Georg Büchner - Jan-Christoph Hauschild - E-Book

Georg Büchner E-Book

Jan-Christoph Hauschild

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Beschreibung

Rowohlt E-Book Monographie Georg Büchner wurde von der Justiz als «Staatsverräter» steckbrieflich verfolgt und starb 1837 dreiundzwanzigjährig im Zürcher Exil: ein Revolutionär, Dichter und Wissenschaftler aus Überzeugung und Leidenschaft. Radikale Skepsis und provozierende Offenheit, künstlerische Intuition und politisches Engagement, konsequenter Formwille und soziales Mitgefühl machten ihn zum Wegbereiter der literarischen Moderne und zu einem bis heute aktuellen Autor von Weltrang. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Jan-Christoph Hauschild

Georg Büchner

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Steckbrief und PorträtGoddelau und Darmstadt 1813–31FamilienperspektivenSchulzeitFranzösische Gewitterluft: Straßburg 1831–33Gießen und Darmstadt 1833–35Das oberhessische Studentendorf«Der Hessische Landbote»‹Gesellschaft der Menschenrechte›«Danton’s Tod» – Drama der RevolutionStraßburg und Zürich 1835–37Der Flüchtling«Lenz» – Bruchstück eines DichterlebensWissenschaft als Beruf«Leonce und Lena» – Komödie und Kuckucksei«Woyzeck» – Aus dem Leben des GeringstenDer AsylantEpilogHinweis zu den AnmerkungenZeittafelZeugnisseBibliographie1. Erstdrucke und Erstausgaben2. Gesamt- und Einzelausgaben3. Zeugnisse und Dokumente4. Bibliographien, Forschungsberichte, Indices5. Sammelbände6. Gesamtdarstellungen zu Leben und Werk7. Studien und Kommentare8. Textkritik, Editions- und Wirkungsgeschichte9. Das Werk auf der Bühne10. Dichtungen zu Büchner11. Forschungsinstitutionen und Gedenkstätten12. Internet-Links
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Steckbrief und Porträt

Wer ist dieser Büchner?»[1], fragte im Spätsommer 1835 der Herausgeber einer großen Dresdner Literaturzeitschrift, dem Danton’s Tod, das dramatische Erstlingswerk des unbekannten Autors, zur Rezension vorlag.

Jeder Antwortversuch musste damals knapp ausfallen. Büchner selbst hätte sich so vorstellen können: Ich bin 21 Jahre alt und der älteste Sohn des Medizinalrat Büchner zu Darmstadt[2]. Bis letztes Jahr studierte ich Medizin in Gießen. Die politischen Verhältnisse Teutschlands zwangen mich, mein Vaterland […] zu verlassen.[3] Seit dem Frühjahr widme ich mich in Straßburg den medizinisch-philosophischen Wissenschaften[4], worüber ich demnächst in Zürich Vorlesungen zu halten gedenke. Literarische Veröffentlichungen: sonst keine. Verse kann ich keine machen.[5]

Wenig ergiebig auch der Steckbrief, den der Darmstädter Chefermittler, Hofgerichtsrat Konrad Georgi, dem flüchtigen Hochverräter kurz zuvor an die Fersen heftete. Über den Vorwurf des dringenden Verdachts der «Teilnahme an staatsverräterischen Handlungen» hinaus war ihm lediglich eine zuverlässige «Personal-Beschreibung» zu entnehmen: 1 Meter 70 groß und schlank, von kräftiger Statur, blond, mit einem Anflug von Bart am Kinn und über dem kleinen Mund, graue Augen unter auffällig gewölbter Stirn, mit dem «besonderen Kennzeichen» der «Kurzsichtigkeit»[6] – und Steckbriefe gehören bekanntlich nicht zur Pflichtlektüre von Literaturkritikern.

In den mehr als 150 Jahren, die seitdem vergangen sind, hat das Porträt des Dichters, Revolutionärs und Wissenschaftlers deutlich an Schärfe gewonnen. Büchner war alles andere als ein Verstellungskünstler: unerbittlich kritisch gegenüber jedem Dogma, stolz auf den «erworbenen geistigen Fonds»[7], der ihn stark machte in der Auseinandersetzung mit allem, was Allgemeingültigkeit beanspruchte, übermütig satirisch bis zum vernichtenden Hohn gegen Gemeinheit und Anmaßung, Verächter alles Nichtigen und Niederträchtigen – ein selbständiger Denker, befreit von allen, selbst «demokratisch gefärbten Vorurteilen», eigensinnig bis zur Dickköpfigkeit, überzeugt, nur in das, was er als wahr und recht erkannt hatte, sich fügen zu können, und daher unfähig, sich in eine seinen heiligsten Rechten, seinen heiligsten Grundsätzen widersprechende Lage zu finden[8]; «Demokrat in jedem Pulsschlag seines Herzens, in jedem Gedanken seines Hirns»[9]. Wenn sein Porträt dennoch in vieler Hinsicht Fragment, wo nicht Rätsel bleibt, dann, weil manche Zusammenhänge nicht nur als noch unerforscht, sondern aufgrund beträchtlicher Quellenverluste auch als nicht mehr aufklärbar gelten müssen.

