Geschichte der Ethik - Gunzelin Schmid Noerr - E-Book

Geschichte der Ethik E-Book

Gunzelin Schmid Noerr

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gunzelin Schmid Noerr, Professor für Sozialphilosophie und Sozialethik an der Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach, verbindet eine historische Darstellung der Ethik mit der systematischen Erörterung wichtiger Begriffe und Argumente. Er erörtert exemplarisch ethische Fragestellungen von Platon und Aristoteles bis zur angelsächsischen Metaethik. Text aus der Reihe "Grundwissen Philosophie" mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 211

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Grundwissen Philosophie

Geschichte der Ethik

von Gunzelin Schmid Noerr

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Wissenschaftlicher Beirat der Reihe Grundwissen Philosophie:Prof. Dr. Hartmut BöhmeProf. Dr. Detlef HorsterProf. Dr. Geert KeilProf. Dr. Ekkehard MartensProf. Dr. Barbara NaumannProf. Dr. Herbert SchnädelbachProf. Dr. Ralf SchnellProf. Dr. Franco Volpi

Alle Rechte vorbehalten© 2006, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., StuttgartReihengestaltung Grundwissen Philosophie: Gabriele BurdeGesamtherstellung: Reclam, DitzingenMade in Germany 2012ISBN 978-3-15-960110-6ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020304-0

www.reclam.de

Inhaltsverzeichnis

Moral und Ethik

Von Sophokles zu Aristoteles – Tragödie und Ethik

Sokrates – Das moralisch Richtige und das Gottgefällige

Platon – Aufstieg aus der Jammerwelt und Rückkehr in diese

Aristoteles – Das Maß des richtigen Handelns

Augustinus – Woher kommt das Böse?

Die britische Aufklärung – Unter Wölfen oder: Selbsterhaltung und moralisches Gefühl

Kant – Verpflichtende Vernunft

Schopenhauer – Mitleid mit der gequälten Kreatur

Marx, Nietzsche, Freud – Die Kehrseite der Moral

Die angelsächsische Metaethik – Was bedeutet »gut«?

Globalisierung und Ethik

Anmerkungen

Kommentierte Bibliografie

Schlüsselbegriffe

Zeittafel

[7]Moral und Ethik

»Euathlos wurde von Protagoras zum Anwalt ausgebildet. Man traf eine großzügige Vereinbarung, nach der Euathlos erst dann und nur dann für sein Studium bezahlen muss, wenn er seinen ersten Fall gewinnt. Zum Ärger von Protagoras, der viel Zeit für die Ausbildung seines Schülers aufgewendet hatte, entscheidet sich dieser jedoch, Musiker zu werden und die Robe an den Nagel zu hängen. Protagoras verlangt daraufhin, dass Euathlos ihn für seine Ausbildung bezahlt. Euathlos aber weigert sich, und so geht Protagoras vor Gericht. So wie Protagoras die Dinge sieht, muss Euathlos, wenn er den Prozess verliert, seine Schulden an ihn zurückzahlen. Aber auch wenn Euathlos gewinnt, muss er bezahlen, da er ja dann seinen ersten Prozess gewonnen hat. Euathlos sieht die Sache etwas anders. Wenn ich verliere, so denkt er, habe ich meinen ersten Prozess verloren und muss, wie der Vertrag es vorsieht, keinen Cent bezahlen. Wenn ich jedoch gewinne, darf Protagoras nicht mehr auf dem Vertrag beharren, so dass ich ebenfalls nicht zahlen muss.«1

Armer Richter! Wenn beide Argumentationsweisen in sich logisch schlüssig sind, dann kann es in diesem Prozess kein gerechtes Urteil geben. Die antiken griechischen Philosophen, von denen diese logische Paradoxie überliefert ist, liebten solche gedanklichen Verwirrspiele, bei denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Aber angesichts dieser Abgründe der Logik sollte man nicht übersehen, dass sich dahinter neben rechtlichen Fragen auch moralische Probleme verbergen. Dies wird deutlich, wenn man sich den Fall nicht als logisches Gedankenspiel, sondern als reale Auseinandersetzung vorstellt.

