Geschichte des Islam - Gudrun Krämer - E-Book

Geschichte des Islam E-Book

Gudrun Krämer

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Beschreibung

Klar, anschaulich und mit Blick für das Wesentliche erzählt die renommierte Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer die Geschichte des Islam von Muhammad bis zur Gegenwart. Sie verknüpft dabei auf meisterhafte Weise die Entwicklung der Religion mit der Geschichte von Politik, Recht, Gesellschaft und Kultur. Jenseits von romantischen Orientbildern oder modernen Zerrbildern bietet das Buch einen frischen Blick auf den Islam und seine Geschichte. Der Islam war von Beginn an eine weltoffene Religion: Seit der Gründung der ersten Gemeinde durch Muhammad und den frühen Eroberungen stand er im Austausch mit anderen Kulturen. In der arabischen Welt entstand so ein anderer Islam als in Iran, Indonesien oder auf dem Balkan. Das zeigen unterschiedliche Kunststile ebenso wie unterschiedliche Vorstellungen von Recht und gesellschaftlicher Ordnung. Der erstaunlichen Vielfalt des Islam wird Gudrun Krämer auf eindrucksvolle Weise gerecht. Sie erklärt, welche Bedeutung die Kreuzzüge für die islamische Welt hatten, wie der Islam sich in Südostasien verbreitete oder welche verschiedenen Wege der Modernisierung die Türkei und Ägypten gegangen sind. Sie geht aber auch der Frage nach, warum sich ungeachtet der großen Unterschiede in den letzten Jahrzehnten überall in der islamischen Welt religiöse Protestbewegungen gebildet haben.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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GUDRUN KRÄMER

GESCHICHTE DES ISLAM

C.H.BECK

Zum Buch

Anschaulich und mit Blick für das Wesentliche erzählt Gudrun Krämer die Geschichte des Islam von Muhammad bis zur Gegenwart. Sie verknüpft dabei auf meisterhafte Weise die Entwicklung der Religion mit der Geschichte von Politik, Recht, Gesellschaft und Kultur. Jenseits von romantischen Orientbildern oder modernen Zerrbildern bietet das Buch einen klaren Blick auf den Islam und seine Geschichte.

Der Islam war von Beginn an eine weltoffene Religion: Seit der Gründung der ersten Gemeinde durch Muhammad und den frühen Eroberungen stand er im Austausch mit anderen Kulturen. In der arabischen Welt entstand so ein anderer Islam als in Iran, Indonesien oder auf dem Balkan. Das zeigen unterschiedliche Kunststile ebenso wie unterschiedliche Vorstellungen von Recht und gesellschaftlicher Ordnung. Heute befindet sich der Islam in Auseinandersetzung mit dem Westen in einem tiefgreifenden Wandel. Der erstaunlichen Vielfalt des Islam wird Gudrun Krämer auf eindrucksvolle Weise gerecht. Sie erklärt, welche Bedeutung die Kreuzzüge für die islamische Welt hatten, wie der Islam sich in Südostasien verbreitete oder welche verschiedenen Wege der Modernisierung die Türkei und Ägypten gegangen sind. Sie geht aber auch der Frage nach, warum sich ungeachtet der großen Unterschiede in den letzten Jahrzehnten überall in der islamischen Welt religiöse Protestbewegungen gebildet haben.

Vita

Gudrun Krämer ist Professorin em. für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, des Wissenschaftsrats und Mitherausgeberin der Encyclopaedia of Islam Three. 2010 wurde sie mit dem Gerda Henkel Preis ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschienen von ihr u.a. «Geschichte Palästinas» (6. Auflage 2015) sowie «Der Architekt des Islamismus. Hasan al-Banna und die Muslimbrüder» (2022).

INHALT

VORWORT

I: VON DER TRADITION ZUR RELIGION

Arabien um 600

Muhammad, der Prophet

Von Mekka nach Medina

Die Macht des Wortes und die Gewalt des Schwertes

II: EINE GESELLSCHAFT IN BEWEGUNG

Die Nachfolge Muhammads

Aufbruch: Die frühen Eroberungen

Drama und Trauma: Die Frage legitimer Herrschaft

Der Erste Bürgerkrieg

Übergänge: Die Ausformung islamischer Herrschaft

Der Zweite Bürgerkrieg

Die frühen Umayyaden

Nichtmuslime und Neumuslime

Der Sturz der Umayyaden

III: GOLDENE ZEITEN? DIE FRÜHEN ABBASIDEN

Schwarz und weiß: Die Abbasiden und ihre Feinde

Die «abbasidische Revolution»

Harun ar-Rashid und al-Maʾmun

Die Militarisierung der Herrschaft

Religion, Kultur und Wissenschaft

Islamische und rationale Wissenschaften

Religiöse Autorität: Kalif und Religionsgelehrte

IV: EINHEIT UND VIELFALT

Regionalisierung und Autonomisierung

Die schiitische Herausforderung

Von der Imamiyya zur Zwölferschia

Die Ismailiten: Fatimiden, Qarmaten und Nizaris

Abbasiden und Buyiden

Die «türkische Ära»: Karakhaniden, Seldschuken und Kara-Kitai

V: GRENZZIEHUNGEN UND GRENZÜBERSCHREITUNGEN

Muslime und Christen am Mittelmeer

Neuordnung im Maghreb: Banu Hilal, Almoraviden und Almohaden

Al-Andalus: Das muslimische Spanien

Konvivenz und Reconquista

Die Kreuzzüge

Neue Wege, neue Institutionen

Sufismus und Sufi-Bruderschaften

Die Entstehung der Madrasen

Die «Sammlung der Muslime»

VI: NEUE HORIZONTE

Der islamische Osten im Mongolensturm

Dschingis Khan und die Il-Khane

Timur und die Timuriden

Der Islam auf dem indischen Subkontinent

Das Sultanat von Delhi

Das Reich der Großmoguln

Die europäische koloniale Expansion

Der Islam in Südostasien

Der Islam im subsaharischen Afrika

VII: REICHSGRÜNDUNGEN

Das Osmanische Reich

Vom Beylik zum Imperium

Vom tribalen Verband zum vormodernen Staat

Religion und Kultur

Das Safawidische Reich

Von der religiösen Bewegung zur Dynastie

Die Iranisierung der Safawiyya und die Schiitisierung Irans

VIII: REFORM UND UMBRUCH

Imperialer Niedergang und Neubeginn

Der Zerfall des Mogul- und des Safawidenreiches

Dezentralisierung im Osmanischen Reich

Islamische Reform im 18. Jahrhundert

Europäischer Freihandels- und Siedlungsimperialismus

Staatliche Reform im 19. Jahrhundert

Hochimperialismus

Konstitutionelle Bewegung und Revolution

Kulturelle Erneuerung und religiöse Reform

IX: STAATSBILDUNG, ISLAMISMUS UND AUTORITÄRE KONSOLIDIERUNG

Der Erste Weltkrieg und die Neuordnung der nahöstlichen Staatenwelt

Nationalstaat und autoritäre Modernisierung: Das Beispiel Türkei

Staats- und Nationsbildung im arabischen Raum

Zweiter Weltkrieg und Entkolonialisierung

Zwischen Islam und Islamismus

Die iranische Revolution

Islamismus und Islamisierung

Rebellion und autoritäre Konsolidierung

ANHANG

LITERATURHINWEISE

Historische Übersichtsdarstellungen

Kunst und Kultur im Überblick

Sozialgeschichtliche Aspekte (s. auch unten, Sklaverei)

Karten, Handbücher und Enzyklopädien

Arabien und sein Umfeld um 600

Muhammad und die frühislamische Geschichtsüberlieferung

Die Nachfolge Muhammads, Kalifatslehren, monarchische Traditionen (s. auch unten, Schia)

Die frühen Eroberungen

Jihad und Takfir (s. auch unten, Islamismus)

Muslime, Nichtmuslime und Mawali

Die abbasidische Ära

Kultur- und Geistesgeschichte

Die Schia (s. auch unten, Das Safawidische Reich)

Die Buyiden

Türken und die «türkische Ära»

Muslime und Christen am Mittelmeer: Maghreb und al-Andalus

Die Kreuzzüge

Sufismus

Ulama, islamische Wissenschaften und Madrasen

Mongolen und Timuriden

Der Islam auf dem indischen Subkontinent

Europäische Expansion und Kolonialismus

Der Islam in Südostasien

Der Islam im subsaharischen Afrika

Das Osmanische Reich

Das Safawidische Reich (s. auch oben, Schia)

Kulturelle Erneuerung und religiöse Reform

Staatliche Reform, Modernisierung und Widerstand

Sklaverei und ihre Abschaffung

Ethnonationalismus, Erster Weltkrieg und Genozid

Autoritäre Modernisierung: Türkei und Iran

Arabischer Nationalismus

Überblicks- und Ländergeschichten (Mittlerer Osten)

Islam, Islamismus, Salafismus

Iranische Revolution

Arabellion und autoritäre Konsolidierung

REGISTER (BEGRIFFE, NAMEN, ORTE)

Der Islam war von Beginn an eine weltoffene Religion: Seit der Gründung der ersten Gemeinde durch Muhammad und den frühen Eroberungen stand er im Austausch mit anderen Kulturen. In der arabischen Welt entstand so ein anderer Islam als in Iran, Indonesien oder auf dem Balkan. Das zeigen unterschiedliche Kunststile ebenso wie unterschiedliche Vorstellungen von Recht und gesellschaftlicher Ordnung. Der erstaunlichen Vielfalt des Islam wird Gudrun Krämer auf eindrucksvolle Weise gerecht. Sie erklärt, welche Bedeutung die Kreuzzüge für die islamische Welt hatten, wie der Islam sich in Südostasien verbreitete oder welche unterschiedlichen Wege der Modernisierung die Türkei und Ägypten gegangen sind. Sie geht aber auch der Frage nach, warum sich ungeachtet der großen Unterschiede in den letzten Jahrzehnten überall in der islamischen Welt religiöse Protestbewegungen gebildet haben.

