft allzu günstigen Ansichten und Grundsätzen die Runde, womit Büchner diskreditierend in die Nähe des französischen Revolutionshelden Jean Paul Marat, des Anwalts der sozial Deklassierten, gerückt wird. Das ist alles andere als ein schmeichelhafter Vergleich, denn Marat ist insbesondere durch seine Aufforderung berüchtigt, solle die Revolution in Frankreich Erfolg haben, müssten als Erstes zweihunderttausend Anhänger des Ancien Régime guillotiniert werden.

 

Unterschiedlicher Meinung ist man auch über die Strategie der Volksagitation: Soll sie unmittelbar durch gemeinsame Lektüre und Diskussion erfolgen, etwa in Handwerkerkränzchen, oder nur mittelbar durch Agitationsmaterial? Die Mitglieder der Gießener »GESELLSCHAFT DER MENSCHENRECHTE« und namentlich Büchner sind der Meinung, dass man es den belehrenden Schriften, die man selber verbreiten müsse, überlassen solle, auf das Volk zu wirken. Seinem Flugschriftenentwurf gibt Büchner daher ausdrücklich den Nebenzweck, die Stimmung des Volks und der deutschen Revolutionärs zu erforschen: Am Erfolg oder Misserfolg werde sich zeigen, inwieweit das deutsche Volk geneigt sei, an einer Revolution Anteil zu nehmen. In mancher Hinsicht nimmt er damit das Konzept der militanten oder eingreifenden Untersuchung vorweg, die, anknüpfend an Marx’ »Fragebogen für Arbeiter« (1880), zum einen auf empirische Erkenntnisse aus ist, zum anderen über deren Ermittlung die Bewusstseinsbildung und Mobilisierung voranzutreiben sucht.

 

Weiteren Dissens gibt es schließlich bezüglich der Organisationsform oppositioneller Vereinigungen. Während Büchner meint, dass man Gesellschaften errichten müsse, deren Mitglieder annähernd über den gleichen Bildungshorizont verfügen sollen, glaubt Weidig, dass es schon genüge, wenn man die Gesinnungsfreunde miteinander bekannt mache und durch sie Flugschriften verbreiten lasse. Dies allein schon deshalb, weil eine konstituierte Gesellschaft den Straftatbestand der Verschwörung in höherem Grad erfüllt als ein formloser Verein; wohl aber auch, um dadurch seine eigene Autorität als Integrationsfigur zu sichern.

Darüber hinaus setzt Weidig, der ein patriarchalisches Verhältnis zu seinen Gefolgsleuten pflegt, mehr Vertrauen in die älteren, im Berufsleben stehenden Verbündeten; die Jüngeren sollen hauptsächlich Botendienste und die Flugschriftenverteilung übernehmen, ohne in die Organisation tiefer eingeweiht zu sein.

4»Der Hessische Landbote«. Büchners Entwurf und Weidigs Überarbeitung.

Georg Büchner/Friedrich Ludwig Weidig: »Der hessische Landbote« (Marburg: durch August Ludwig Rühle), Exemplar der 2. Auflage, 1834

Bald nach ihrem ersten Treffen hat Büchner Weidig ein Manuskript übergeben, das er als Flugschrift gedruckt und massenhaft verbreitet wünscht. Weidig soll ihm dabei behilflich sein. Denn wenn in Hessen jemand über die dafür notwendigen Ressourcen und Verbindungen verfügt, dann ist er es: Nach dem Totalverbot der freiheitlichen Presse Ende 1833