Dann würden die Beteiligten nämlich Fragen wie diese stellen beziehungsweise beantworten müssen: Wie ernst war die Absicht des Euathlos, den Beruf des Anwalts zu ergreifen? [8] Zu welchem Zeitpunkt hat er sich entschlossen, diese Absicht fallen zu lassen? Hat er seinen Lehrer längere Zeit über seine neue Absicht im Unklaren gelassen oder getäuscht? Hat Protagoras bei Euathlos falsche Erwartungen geweckt? Was verstanden beide ursprünglich unter Euathlos’ »erstem Fall«, und ist dieses Verständnis Bestandteil der Absprache oder nicht? Welche Absicht verfolgte der Lehrer mit dem Arrangement des Erfolgshonorars? Wenn seine Kunst darin besteht, den nächstbesten Fall ganz unabhängig davon zu gewinnen, worum es inhaltlich geht, ist dann nicht diese Kunst selbst moralisch fragwürdig? Geschieht ihm dann vielleicht Recht, wenn er sein Honorar nicht bekommt?

Beim juristischen Streitfall und der richterlichen Entscheidung kommt es darauf an, was bewiesen wird oder was zumindest als plausibel angenommen werden kann und unter welche Gesetze die so rekonstruierten Vorgänge fallen. Die moralische Frage bezieht sich dagegen darauf, was wir von unseren Mitmenschen oder was diese von uns berechtigterweise erwarten können. Und es geht auch darum, was wir selbst von uns erwarten, wie wir uns selbst sehen, wie wir leben wollen. Das Recht stellt also ein äußeres Gebot dar, das im Zweifelsfall, wenn auch nicht immer erfolgreich, durch Polizei und Gerichte durchgesetzt werden kann. Demgegenüber wirkt das Moralische, wenn es denn wirkt, als innere Orientierung. Im Konfliktfall erscheint es als inneres Gebot, das nicht mit äußeren Zwangsmitteln durchgesetzt wird, sondern sich als Stimme des Gewissens Gehör zu schaffen versucht. Obwohl das Moralische bisweilen als von außen an uns herangetragene Pflicht erscheint, wird die Erfüllung dieser Pflicht nur dann als eigentlich moralisch angesehen, wenn sie freiwillig erfolgt und gefühlsmäßig bejaht wird. Wir sollen das, was wir sollen, auch wollen.

Moralische Bewertungen fließen in die alltäglichen Auseinandersetzungen oft unbemerkt ein. Sie kommen in begrenzten Feststellungen (»Du kannst nicht eine Arbeit in Rechnung stellen, die du nicht geleistet hast«), eher selten auch als [9] moralische Regeln begrenzter Reichweite (»Betrug ist nicht erlaubt«) zu Wort. Wird dagegen über Gut und Böse, richtiges und falsches Handeln grundsätzlicher nachgedacht und versucht man, moralische Annahmen ausdrücklich festzuschreiben, dann geht man – der diesem Buch zugrunde liegenden Definition zufolge – von der Moral zur Ethik über. Ethik ist eine Form der Kommunikation, in der Lebensverhältnisse hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Chancen, Beeinträchtigungen und Verpflichtungen verglichen und bewertet werden. Ethische Prinzipien tauchen auch schon im Alltag auf, insbesondere in Form der so genannten goldenen Regel (»Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu«), aber auch in Form von Standesregeln und berufsethischen Kodizes. Ethiktheorien versuchen, moralische Normen und Werte mit Gründen und Prinzipien abzustützen oder problematische Ansichten darüber zu widerlegen. Während also Moral eine individuelle und gesellschaftliche Praxis darstellt, ist Ethik eine Theorie dieser Praxis.

Dementsprechend wird in diesem Buch unter »Ethik« in Übereinstimmung mit dem heute vorherrschenden Sprachgebrauch die Philosophie der Moral verstanden, wobei »Moral« nicht nur den engeren Bereich des unbedingten Sollens, sondern auch den weiteren des Strebens nach einem gelingenden Leben umfasst. Die Ethik als philosophische Disziplin befasst sich analysierend und wertend mit den moralischen Normen und Werten des menschlichen Handelns, vor allem mit ihren Begründungen, ihren Prinzipien und ihren Anwendungen.

Es gibt allerdings auch andere Bestimmungen der Ausdrücke »Ethik« und »Moral«. Dies kann, wenn man die Unterschiede übersieht, durchaus zu Verwirrungen führen. Einige Philosophen verwenden beide Ausdrücke gleichbedeutend – dies entspricht überwiegend dem alltäglichen Sprachgebrauch. Andere machen sich den sprachlichen Unterschied inhaltlich zunutze. Beispielsweise wird »Ethik« manchmal (in Anlehnung an die vorherrschende Thematik der antiken Ethik) als [10] Lehre vom wesensgemäß gelungenen Leben verstanden, während »Moralphilosophie« (in Anlehnung an die vorherrschende Thematik der modernen Ethik) die Lehre von der Gerechtigkeit im Interessenausgleich bezeichnet. Oder »Moral« beschreibt das in einer Gesellschaft üblicherweise Gesollte, während »Ethik« den moralischen Reflexions- und Entscheidungsprozess meint, mit dem Individuen sich auch gegen eine herrschende Moral abgrenzen können (für diese Gegenüberstellung werden auch die Begriffe »Sittlichkeit« und »Moralität« verwendet). Oder gerade umgekehrt wird unter »Ethik« der Bereich der konkreten kulturellen Orientierung und individuellen Entscheidung verstanden, während »Moral« sich auf grundsätzliche Fragen der Legitimität der Handlungsorientierungen bezieht.