Gudrun Krämer war bis zu ihrem Ruhestand Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeberin der Encyclopaedia of Islam Three. 2010 wurde sie mit dem Gerda-Henkel-Preis ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschienen von ihr u.a. «Geschichte Palästinas» (6. Aufl. 2015) sowie «Der Architekt des Islamismus. Hasan al-Banna und die Muslimbrüder» (2022).

VORWORT

Übersichtsdarstellungen sind immer eine Herausforderung, für die Autorinnen und Autoren ebenso wie für ihre Leserinnen und Leser. Die Fragen beginnen mit dem Titel, zumal wenn er so kurz ist, denn was «der Islam» ist, von dem diese «Geschichte» erzählt, versteht sich nicht von selbst. Islam kann ja die im engeren Sinn religiösen Lehren und Kontroversen einer Glaubens-, Kult- und Erinnerungsgemeinschaft beschreiben, die sich binnen kurzer Zeit von einer arabischen «Gemeinschaft der Gläubigen» zu einem islamischen Imperium und schließlich einer Weltreligion entwickelte, die sich gedanklich, sprachlich und kulturell so vielfältig auffächerten wie andere Imperien und Weltreligionen vor und nach ihnen. Von religiösen Lehren und Kontroversen wird auch in diesem Buch die Rede sein, allerdings in erster Linie mit Blick darauf, wie sie auf die Ordnung von Staaten und Gesellschaften wirkten, die in der einen oder anderen Weise als islamisch bzw. islamisch geprägt wahrgenommen wurden. Nicht immer handelte es sich dabei um muslimische Mehrheitsgesellschaften: Über lange Zeit und an unterschiedlichen Orten herrschten Muslime als Minderheit über eine Mehrheit von Nichtmuslimen, die sich in ihrem Denken und Verhalten zu einem gewissen Grad an islamischen Normen orientierten. «Islamisch geprägt» heißt im Übrigen weder von Koran und Sunna, der Prophetentradition, determiniert noch einheitlich und unveränderlich. Es ist im Gegenteil ein Anliegen dieses Buches, die Vielfalt und Wandelbarkeit islamischer Ideen und muslimischer Lebenswelten zu beleuchten, die sich eben nicht geradlinig aus Koran und Sunna oder gar ihrem arabischen Ursprungsmilieu ableiten lassen. Auch die islamische Geschichte kann nur als Beziehungsgeschichte geschrieben werden. Es war der – keineswegs immer gewollte und harmonische – Austausch zwischen Musliminnen und Muslimen unterschiedlicher Herkunft und Orientierung und, nicht weniger wichtig, zwischen Muslimen und Nichtmuslimen ebenso unterschiedlicher Herkunft und Orientierung, der überhaupt erst hervorbrachte, was zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten unter Islam verstanden wurde.

Jede Überblickdarstellung muss selektiv vorgehen. Hier wird der Fokus auf der Region zwischen dem Maghreb und Iran liegen (Naher und Mittlerer Osten, Nordafrika und Vorderer Orient), in denen sich die tragenden Ideen und Institutionen des Islam herausbildeten, wobei Zentral- und Südasien großen Anteil an deren Ausgestaltung hatten. Obwohl die Mehrheit der Musliminnen und Muslime seit Jahrhunderten in Süd- und Südostasien lebt, gehen wichtige Impulse nach wie vor vom Nahen und Mittleren Osten aus, seien es Ideale islamischer Erneuerung, sei es der moderne Islamismus. Noch immer besitzen Palästina und Afghanistan ein höheres Mobilisierungspotenzial als das Schicksal der muslimischen Rohinya in Myanmar, dem früheren Burma.

Für diese Neuausgabe habe ich die «Geschichte des Islam», die erstmals vor annähernd zwei Jahrzehnten erschien, vollständig überarbeitet, Material und Gedanken neu sortiert, je nach Bedarf gekürzt, ergänzt, erklärt und erweitert, Irrtümer korrigiert und die Darstellung, soweit es mir möglich war, an den aktuellen Forschungsstand angepasst. Leserinnen und Lesern der alten Fassung sollte daher manches vertraut, vieles aber neu sein, und zwar nicht nur auf den Seiten, die sich den Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte widmen.

Einige wenige Anmerkungen zu technischen Fragen: Die Wiedergabe arabischer, persischer oder osmanisch-türkischer Namen und Begriffe erfordert Kompromisse. Mit dem Übergang vom Arabischen ins Persische wandeln sich Aussprache und Schreibweise (kurzes u zum Beispiel wird zu o, kurzes i zu e, ḍ zu z und damit Riḍā zu Reza). Dasselbe gilt für den Wechsel vom Arabischen oder Persischen ins Osmanische (Abd al-Majid wird zu Abdülmecid, Khudavendigar zu Hüdavendigar, Uthman zu Osman), und das moderne Türkeitürkisch folgt anderen Konventionen als das Osmanische (so wird zum Beispiel Ahmed zu Ahmet). In Indonesien haben sich ganz eigene Schreibweisen eingebürgert (syariah zum Beispiel für Scharia). Ich habe mich für einen Mittelweg zwischen der halbwegs korrekten Wiedergabe der jeweiligen Schriftform und der aktuellen Schreibweise in deutsch- und englischsprachigen Publikationen und Suchmaschinen entschieden und daher auf Umschriftzeichen verzichtet, die Buchstaben Hamza (ʾ) und Ayin (ʿ) allenfalls innerhalb oder am Ende von Wörtern gesetzt (also Abdallah, Ali oder Umar, die alle mit einem Ayin beginnen, aber Yaʿqub oder Bahaʾ ad-Din), persische Namen in vereinfachter «arabischer» Form wiedergegeben (Isfahan, nicht Esfahan), für bekannte Personen aber die im deutschsprachigen Raum gebräuchlichen Namen gewählt (Abdülhamid nicht Abd al-Hamid, Ismail, nicht Ismaʿil, Khomeini, nicht al-Khumaini). Wo allerdings die deutsche Form stark von der arabischen oder persischen Schriftform abweicht (Hedschas statt Hijaz, Hafis statt Hafez), habe ich Letztere gewählt, zumal sie in anderen europäischen Sprachen regelmäßig verwendet wird. Für die Einordnung im Register schließlich ist der bestimmte Artikel «al-» in all seinen Varianten irrelevant; al-Qahir steht daher unter Q, ar-Rahman unter R und az-Zahir unter Z.

Schwierigkeiten bereiten nicht allein aus Umschriftgründen die geographischen Begriffe: Palästina oder Anatolien bezeichneten in der Geschichte nicht die Territorien, für die sie heute stehen; vor allem in Asien sind nach der Unabhängigkeit viele Orte umbenannt worden; Staaten wie Malaysia, Pakistan oder die Türkei sind überhaupt Schöpfungen des 20. Jahrhunderts. Zugleich können historische Bezeichnungen wie Transoxanien, Khurasan oder Ifriqiya in einer historischen Darstellung nicht entfallen, nur weil sie heute jenseits von Fach- oder islamistischen Kreisen nicht mehr geläufig sind. Um die Orientierung zu erleichtern, habe ich bei Ortsangaben in vielen Fällen «im heutigen» (Libyen, Usbekistan oder Indonesien) hinzugefügt und im Text zwar die gebräuchlichen historischen Ortsnamen verwendet (also Bombay, nicht Mumbai), im Register aber auch die aktuellen Namen genannt. Einfacher macht das die Materie nicht, aber vielleicht zugänglicher.

Berlin, im September 2023Gudrun Krämer

I

VON DER TRADITION ZUR RELIGION

Anfänge faszinieren gerade im Fall der religiösen Traditionen, bilden sie für die Gläubigen doch über Zeit und Raum hinweg zentrale Bezugspunkte für die Gestaltung des eigenen Lebens, Denkens und Empfindens. Für den Islam mit seiner ausgeprägten Orientierung an der Ära des Propheten Muhammad, seiner Familie und Gefährten gilt dies in besonderem Maß. Muhammad hatte als Prophet und politischer Führer nach anfänglichen Schwierigkeiten überwältigenden Erfolg. Sein Weg, der ihn in gut zwei Jahrzehnten von der Berufung und Verkündigung über Widerstand und Emigration, Diplomatie und Kampf zum Triumph führte, inspiriert Musliminnen und Muslime bis heute. Ein überwältigender Erfolg waren die frühen Eroberungen, die in weniger als einem Jahrhundert ein riesiges arabisch-islamisches Reich schufen, und auch sie werden mit einer Mischung aus Stolz und Nostalgie erinnert. Nicht weniger bemerkenswert ist die Tatsache, dass aus den eroberten Gebieten ein islamisches Reich mit kosmopolitischen Zügen entstand, das über Jahrhunderte Bestand hatte. Der Islam ist die einzige Weltreligion, die sich mit weltlichen Erfolgen durchsetzte, bevor sie sich als Religion über die ganze Welt ausbreitete. Wie alles begann, ist daher nicht allein von historischem Interesse.

Die muslimische Tradition schildert die frühislamische Geschichte anschaulich und mit großer Liebe zum Detail. Die kritische Wissenschaft hingegen sieht Muhammad zwar ganz überwiegend als historische Gestalt, sucht aber nach verlässlichen Anhaltspunkten für sein Leben und Umfeld. Narrative Quellen, materielle Zeugnisse und Überreste, die Aufschluss über damalige Lebensverhältnisse, Ereignisse oder gar Sichtweisen geben könnten, sind für Nordwestarabien im 6. und frühen 7. Jahrhundert n. Chr. entweder gar nicht vorhanden oder rar. Der Koran lässt sich mit modernen naturwissenschaftlichen Methoden zwar ins 7. Jahrhundert datieren, ist aber kein Geschichtsbuch. Das Leben Muhammads und der frühen Gemeinde wird daher, ungeachtet aller wissenschaftlichen Bedenken, im Wesentlichen doch aus erzählenden Quellen rekonstruiert, die gläubige Muslime einige Generationen nach dem eigentlichen Geschehen in arabischer Sprache verfassten oder redigierten: der Prophetenbiographie (arab. sirat an-nabi, kurz Sira), die uns in der Fassung von Ibn Ishaq (gest. um 767), bearbeitet von Ibn Hisham (gest. um 833), vorliegt; den überlieferten Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad (Sunna, Hadith); Feldzugsberichten, Annalen und Chroniken und schließlich einer reichen genealogischen, biographischen und geographischen Literatur.