Büchner starb mit 23 Jahren, in einem Alter, in dem andere, wie man sagt, zu leben anfangen. Im sicheren Bewusstsein, dass er nicht alt werden würde[10] und deshalb, wie die Dantonisten im Revolutionsdrama, keine Zeit zu verlieren hatte[11], rang er seinen beiden letzten Lebensjahren unter anderem drei Dramen, eine Novelle, zwei Übersetzungen und eine Doktordissertation ab, und dies alles, ohne jemanden «in die stille Werkstätte seines rastlosen Geistes blicken» zu lassen, «damit ihn keiner auffordern möge, dem in allen Nerven aufgeregten ermattenden Körper einige Ruhe zu gönnen». Seine Weggefährten waren sich einig, dass Büchner in dem, was wir als sein Werk kennen und schätzen, «seinen reichen Geist bei weitem nicht ausgeschöpft», ja «sein Können» noch nicht einmal «andeutend offenbart» hatte, wie sein Landsmann Wilhelm Schulz versicherte.[12] Büchner starb im Aufbruch, voller Versprechungen und Möglichkeiten.

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Goddelau und Darmstadt 1813–31

Familienperspektiven

Am Beginn seines Lebens stand ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung. Die Geburt Georg Büchners am 17. Oktober 1813, einem Sonntag, «früh um halb 6 Uhr»[13], fiel auf einen Tag, dessen Auswirkungen das öffentliche Leben, Politik, Gesellschaft und Kultur der gesamten Epoche prägten. Es war der zweite Tag der sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig, in der die Allianz der europäischen Souveräne über den Eroberer Bonaparte, der seinen Vasallen zuletzt immer unerträglichere Beitragslasten für seine Feldzüge aufgebürdet hatte, triumphierte. Aber die Bataille bei Leipzig befreite Europa auch von seinem Befreier, der zugleich als Repräsentant der Großen Revolution gekommen war, als Verkünder der Menschenrechte und der Ideen von Volkssouveränität. Insofern war der 17. Oktober 1813, nach einem Wort von Wilhelm Schulz, «der Tag, an dem die Freiheit geschlachtet wurde»[14]. Die Folgen: «Heilige Allianz und Kongresse zur Unterdrückung der Völker, Karlsbader Beschlüsse, Zensur, Polizeidespotismus, Adelsherrschaft, Bürokratenwillkür, Kabinettsjustiz, Demagogenverfolgung, Massenverurteilungen, Finanzverschleuderung und – keine Konstitution» (Karl Marx[15]).

Büchners Geburtsort Goddelau, drei Fußstunden südwestlich von Darmstadt im Ried gelegen, einer fruchtbaren Ebene in unmittelbarer Rheinnähe, war ein kleines Bauerndorf mit rund 550 Einwohnern, die von Viehzucht und vom Torfstechen lebten. Hier hatten sich seine Eltern nach ihrer Heirat im Herbst 1812 niedergelassen. Der Vater, Dr. Ernst Büchner, war zuvor zum Kreis-Chirurg des Groß-Gerauer Amtes Dornberg ernannt worden. Er stammte aus einer traditionsreichen hessischen Wundarztfamilie, die bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Die Mutter Caroline, geb. Reuß, kam aus einer gesellschaftlich höhergestellten Beamtenfamilie. Ihr Vater, Hofrat Georg Reuß, bekleidete seit 1798 das Amt eines Verwaltungsdirektors am Philipps-Hospital in Hofheim, wo Dr. Büchner die Funktion eines Hospitalchirurgen mitversah. Die Reuß kamen ebenfalls aus Hessen, waren aber seit dem 17. Jahrhundert im Elsass ansässig und durch die Auswirkungen der Französischen Revolution in ihre ‹Stammlande› vertrieben worden. Herkunft und Elternhaus haben Leben und Werk Georg Büchners entscheidend mitgeprägt: Während die Vorfahren väterlicherseits den Geist des selbstbewusst aufstrebenden Bürgertums repräsentierten, war er durch die Familie seiner Mutter eng mit dem Absolutismus des 18. Jahrhunderts verbunden, kannte dessen Privilegien und Schwächen.

Büchners erste Lebensjahre fielen in eine Zeit, in der das Großherzogtum Hessen-Darmstadt noch unter der einstigen Mitgliedschaft im französisch kontrollierten Rheinbund zu leiden hatte. So schnell war die Beteiligung des hessischen Vasallen an Napoleons Feldzügen gegen Preußen, Österreich und Russland nicht vergessen. Die Siegermächte nahmen mit ihren Kontributionsforderungen kaum Rücksicht auf die Bevölkerung, die in ihrer Not sogar die Rinde von großen Eichenbalken abschälte, um damit das Mehl zu strecken. Auch in der Scheune des Büchner-Hauses in Goddelau soll es solche Balken gegeben haben.

Zwischen 1815 und 1827 wurden dem Ehepaar Büchner sieben weitere Kinder geboren, von denen zwei früh starben. Nach Georg kam Mathilde (1815–88) zur Welt. Obschon sie später, «wenn die Mutter bettlägerig war», in aufopfernder Weise deren Stelle an den jüngeren Geschwistern «vertrat» und sich dadurch in den Augen ihres jüngsten Bruders Alexander als wahrer «Felsencharakter» erwies[16], galt sie in der Familie anscheinend als «träge»[17]. Sie ist das einzige der Geschwister, das später, wenngleich auch Mathilde sich «durch ihre praktische Tätigkeit um gemeinnützige weibliche Bestrebungen verdient gemacht» hat[18], keine öffentliche Berühmtheit erlangte, und wohl deshalb existiert kein Bild von ihr, nicht einmal ein Brief. Immerhin wurde ihr 70. Geburtstag aufwendig gefeiert.