Solche Unterscheidungen setzen aber immer schon bestimmte inhaltlich-theoretische Festlegungen voraus. Eine Geschichte der Ethik, die es mit einer Zeitspanne von zweieinhalbtausend Jahren und entsprechend unterschiedlichen Kulturen, Individuen und Theorien zu tun hat, verwendet dagegen sinnvollerweise einen Ethikbegriff, der möglichst wenig inhaltlich vorbestimmt ist, um sich den Blick auf die jeweils dargestellte Ethiktheorie nicht durch vorgefasste Kategorien zu verstellen.

»Ethik« in der allgemeinen Bedeutung von »Moralphilosophie« entspricht auch der geschichtlichen Herkunft dieser Begriffe selbst. Als philosophische Disziplin wurde die Ethik innerhalb des abendländischen Denkens zum ersten Mal von Aristoteles (ca. 384–322 v. Chr.) abgegrenzt und benannt, wobei er Sokrates (ca. 469–399 v. Chr.) als denjenigen bezeichnete, der sich als Erster (im Unterschied zu den vorsokratischen Naturphilosophen) mit dem Wesen des »Ethischen« (tà ethiká) beschäftigt habe. Aristoteles verwendete das Adjektiv »ethisch« (ethikós) entweder im Zusammenhang mit einem Substantiv (er sprach von ethischer Tüchtigkeit, ethischer Abhandlung) oder auch als substantiviertes Adjektiv (das Ethische). Schon Sokrates und [11] Platon (ca. 427–347 v. Chr.) bevorzugten diese Sprachform (»das Fromme«, »das Schöne«, »das Gerechte«), um den Blick auf das Wesen der Sache zu lenken und von allen zufälligen Besonderheiten zu abstrahieren. Das Adjektiv »ethisch« gehört sprachlich zum Substantiv »Ethos«, das im Griechischen zunächst die Grundbedeutung der Wohnstätte und, davon abgeleitet, zwei weitere Bedeutungen hatte: Gewohnheit/Sitte/Brauch und Charakter/Tugend. Unter »Ethos« wird seither die (einigermaßen verlässliche) Regelung von Grundverhaltensweisen der Menschen zueinander und zu ihrer Umwelt verstanden. Durch das Ethos als Lebensform werden die wechselseitigen Verhaltenserwartungen zu relativ dauerhaften Einstellungen geformt.

Eine Geschichte der Ethik kann angesichts des begrenzten Umfangs – dies ist fast überflüssig zu sagen – keineswegs beanspruchen, auch nur alle »klassischen« Autoren zu behandeln, ja sie kann nicht einmal die ethischen Ansichten der jeweils behandelten Autoren im Ganzen wiedergeben. Während die meisten Ethikgeschichten einen (dann doch allzu knappen) Überblick über die jeweiligen Ansätze geben, verfolgt das vorliegende Buch vor allem den Zweck der Einführung. Sich in philosophisches Denken einführen zu lassen heißt aber weniger, Denkresultate zur Kenntnis zu nehmen, als sich mit ausgewählten Gedanken und Argumentationsweisen auseinander zu setzen. Deshalb habe ich mich für ein exemplarisches Verfahren entschieden. Das heißt, aus der Fülle der Ethiktheorien wurden einige Gedanken herausgegriffen, die als charakteristisch für den jeweiligen Autor und seine Epoche gelten können und über ihre Zeit hinaus bis heute gewirkt haben. Die Kriterien dieser Auswahl sind nicht allein objektiv zu rechtfertigen, ein subjektiver Anteil daran ist unleugbar, aber, wie ich hoffe, auch nicht nachteilig. Die Verweise auf den jeweiligen geschichtlichen Kontext, in dem ein ethischer Ansatz zu verorten ist, mussten aus Umfangsgründen auf ein Minimum reduziert werden. Auch habe ich mich auf das abendländische ethische Denken beschränkt. [12] Außereuropäische Ethiken vom Kodex des Hammurabi bis zu Gandhis Satyagraha-Lehre mussten ganz außer Betracht bleiben. Schließlich endet die vorliegende Geschichte der Ethik auf vielleicht etwas willkürlich anmutende Weise in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Versteht man jedoch unter »Geschichte« das Vergangene, dann kann man das, was seither die moralphilosophischen Diskussionen bestimmt, zur »Gegenwart« der Ethik zählen.