Ihren Grundstock bilden Anekdoten und Berichte aus dem Leben des Propheten und der frühen Gemeinde, «Erzählungen» im unmittelbaren Sinn des Wortes, die wohl erst im 2. Jahrhundert islamischer Zeitrechnung zu einer durchgehenden, chronologisch geordneten Erzählung verarbeitet wurden. Anders ausgedrückt, wurde Geschichte aus Geschichten geformt. Die Anekdoten und Berichte hatten nicht nur den Zweck, das Geschehen als Heilsgeschichte kenntlich zu machen, sondern auch, in den Auseinandersetzungen der eigenen Zeit Position zu beziehen. Sie dienten also nicht allein der religiösen Erbauung der Gläubigen, die den Erzählungen lehrreiche Beispiele und orientierende Rollenvorbilder entnahmen. Verfasst zu einer Zeit, als noch zählte, was genau von einzelnen Personen, Clans und Stammesgruppen berichtet wurde, konstruierten sie eine «für die Gegenwart nützliche Vergangenheit» (Francis Robinson) und spiegelten zugleich, was bestimmte Gruppen erinnern und «vergessen» wollten. Und einzelne Gruppen «erinnerten» und «vergaßen» durchaus Verschiedenes. Gerade ihre Vielstimmigkeit kennzeichnet die muslimische Tradition.

Arabien um 600

Um 600 war die Arabische Halbinsel allenfalls Peripherie bedeutender Kultur- und Wirtschaftsräume im Norden, Osten und Südwesten, wo die beherrschenden Mächte ihrer Zeit, das hellenistisch-christliche Byzanz und die persischen, mehrheitlich zoroastrischen Sassaniden, um Vorherrschaft und Einfluss stritten. Von den Sandwüsten und Wüstensteppen Zentral- und Westarabiens, die nur in den Oasen eine intensivere Siedlung und Kultivierung zuließen, sind allerdings die Randzonen zu unterscheiden: im Norden der Grenzstreifen zu Syrien und Irak, im Osten Oman und die nördliche Küste des Persischen Golfs, im Südwesten Asir, Jemen und Hadramaut. Von «Arabern» berichtet erstmals eine assyrische Inschrift aus dem 9. vorchristlichen Jahrhundert, die Kamelreiter aus der syrischen und der arabischen Wüste als aribi bezeichnet; spätere griechische Quellen sprechen von «Zelt-Arabern» (sarakenoi, Sarazenen), aramäische und persische Texte von tayyaye (abgeleitet von der arabischen Stammesgruppe der Tayy), die Araber selbst von Beduinen (badu). Doch lebten auf der Arabischen Halbinsel neben Nomaden und Halbnomaden auch sesshafte Oasenbauern, Händler und Handwerker. Wie überall waren Hirtennomaden (Kamelhalter, später auch Pferdezüchter), Oasenbauern, Händler und Handwerker aufeinander angewiesen und lebten in einem gewissen Austausch miteinander, wenn auch nicht immer einem friedlichen. Bindungen schuf die gemeinsame arabische Sprache mit ihren verschiedenen Dialekten, die um 600 noch weitgehend mündlich weitergegeben wurde, obgleich schon aus der ersten Hälfte des 4. nachchristlichen Jahrhunderts arabischsprachige Graffiti und Inschriften in verschiedenen Alphabeten erhalten sind.

Altsüdarabien, das «Glückliche Arabien» (Arabia felix) der Antike, war dank des Monsunregens und/oder ausreichenden Grundwassers in großen Teilen fruchtbar, früh und dauerhaft besiedelt und mit Hilfe komplizierter Bewässerungstechniken landwirtschaftlich intensiv genutzt. Es war die Stätte alter Hochkulturen mit eigener Schrift, anspruchsvoller Architektur und einem differenzierten religiösen Leben. Seinen Reichtum verdankte es nicht zuletzt dem Fernhandel, wobei die Weihrauchstraße als eine der bedeutendsten Handelsrouten der Alten Welt um 600 ihre frühere Bedeutung längst eingebüßt hatte. Das sagenumwobene Königreich von Saba war um 250 n. Chr. im Königreich von Himyar aufgegangen, das auch hellenistische Impulse aufnahm. Im 4. Jahrhundert verbreitete sich dort das Christentum, bis 523 König Yusuf (in den arabischen Quellen Dhu Nuwas, «der Gelockte») zum Judentum übertrat und gegen die Christen vorging, die er wohl als Agenten der christlichen Reiche von Aksum (im nördlichen Äthiopien und Eritrea) und Byzanz verstand. Unterstützt von einer kleinen byzantinischen Flotte, besetzten die Aksumiten daraufhin 525 den Jemen. Ihr Feldherr Abraha erklärte sich zum König von Himyar und unternahm in den 550er Jahren verschiedene Vorstöße nach Zentral- und Westarabien, wobei er mit seinen Kriegselefanten bis Mekka und das spätere Medina gelangte. Von einheimischen Gegnern der «Äthiopier» ermuntert, marschierten zwei Jahrzehnte später die Sassaniden im Jemen ein. Kurz darauf brach erneut und dieses Mal für alle Zeit der berühmte Staudamm von Marib.

Auch das syrisch-mesopotamische Grenzland war seit alters in die regionalen Großreiche eingebunden, die sich beinahe unablässig bekriegten. Das Reich der arabischen Nabatäer mit der Hauptstadt Petra und der Stadtstaat Palmyra waren um 600 längst untergegangen. An ihrer Stelle standen arabische Stammesverbände, die in einer Region, die weder einen Limes noch eine Große Mauer kannte, entweder den Byzantinern oder den Sassaniden als Grenzschutz und Puffer dienten. Das arabische Königreich der Lakhmiden mit der Hauptstadt Hira im heutigen Irak war zu einem gewissen Grad von der Kirche des Ostens geprägt, Sitz bedeutender Klöster und ein Zentrum altarabischer Dichtung. Vom monophysitischen Christentum beeinflusst war demgegenüber das Königreich der arabischen Ghassaniden auf dem Gebiet des heutigen Syrien, Jordanien, Israel und Palästina, die Ende des 5. Jahrhunderts als Foederaten in das Byzantinische Reich eintraten. Die Ghassaniden waren nicht sesshaft, besaßen aber feste Residenzen. Zu Beginn des 7. Jahrhunderts verloren die Lakhmiden und Ghassaniden ihre politische Bedeutung, als die Sassaniden Syrien und Palästina besetzten und die Byzantiner im Gegenzug bis in den Irak vorrückten. Was sie nicht verloren, war ihre Rolle als kulturelle Mittler zwischen der arabischsprachigen Bevölkerung diesseits und jenseits der politischen Grenzen.

Die naturräumlichen Gegebenheiten in West- und Zentralarabien – dem Arabia deserta der Antike – ließen Landwirtschaft, Handel und Gewerbe nur in bescheidenem Umfang und konzentriert auf die Oasen zu. Man sollte sich Arabien dennoch weder isoliert noch kulturlos vorstellen. Verwandtschaftliche Beziehungen, Handel, Kultus und die arabische Sprache schufen Verbindungen innerhalb der Halbinsel und über diese hinaus. Sowohl die nomadische als auch die sesshafte Gesellschaft waren tribal, das heißt nach Stämmen, Clans (Sippen) und Familien gegliedert; daher auch die große Bedeutung der Genealogie und ihrer Kenner. Selbst wenn sie, und das war häufig der Fall, nicht auf Blutsverwandtschaft beruhten, wurden soziale Einheiten in der Sprache der Verwandtschaft ausgedrückt. Politische Autorität war in der Regel an bestimmte Abstammungslinien gebunden, deren Angehörige auf Grund eigenen Könnens und/oder der Verwaltung von Kultorten «Ehre» erworben hatten. Ehre aber war ein vielschichtiger Begriff: Er beschrieb sowohl die vornehme Abkunft (arab. nasab, wobei die väterliche Linie in der Regel mehr Gewicht hatte als die mütterliche) als auch Verdienst (arab. hasab). Beide wurden durch edle Taten und Gesinnung nachgewiesen. Auch im alten Arabien galt, dass «Adel verpflichtet», doch war dieser Adel nicht juristisch definiert und mit bestimmten Privilegien verbunden. Verdienst konnte in einer Abstammungslinie gewissermaßen angesammelt und vererbt, aber auch – unabhängig von Herkunft und Abstammung – durch eigene Leistung erworben werden.

Das Recht der Arabischen Halbinsel war im Wesentlichen von den Vätern übernommener Brauch (arab. sunna); es war weder göttlich sanktioniert noch schriftlich fixiert und beruhte auf dem Grundsatz von Schädigung und Entschädigung, übersetzt in Vergeltung, Blutrache und Blutgeld. Da es keine Obrigkeit gab, die die anerkannten Normen hätte durchsetzen können, war der Einzelne auf den Schutz einer Solidargemeinschaft angewiesen. Die größte praktische Bedeutung besaßen dabei Familie und Clan als Lebens- und Wirtschaftseinheiten. Stämme – und ungeachtet der begründeten Vorbehalte moderner Kultur- und Sozialanthropologen sprechen die arabischen Quellen konsequent von «Stämmen» – konnten Nomaden, Halbnomaden und Sesshafte umfassen und damit überlokale Bindungen schaffen und bewahren, erwiesen sich häufig genug aber als spaltbares Material. Stammeskonföderationen dienten als zeitlich begrenzte Zweckbündnisse, die nur selten dauerhafte Strukturen und Hierarchien hervorbrachten.