1816 wurde Wilhelm Büchner geboren, benannt nach dem Lieblingsbruder des Vaters, Dr. med. Willem Büchner in Gouda (1780–1855). Lange Zeit galt Wilhelm als der «dumme Bub»[19]: Das Gymnasium musste er schon als Fünfzehnjähriger verlassen, eine Apothekerlehre absolvierte er nur mit Mühen, und noch als Zwanzigjähriger wurde er von seiner Mutter als «gar zu großer Kindskopf» getadelt.[20] Später hieß er nur noch der «fidele, freigebige Wilhelm», der «als Erfinder des künstlichen Ultramarins» zum «Krösus der Familie» avanciert war. Von 1849 bis 1881 (mit längerer Unterbrechung) saß der Fabrikant im Darmstädter Landtag, von 1877 bis 1884 als Kandidat der demokratischen ‹Fortschrittspartei› und mit den Stimmen seiner sozialdemokratischen Arbeiter sogar im Reichstag.

1821 kam ein weiteres Mädchen zur Welt, «die intuitive Luise, mit dem idealschönen Gesicht, aber ihrem durch einen Unfall verkrümmten Körper»[21] – ein Kindermädchen hatte den Säugling versehentlich fallen lassen. Luise war musisch hochbegabt und vielseitig gebildet. Mit dem 1855 erschienenen Buch «Die Frauen und ihr Beruf», das ihr den Nimbus einer engagierten Frauenrechtlerin eintrug, und zahlreichen weiteren Publikationen wollte Luise insbesondere Frauen des Mittelstands und der Arbeiterschaft zu einer Mitgestaltung des politischen und sozialen Lebens ermuntern. Daneben trat sie auch als Lyrikerin, Herausgeberin, Erzählerin, Reiseschriftstellerin und Historikerin hervor.

Als nächstes Kind wurde 1824 Ludwig geboren. Er gab 1850 in Verbindung mit seinen Geschwistern die «Nachgelassenen Schriften» Georgs heraus. Durch das 1855 erschienene Buch «Kraft und Stoff», worin er den Versuch unternahm, «die bisherige theologisch-philosophische Weltanschauung auf Grund moderner Naturkenntnis und einer darauf gebauten natürlichen Weltordnung total umzugestalten»[22], wurde er zum populärsten materialistischen Philosophen seiner Zeit. In Darmstadt wirkte er als praktischer Arzt und war als sozialer Demokrat über Jahre hinweg auch politisch engagiert.

Nesthäkchen der Familie war der 1827 geborene Alexander Büchner. Als radikaler Demokrat und aktiver Teilnehmer an der Revolution musste er sich 1848 wegen einer Schlüsselerzählung über Weidigs Gefängnistod (worin er den Gefangenen vom Untersuchungsrichter kaltblütig ermorden ließ) vor Gericht verantworten. Ursprünglich promovierter Jurist, habilitierte er sich in Zürich mit einer Arbeit über Byron, siedelte 1855 nach Frankreich über und wirkte seit 1867 als Professor für ‹Litteratures étrangères› in Caen: das einzige der Geschwister, dessen Leben noch bis in das nächste Jahrhundert hineinreichte.

Sie alle haben ihren bewunderten Bruder «Schorsch» niemals vergessen, und besonders Ludwig und Luise trugen entscheidend dazu bei, dass es nach 1850 zur Wiederentdeckung des Autors Georg Büchner kam.

Seit dem Herbst 1816 lebte die Familie in der großherzoglichen Residenz Darmstadt, wohin Dr. Büchner als Kreisarzt versetzt worden war. Nach mehreren Beförderungen erreichte er 1824 mit der Ernennung zum Mitglied des Medizinalkollegs, der obersten Gesundheitsbehörde des Landes, den Gipfel seiner Karriere. Vom einfachen Sanitätsgehilfen hatte er sich binnen zwei Jahrzehnten zu einem leitenden Medizinalbeamten des Großherzogtums hochgearbeitet. Seine Fachveröffentlichungen fallen in die Jahre zwischen 1823 und 1826, doch trat er auch danach noch vielfach als Gutachter hervor, so 1850 im Darmstädter Sensationsprozess um die Ermordung der Gräfin Görlitz.

In Darmstadt war Dr. Büchner ein «Homo novus», denn er «gehörte keiner der alten eingesessenen Staatsdiener- oder Bürgerfamilien an». Daran konnte auch «seine Verheiratung mit der Tochter eines hochgestellten Bürokraten» nichts ändern, die ihn «in verwandtschaftliche Beziehung mit den ersten Familien der Stadt» brachte[23], den von Bechtolds und von Carlsens, hohen bis höchsten Regierungsbeamten und Offizieren. Gesellschaftlich blieb dennoch stets die Kluft zwischen den Büchners, die zur Opposition zählten, und den ministeriell orientierten Notabeln der hessischen Verwandtschaft der Mutter.