Willkürlich, wenn auch unvermeidlich, ist ein solcher Einschnitt allerdings auch insofern, als sich Geschichte und Gegenwart in der Philosophie anders zueinander verhalten als in den Wissenschaften. Philosophische Fragen, zumal die der Ethik, erledigen sich zumeist nicht ein für alle Mal, es gibt hier, ähnlich wie im Bereich des Ästhetischen, keinen geradlinigen Fortschritt, vielmehr eine erstaunliche Kontinuität der Diskussion. Im geschichtlichen Abstand erscheint zwar auch manches zeitgebunden und überholt, anderes aber aktuell wie je. Auch das Vergessen und die Rückschritte hinter einmal Erreichtes gehören zur Geschichte der Ethik. Die in der Wissenschaftsgeschichte übliche Differenzierung in gesicherte Erkenntnis und historische Irrtümer wäre im Fall der Ethik selbst ein Irrtum. Die strikte Entgegensetzung von geschichtlichen und systematischen Fragen ist in der Philosophie unangemessen. Vielmehr sind beide Aspekte untrennbar. Philosophiegeschichtliche Darstellungen müssen sowohl die Voraussetzungen und Motive der dargestellten geschichtlichen Personen wie auch die philosophischen Fragen der Gegenwart im Auge behalten. Philosophie ohne Philosophiegeschichte verliert den breiten Horizont ihrer Fragemöglichkeiten aus dem Blick, während Philosophiegeschichte ohne Philosophie steril bleibt.

Das bedeutet, dass Philosophiegeschichte auch von der systematischen Erörterung des jeweils Dargestellten lebt. Philosophie war und ist eine vielstimmige Diskussion über Orte und Zeiten hinweg, und dazu gehören unabdingbar das Kommentieren, Auslegen, Kritisieren. Indessen musste ich auch [13] diesen notwendigen Anteil im Rahmen einer knappen Einführung in die Geschichte der Ethik stark beschränken. Im Vordergrund steht neben zeitgenössischer oder späterer Kritik der dargestellten Ansätze ihr bis heute wirksames Anregungspotenzial.

[14]Von Sophokles zu Aristoteles – Tragödie und Ethik

Eine junge Frau trauert um ihre beiden Brüder, die im Kampf getötet wurden. Das ist ein Unglück, aber nichts Außergewöhnliches in einer Zeit, in der Kämpfe und Kriege an der Tagesordnung sind. Was diesen Fall zu einem besonderen macht, sind seine familiären, rechtlichen und moralischen Umstände. Die beiden Brüder haben sich nämlich gegenseitig im Zweikampf erschlagen, der eine als Herrscher, der seine Stadt gegen ein angreifendes Heer verteidigte, der andere als Anführer dieses Heeres, der mit seinem Feldzug seinen vermeintlich rechtmäßigen Herrschaftsanspruch über die Stadt erzwingen wollte. Nach dem Tod ihres Anführers waren die Angreifer abgezogen. Inzwischen hatte nach den Regeln der Erbfolge der Onkel der getöteten Brüder die Regentschaft übernommen. Als erste Amtshandlung ließ der neue König den Leichnam des Verteidigers der Stadt ehrenvoll begraben. Zugleich verhängte er ein Verbot, den Leichnam des Angreifers zu bestatten, weil dieser sich des Landesverrats schuldig gemacht hatte. Der Leichnam sollte, als Ausdruck der höchsten Strafe über den Tod hinaus, auf freiem Feld verwesen. Die Schwester der beiden getöteten Brüder beschließt nun allerdings, sich trotz drohender Todesstrafe nicht an den königlichen Erlass zu halten und den geächteten Bruder zu begraben.