Über die tribalen Einheiten hinaus ist das vorislamische Sozialgefüge schwer zu erkennen: Die arabische Vorgeschichte erscheint in der muslimischen Überlieferung als «Zeit der Unwissenheit» (arab. jahiliyya), als «dunkles Zeitalter» und zugleich als Negativfolie, von der sich der Islam mit seiner mission civilisatrice strahlend abhebt. Als Musterbeispiel dient hier interessanterweise die Rolle der Frau, die die muslimische Tradition wohl negativer zeichnet, als sie es tatsächlich war. Nur in einem Punkt erfährt die Jahiliyya eine positive Wertung: Sie galt auch Musliminnen und Muslimen als goldenes Zeitalter einer spezifisch arabischen Kultur und spezifisch arabischer Tugenden, die in der Dichtung ihren hervorragenden Ausdruck fanden. Einer der bedeutendsten altarabischen Dichter, der aus dem Jemen stammende Imru l-Qais («der Mann der Qais»), wirkte im frühen 4. Jahrhundert. Die wichtigsten Anthologien aus vorislamischer Zeit, darunter die berühmten Muʿallaqat, «Die Aufgehängten», wurden im 8. und 9. Jahrhundert in den Zentren islamischer Kultur und Gelehrsamkeit zusammengestellt. So zentral aber die Dichtung als Medium gesellschaftlicher Normen und Ideale gewesen sein mochte, darf man sie natürlich ebenso wenig als direktes Abbild gesellschaftlicher Wirklichkeit lesen wie den mittelalterlichen Minnesang. Sie preist die Tugenden der Männlichkeit, Tapferkeit und Gastfreundschaft, unterstreicht den Wert individueller und kollektiver Ehre und die Bedeutung von Stammesgeist und -solidarität (arab. ʿasabiyya), aber auch die Größe individueller Bewährung. Alles in allem bringt sie eine ganz eigene, sozial wie kulturell bedeutsame Verbindung von Gemeinschaftsbindung und Eigensinn zum Ausdruck, die sich auch unter islamischem Vorzeichen nicht verlieren sollte.

Hoch umstritten ist die religiöse Landschaft, in die Muhammad hineingeboren wurde. Gerade für dieses Feld fehlen uns authentische zeitgenössische Zeugnisse und Materialien. Im Kern geht es um Ursprung und Charakter des Monotheismus auf der Arabischen Halbinsel: War der Islam Ergebnis indigener, autochthoner Entwicklungen – möglicherweise erwachsen aus der Vorstellung von einem Hochgott Allah, der Legende von Abraham und dem Bau der Kaaba in Mekka und getragen von arabischen «Gottsuchern»? Oder verdankte er sich äußeren, von den angrenzenden christlichen Mächten und deren Vasallen ausgehenden Einflüssen? Generell war der Vordere Orient in der Spätantike ein Raum rivalisierender religiöser Überzeugungen, doch darf man sich die Grenzen nicht allzu scharf gezogen denken; charakteristisch war eher die Überlagerung paganer Kulte und monotheistischer Lehren. Für Zentral- und Westarabien muss man von einer vielgestaltigen Kultlandschaft ausgehen, die von Familien- und Clangottheiten über lokale Idole und Heiligtümer bis hin zu übertribalen Kultgemeinschaften reichte. Eine überwölbende politische Autorität, die sich mit einem bestimmten Kult hätte verbinden können (und umgekehrt), gab es nicht. Verbindungen schufen Wallfahrten zu lokalen Heiligtümern mit ihren heiligen Bezirken, die Angehörige unterschiedlicher Stammesgruppen zu bestimmten Zeiten («heiligen Monaten») an geschützten Orten zusammenführten. Auf den begleitenden Jahrmärkten und Dichtertreffen ließen sich zugleich Konflikte schlichten. Aufgehoben wurden die Stammes- und Clanbindungen dabei freilich nicht, vielmehr in Gestalt der tribalen Rangstreitdichtung intensiv gepflegt – neben dem Lobgesang kannte die altarabische Dichtung auch die Satire und das Schmählied.

Verehrt wurden auf der Arabischen Halbinsel lokale Gottheiten männlichen und weiblichen Geschlechts, die mit Gestirnen, heiligen Steinen und Bäumen assoziiert wurden; vertraut war auch der Glaube an Geister und Dämonen (arab. Dschinnen), Engel und Teufel. Einen wichtigen Hinweis auf altarabische Kulte geben Eigennamen, die ihren Träger als «Sklave oder Diener (ʿabd) der Gottheit x» ausweisen, wie zum Beispiel Abd Manat, Abd ar-Rahman, Abdallah. Sehern, Wahrsagern und Dichtern kam eine Mittlerstellung zwischen sakraler und irdischer Sphäre zu. Wichtig ist, dass die altarabische Gesellschaft zwar das Totengedenken kannte, aber keinen Ahnenkult. Am schwierigsten ist die Frage zu entscheiden, ob die Araber an einen übertribalen Hochgott namens «Allah» glaubten und welche Bedeutung dieser Glaube gegebenenfalls für sie besaß: Der Name des Gottes «Allah», der (vermutlich) in Mekka an der Kultstätte der Kaaba verehrt und während der Wallfahrt namentlich angerufen wurde, wird meist von arabisch al-ilah abgeleitet, «der Gott». In der Kaaba stand jedoch der muslimischen Überlieferung zufolge eine Statue des Mondgottes (?) Hubal, vor der auch das Los geworfen wurde. Allah selbst besaß kein Kultbild. Dem Koran zufolge war er den Menschen so fern, dass andere Gottheiten vor ihm als Fürsprecher auftraten (Sure 39,3; 10,18) und er nur in bestimmten Situationen wie etwa in Seenot (in die gerade die Mekkaner nur selten geraten sein dürften) angerufen wurde (Sure 17,67–70; 29,65; 31,32). «Ar-Rahman» («der Barmherzige»), wie Gott im Koran zunächst hieß, wurde nicht in Mekka, sondern im Jemen und in der zentralarabischen Region Yamama verehrt. Den Mekkanern vertraut waren hingegen drei weibliche Gottheiten: die vor allem in der nahe gelegenen Oasenstadt Taʾif verehrte al-Lat (Allat, «die Göttin», die verschiedentlich mit Athene gleichgesetzt wurde), Manat mit ihrer Kultstätte nahe Yathrib, dem späteren Medina, sowie al-Uzza («die Allmächtige», die gelegentlich mit dem Planeten Venus und der Göttin Aphrodite identifiziert wurde) mit ihrem Baumheiligtum nahe Mekka. Sie galten in vorislamischer Zeit als Allahs «Töchter», was wiederum auf die Vorstellung von einem Götterpantheon mit Allah als Hochgott hinweisen könnte (aber nicht muss).

Über das religiöse Empfinden der Araber wissen wir so gut wie nichts. Kultstätten waren wohl in erster Linie Wunschstätten, Gottheiten im Wesentlichen «käufliche Nothelfer» (Ludwig Ammann). Das spricht nicht für ein tiefes religiöses Bedürfnis, von einer spirituellen Krise der altarabischen Gesellschaft ganz zu schweigen, die nach einem Propheten gewissermaßen verlangte. Die muslimische Tradition berichtet von vereinzelten «Gottsuchern» (arab. Sing. hanif), die – ohne einer der großen monotheistischen Gemeinschaften anzugehören oder bestimmten Riten zu folgen – eine spirituelle Befriedigung suchten, die ihre Umgebung ihnen nicht zu bieten vermochte. Die Berichte könnten allerdings vorrangig dem Zweck gedient haben, die indigenen Wurzeln eines arabischen Monotheismus zu belegen.

Gesichert ist demgegenüber die Präsenz von Juden und Christen auf der Arabischen Halbinsel, und zwar sowohl unter Sesshaften als auch unter Nomaden. Die Christen verteilten sich nach den heftigen christologischen Kontroversen der frühen Kirchengeschichte auf verschiedene Gemeinschaften: In Byzanz galt allein die 451 auf dem Konzil von Chalcedon festgeschriebene Zweinaturenlehre als orthodox («Melkiten»); die andere Vorstellungen vertretende Koptische Kirche, die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochia («Jakobiten») und die Kirche des Ostens («Nestorianer») galten in Byzanz als häretisch. Die Kontroversen waren für sich genommen hoch subtil. Noch schwerer fällt die Übersicht, weil die Kirchen früher übliche, jedoch von ihnen selbst als falsch oder abwertend verstandene Bezeichnungen wie Melkiten, Monophysiten, Jakobiten und Nestorianer mittlerweile ablehnen, die hier der Einfachheit halber gelegentlich verwendet werden. Arabische Mono- bzw. Miaphysiten lebten vor allem im Jemen, im syrischen Grenzland (Ghassaniden) und in der Oase Najran, die seit der Christenverfolgung unter Dhu Nuwas als «Märtyrerstadt» Ziel christlicher Pilger war; monophysitisch waren auch das koptische Ägypten und das Königreich von Aksum. Angehörige der Kirche des Ostens lebten im Irak und entlang der Küste des Persischen Golfs, die byzanztreuen «Melkiten» bildeten überall nur eine Minderheit. Während Christen auf der Arabischen Halbinsel durch eigene Inschriften, archäologische Überreste und narrative Quellen bezeugt sind, sprechen von den – um 600 zahlenmäßig wohl bedeutenderen – Juden, die im Jemen und in einer Kette nordwestarabischer Oasen als tribal organisierte, arabisierte und überwiegend sesshafte Gruppen ungeklärter Herkunft (Migration plus Konversion?) lebten, nur muslimische Quellen einschließlich des Korans. Das religiöse Spektrum ergänzten Zoroastrier, die sich auf den sassanidischen Einflussbereich am Persischen Golf und in Südarabien konzentrierten. Kleinere Minderheiten bildeten die gleichfalls aus Iran und Irak stammenden Anhänger des zoroastrischen Reformers Mazdak und die Manichäer, die auf Grund ihrer dualistischen Lehre in den arabischen Quellen meist als zindiq oder zandaqa bezeichnet werden, was in islamischer Zeit gleichbedeutend war mit Ketzer. Das Zusammenleben der verschiedenen Gemeinschaften war sicher nicht spannungsfrei, zumal sie ja nicht durchweg allein als religiöse Gruppen wahrgenommen wurden, sondern zugleich als Vertreter, wenn nicht Agenten regionaler Mächte mit imperialen Ambitionen.