Die wenigen überlieferten Zeugnisse über die häusliche Familiensituation geben sicher kein soziologisch exaktes, auch kein objektives Bild. Das Material stammt zum ganz überwiegenden Teil aus zweiter Hand und ist deshalb mehr oder weniger anfechtbar. Dennoch scheint es auf authentische Weise die Eindrücke derer wiederzugeben, die am Familienleben entweder unmittelbar oder wenigstens gelegentlich mittelbar teilhatten: Geschwister, Freunde und Bekannte. Übereinstimmend schildern sie die Eltern Georg Büchners, wie hier dessen Klassenkamerad Georg Zimmermann, als zwei durchaus «verschiedenartige […] Naturen»: «der Vater ein charaktervoller und pflichtgetreuer Mann, der mit starrer Festigkeit seine Ansichten und Vorurteile behauptete, die Mutter eine Frau von der anmutigsten und liebenswürdigsten, die Gegensätze des Lebens mild ausgleichenden Weiblichkeit, ein Engel an Herzensgüte»[24].

Der familiäre Abrahamsschoß[25] bot Georg Büchner selbst in den schwierigen Zeiten seines Exils emotionalen Rückhalt; die Familie war, wie seine Briefe beweisen, ein von ihm ernst genommener und deshalb unverzichtbarer Diskussionspartner. Der von Wilhelm Büchner bezeugte «freie Geist der Familie» ermöglichte offene Diskussionen, von denen allerdings der Vater aufgrund seiner autoritären Einstellung wohl mitunter ausgeschlossen blieb. Dr. Büchner hatte eine «harte» und «freudlose» Jugend verlebt[26] und war «im höchsten Grad sparsam für sich». Zwar «gab» er «mit vollen Händen, was zur Ausbildung seiner Kinder nötig war»[27], erwartete dafür aber strikte Zurückhaltung und Loyalität in politischen Fragen. An seinem Ältesten erwies sich die Untauglichkeit seines unflexiblen Erziehungskonzepts. Die Starrheit, mit der der Vater an seinem Standpunkt festhielt, verhinderte jede aufrichtige Auseinandersetzung, und drakonische Zwangsmaßnahmen lösten Konflikte nicht auf, sondern verhärteten sie. Karl Emil Franzos konnte aufgrund «handschriftlicher Quellen» berichten, dass schon dem «Kinde […] jede Ungerechtigkeit» verhasst war, dass «ihn jede gütige Zurechtweisung gerührt, ja bis zur Zerknirschung weich gestimmt» habe, «wogegen Strenge wirkungslos an ihm abgeprallt» sei.[28] Der Mutter kam in solchen Fällen dann die Rolle der Schlichterin zu: «Was hatte sie nicht schon gelitten, wie viel gebeten, wie viel vermittelt, um den heftig aufstrebenden Sohn und den strengen entschiedenen Vater gegenseitig in gutem Einvernehmen zu erhalten.»[29]

Der Widerstand gegen die väterliche Autorität berührte zunächst nicht den äußeren Bildungsgang. Georgs frühes Interesse an Naturwissenschaften und Medizin entsprach dem vom Vater entworfenen Lebensplan; seine Schulfreunde rechneten daher mit einer naturwissenschaftlichen Karriere. Als Helfer und ‹Retter› der «notleidenden Menschheit»[30] war Dr. Büchner für seinen Sohn lange ein bewundertes Vorbild, dessen ethisch-sittliche Grundüberzeugungen er sich zu eigen machte. Erst als der Sohn auf Verwirklichung des väterlichen Ideals bürgerlicher Zivilcourage in der Gegenwart drang, kam es zum Streit. Dies war dann jedoch schon mehr als ein Generationskonflikt, denn der Gegensatz bestand nicht bloß zum eigenen Vater, sondern zum bürgerlichen Alltagsmenschen, dem sein Selbst das Höchste ist, sein Wohlsein der einzige Zweck[31], kurz: zur Vaterwelt. Noch nicht siebzehn Jahre alt war Büchner, als er demgegenüber sein eigenes Ideal formulierte:

Groß und erhaben ist es den Menschen im Kampfe mit der Natur zu sehen, wenn er gewaltig sich stemmt gegen die Wut der entfesselten Elemente und vertrauend der Kraft seines Geistes nach seinem Willen die rohen Kräfte der Natur zügelt. Aber noch erhabner ist es den Menschen zu sehen im Kampfe mit seinem Schicksale, wenn er es wagt einzugreifen in den Gang der Weltgeschichte, wenn er an die Erreichung seines Zwecks sein Höchstes, sein Alles setzt. Wer nur einen Zweck und kein Ziel bei der Verfolgung desselben sich vorgesteckt, gibt den Widerstand nie auf, er siegt – oder stirbt. Solche Männer waren es, welche, wenn die ganze Welt feige ihren Nacken dem mächtig über sie hinrollenden Zeitrade beugte, kühn in die Speichen desselben griffen, und es entweder in seinem Umschwunge mit gewaltiger Hand zurückschnellten, oder von seinem Gewichte zermalmt einen rühmlichen Tod fanden, d.h. sich mit dem Reste des Lebens Unsterblichkeit erkauften. Solche Männer, die unter den Millionen, welche aus dem Schoß der Erde kriechen, ewig am Staube kleben und wie Staub vergehn und vergessen werden, sich zu erheben, sich Unvergänglichkeit zu erkämpfen wagten, solche Männer sind es, die gleich Meteoren aus dem Dunkel des menschlichen Elends und Verderbens hervorstrahlen. Sie durchkreuzen wie Kometen die Bahn der Jahrhunderte; so wenig die Sternkunde den Einfluß der einen, ebenso wenig kann die Politik den der andern berechnen. In ihrem exzentrischen Laufe scheinen sie nur Irrbahnen zu beschreiben, bis die großen Wirkungen dieser Phänomene beweisen, daß ihre Erscheinung lange vorher durch jene Vorsehung angeordnet war, deren Gesetze eben so unerforschlich, als unabänderlich sind.[32]