Dies ist die unmittelbare Vorgeschichte zur Handlung der Antigone, der Tragödie des Sophokles (ca. 496–406 v. Chr.), die in Athen im Jahre 442 oder 441 v. Chr. aufgeführt wurde. Die Handlung ist eine höchst kunstvolle, freie Verarbeitung von Elementen der mythischen Überlieferung unterschiedlicher Herkunft. Sie stellt das Ende der mehrere Generationen umfassenden, fluchbeladenen Geschichte eines [15] Herrschergeschlechts dar, einer Geschichte, die von Verblendung, (Selbst-)Zerstörung und Leiden gezeichnet ist. Die Tragödie zeigt, wie die Vergangenheit gleichsam zeitlos in der Gegenwart wiederkehrt. Der von Sophokles auf die Bühne gebrachte tragische Konflikt zwischen Kreon, dem neuen König der Stadt Theben, und seiner Nichte Antigone entzündet sich an unterschiedlichen rechtlich-moralischen Deutungen. Kreon folgt dem Brauch, dem Hochverräter die Bestattung in heimatlicher Erde zu versagen, verletzt aber mit seinem absoluten Bestattungsverbot, das er zum Prüfstein für die Akzeptanz seiner Herrschaft macht, die religiöse Vorschrift, die eine Bestattung wenigstens außerhalb der Stadtgrenzen geboten hätte. Antigone entspricht in ihrem Handeln der religiös-familiären Pflicht, widersetzt sich aber dem königlichen Verbot und stellt sich darüber hinaus – was allen gesellschaftlichen Erwartungen der damaligen Zeit widerspricht – als Individuum außerhalb der Gemeinschaft, als Frau gegen den Mann und als junger Mensch gegen den alten. Antigone handelt im vollen Bewusstsein ihres »frommen Frevels«1, das heißt des moralisch motivierten Rechtsbruchs, offen provokativ. Sie wird verhaftet und von ihrem Onkel zum Tode verurteilt. Ihr Verlobter, Kreons eigener Sohn, setzt sich bei diesem vergeblich für sie ein. Sie erhängt sich, und Kreons Sohn folgt ihr verzweifelt in den Tod. Als Kreons Gattin davon erfährt, bringt sie sich ebenfalls um. Kreon bleibt klagend zurück.

Kreon vertritt mit seinem Starrsinn die patriarchalische Staatsräson, aufgrund deren das politische Verbrechen ohne Ansehen der Person, aber auch mit überzogener Härte geahndet wird. Dagegen verkörpert Antigone das Gesetz der Familiensolidarität, darüber hinaus die Idee eines Verzeihens, das auf Bestrafung verzichtet, einer Liebe, die den Hass überwindet, eines Staates, in dem das politische Handeln nicht gegen allgemein menschliche, zivilisatorische Gebote verstoßen darf. Die gegensätzlichen Standpunkte werden in der Tragödie Schritt für Schritt argumentativ entwickelt, wobei [16] jeder Überzeugungs- und Versöhnungsversuch im Streit endet und umso tiefer ins Verhängnis führt. Am Ende freilich erweist sich Antigones Auffassung als die richtigere. In der dramatischen Aufklärung über Verblendung und Starrsinn, Moral und Gesetz ist die Antigone, exemplarisch für die griechische Tragödie des 5. Jahrhunderts, gleichsam eine ethische Veranstaltung. Als Antigone ihre Schwester um Hilfe für ihr Vorhaben bittet, bemerkt sie: »Bald wirst du zeigen können, / ob du wohlgeboren bist oder bei edler Abstammung schlecht.«2 Und auch für Kreon entscheidet nicht die Abstammung über Bestrafung oder Nachsicht, sondern allein die Befolgung oder Missachtung seines Befehls. Aber während sein Befehl seine äußere Machtausübung befestigen soll, folgt Antigone dem inneren Befehl ihres Gewissens.

Ihren Ausgang nimmt die Antigone – und das gilt für die antike Tragödie überhaupt – bei der Beschränktheit des menschlichen Blicks, dem Irrtum, dem Hochmut gegenüber den Göttern. In den Lebensläufen der todesmutigen Helden, die in den Tragödien besungen wurden, drückte sich das Ausgeliefertsein des Menschen an das unausweichliche Schicksal aus. So werden die menschlichen Entscheidungen in ihrer unheilvollen Verstrickung von widerstreitenden Leidenschaften und sittlichen Mächten vorgeführt und damit stellvertretend für die Zuschauer erfahrbar gemacht. Aristoteles hat dann später, im 4. Jahrhundert, für diese mögliche Wirkung der Tragödie den medizinischen Begriff der »Katharsis« (Reinigung) verwendet. Der Zweck der Tragödie ist es demnach, bei den Zuschauern durch die Erregung von Jammer und Schauder beziehungsweise Schrecken und Rührung eine Läuterung der Leidenschaften und Befreiung von den Leidenschaften herbeizuführen.