Muhammad, der Prophet

Die Geschichte Muhammads und seiner Gemeinde muss man auf der Grundlage muslimischer Quellen schreiben, oder man kann sie nicht schreiben. Ihnen zufolge wurde Muhammad b. Abdallah im «Jahr des Elefanten» in Mekka als Angehöriger der Banu Hashim, einer der weniger bedeutenden Sippen des Stammes der Quraish, geboren. (Schon hier beginnen die Schwierigkeiten, denn das «Jahr des Elefanten», in dem Abraha mit seinen Kriegselefanten bis in die Nähe Mekkas vorstieß, vielleicht sogar bis Mekka selbst, ist dank einer Steleninschrift auf das Jahr 552 n. Chr. datiert worden, während Muhammad nach muslimischer Darstellung um 570 geboren wurde.) Im Gegensatz zu vielen anderen arabischen Siedlungen war Mekka keine Oase, die von Landwirtschaft und Handwerk lebte, sondern ein Handels- und Wallfahrtsort mit der Kultstätte der Kaaba (arab. kaʿba, Würfel, Quader), in deren Umgebung noch mehrere andere Kultstätten und Jahrmärkte lagen. Wie bedeutend der mekkanische Handel um 600 tatsächlich war, ist für die islamische Geschichte vor allem unter dem Gesichtspunkt interessant, inwieweit Muhammad und die Mekkaner über religiöse und gesellschaftliche Verhältnisse jenseits ihres engeren Lebensumfelds informiert waren. Dass sie Handelsverbindungen nach Norden (Syrien, Palästina und Irak), nach Südwesten (Jemen, Hadramaut und Äthiopien) und nach Osten (nördliche Golfküste, Oman) unterhielten, steht außer Frage. Kontrovers sind Art und Umfang der gehandelten Waren. An der Weihrauchstraße hatte Mekka selbst zu deren Blütezeit nie gelegen. Um 600 waren es wohl Güter des eigenen Bedarfs und in begrenzterem Umfang Transithandel, den die vermögenden Mekkaner mit Geldgeschäften verbanden. Verwandtschaftliche Bindungen bestanden in die großen Oasensiedlungen Yathrib, das spätere Medina, und das für seine Gärten berühmte Taʾif. Belegt sind sogar Landgüter reicher Mekkaner im heutigen Palästina und Jordanien.

Mekka hatte somit Anteil an der städtischen, von Kaufleuten geprägten Kultur des Vorderen Orients, blieb allerdings abhängig von den Kamelnomaden, die die innerarabischen Handelswege kontrollierten. Auch die Mekkaner selbst waren wehrhaft, ihr Handel bewaffnet. Mit wenigen Ausnahmen scheinen sie dem Stamm der Quraish angehört zu haben, der von einer Versammlung von Clanführern «regiert» wurde. Die mekkanische Gesellschaft wies ohne Zweifel soziale Unterschiede auf, sie kannte bessere und mindere Sippen, Arme und Reiche, Freie und Sklaven, doch gibt es keine Hinweise auf besonders ausgeprägte soziale Spannungen oder gar Klassengegensätze.

Von Mekka nach Medina

Mit Blick auf Muhammad betont die muslimische Überlieferung zweierlei: dass er Waise war (so Koran, Sure 93,6) und im Handel weit über Mekka hinaus tätig. Sein noch vor seiner Geburt verstorbener Vater hieß bemerkenswerterweise Abdallah («Diener Allahs»), seine Mutter Āmina, «die Getreue» – beides Namen mit frommem Klang. Mit Mitte zwanzig heiratete Muhammad der islamischen Erzählung zufolge eine deutlich ältere, wohlhabende Kauffrau, Khadija bint Khuwailid, mit der er mehrere Kinder hatte. Die muslimische Überlieferung berichtet zugleich von der spirituellen Suche Muhammads, der sich regelmäßig in eine Grotte des Berges Hiraʾ (später als Jabal an-Nur, «Berg des Lichts», bekannt) in der Nähe von Mekka zurückzog, um dort zu beten. Mit vierzig Jahren hatte er ein erstes Offenbarungserlebnis, das die Überlieferung auf die Nacht vom 26. auf den 27. Ramadan (die «Nacht der Bestimmung», lailat al-qadr) datiert. Die Altersangabe ist von Bedeutung: Mit vierzig war Muhammad ein reifer Mann mit klar definierter Stellung in der Gesellschaft – was seine spätere Mission nicht unbedingt erleichterte, war er doch allem Anschein nach bislang nicht als außergewöhnlich aufgefallen. Der ersten aufrüttelnden Erfahrung folgten nach längerer Pause weitere Offenbarungserlebnisse, die sich bis zu seinem Tod fortsetzten. Dabei handelte es sich um Visionen und Auditionen, die Muhammad zum Teil in Reimprosa wiedergab, derer sich die arabischen Dichter und Wahrsager bedienten.

Nach anfänglicher Verunsicherung gewann Muhammad den Berichten nach zunehmend an Selbst- und Sendungsbewusstsein, erklärte sich offen zum Gesandten Gottes (arab. rasul Allah) und warb in seiner Umgebung erste Anhänger. Dass es die Mühseligen und Beladenen waren, die Armen, Sklaven und Entrechteten, die sich zu ihm bekannten, ist nicht nachzuweisen. Wahrscheinlich sprach er vor allem jüngere Menschen an, und zwar den sozialen Gegebenheiten entsprechend in erster Linie jüngere Männer. Zunächst verstand Muhammad sich wohl als Rufer und Warner an die Araber, die noch keine Offenbarungsschrift in eigener Sprache erhalten hatten. Die Mekkaner reagierten auf seine Mahnungen gleichgültig bis ungläubig. Zum einen kannten sie Muhammad («der Prophet gilt nichts im eigenen Land»), zum anderen hörten sie nicht das erste Mal von dem Einen Gott, dem Jüngsten Gericht und dem Paradies, von denen auch die Juden und Christen sprachen. Die Mekkaner glaubten nicht an ein Leben nach dem Tod und mokierten sich, wie der Koran berichtet, über die Rede von einer Auferweckung der Toten. Die von Muhammad verkündete Botschaft war ihnen schlicht kein Anliegen, «der Väter Brauch und Sitte» war ihnen genug. Zudem erhob der Gott, von dem Muhammad kündete, völlig andere Ansprüche als die Gottheiten der Väter: Er forderte Gottesdienst im unmittelbaren Wortsinn (arab. islam heißt zunächst einmal Hingabe bzw. Unterwerfung), und dieser umfasste neben Solidarabgaben wie dem Almosen auch regelmäßige Gebets- anstelle gelegentlicher Opferriten. Gerade die Niederwerfung im Gebet war den Mekkanern als erniedrigender Brauch anderer Religionen und Völker bekannt und so anstößig, dass sie, selbst als sie sich später bekehrten, nicht selten um Befreiung von dieser Pflicht gebeten haben sollen.

Muhammads Aufruf zu einem bedingungslosen Monotheismus, seine Absage an jede «Beigesellung» (dies die etwas unglückliche Übersetzung des arabischen Begriffes shirk, des Glaubens daran, dass es neben dem Einen Gott andere Gottheiten gibt, und sei es in untergeordneter Position) stellte nicht nur die tradierte Denk- und Lebensweise in Frage. Er griff die eigenen Vorfahren an und damit auch die eigenen Verwandten, die Muhammad und seinen Anhängern ungeachtet der provozierenden Lehren nach wie vor Schutz boten. Die islamische Botschaft belastete so zunächst einmal die bestehenden Solidarbindungen. Gefährdet schienen auch die wirtschaftlichen Interessen der Mekkaner – denn dass diese langfristig durch die islamische Pilgerfahrt (arab. hajj) über jedes bekannte Maß hinaus gestärkt werden sollten, konnten Muhammads Zeitgenossen nicht ahnen. Als um 619 kurz nacheinander Muhammads Onkel Abu Talib und seine Frau Khadija starben, stand der bisher gewährte Schutz in Frage.

Der Beginn der islamischen Zeitrechnung – und einer der zentralen Erinnerungsorte islamischer Geschichte – ist bezeichnenderweise nicht Muhammads erstes Offenbarungserlebnis in der Grotte des Berges Hiraʾ, sondern ein politischer Akt, die Hijra: Im Jahr 622 verließen Muhammad und etwa siebzig seiner Anhänger (die sogenannten muhajirun, diejenigen also, die an der Hijra teilnahmen) Mekka und übersiedelten in das gut 300 Kilometer nördlich gelegene Yathrib, das spätere Medina (arab. madinat an-nabi, Stadt des Propheten). Damit folgte Muhammad den muslimischen Quellen zufolge einer Einladung, als Schlichter nach Yathrib zu kommen, wo bereits eine Reihe von Männern und Frauen zum Islam übergetreten war. Hier fand er ganz andere Rahmenbedingungen vor als in Mekka: Yathrib war eine weit auseinandergezogene Oasensiedlung, deren Einwohner dank fruchtbarer Böden und ausreichender Grundwasserversorgung Landwirtschaft und Handwerk betrieben. Gruppiert um befestigte Wohnburgen, lebten mehrere Clans in einem gespannten, ja feindseligen Verhältnis, unter ihnen in abhängiger Stellung auch mehrere jüdische. Den Einwohnern Yathribs waren monotheistische Ideen somit wohl bekannt. Zugleich hatten sie, anders als die Mekkaner, keine eigene Kultstätte zu verteidigen und keine von allen anerkannte politische Führung.

Die aus Mekka zugewanderten Muslime, die in Yathrib dringend Schutz und Unterhalt benötigten, suchte Muhammad zunächst durch die individuelle Verbrüderung mit den medinensischen Muslimen abzusichern, die in der islamischen Überlieferung als «Helfer» (arab. ansar) bekannt wurden. Die neue, religiös begründete Solidargemeinschaft wuchs rasch, wobei von früher Stunde an ein verändertes Konversionsmuster zu beobachten war: In Mekka war das Bekenntnis zum Islam Ausdruck einer individuellen religiösen «Umkehr» (selbst wenn dieser nicht notwendig eine spirituelle Krise vorausging), die schwere persönliche Nachteile nach sich ziehen konnte. In Medina hingegen traten ganze Clans und Familien der muslimischen Gemeinschaft bei, was die im engeren Sinn religiös motivierte, individuelle Umkehr sicher nicht ausschloss, aber auch opportunistischem Kalkül folgen konnte. Unter den Juden allerdings scheint kaum einer zum Islam übergetreten zu sein. Neben die Verbrüderung als Akt religiöser Vergemeinschaftung trat um 623 eine neue, auf die sogenannte Gemeindeordnung von Medina gestützte politische Einheit. Sie verband die Muslime mit einzelnen örtlichen Clans, darunter auch jüdischen, zu einer politischen Schutz- und Solidargemeinschaft (arab. umma) mit Muhammad als Schiedsrichter und politischem Oberhaupt, den die Muslime zugleich als ihren religiösen Führer anerkannten. Die Gemeindeordnung definierte Medina als «heiligen Bezirk» (arab. haram), bezeichnete die eigenen Mitglieder als «Gläubige» bzw., wie auch übersetzt werden könnte, «Bundestreue» (arab. muʾminun) und ihre Gegner als «Ungläubige» (kuffar). Mit ihrer clanübergreifenden, überkonfessionellen Struktur war die Gemeindeordnung tatsächlich ein bemerkenswerter Entwurf, der in der Moderne vielen Muslimen als Vorbild einer islamischen Verfassung dienen sollte, war den muslimischen Quellen zufolge jedoch nur für kurze Zeit in Kraft.

Die Macht des Wortes und die Gewalt des Schwertes

Von Beginn an scheint Muhammad in Medina eine Doppelstrategie verfolgt zu haben, die die Verkündigung (arab. daʿwa) mit dem Kampf gegen Kritiker und Widersacher jeglicher Natur verband, seien es arabische Dichter und jüdische Clans in Medina, die Mekkaner oder die Beduinenstämme des Umlandes, denen er teils mit Gewalt, teils mit diplomatischen Mitteln begegnete. In einer Gesellschaft, in der die Kunst der Rede so hoch geschätzt wurde, kam der Macht des Wortes große Bedeutung zu. Mit seiner Hilfe konnte Muhammad, der dem Koran zufolge keine Wunder wirkte, sich vor den Gläubigen als Gesandter Gottes ausweisen: Der Koran war sein Zeugnis, ihm nicht von Dschinnen eingegeben, mit denen die Dichter und Wahrsager in Verbindung standen, und auch nicht aus den heiligen Büchern der Juden und Christen abgeschrieben (diesem Argument diente wohl die Angabe, Muhammad habe weder lesen noch schreiben können), sondern von Gott auf ihn «herabgesandt». Muslimen galt der Koran später auf Grund der ihm zugeschriebenen unnachahmlichen sprachlichen Vollendung als Beglaubigungswunder Muhammads. Die Dichter waren in gewisser Hinsicht Konkurrenten; sie konnten Muhammad mit Spott- und Schmähgedichten nicht weniger gefährlich werden als bewaffnete Widersacher.

Religionspolitisch besonders bedeutsam war Muhammads Wendung gegen die Juden von Medina. Folgt man den muslimischen Quellen (auf jüdische Zeugnisse können wir, wie erwähnt, nicht zurückgreifen), so rechnete Muhammad damit, von den Juden als Prophet anerkannt zu werden. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Enttäuschung führte zur Entfremdung und schließlich zum offenen Bruch, der sowohl eine religiöse als auch eine machtpolitische Komponente enthielt: Die religiöse Komponente bestand darin, dass Muhammad den Islam entschiedener als zuvor als Erneuerung des monotheistischen «Kultes Abrahams» (arab. din Ibrahim) deutete und damit das Juden- ebenso wie das Christentum als spätere und zudem verfälschende Versionen der ursprünglich-reinen Offenbarungsreligion abwertete. Das muss recht schnell gegangen sein, denn schon bald nach seiner Ankunft in Yathrib soll Muhammad die islamische Gebetsrichtung (arab. qibla) von Jerusalem auf Mekka mit dem vorislamischen Heiligtum der Kaaba umgekehrt haben (vgl. Sure 2,142–150). Wenn er dabei an eine Rückgewinnung Mekkas gedacht haben sollte, so konnte diese nach den bisherigen Erfahrungen nur gewaltsam erfolgen. Tatsächlich berichtet die muslimische Geschichtsschreibung von zahlreichen Überfällen auf mekkanische Karawanen entlang der syrischen Handelsroute. Diese «Razzien» (der Begriff ist abgeleitet von arab. ghazwa, Überfall) hatten möglicherweise zunächst einmal das Ziel, den Musliminnen und Muslimen eine Lebensgrundlage zu verschaffen, dienten sicher aber zugleich dazu, die neue Gemeinschaft enger zusammenzuschmieden. Dabei machten sich die Muslime selbst der Verletzung des «Gottesfriedens» in den heiligen Monaten schuldig. Parallel dazu wurden in Medina – und hierin lag die machtpolitische Komponente der Auseinandersetzung mit den Juden – die jüdischen Clans als eigenständige Größen (die nie gemeinsam handelten) ausgeschaltet, im Allgemeinen, indem man ihnen Kollaboration mit dem Feind vorwarf. Wie viel in diesem Zusammenhang das religiöse Moment zählte und wie viel die Tatsache, dass die jüdischen Clans konfliktfähige und potenziell feindselige Kräfte darstellten und daher ebenso bekämpft wurden wie alle anderen, die sich der jungen Bewegung in den Weg stellten, lässt sich nicht mehr klären.

Im März 624 errangen die Muslime bei Badr südwestlich von Medina einen unerwarteten Sieg über eine zahlenmäßig überlegene mekkanische Karawane, der ihnen als Zeichen göttlicher Gnade erschien. Schon im April desselben Jahres vertrieben sie den – militärisch eher schwachen – jüdischen Clan der Banu Qainuqaʿ aus Medina. Die Niederlage am Hügel von Uhud, nördlich von Medina, stellte diese Gewissheit im März 625 zwar in Frage, doch wurden schon wenige Monate später die jüdischen Banu n-Nadir vertrieben, die immerhin einen Teil ihres Besitzes retten konnten. Der «Grabenschlacht» vom März 627 schließlich, die uneindeutig endete, von den Muslimen jedoch als Sieg gedeutet wurde, folgte das Massaker an den jüdischen Banu Quraiza. Damit waren nicht unbedingt alle Juden aus Medina vertrieben, aber sie waren nicht länger kollektiv handlungsfähig. Im Frühjahr 628 schlossen die Mekkaner mit den Muslimen bei der Ortschaft Hudaibiyya einen zehnjährigen Waffenstillstand und erkannten sie damit als gleichrangig an. Noch heute dient der Vertrag vielen Muslimen als Vorbild einer Waffenruhe, wenn nicht gar eines – zeitlich befristeten und aus einer Position der Stärke heraus geschlossenen – Friedens. Wenig später wurden die jüdischen Clans in den nordwestarabischen Oasen zwischen Khaibar und Taima unterworfen und tributpflichtig gemacht, erste Vorstöße führten die Muslime auf syrisches Gebiet.

Nach einem Streit unter ihren Verbündeten kündigten die Muslime schon nach kurzer Zeit den Waffenstillstand mit den Mekkanern auf. 630 kapitulierte Mekka, die führenden Familien der Quraish traten zum Islam über, Muhammad heiratete eine Tochter des einflussreichen Clanführers Abu Sufyan b. Harb, verlegte seinen Wohnsitz jedoch nicht in die alte Heimat zurück, sondern blieb in Medina. Wenig später fiel das reiche und gut befestigte Taʾif an die Muslime. Die Erfolge steigerten Muhammads Ansehen und Einfluss weit über das engere Umfeld Mekkas und Medinas hinaus. Eine wachsende Zahl beduinischer Stammesgruppen und lokaler Machthaber bis hin zum sassanidischen Gouverneur des Jemen banden sich vertraglich an die muslimische Gemeinschaft. Der Akt wurde ausgehandelt und an bestimmte Leistungen geknüpft, darunter eine Abgabe und militärische Unterstützung; die Bekehrung zum Islam scheint dies nicht zwingend vorausgesetzt zu haben. 631/32 pilgerte Muhammad noch einmal zur Kaaba; seine Abschiedswallfahrt und -predigt werden bis heute wachgerufen. Am 8. Juni 632 starb er der muslimischen Überlieferung zufolge in Medina.