Schulzeit

Ludewig I. (1753–1830) regierte Hessen-Darmstadt 40 Jahre lang, zunächst als Landgraf, seit 1806 als Großherzog. Im neuntgrößten Mitgliedsstaat des Deutschen Bundes, jenem politischen Flickenteppich aus zuletzt 29 souveränen Staaten und vier freien Städten, lebten 1816 rund 630000 Einwohner auf einer Fläche vom 8200 Quadratkilometern – etwa 40 Prozent des heutigen Bundeslandes Hessen (das rund 5,5 Millionen Einwohner zählt). Doch das Territorium des Großherzogtums war unzusammenhängend, durch angrenzende Nachbarstaaten geteilt. Vier Wegstunden von der Residenz Darmstadt entfernt überschritt man schon die Nordgrenze der Provinz Starkenburg, die sich südlich des Mains von Offenbach bis kurz vor Heidelberg erstreckte. Nicht viel weiter, und man war im Osten in Bayern und im Süden in Baden. Verhältnisse also wie im Königreich Popo:

PETER: […] Sind meine Befehle befolgt? Werden die Grenzen beobachtet?

ZEREMONIENMEISTER: Ja, Majestät. Die Aussicht von diesem Saal gestattet uns die strengste Aufsicht. (Zu dem ersten Bedienten.) Was hast Du gesehen?

ERSTER BEDIENTE: Ein Hund, der seinen Herrn sucht, ist durch das Reich gelaufen.

ZEREMONIENMEISTER: (Zu einem andern.) Und Du?

ZWEITER BEDIENTE: Es geht jemand auf der Nordgrenze spazieren, aber es ist nicht der Prinz, ich könnte ihn erkennen.[33]

Die territoriale Verbindung von Starkenburg zur nördlichen (flächenmäßig größten und bevölkerungsreichsten, aber auch ärmsten) Provinz Oberhessen war durch die Freie Reichsstadt Frankfurt und einen schmalen kurhessischen Streifen unterbrochen. Oberhessen reichte im Osten bis nahe an die Fulda, im Westen bis an die Lahn und durch das Hinterland um Biedenkopf noch darüber hinaus bis zur Eder. Starkenburg gegenüber, durch den Rhein getrennt, lag Rheinhessen, das nur etwa ein Sechstel des Staatsgebiets ausmachte, mit Mainz im Norden, Bingen und Alzey im Westen und Worms im Süden. Wer damals auf der Route der heutigen A5 etwa von Heidelberg nach Marburg fahren wollte, berührte auf diesem Weg die Territorien des Königreichs Preußen, der Großherzogtümer Baden und Hessen-Darmstadt, des Kurfürstentums Hessen-Kassel, der Landgrafschaft Hessen-Homburg und das Gebiet der Freien Reichsstadt Frankfurt – Erfahrungen, wie sie im Lustspiel Valerio und Leonce machen: Wir sind schon durch ein Dutzend Fürstentümer, durch ein halbes Dutzend Großherzogtümer und durch ein paar Königreiche gelaufen und das in der größten Übereilung in einem halben Tage und warum? Weil man König werden und eine schöne Prinzessin heiraten soll […]. Teufel! da sind wir schon wieder auf der Grenze; das ist ein Land wie eine Zwiebel, nichts als Schalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln, in der größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten ist gar nichts.[34]

Die Enge des Kleinstaats wiederholte sich in der Residenz, die trotz ihrer rund 20000 Einwohner (Angabe für 1820) «außergewöhnlich vielschichtig und feingliedrig strukturiert» war[35] und Büchner in nächste Berührung mit allen Schichten der Bevölkerung brachte: der Stadtarmut, dem Kleinbürgertum, der Bourgeoisie und der Militär- und Beamtenaristokratie, die, wie Büchner bissig formulierte, als Ordenskleid die Hoflivree und als Wappen den Hessischen Haus- und Zivil-Verdienstorden[36] trug. Nur der zahlenmäßig unbedeutende Feudaladel hielt sich vom «politischen Leben wie von der Darmstädter Hofgesellschaft weitgehend fern». Und der Hof war der Mittelpunkt, um den sich diese kleine Welt drehte; Hof und Regierungsbehörden blieben noch bis zur Jahrhundertmitte die wichtigsten Arbeitgeber der Stadt.

Ludewig I. leitete die notwendige Modernisierung der «überkommenen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen» ein, erwarb sich durch großzügige Schenkungen und ein «aktives kulturelles Engagement»[37] einen Ruf als Förderer der Wissenschaften und Künste und schnitt auch als Persönlichkeit, zumal im Vergleich mit seinem Sohn und Nachfolger Ludwig II., in der öffentlichen Meinung gut ab. Dennoch kam es schon unter seiner Regentschaft zu heftigen politischen Auseinandersetzungen um stärkere Beteiligung und Mitbestimmung des liberalen Bürgertums an allen Entscheidungen von öffentlichem Interesse und zum Widerstand entschlossener Demokraten gegen das «halbabsolutistische Zwangsregime»[38].