Die Kunstform der Tragödie entstand in Athen zu Beginn des 5. Jahrhunderts, und zwar im Zusammenhang mit den etwa zwei Generationen zuvor eingeführten glanzvollen Festen zu Ehren des Gottes Dionysos, die aus sehr viel älteren ländlichen Kulten hervorgegangen waren. Dionysos war ein Gott [17] der Erde, der Fruchtbarkeit und des Rausches. Jährlich wurden in der Stadt an mehreren Tage burleske Umzüge veranstaltet, bei denen die Festgemeinde sich durch Verkleidung, Masken, Tanz und Wechselgesang mit einem Vorsänger als Begleiter dieses Gottes darstellte. Die Wechselgesänge wurden zunehmend diffiziler ausgestaltet, andere handelnde Personen kamen hinzu, so dass ein fester Aufführungsplatz erforderlich wurde. Der Gott Dionysos hatte, wie alle griechischen Götter, zwei Seiten, eine heitere und eine schreckliche. Er war nicht nur der in späteren Zeiten verharmloste heitere Gott des Weines, sondern auch der der entfesselten Leidenschaften und des Todes. Teilweise wurde er auch mit Hades, dem Gott der Unterwelt, gleichgesetzt.

Die Tragödienaufführungen des 5. Jahrhunderts sind nicht denkbar ohne die bürgerliche Urbanität, die im Athen jener Zeit aufblühte. Während die epischen Gesänge, etwa die des Homer im 8. Jahrhundert v. Chr., an den Fürstenhöfen vorgetragen worden waren, waren die Zuschauer der Tragödiendichter vor allem die Handwerker und Händler der Stadt. Seit dem Ende des 6. Jahrhunderts hatten sich hier und im attischen Umland politische Strukturen entwickelt, durch die breite bürgerliche Schichten am politischen Entscheidungsprozess beteiligt wurden. Die politische Gleichheit der freien Bürger – sie umfassten freilich nur einen Bruchteil der Bevölkerung, ausgeschlossen waren unter anderem durchreisende oder ansässige Fremde, Frauen und Sklaven – machte Argumentationen notwendig, um zu tragfähigen Beschlüssen zu kommen. In den Kriegen der griechischen Städte gegen die Perser stieg Athen, nach dem entscheidenden Sieg im Jahre 479, sozusagen über Nacht zur griechischen Hegemonialmacht auf. Die Bürger von Athen entwickelten andere Verhaltensmuster, als sie unter der monarchischen oder aristokratischen Vormundschaft üblich waren. Es ging nun im Leben der Polis (des Stadtstaates) um den Austausch von Meinungen und Gegenmeinungen, um Einwände und Stellungnahmen, Anträge und gemeinsame Beschlüsse. So entstand [18] der Begriff der Politik (tà politiká: die Polis-Angelegenheiten). Die für politische und moralische Entscheidungen erforderlichen Orientierungen, Werte und Normen konnten nicht mehr allein aus den gesungenen Mythen über die göttliche Abkunft der Helden, ihre ruhmvollen Taten und ihren Untergang bezogen werden. Die traditionellen Mythen lebten im Volk immer noch weiter, wurden nun aber durch die argumentative Auseinandersetzung über die gegensätzlichen Standpunkte überformt. An der dramatisierten Darstellung wurde das neue, individuelle und kollektive Selbstbewusstsein erprobt. Die Tragödie, die die schicksalhafte Wirkung der mythischen Kräfte vorführt, untergräbt diese zugleich durch die sprachliche Praxis ihrer Darstellung. Im Bewusstsein seiner Ohnmacht und seines Ausgeliefertseins artikuliert sich das Subjekt, das sich damit schon ein Stück weit von den mythischen Mächten befreit.