II

EINE GESELLSCHAFT IN BEWEGUNG

Die Nachfolge Muhammads

Beim Tod Muhammads war die Frage seiner Nachfolge ungeklärt. An ihr entzündeten sich Konflikte um Legitimität und Macht, die in Verbindung mit den Umwälzungen der Eroberungszeit zu innermuslimischen Kämpfen, regelrechten Bürgerkriegen (im Arabischen als fitna bekannt und gefürchtet) und schließlich zur Herausbildung eigener religiöser und politischer Strömungen wie der Schiiten und Sunniten führten. Eine Unterscheidung in die Ära der «rechtgeleiteten Kalifen» und der Umayyaden, wie sie die sunnitische Geschichtsschreibung vornimmt, reflektiert in erster Linie religiös-moralische Wertungen. Im Gegensatz zu den Schiiten sehen die Sunniten die «rechtgeleiteten Kalifen» Abu Bakr, Umar, Uthman und Ali als vom islamischen Geist durchdrungen, bescheiden unter den Gläubigen lebend, nicht abgesondert in Palästen, und frei von herrscherlichen Allüren: Vieles, was in diesen rund drei Jahrzehnten geschah, war ein «erstes Mal» und damit Vorbild für fromme Musliminnen und Muslime bis in die je eigene Gegenwart. Gerade die Idealisierung der rechtgeleiteten Kalifen ließ sich als verschleierte Kritik an den Zuständen der eigenen Zeit lesen. Der Glanz und die Glorie, die sich mit dieser so unruhigen Ära verbinden, verdanken sich vor allem der Ausbreitung des Islam, die innerhalb weniger Generationen ein Reich entstehen ließ, dessen Ausdehnung das Vorstellungsvermögen der Zeitgenossen überstieg.

Unter den frühen Muslimen war unstrittig, dass Muhammad, den der Koran an einer Stelle als «Siegel der Propheten» bezeichnet (Sure 33,40), in seiner Eigenschaft als Prophet keinen Nachfolger haben konnte. Zur Debatte stand lediglich die Führung der Gemeinde, und hierzu gab der Koran keine eindeutigen Weisungen: In Sure 4,59 ist von Gehorsam gegenüber Gott, dem Propheten und «den Autoritätspersonen» die Rede; an verschiedenen Stellen werden Muhammad und die Muslime zu gegenseitiger Beratung (arab. shura) in allen wichtigen Belangen aufgerufen. Muhammad hinterließ keinen Sohn, sodass die Möglichkeit einer Erbfolge ausschied; seine Töchter waren mit Ausnahme Fatimas bereits tot, Fatimas Söhne noch kleine Kinder. Muhammad designierte nach vorherrschender Auffassung aber auch keinen Nachfolger. Anderer Überzeugung waren allein die Parteigänger seines Cousins und Schwiegersohns Ali b. Abi Talib, die als shiʿat ʿAli, «Partei Alis», bekannt wurden. Ebenso wenig geregelt war, auf welche Weise das neue Oberhaupt der Gemeinde ermittelt werden sollte. Im Vordergrund stand die Frage nach Verdienst und Ehre und nach welchen Kriterien sie sich bemaßen – im engen Sinn religiösen oder überkommenen sozialen: Sollte der frühe Übertritt zum Islam, also Anciennität, ausschlaggebend sein, wie ihn die mit Muhammad von Mekka nach Medina ausgewanderten Muhajirun und die zum Islam konvertierten medinensischen «Helfer» aufwiesen? Sollte über die frühe Gefährtenschaft hinaus womöglich die Verwandtschaft mit dem Propheten eine Rolle spielen? Oder war die Zugehörigkeit zu einem der großen Clans und Stammesgruppen höher zu bewerten, die einige spätbekehrte Muslime aus Mekka und Taʾif oder auch diverse arabische Stammesführer auszeichnete? Waren in einer Situation großer Gefährdung Führungsqualitäten höher zu bewerten als Moral und Frömmigkeit?

Die in Medina versammelten Muslime einigten sich der sunnitischen Überlieferung zufolge nach kurzer, heftiger, aber, wie es scheint, ohne theologische Argumente geführter Auseinandersetzung darauf, nur einen Mann zum Nachfolger Muhammads zu wählen, und zwar gemäß dem genealogischen Prinzip aus dessen Stamm, den Quraish. Angesichts der Vielzahl seiner Clans und Familien ließ das erheblichen Spielraum, schloss jedoch ungeachtet ihrer frühen Verdienste um den Islam die medinensischen «Helfer» von der Führung aus. Clan- und Stammesbindungen verloren in der frühislamischen Gesellschaft mithin keineswegs ihre Bedeutung. Das koranische Gleichheitsideal, das soziale Unterschiede nicht verleugnet, zumindest vor Gott jedoch die Frömmsten zu den Edelsten erklärt (Sure 49,13), konnte überbrachte Vorstellungen von Adel und Ehre nie vollständig verdrängen. Zudem fällt auf, dass die ersten Kalifen (von arab. khalifa, Nachfolger oder Stellvertreter) zumindest durch Heirat mit dem Propheten verbunden waren, der nach Khadijas Tod eine ganze Reihe von Frauen geheiratet und mit ihnen weitere Kinder gezeugt hatte, und dass ihr Alter bei der Auswahl eine Rolle spielte: Auf zwei Schwiegerväter Muhammads (Abu Bakr und Umar) folgten zwei seiner Schwiegersöhne (Uthman und Ali). Im Juni 632 huldigten die führenden Männer der Gemeinde Abu Bakr b. Abi Quhafa, einem der frühesten und treuesten Anhänger Muhammads (insoweit zählte also das religiöse Verdienst), Vater der jungen Aisha, die als Muhammads Lieblingsfrau galt, und exzellenter Kenner der arabischen Genealogie.

Aufbruch: Die frühen Eroberungen

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten waren die inneren Entwicklungen (die Frage der legitimen Führung von Staat und Gemeinschaft) und die äußeren Entwicklungen (Migration und Eroberung) so eng miteinander verzahnt, dass sie hier nur zum Zweck der klareren Darstellung voneinander getrennt werden. Von Anfang an verband sich im Islam der Glaube an den Einen und Einzigen Gott mit gemeinschaftlichen und gemeinschaftsstiftenden Riten und Praktiken. Dazu zählte konstitutiv der Jihad als Einsatz für die Sache Gottes, der auch den bewaffneten Kampf gegen seine Feinde mit einschloss. In diesem Sinne diente der Jihad von frühester Stunde an als Glaubensbeweis. Welch ungeheure Dynamik die islamische Botschaft freizusetzen imstande war, erwies sich nun.

Beim Tod Muhammads kontrollierten die Muslime einen nach Norden reichenden Korridor, der sich entlang der alten Handelswege von Mekka bis in das syrische Grenzland erstreckte; darüber hinaus standen der Jemen, Hadramaut, Oman und die nördliche Küste des Persischen Golfs unter muslimischem Einfluss. Der Bestand der Gemeinde war dennoch nicht gesichert. Verschiedene arabische Clans und Stammesgruppen, die sich vertraglich an Muhammad gebunden hatten, verweigerten nach dessen Tod die Abgaben, die für die Muslime eine unverzichtbare Einnahmequelle darstellten. Ihr «Abfall» (arab. ridda) zeigte, wie eng im frühen Islam religiöse und politische Motive ineinandergriffen – ohne ganz ineinander aufzugehen. Die muslimischen Historiker stellten den Abfall später nicht als politischen Akt dar, das heißt als Verrat und Sezession, sondern als religiösen und damit als Apostasie. Als religiöser Akt war der Beitritt zur Umma aus ihrer Sicht irreversibel; das islamische Recht sollte Apostasie später mit schwersten Strafen belegen. Nun hatten einige dieser Clans und Stammesgruppen bei ihrem Beitritt zur Umma möglicherweise den Islam gar nicht angenommen, andere fühlten sich an die Verträge nach Muhammads Tod nicht länger gebunden. Wieder andere erhoben sich unter der Führung eigener Prophetinnen und Propheten (die in den historischen Abhandlungen meist als «falsche Propheten» abqualifiziert werden), wie Maslama b. Habib (die muslimischen Quellen verwenden die hier abwertend gemeinte Verkleinerungsform Musailima) und der Prophetin Sajah bint al-Harith, die unter zentral- und ostarabischen Stämmen wirkten, die wohl in Teilen christianisiert waren. Anders als Muhammad scheinen sie jedoch keine übertribalen Ansprüche erhoben zu haben. Den Muslimen gelang es in bemerkenswert kurzer Zeit, der Sezession ein Ende zu bereiten. Bei Abu Bakrs Tod im Jahr 634 stand die gesamte Arabische Halbinsel unter muslimischer Oberhoheit; zu dem Erfolg trug neben militärischer Gewalt eine kluge Geschenk-, Heirats- und Bündnispolitik bei.

Abu Bakr ernannte nach muslimischer Überlieferung noch vor seinem Tod Umar b. al-Khattab zu seinem Nachfolger – dass dieser nicht von den führenden Männern der Gemeinde gewählt wurde, scheint nicht gestört zu haben. Umar, einer der frühesten mekkanischen Muslime und zugleich einer der Schwiegerväter Muhammads, seines Zeichens Kaufmann mit Beziehungen nach Syrien und Palästina, war eine der starken Persönlichkeiten des frühen Islam, auf den sich Muslime noch heute vor allem in Fragen von Recht, Politik und Verwaltung berufen.

Im Zug der ridda-Kämpfe waren Muslime bereits auf byzantinisches und sassanidisches Gebiet vorgedrungen. Dass sie dort auf wenig Widerstand stießen, gab den Auftakt zu den muslimischen Eroberungen (arab. futuh, wörtlich «Öffnungen») jenseits der Arabischen Halbinsel, deren Ausgang bekannt, deren konkreter Verlauf allerdings schwer nachzuvollziehen ist: Sie verliefen, unterbrochen von den «Bürgerkriegen», in mehreren großen Wellen rasch und stetig, waren jedoch nicht zentral gesteuert. Die vier ersten Kalifen standen nicht an der Spitze der erobernden Heere und verfügten über keine eigenen Truppen, griffen allerdings punktuell – etwa bei der Planung einzelner Kampagnen, der Ernennung von Befehlshabern und Gouverneuren und der Zuteilung der Beute – in das Geschehen ein. Die einzelnen muslimischen Verbände waren nach Clan- und Stammeszugehörigkeit gegliedert, kämpften unter ihren eigenen Anführern und operierten weitgehend eigenständig. Wichtige Eroberungszüge gingen von Heerlagern in den eroberten Gebieten aus, nicht vom Sitz des Kalifen, das heißt von Medina oder später einer seiner syrischen Residenzen. Die Muslime fochten nur wenige große Schlachten: Beim Sieg über die Byzantiner in der Schlacht am Yarmuk im heutigen Jordanien dürften sich 636 immerhin je 20.000–40.000 Mann gegenübergestanden haben, beim Sieg über die Sassaniden bei Qadisiyya im Januar 638.6000–12.000. Besonders auffällig ist die geringe Professionalisierung der «Kriegskunst»: Die Stammeskrieger selbst besaßen nicht selten kämpferische Erfahrung, zeichneten sich vor allem aber durch ihre Mobilität und Moral aus; einige der berühmtesten muslimischen Feldherren waren dagegen bis vor kurzem Kaufleute gewesen. Die Eroberer orientierten sich nicht an «natürlichen» Grenzen und überwanden auch breite Flüsse, hohe Gebirgsketten und ausgedehnte Wüstenzonen, drangen, wie andere Eroberer vor und nach ihnen, jedoch vielfach nicht allzu tief in das jeweilige Hinterland vor.

Wie erklärt man die Erfolge über die großen Regionalmächte, die die muslimischen Eroberer innerhalb weniger Jahrzehnte zu ganz neuen Horizonten führten? Neben der Stärke der Eroberer wird man die Schwächen ihrer Gegner berücksichtigen müssen. Byzanz und die Sassaniden hatten sich in langen Kämpfen abgenutzt und verbraucht, Thronwirren schwächten sie im Innern; ihre Kräfte waren gerade in den Grenzregionen ausgedünnt; die aus dem Süden kommenden arabischen Vorstöße nahmen sie nicht früh genug hinreichend ernst, zumal sie zur gleichen Zeit im Norden von Türken, Awaren und Khazaren bedrängt wurden, die erhebliche Kräfte banden. Die Bewohner des syrisch-irakischen Raums selbst – zum Teil handelte es sich um die vormaligen arabischen Vasallen der Byzantiner und Sassaniden, ansonsten um verschiedene ethnische und religiöse Gemeinschaften, die den herrschenden Mächten innerlich durch wenig verpflichtet waren – hatten gerade erst die sassanidische Eroberung und die byzantinische Rückeroberung ihrer Heimat (Syrien und Palästina) oder einen byzantinischen Einmarsch (Irak) überstanden. Pestepidemien hatten sie zusätzlich geschwächt. Sie handelten pragmatisch: Wo Widerstand zwecklos schien und Flucht wenig aussichtsreich, konnten nur Verhandlungen mit der neuen, in ihren Absichten und Fähigkeiten noch kaum einzuschätzenden Macht das eigene Leben, Land und Eigentum retten – denn wer diese Araber waren, die den Islam verkündeten, konnten die Zeitgenossen im Einzelnen noch gar nicht wissen: Araber kannten sie, Muslime nicht. Bislang diskriminierte religiöse Gemeinschaften mochten sich sogar eine Verbesserung ihrer Lage erhoffen. Die Ortskenntnisse und technischen Fertigkeiten der Unterworfenen, vor allem bei Belagerungstechnik und Flottenbau, ermöglichten den Muslimen weitere Siege. Der Sog des Erfolges riss immer neue Gruppen mit sich; so kämpften von früher Stunde an auch nichtarabische und nichtmuslimische Hilfstruppen auf muslimischer Seite.

Bei der Suche nach den Motiven der arabisch-muslimischen Kämpfer wird man davon ausgehen müssen, dass sie ebenso uneinheitlich waren wie ihre soziale und tribale Zusammensetzung – immerhin fochten bislang sesshafte Städter und Oasenbewohner neben Nomaden und Halbnomaden. Die von Muhammad verkündete Botschaft diente ohne Zweifel als einigende, mobilisierende Kraft, wobei sich Glaubensinhalt und Glaubenseifer der frühen Muslime nicht exakt bestimmen lassen: Die meisten waren frisch konvertiert, und der Islam als Lehre und Praxis zu dieser Zeit noch gar nicht ausgearbeitet. Auf jeden Fall erhöhte er den Kampf des Einzelnen zum Einsatz (arab. Jihad) «auf dem Wege Gottes». Spirituelles Heil und materielles Wohl fielen tendenziell in eins. Ohne die reiche Beute hätten die Eroberungen ihre Durchschlagskraft wohl kaum bewahrt, ohne sie wären sie auch gar nicht zu finanzieren gewesen. Mit der Verquickung religiöser und materieller Motive – der Aussicht auf Heil, Ehre, Beute und Land – ist wohl auch die Hartnäckigkeit zu erklären, mit der die Muslime selbst nach schweren Rückschlägen weiterfochten. Der Erfolg sprach letztlich für die Richtigkeit der Sache («Gott mit uns»).

Man darf sich das folgende Geschehen nicht zu geordnet vorstellen. Die Kategorien, mit denen muslimische Historiker im 9. und 10. Jahrhundert die Ereignisse beschrieben, spielten zu ihrer eigenen Zeit eine wichtige Rolle für Status und Steuerpflicht der Handelnden und ihrer Nachkommen. Zu Beginn der Eroberungen selbst hingegen gaben die Entscheidungen von Gouverneuren und Heerführern den Ausschlag, die sich weniger an koranischen Vorgaben orientierten als vielmehr an den konkreten Gegebenheiten. Die im islamischen Recht später getroffene Unterscheidung zwischen solchen Gebieten, die «mit Gewalt» und solchen, die «durch Vertrag» unterworfen wurden (im Allgemeinen die großen Städte mit ihrem Umland), ist sicher zu schematisch. Im Übrigen kamen auch die Verträge unter Androhung von Gewalt zustande, waren also «ungleiche Verträge». Für die Behandlung der neuen Untertanen zählten im Allgemeinen weniger die religiös-rechtlichen Kriterien, nach denen der Koran sie klassifizierte (Polytheisten oder monotheistische «Schriftbesitzer»), als vielmehr ihre Stärke und ihr eigenes Verhalten. Bei der Beute wurde vermutlich nicht so klar zwischen beweglich und unbeweglich unterschieden, wie das islamische Recht dies später vorsah.

Die ersten Vorstöße der Muslime richteten sich nach Norden und Osten. Parallele Kampagnen zielten auf die byzantinischen Territorien in Kleinasien und die sassanidischen in Irak, West- und Zentraliran. Schon während der ridda-Kämpfe stand 633 ein muslimisches Heer unter Khalid b. al-Walid, genannt «das Schwert Gottes» (auch er ehedem Kaufmann zu Mekka), erstmals vor Hira, dem früheren Zentrum der Lakhmiden. Die Stadt wurde zur Kapitulation gezwungen, von den Sassaniden aber noch einmal für kurze Zeit zurückerobert. Von hier aus drangen arabisch-muslimische Verbände weiter in den ethnisch wie religiös gemischten und zwischen Byzantinern und Sassaniden umkämpften Irak vor. In der Schlacht von Qadisiyya siegte ein starkes muslimisches Heer Anfang 638 unter Saʿd b. Abi Waqqas über eine deutlich größere sassanidische Streitmacht; der Großkönig floh nach Osten. Bei der Eroberung der sassanidischen Hauptstadt Ktesiphon – Sitz der sassanidischen Zentralverwaltung, des jüdischen Exilarchen, des nestorianischen Katholikos und zugleich Winterresidenz des Großkönigs – machten die Muslime wenig später reiche Beute. Im Irak legten sie die Heerlager Basra und Kufa an, die als Ausgangspunkt für die weitere Expansion nach Norden und Osten dienen sollten. 642 schlugen sie in der Schlacht bei Nihawand erneut ein sassanidisches Heer und unterwarfen anschließend ganz Iran bis auf den Süden und die kaspische Küste im Norden, wo der Widerstand nicht mit dem Fall der Sassaniden zusammenbrach. Der Großkönig wurde 651 bei Merw ermordet; einer seiner Söhne floh an den chinesischen Kaiserhof, um dort militärische Unterstützung zu erbitten. Die Bewohner der iranischen Hochebene besaßen kaum Fluchtmöglichkeiten auf sicheres Terrain: Sie konnten nur kämpfen oder sich unterwerfen und mit den neuen Herren arrangieren.

Parallel dazu liefen die Kampagnen im historischen Syrien: Nach dem Sieg über eine von örtlichen Truppen und eilig angeworbenen Söldnern verstärkte byzantinische Armee am Yarmuk fielen Damaskus, Antiochia, Aleppo und Jerusalem in muslimische Hand. Der Kalif Umar war an den Feldzügen nicht beteiligt; belegt ist lediglich sein Aufenthalt auf den Golanhöhen, wo er die Verteilung der Beute regelte. Auch veranlasste er den Bau einer ersten muslimischen Gebetsstätte auf dem Jerusalemer Tempelberg, die der gallische Pilger Arculf einige Jahrzehnte später beschrieb. Die Stadt hatte bewegte Zeiten hinter sich: 614 die Eroberung durch die Sassaniden, 630 den triumphalen Einzug des byzantinischen Kaisers Herakleios, der die von den «Persern» geraubte Kreuzesreliquie zurückführte. Nach der Einnahme Jerusalems vollendete Amr b. al-As – auch er zuvor Kaufmann in Mekka mit Verbindungen ins südliche Syrien – die Eroberung Palästinas. 641 fiel mit Caesarea die letzte byzantinische Festung. Wie lange sich die neuen Herren halten würden, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand; ein Ausbruch der Pest erhöhte die allgemeine Unsicherheit. Nicht wenige Grundbesitzer und Verwaltungsbeamte flüchteten sich auf das vergleichsweise nahe gelegene byzantinische Herrschaftsgebiet, während immer neue arabische Verbände in den syrisch-irakischen Raum eindrangen.