Ein Bündnis mit der sozialen Protestbewegung mochten die meisten bürgerlichen Oppositionellen nicht eingehen, gerade weil hier ein im Ernstfall weder kalkulier- noch dirigierbares Gewaltpotenzial zu schlummern schien. Bei sinkenden Reallöhnen war der Lebensstandard der niedrigen Einkommensgruppen stetig zurückgegangen. Bedingt durch die Rückständigkeit der Wirtschaftsproduktion hatte die Entwicklung des Arbeitsmarkts mit der Bevölkerungszunahme nicht Schritt halten können; Massenarbeitslosigkeit war die Folge. Besonders in den ländlichen Gebieten fristeten Kleinbauern und eigentumslose Tagelöhner, insgesamt nahe an 50 Prozent der Bevölkerung, ein kümmerliches Dasein, oftmals unter dem Existenzminimum. Die Verfassung von 1820 erfüllte «die Reformbedürfnisse und -wünsche nur zu einem geringen Teil»[39]. Sie sicherte der Regierung die Staatsgewalt und räumte dem Landtag, einem Zwei-Kammern-Parlament, marginale Rechte ein; das komplizierte mehrstufige Wahlverfahren legte die Abgeordnetenwahl zur Zweiten Kammer, wie Friedrich Ludwig Weidig kritisierte, «in die Hände der Geld- und Schollen-Aristokratie»[40].

Die Neuorganisation der staatlichen Verwaltung ab 1803 schuf zahlreiche neue Ämter und Ressorts und ließ die Beamtenschaft unverhältnismäßig anwachsen. Ihre Anzahl ist Legion, heißt es 1834 im Hessischen Landboten: Staatsräte und Regierungsräte, Landräte und Kreisräte, Geistliche Räte und Schulräte, Finanzräte und Forsträte u.s.w. mit allem ihrem Heer von Sekretären u.s.w.[41] Zumal in Darmstadt lag der Anteil pensionierter Staatsdiener an der Bevölkerung in diesen Jahren so hoch wie niemals wieder: «Pensionopolis»[42] war ein damals umlaufender Spottname für die Residenz. «Sozial bedenkliche Erscheinungen», wie sie sich «in den industriell stärker entwickelten Städten bereits damals abzeichneten», blieben den Darmstädtern noch auf Jahrzehnte unbekannt[43]; besser ging es im Großherzogtum wohl nur noch den Einwohnern von Gießen und Mainz. Die Abstinenz von der Tagespolitik wurde durch die erträgliche materielle Situation des Bürgertums begünstigt. Statt zu politisieren, suchten die gebildeten Residenzler Entspannung und Ablenkung vom Tagesgeschäft in der Sicherheit und Abgeschiedenheit ihrer Familien- und Freundeskreise, in Lesekränzchen und musikalischen Soireen. Die Begeisterung für den Freiheitskampf der christlichen Griechen gegen ihre türkischen Unterdrücker (1821–29) und die Solidarität mit den nach dem gescheiterten Aufstand gegen die zaristische Besatzungsmacht zu Hunderttausenden emigrierenden Polen (1830–32) bildeten kleine und nicht sehr verwegene Ausnahmen im sonst demonstrierten Wohlverhalten.

Vermutlich im Herbst 1821 trat Büchner in die soeben gegründete ‹Privat-Erziehungs- und Unterrichts-Anstalt› des Theologen Dr. Karl Weitershausen ein, der Wilhelm Hamm einen «freigeistigen, demagogischen Anstrich» bescheinigte.[44] Das Unterrichtsniveau war erstaunlich: Bereits die achtjährigen Eleven wurden in Geometrie, Geschichte, Physik, Latein, Griechisch und Französisch unterrichtet, und das von morgens bis nachmittags an sechs Tagen in der Woche. Wanderungen, Exkursionen und Besuche des Naturalienkabinetts im Residenzschloss sowie körperliche Übungen (Turnen) und «Exerzieren» ergänzten das Programm. «Gehorsam», «Selbstüberwindung», «strenge Ordnung und Pünktlichkeit»[45] galten Weitershausen als oberste Erziehungsziele.

Ostern 1825 wechselte Büchner zum neuhumanistischen Gymnasium, das vor ihm schon Georg Christoph Lichtenberg, Justus Liebig und Georg Gottfried Gervinus besucht hatten. Latein und Griechisch nahmen hier etwa 40 Prozent der gesamten Unterrichtsstunden in Anspruch, so viel wie Deutsch, Geschichte, Geographie, Arithmetik, Naturkunde, Religion und ‹Enzyklopädie› (eine Einführung in Kunstgeschichte, Philosophie und Philologie) zusammen. Die modernen Fremdsprachen Französisch, Englisch und Italienisch waren freiwillig, Hebräisch nur für angehende Theologen Pflichtfach. Schulleiter war seit 1826 der bei den Schülern beliebte klassische Philologe Dr. Carl Dilthey. Um so auffälliger Büchners respektlose Charakterisierung im ‹Enzyklopädie›-Schulheft vom Winterhalbjahr 1830/31: O du gelehrte Bestie, lambe me in podice.[46]

Rund zehn Jahre verbrachte Büchner auf Weitershausens Privatschule und dem Gymnasium. Bei einem Autor, dessen zur Veröffentlichung bestimmtes Werk in der kurzen Frist seiner drei letzten Lebensjahre entstand, sollte die Frage nach dem, womit er sich als Schüler beschäftigt und auseinandergesetzt hat, nicht vernachlässigt werden. Die Präsenz des Schulwissens ist in allen Schriften Büchners manifest. Vor allem gilt das für Danton’s Tod, dessen Randmotive in breitem Umfang aus dem Stoff des Gymnasialunterrichts bezogen wurden. Zu den Lehrinhalten, die sich im Werk spiegeln, gehört auch die von Büchner so virtuos gehandhabte klassische Rhetorik.

Die Zahl der Wochenstunden, die Büchner zuletzt belegt hatte, lag bei 30, entsprach also etwa dem, was einem heutigen Oberstufenschüler zugemutet wird. Ein Musterschüler war er nicht; Auszeichnungen, sogenannte Prämien (vermutlich Buchgeschenke), bekam er ausweislich der Schulprogramme nie. Seine Leistungen waren nur in Einzelfällen überdurchschnittlich. «In der Schule befriedigte er durch recht mäßige Anstrengung», erinnerte sich ein Klassenkamerad.[47]

Büchners erhaltene Schülerarbeiten, und zwar sowohl die selbständig erarbeiteten Skripten als auch die von Lehrerdiktaten und Lehrbuchvorlagen abhängigen Mitschriften und Aufzeichnungen, stellten «einen einzigartigen Quellenfundus für die Bildungsgeschichte» des Autors dar.[48] Wie Gerhard Schaub nachwies, wendet «schon der Schüler jenes für die spätere dichterische Praxis Büchners so bezeichnende Verfahren der Zitat- und Quellen-Montage an»[49].

Wahrscheinlich im Winterhalbjahr 1829/30 und wohl «aus Anlaß einer rhetorischen Imitationsübung»[50] für das Fach Deutsch entstand der Aufsatz Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer: die freimütigste und eindringlichste, abstrakt pathetischste und, aufgrund der zahlreichen Zitatanleihen (u.a. bei Johann Gottlieb Fichte), am wenigsten originelle von Büchners Schülerarbeiten, zugleich aber ein leidenschaftliches Plädoyer für patriotische Ehre und Pflicht, wie sie nicht nur Sparta und Rom hervorgebracht hätten: […] ich brauche mein Augenmerk nur auf den Kampf zu richten, der noch vor wenig Jahren die Welt erschütterte, der die Menschheit in ihrer Entwickelung um mehr denn ein Jahrhundert in gewaltigem Schwunge vorwärtsbrachte, der in blutigem aber gerechtem Vertilgungs-Kampfe die Greuel rächte, die Jahrhunderte hindurch schändliche Despoten an der leidenden Menschheit verübten, der mit dem Sonnen-Blicke der Freiheit den Nebel erhellte, der schwer über Europas Völkern lag und ihnen zeigte, daß die Vorsehung sie nicht zum Spiel der Willkür von Despoten bestimmt habe. Ich meine den Freiheits-Kampf der Franken; Tugenden entwickelten sich in ihm, wie sie Rom und Sparta kaum aufzuweisen haben und Taten geschahen, die nach Jahrhunderten noch Tausende zur Nachahmung begeistern können.[51]

Im Helden-Tod bewies Büchner zum ersten Mal, dass er jener «Vergötterer der Französischen Revolution» war, als den ihn sein Straßburger Freund Alexis Muston in Erinnerung hatte.[52] Auch außerhalb des Unterrichts machte Büchner aus seinen Sympathien keinen Hehl. Sein Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit war alles andere als unauffällig und nicht ohne Provokation. Mit einem «enthusiastischen Freund» tauschte er den republikanischen Gruß «Bon jour, citoyen»[53], und nach Wilhelm Büchners Erinnerung trug er in Darmstadt zu seinem «Polen-Rock» sogar eine «rote Jakobiner-Mütze»[54], das heißt die auch in Gießen von Teilen der Burschenschaft adaptierten Insignien der Freiheitsbewegung seit 1830. Es blieb nicht nur bei der Geste: Bot bereits einem unter den etwa fünfzehnjährigen Gymnasiasten gegründeten literarischen «Primanerzirkel» der «residenzliche Kulturboden» Anlass und «ergötzlichen Stoff zu allerlei kritischem und humoristischen Wetteifer in Beurteilung der Zustände»[55], finden sich dann in Büchners letztem Schulheft von 1830/31 neben Notizen über graphische Techniken und zur Handschriftenkunde heimlich hingekritzelte Verse aus dem «Großen Lied» der radikalen Gießener Burschenschaft von 1818: «Auf, die Posaunen erklingen, Gräber und Särge zerspringen, Freiheit steht auf.»[56]

Zum Abschluss eines jeden Schulhalbjahrs gab es am Gymnasium eine dreitägige Schulfeier mit öffentlichen Prüfungen, Preisverleihungen und einem Unterhaltungsprogramm, dessen Höhepunkt deklamatorische Vorträge der Oberstufenschüler bildeten. Aufgrund seiner bemerkenswerten rhetorischen Leistungen ist Büchner gleich zweimal zu solchem Anlass als Redner aufgetreten: doppelte Gelegenheit, sich vor einem größeren Publikum der Residenz, vor Eltern und Verwandten der Schüler und den Vorgesetzten der Lehrer, öffentlich zu äußern. Mit Rückgriff auf eine Reihe von Aufsätzen zum Thema hielt er am 29. September 1830 eine Rede zur Rechtfertigung des Cato von Utica, einer antiken Symbolgestalt für republikanischen Widerstandsgeist und Opfermut.

Erhebliche Brisanz gewann Büchners republikanisches Plädoyer durch die Zeitereignisse: Knapp acht Wochen zuvor hatte die Pariser Juli-Revolution den Bourbonenkönig Karl X. gestürzt, anschließend erhob sich das belgische Volk und erkämpfte binnen vier Wochen seine staatliche Souveränität gegenüber den Niederlanden. Ende August erreichte die Woge der Revolution auch Deutschland, Anfang September erfasste sie Hessen. Im Kurfürstentum, wo Handel und Gewerbe durch Missernten, Teuerungskrisen, wachsende Steuerlasten und wirtschaftliche Stagnation so gut wie lahmgelegt waren, kam es zu lokalen Unruhen, die bald von den Städten aufs Land übergriffen, wo sie vor allem von Kleinhändlern, Gewerbetreibenden, Handwerkern und Bauern getragen wurden. Das vom Niedergang der Wirtschaft, den hohen Abgaben und Zollgebühren weniger stark betroffene mittlere Bürgertum verhielt sich zunächst abwartend und setzte später gegen die zunehmende Militanz der Bewegung Bürgergarden ein.

Nachdem in Kassel am 6. September 1830 wegen einer Brotverteuerung die Bäckereien geplündert worden waren, stürmte in Hanau am 24. September «eine große Menge Volks, mehrenteils aus der niedrigsten Klasse, Handarbeiter, Handwerksgesellen und Lehrburschen»[57], das Lizentamt («Letzte-Hemd-Amt») der Zollstation und verbrannte sämtliche Dokumente mitsamt dem Mobiliar. Am nächsten Tag wiederholte sich der Vorgang an der kurhessischen Zollstätte zwischen Hanau und Frankfurt. In der Nacht vom 25. auf den 26. September erfasste die Revolte auch standesherrliche Gebiete des Großherzogtums. Während aus Rheinhessen keine und aus Starkenburg nur vereinzelte ‹Ausschreitungen› gemeldet wurden, kam es im östlichen Oberhessen, wo man in den Grenzbezirken besonders unter den Binnenzöllen litt, zu Szenen wie aus dem Bauernkrieg. Die Erfolge der Aufständischen aus den kurhessischen Nachbardörfern ermutigten die dortigen Bauern und Gewerbetreibenden zu ähnlichen Aktionen. Am Morgen des 29. September 1830, als der noch nicht siebzehnjährige Georg Büchner, beseelt vom Urgefühl für Vaterland und Freiheit[58], seine Verteidigung des Selbstmords des Cato von Utica vortrug, war die Entscheidung über den Ausgang der Insurrektion noch nicht gefallen, das Militär alarmiert, Prinz Emil, ein Bruder des Großherzogs, als Oberkommandierender ins Zentrum des Aufstands entsandt worden. Insgeheim sollen sogar schon Vorbereitungen zur Evakuierung von Hof und Regierung getroffen worden sein.

Die Koinzidenz mit der Tagesaktualität war Zufall, aber sie kam nicht unerwünscht. Wenigstens Büchners Mitschüler begriffen, daß Catos Beispiel «die Jugend begeistern» sollte, «ihm nachzustreben in der hingebendsten Liebe zu der Freiheit, im unversöhnlichsten Haß gegen die Unterdrückung»[59]: Nach Cäsars Siege bei Thapsus hatte Cato die Hoffnung seines Lebens verloren; nur von wenigen Freunden begleitet begab er sich nach Utica, wo er noch die letzten Anstrengungen machte, die Bürger für die Sache der Freiheit zu gewinnen. Doch als er sah, daß in ihnen nur Sklavenseelen wohnten, als Rom von seinem Herzen sich losriß, als er nirgends mehr ein Asyl fand für die Göttin seines Lebens, da hielt er es für das Einzigwürdige, durch einen besonnenen Tod seine freie Seele zu retten. Voll der zärtlichsten Liebe sorgte er für seine Freunde, kalt und ruhig überlegte er seinen Entschluß und als alle Bande zerrissen, die ihn an das Leben fesselten, gab er sich mit sichrer Hand den Todesstoß und starb, durch seinen Tod einen würdigen Schlußstein auf den Riesenbau seines Lebens setzend. Solch ein Ende konnte allein einer so großen Tugend in einer so heillosen Zeit geziemen!

Wenn Büchner abschließend den Vorwurf widerlegt, allein Catos Unvermögen, sich in einer ungewohnten Lebensweise schicklich zu bewegen, habe ihn in den Freitod getrieben, dann erweist sich die wahlverwandte Charakteristik des römischen Stoikers als heimliches Selbstporträt, Ab- und Wunschbild in einem: So wahr auch diese Behauptung klingt, so hört sie bei näherer Betrachtung doch ganz auf einen Flecken auf Catos Handlung zu werfen. Diesem Einwurf gemäß wird gefordert, daß Cato sich nicht allein in die Rolle des Republikaners, sondern auch in die des Dieners hätte fügen sollen. Daß er dies nicht konnte und wollte