In den als Dichterwettkämpfen gestalteten Tragödienaufführungen rückten die zuvor an den dionysischen Umzügen unmittelbar Beteiligten nun in die Rolle von Zuschauern. Während die alten Kulthandlungen die dionysischen Leidenschaften nicht nur ausdrückten, sondern durchaus anstachelten, entstand hier eine eher dämpfende, auf Reflexion abzielende Gegenbewegung. Dieses Resultat stellte sich aber keineswegs immer ein. Das macht verständlich, warum Platon, eine Generation vor Aristoteles, die Tragödie noch ganz anders als dieser bewertete. Ausgehend von derselben Vorstellung der Beherrschung der Leidenschaften durch die Vernunft, die dann auch Aristoteles leitete, verdammte Platon, der selbst als Tragödiendichter begonnen hatte, die Tragödie wegen der Ansteckungsgefahr, die von den vorgeführten maßlosen Leidenschaften ausgeht. (Noch heute bewegt sich die Wirkungsforschung in Bezug auf mediale Gewaltdarstellungen zwischen den beiden Hypothesen der Affektabfuhr und der Nachahmung.) In seinem Entwurf eines idealen Staatswesens wurden deshalb Tragödienaufführungen wie auch Musik und Kunst zum großen Teil ausgeschlossen. [19] Besonnenheit, Maßhalten, Rationalität, Einsicht waren noch allzu labile Leitbilder, um den entfachten Leidenschaften in jedem Fall standhalten zu können.

In den Tragödien wurde der Mensch als in seinen Entscheidungen frei, aber zugleich beherrscht von schicksalhaften Mächten dargestellt. Wenn nun die ethische Auseinandersetzung mit der selbst verschuldeten Unmündigkeit mehr will als ein demütiges Insichgehen, wenn sie nämlich auf die Unterordnung der mythischen Mächte unter die Selbstverfügung des Subjekts zielt, dann geht auch das tragische Weltverständnis zu Ende. Genau diesen Anspruch vertrat nun die seit der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. aufkommende philosophische Ethik der Sophisten (das bedeutet »Kenner«, »Meister«) sowie des Sokrates und Platons. Diese Zeit gilt als die Epoche der griechischen Aufklärung. Die Sophisten zogen im Land umher und vermittelten gegen Geld praktisch verwertbare Bildung, Redekunst und politisch-rechtlichen Beistand. Aufklärer waren sie, weil sie die überkommenen Vorstellungen des Wahren und Guten nicht unbefragt hinnahmen und die Bedingungen der menschlichen Erkenntnis selbst zum Gegenstand von Erkenntnis machten.

Vor allem durch die Kritik Platons erhielt der Ausdruck »sophistisch« eine abwertende Bedeutung. Platon warf den Sophisten die Kommerzialisierung der Lehre und anmaßende Vielwissererei vor. Dennoch ist es das unbestreitbare Verdienst der Sophisten, dass sie die philosophische Kritik der Erkenntnis und der Moral vorbereitet und die für die gesamte vormoderne Ethik zentrale Frage aufgeworfen haben, worin ein glückliches Leben besteht. Die Sophisten gingen von der Verschiedenheit und Veränderlichkeit der menschlichen Sitten aus und zogen daraus unterschiedliche Schlussfolgerungen. Protagoras (ca. 485–415 v. Chr.), der Bedeutendste unter ihnen, vertrat einen Relativismus, nach dem alle Wahrheit und aller Wert vom je Einzelnen abhängen sollte. »Aller Dinge Maß ist der Mensch, derer die sind, daß sie sind, derer die nicht sind, daß sie nicht sind.«3 Gegenüber der Religion [20] vertrat er einen agnostischen Standpunkt (die Götter sind unerkennbar); einem Prozess wegen Gottesleugnung entzog er sich durch Flucht aus Athen.

Die zuvor im Mythos und in der Tragödie durch die Götter ausgedrückte Unverfügbarkeit des Lebens wurde nun immer mehr als menschengemachte erkannt. Das eröffnete den Menschen die Chance zur Emanzipation vom unverfügbaren Schicksal, bürdete ihnen aber auch auf neuartige Weise Verantwortung und Schuld auf. Die tragische Schuld bestand oft in einer objektiven Verletzung göttlicher Gesetze, gegen die der Handelnde ohne Wissen, ja aufgrund göttlicher Fügung verstoßen hatte. Der bekannteste Fall dieser Art ist der des Ödipus, des Vaters von Antigone, der ohne Wissen und subjektive Schuld Vatermord und Inzest begeht und dafür büßen muss. Durch die Ethik, insbesondere aber durch Sokrates, wird die Schuld subjektiv und damit prinzipiell vermeidbar.

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900) hat deshalb in seiner Geburt der Tragödie, formuliert in der Terminologie des 19. Jahrhunderts, Sokrates als »das Urbild des theoretischen Optimisten«4 bezeichnet und dem »Pessimismus« des Weltbildes der Tragödie entgegengesetzt. Sokrates wirft er vor, als Vertreter eines neuen Moralismus die ältere Tragödie schon nicht mehr verstanden zu haben und mit seiner Vernunftethik, die aus Schwäche, aus dem Niedergang der griechischen Kultur entstanden sei, über die tragische Grundverfassung des Lebens einen Schleier der Illusion vom erreichbaren Glück gedeckt zu haben. Nietzsche denkt kompensatorisch: Das starke Leben der griechischen Frühzeit hatte aus überströmender Gesundheit heraus eine intellektuelle Vorliebe für die schrecklichen Seiten des Daseins, während in der Verfallszeit dieser Kultur die Heiterkeit des Daseins, das Vertrauen in den Nutzen der theoretischen Erkenntnis und der Trost der Ethik entwickelt wurden. Nietzsche kämpft gegen den im 19. Jahrhundert verbreiteten illusionären Fortschrittsoptimismus. Dabei fließt seine Zeitkritik teilweise allzu sehr [21] mit seinem Sokrates-Bild ineinander. Dennoch bleiben an seiner Einschätzung der griechischen Moral und Ethik mindestens zwei wichtige Einsichten bedeutsam:

Nietzsche hat in seiner Genealogie der Moral als Erster auf die geschichtliche Herkunft der ethischen Begriffe »gut« und »böse« aus den herrschaftsstrukturellen Begriffen »gut« und »schlecht« hingewiesen. Das Wort »gut« (agathós) bezeichnet zur homerischen Zeit die Qualitäten eines aristokratischen Kriegers, also zum Beispiel Tapferkeit, Schlauheit, Durchsetzungsfähigkeit. So wird von einem Heerführer erwartet, dass er sich gegebenenfalls eine Sklavin raubt, und wenn ihm davon abgeraten wird, dann obwohl (nicht weil) er agathós ist. »Schlecht« (kakós) bedeutet demgegenüber zunächst die Verhaltensweise des einfachen (»schlichten«) Mannes.

Sokrates und Platon stellen, so Nietzsche, einen Einschnitt in der griechischen (und abendländischen) Entwicklung der Kultur dar, insofern sie das tragische Bewusstsein in Richtung auf ein ethisches Bewusstsein überwinden. Sie stellen den Menschen die Möglichkeit vor Augen, sich durch Teilhabe an einem idealen, ewigen Sein über die unverfügbaren Schicksale, über die Wechselfälle von Unglück und Glück zu erheben. So werden mithilfe der Ethik die Tugendbegriffe von ihren gesellschaftlichen Funktionen abgelöst und zu allgemein menschlichen Qualitäten umgedeutet.

Nietzsche hat im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, entgegen der damals sich durchsetzenden Verwissenschaftlichung von Kultur und Philosophie, nachdrücklich auch auf die enge Verbindung von Philosophie und Lebensform hingewiesen. Dieser Zusammenhang lässt sich an den drei Gründungsvätern der klassischen griechischen Ethik, Sokrates, Platon und Aristoteles, aufzeigen:

Platon, der Lehrer des Aristoteles, berichtet über seinen eigenen Lehrmeister Sokrates, wie dieser von seinen Athener Mitbürgern angeklagt wurde, dass er die Jugend verderbe und neue Götter einführe, wie er deshalb zum Tode verurteilt wurde, wie seine Freunde ihm zur Flucht aus dem Gefängnis [22] verhelfen wollten, wie er dies verschmähte und freiwillig den Giftbecher trank. Aristoteles wurde gegen Ende seines Lebens ebenfalls von einer solchen politisch motivierten Anklage bedroht, aber er zog es vor, rechtzeitig ins Exil zu gehen, damit, wie er sagte, »die Athener sich nicht ein zweites Mal an der Philosophie versündigen«. Wenn man die philosophischen Auffassungen der beiden Männer vergleicht, kann man sich nicht vorstellen, dass sie auch so hätten handeln können wie der jeweils andere. Für Sokrates war Leben und Philosophieren eines, während für Aristoteles Philosophie eher Wissenschaft war, wobei Wissenschaft in der Konsequenz gerade die Trennung von Wissen und Person voraussetzt. Sokrates war davon überzeugt, es sei besser, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun, besser, sich einem ungerechten Urteil zu unterwerfen als sich ihm durch Flucht zu entziehen. Aristoteles fragte demgegenüber, unter welchen Bedingungen einem eine solche Alternative nicht mehr aufgenötigt würde.

Die Philosophie, und damit auch die Ethik, hat in der abendländischen Geschichte – entsprechend einer Einteilung Gernot Böhmes5 – drei Grundformen angenommen: Lebensform, Weltweisheit und Wissenschaft. Diese werden auf eine bis heute gültige Weise durch Sokrates, Platon und Aristoteles verkörpert: