Neue Fischer Weltgeschichte. Band 9 - Gudrun Krämer - E-Book

Neue Fischer Weltgeschichte. Band 9 E-Book

Gudrun Krämer

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Beschreibung

Eine neue Geschichte des Mittleren Ostens vom 16. Jahrhundert bis heute – erhellend, exzellent und hoch aktuell. Verfasst von der Historikerin und Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer, eine der renommiertesten Expertinnen zum Thema in Deutschland. Sie erzählt die gesamte Geschichte des islamischen Raums, der sich von Nordafrika über die Türkei und Syrien bis zum Irak und Iran erstreckt, ab 1500. Warum ist der Islam in Saudi-Arabien sunnitisch, in Iran aber schiitisch geprägt? In welche Tradition stellt sich der türkische Präsident Erdogan mit seinem Herrschaftsstil? Und gibt es in der Geschichte des Mittleren Ostens auch demokratische Ansätze? Von den Anfängen des Osmanischen Reichs bis zu den heutigen arabischen und islamischen Staaten schildert Gudrun Krämer Religion, Wirtschaft, Kultur und soziale Beziehungen, erzählt von Herrschaft und Widerstand, von Sultanen, Gelehrten, Handwerkern und Sklaven. Ein großes Grundlagenwerk, unverzichtbar für das Verständnis der aktuellen Konflikte in Nordafrika und Vorderasien, deren Auswirkungen auch Europa schon verändert haben und weiter verändern werden.

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Seitenzahl: 875

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Prof. Dr. Gudrun Krämer

Neue Fischer Weltgeschichte Band 9

Der Vordere Orient und Nordafrika ab 1500

 

 

Über dieses Buch

 

 

Eine neue Geschichte des Mittleren Ostens vom 16. Jahrhundert bis heute – erhellend, exzellent und hoch aktuell

 

Warum ist Saudi-Arabien sunnitisch, Iran aber schiitisch geprägt? In welche Tradition stellt sich der türkische Präsident Erdoğan mit seinem Herrschaftsstil? Und gibt es in der Geschichte des Mittleren Ostens auch demokratische Ansätze? Die Historikerin und Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer erzählt die gesamte Geschichte des Raums, der sich von Nordafrika über die Türkei bis zum Iran erstreckt – von den Anfängen des Osmanischen Reichs bis zu den heutigen Staaten. Dabei geht es um Wirtschaft, Kultur und soziale Beziehungen, um Herrschaft und Widerstand, um Gelehrte, Handwerker und Sklaven. Ein großes Grundlagenwerk, unverzichtbar für das Verständnis der Konflikte, deren Auswirkungen auch Europa verändern werden.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Zur Neuen Fischer Weltgeschichte

Einleitung

1. Raum und Zeit

2. Religionen, Sprachen und Ethnien

3. Leitlinien, zentrale Begriffe und Konzepte der Darstellung

I Die frühneuzeitlichen Imperien im 16. Jahrhundert

A Reichsbildungen

1. Osmanen und Safaviden

2. Die Osmanen und ihre Nachbarn

B Militär, Recht und Verwaltung

1. Strukturen des Imperiums

2. Der Herrscher und seine Familie

3. Thronfolge

4. Distanz und Nähe

5. Palast- und Reichseliten

6. Militär

7. Reichs- und Provinzverwaltung

Kontrovers: Feudalismus und Lehnswesen

C Wirtschaft und Gesellschaft

1. Soziale Ordnung

2. Freiheit und Unfreiheit

3. Land und ländliche Gesellschaft

4. Die frommen Stiftungen

5. Stadt und städtische Gesellschaft

6. Wirtschaft und Wirtschaftspolitik

7. Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft im Zusammenhang: Iran unter Schah Abbas I.

Kontrovers: Der frühneuzeitliche Handel im Weltsystem

D Religion, Kultur und Politik

1. Religion und Staatsräson

2. Ulama und Staat

3. Mäzenatentum: Moscheen, Schreine, Pilgerfahrten

4. Muslime und Nichtmuslime

5. Orthodoxie und Häresie

6. Moralpolitik oder: Reform als Restauration

II Krise und Anpassung im 17. und 18. Jahrhundert

A Politik, Wirtschaft und Verwaltung

1. Die Celali-Aufstände

2. Pluralisierung im Zentrum: Sultan, Reichs- und Palasteliten

3. Monetarisierung und Kommerzialisierung

Kontrovers: Islamischer Kapitalismus

4. Pluralisierung in den Provinzen: Die Formierung politischer Haushalte

5. Religiöse Reform und politische Aktion: Wahhabiten und As-Saʿud

6. Neue Grenzen

B Bildung, Wissen und die schönen Künste

1. Sprache und Kultur

2. Höfische und städtische Kultur

3. Bildungsstätten und Bildungspfade

4. Das Wissen von der Welt

III Reform und Selbstbehauptung im »langen« 19. Jahrhundert

A Europäische Expansion und staatliche Reform

1. Defensive Modernisierung

2. Freihandelsimperialismus und Orientalische Frage

3. Tanzimat und hamidische Ära

B Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur

1. Zahlenpolitik: Die demographische Entwicklung

2. Infrastruktur und Urbanisierung

3. Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft

Kontrovers: Imperialismus und Weltmarktintegration

4. Bildung, Medien und Öffentlichkeit

C Freiheit, Gleichheit, Bürgerrecht

1. Vom Untertan zum Bürger

2. Kulturelle Erneuerung und religiöse Reform

D Krieg, Reform und Revolution

1. Hochimperialismus

2. Die Verfassungsbewegung in Iran

3. Die Jungtürkische Revolution

4. Der Erste Weltkrieg

5. Krieg und Völkermord

IV Identität und Emanzipation im 20. Jahrhundert

A Nationalismus und Staatenbildung in der Zwischenkriegszeit

1. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches

2. Nationalstaat und autoritäre Modernisierung: Die Türkische Republik

3. Die Neuordnung des arabischen Raums

B Anpassung und Widerstand in den Kolonialgebieten

1. Staats- und Nationsbildung im arabischen Raum

2. Die »liberale Ära«

3. Weltwirtschaftskrise und neue politische Bewegungen

4. Assimilation und Emanzipation im Maghreb

C Zweiter Weltkrieg und Entkolonisierung

1. Der Zweite Weltkrieg

2. Der Konflikt um Palästina und die Gründung Israels

3. Militärregime, Panarabismus und arabischer Sozialismus

4. Öffnungspolitik und neoliberale Reform

5. Ölboom und Rentierstaat

D Islamisierung und politischer Islam

1. Identitätspolitik: Religion und Authentizität

2. Legitimitätspolitik: Jihad und Scharia

3. Die iranische Revolution

4. Politischer Islam und globaler Jihadismus

5. »Post-Islamismus« und »Re-Islamisierung«

6. (K)ein Ausblick: Rebellion und Repression

Schluss

Anhang

Dank

Umschrift

Ausgewählte Literatur

Glossar

Schaubild Islamische Strömungen

Dynastien und Stammesverbände

Zeittafel

Personen- und Ortsregister

Zur Neuen Fischer Weltgeschichte

Was ist Weltgeschichte? Die Rede von ihr führt die Idee einer Totalität mit sich, einer Totalität des Raumes und der Zeit, des Geschehens und der Erfahrung, des Handelns und des Erleidens. Doch so notwendig die Vorstellung eines Ganzen im Ablauf der Zeit als regulative Idee der Weltgeschichte ist, sowenig kann der Mensch eine solche Gesamtheit empirisch erfassen.

Im Bewusstsein dieser Begrenzung bildet für die Neue Fischer Weltgeschichte die Aufgliederung des Globus in überschaubare, geographisch vorgegebene und historisch gewachsene Regionen den Ausgangspunkt. Innerhalb dieses Rahmens versteht sie sich nicht als Geschichte von Ländern oder Staaten, sondern als eine solche von Räumen und der Wechselwirkungen zwischen ihnen. Sie setzt Akzente durch Verbindungen und Trennungen, indem sie manche Kontinente, so Afrika und Europa, als Einheiten behandelt, während sie Amerika und insbesondere Asien stärker gliedert. Gewichtung und Strukturierung erfolgen auch in der zeitlichen Dimension, wenn eine Weltregion in zwei chronologisch aufeinanderfolgenden Bänden behandelt wird – im Falle Europas sind es sogar mehrere Bände. In solchen Schwerpunktsetzungen liegt einerseits das Eingeständnis eines Eurozentrismus, in dessen Tradition diese Weltgeschichte steht, ob sie will oder nicht, und andererseits der Ansporn für seine Überwindung in einer konsequenten systematischen Gleichbehandlung der verschiedenen Räume.

Die einzelnen Bände beschreiben einleitend die Rahmenbedingungen des jeweiligen Raumes für eine auf den Menschen bezogene und zumindest teilweise auch von ihm gemachte Geschichte, während sie am Schluss nach dem weltgeschichtlichen Ertrag (im positiven wie im negativen Sinne) fragen. Innerhalb einer Weltregion wird die Geschichte in Epochen behandelt, und jede Epoche ist ihrerseits nach Sachgebieten gegliedert, wobei Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur im Vordergrund stehen.

Das Vorgängerwerk, die weitverbreitete Fischer Weltgeschichte aus den 1960er Jahren, erhob den Anspruch, zu zeigen, »wie die Menschheit in ihrer Geschichte zum Selbstbewusstsein erwacht«. Die Geschichtswissenschaft ist seither zurückhaltender geworden. Die Neue Fischer Weltgeschichte betrachtet ihren Gegenstand nicht als einlinigen Fortschrittsprozess, sondern als polyphones Geschehen mit ständig wechselnden Haupt- und Nebenstimmen, die ihre Bedeutung behalten, selbst wenn sie längst verstummt sind.

 

Die Herausgeber

Einleitung

1.Raum und Zeit

Die Region des Vorderen Orients und Nordafrikas definiert sich in erster Linie über Politik, Kultur und Religion, und dementsprechend beweglich sind und waren ihre Konturen. Das ist nicht ungewöhnlich: Aller Raum wird von Menschen »gedacht«, »vorgestellt« und in gewissem Umfang auch physisch gestaltet, und als soziales Konstrukt ist er das Produkt einer bestimmten Epoche. Die Tatsache, dass wir heute von einem Großraum »Vorderer Orient und Nordafrika« sprechen, der in west-östlicher Richtung von Marokko über Ägypten, die Arabische Halbinsel und den syrisch-irakischen Raum bis nach Iran reicht und in nord-südlicher Richtung von der Türkei bis in den Sudan, unterstreicht die enge Verbindung von Raum und Zeit. Genauer betrachtet, gliedert der Großraum sich in mehrere Subregionen: den Maghreb, der die heutigen Staaten Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen umfasst; Ägypten und Sudan, die durch den Nil verbunden werden; die Türkei, Iran und die Staaten der Arabischen Halbinsel; und schließlich den Fruchtbaren Halbmond mit den heutigen Staaten Libanon, Syrien, Israel, Palästina, Jordanien und Irak, wobei zumindest für frühere Jahrhunderte noch einmal unterschieden werden muss zwischen der Levante (Libanon bis Jordanien) und Mesopotamien, dem von Euphrat und Tigris bewässerten Zweistromland (Irak). Über mehrere Jahrhunderte war das Osmanische Reich ein zentraler Akteur innerhalb des hier behandelten Raums und neben ihm das Safavidische Reich mit Schwerpunkt Iran; der Maghreb und größere Teile der Arabischen Halbinsel folgten einer je eigenen Dynamik. Vergleichbares gilt für die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen arabischen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches, die Türkei, Iran und das nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Israel.

Nach außen lässt sich der Großraum nur schwer abgrenzen: Zwar wird Nordafrika im Norden durch das Mittelmeer begrenzt und im Süden durch die Sahara, doch blockierte weder das Meer noch die Wüste die transregionalen Kultur- und Handelskontakte, Migration, Krieg und Eroberung. Die Grenzen des Vorderen Orients waren nie klar gezogen. Osmanen und Safaviden waren eng verflochten mit Regionen und Kulturen jenseits des Vorderen Orients und Nordafrikas. Vormoderne Imperien sind, anders als die modernen Territorialstaaten, nicht durch klare Grenzen markiert. Zentralasien, der Kaukasus und der indische Subkontinent zählen ebenso wenig zum Vorderen Orient und Nordafrika wie die Sahelzone, das Horn von Afrika und die ostafrikanische Küste, doch unterhielten all diese Regionen über Jahrhunderte enge Beziehungen zum Maghreb, zu Ägypten, Sudan, Oman und dem Jemen. Südosteuropa und Griechenland, die jahrhundertelang integraler Teil des osmanischen Herrschaftsbereichs waren, werden in der Regel der europäischen Geschichte zugeordnet, das tributpflichtige Khanat der Krimtataren der osteuropäischen und zentralasiatischen Geschichte. Das Osmanische Reich lässt sich jedoch ohne seine europäischen Territorien nicht beschreiben, das Safavidenreich nicht ohne den südlichen Kaukasus und das heutige Afghanistan. Daher muss auch die Erzählung immer wieder über den Vorderen Orient und Nordafrika hinausgreifen.

»Vorderer Orient« selbst ist ein kolonialer Begriff, der deutlich eine bestimmte Blickrichtung erkennen lässt: Es ist der Blick von Europa auf die Region, denn anders hat das Adjektiv »vorderer« ebenso wenig Sinn wie die für die Neuere Geschichte vielgebrauchten Begriffe »Naher« oder »Mittlerer Osten«. Während »Vorderer Orient« oder »Vorderasien« auch als Bezeichnung für die altorientalischen Reiche und das pharaonische Ägypten verwandt werden, sprechen Historiker und Politikwissenschaftler heute vorzugsweise vom »Nahen« und vom »Mittleren Osten«.[1] Auch diese Begriffe sind je nach Epoche recht unterschiedlich belegt worden. Heute beschreibt »Naher Osten« gewöhnlich den Raum zwischen Ägypten und dem Irak, »Mittlerer Osten« die weitere Region einschließlich der Türkei, Irans, Afghanistans und Pakistans; der Maghreb wird häufig hinzugerechnet, gelegentlich aber auch gesondert betrachtet. Ungeachtet seiner kolonialen Färbung wird zumindest der Terminus »Naher Osten« in der Region selbst viel gebraucht, zumal der Begriff »Osten« als Beschreibung eines geographischen und/oder kulturellen Raums hier durchaus verankert ist. So bezeichnet im Arabischen mashriq (Mashrek) das Gebiet, in dem die Sonne aufgeht, also den Osten, maghrib (Maghreb) den Westen, wo sie untergeht. Nichts anderes beschreiben die Begriffe Orient und Okzident. Immer wieder haben sich Literaten, Künstler und später auch politische Aktivisten der Region zugleich dem »Osten« zugeordnet, im Sinne eines territorial nicht allzu genau gefassten Kulturraums, der vom Maghreb bis nach Ostasien reichen konnte. Alternative Bezeichnungen wie »Westasien« haben für die Region von Iran über Mesopotamien und Kleinasien bis in die Levante ihre Berechtigung, suggerieren aber eine historisch unhaltbare Abgrenzung gegenüber Ägypten, Sudan und dem Maghreb und sind in den regionalen Sprachen bezeichnenderweise nicht verankert.

Auch Epochengrenzen verraten die Perspektive derer, die sie ziehen. Zum einen sind sie raumgebunden, zum anderen verlaufen Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Kultur nicht unbedingt parallel. Es macht daher einen Unterschied, ob politische Ereignisse, ökonomische Strukturen, kulturelle Strömungen oder künstlerische Stile als Grundlage der Periodisierung gewählt werden. Einen Unterschied macht ferner, ob die der Periodisierung zugrunde gelegten Phänomene lokalen bzw. regionalen Ursprungs sind oder von äußeren Mächten herbeigeführt (»induziert«) werden. Dies ist vor allem im Zusammenhang mit dem Paradigma von Aufstieg, Blüte und Niedergang von Bedeutung, das auch für das Osmanische und das Safavidische Reich eine große Rolle gespielt hat. Eine am europäischen Geschehen orientierte Gliederung der Epochen in Frühe Neuzeit, Neuzeit und neueste Zeit ist für den Vorderen Orient und Nordafrika durchaus möglich. Gleiches gilt für den Begriff der Moderne. Eine konventionell nach Dynastien gegliederte Darstellung ist an sich zwar fragwürdig, in einem historischen Überblick, der eine gewisse Schematisierung erzwingt, jedoch nicht ganz zu vermeiden – wenn man darüber nicht vergisst, dass Ökonomie, Kunst und Kultur sich einem politisch begründeten Grobschema nicht ohne weiteres unterordnen.

2.Religionen, Sprachen und Ethnien

Ethnizität und Kultur werden in der Wissenschaft heute als soziale Konstrukte verstanden, die Zugehörigkeit, Solidarität und Identität stiften sollen. Das trifft auf Stammesverbände ebenso zu wie auf religiöse und nationale Gemeinschaften. Sie alle konstituieren sich, sieht man von vollkommen abgeschieden und endogam lebenden Gruppen ab, nicht quasi naturwüchsig durch Herkunft und Abstammung (Volk), sondern werden im Wesentlichen von Menschen erdacht oder »vorgestellt«.[1] Das schließt nicht aus, dass die anthropogenetische Forschung biologische Abstammungslinien identifiziert, wie sie das mit der raschen Weiterentwicklung gentechnischer Methoden seit neuerem wieder tut, nachdem derartige Vorhaben vor allem in Deutschland lange Zeit unter Rassismusverdacht standen. Aber biologische Abstammung und Gruppenbildung sind nicht identisch, und daher werden »Völker« und »Stämme« nicht primär durch die Biologie, sondern im weitesten Sinn durch (Interessen-) Politik gestiftet. Aus der gemeinsamen Abstammung folgt auch nicht die gemeinsame Sprache und umgekehrt. In noch höherem Maß gilt dies für das Verhältnis von Abstammung, Religion und Kultur.

Kulturell gesehen war die Region zumindest jenseits des Maghrebs und der Arabischen Halbinsel bis ins 20. Jahrhundert hinein ungemein vielfältig, allenfalls übertroffen durch den indischen Subkontinent. Der Irak zum Beispiel bot ein geradezu atemberaubendes Bild des kleinteiligen Mit- und Nebeneinanders ethnischer, sprachlicher und religiöser Gruppen und Gemeinschaften. Soziale Gruppen und Gemeinschaften, die vorrangig mit Bezug auf Abstammung, Sprache und Kultur konstituiert bzw. konstruiert wurden, werden im Folgenden als »ethnisch« bezeichnet. Gelegentlich waren diese Gruppen zugleich in religiöser Hinsicht einheitlich; ein markantes Beispiel bieten hier die christlichen Armenier. Häufig diente ein ethnisches Label als Sammelbegriff für ein Bündel einzelner Gruppen, die keineswegs immer als Einheit auftraten; das gilt etwa für Berber (die Eigenbezeichnung lautet heute Imazighen, Sing. Amazigh), Kurden und Tscherkessen. Die ethnischen Zuordnungen wandelten sich immer wieder: So bezeichnete der arabische Begriff ʿarab bis ins 19. Jahrhundert die arabischsprachigen nomadischen Bewohner der Wüsten und Steppen, nicht die arabischsprachige Population insgesamt. Mit türk waren die Wanderhirten und Bauern des ländlichen Kleinasiens gemeint, nicht die Gesamtheit aller türkischsprechenden Personen. Die türkischsprechenden Städter im südöstlichen Balkan und in Westanatolien, den ehemals byzantinischen Kernzonen des Osmanischen Reiches, galten als rumi (Römer, Byzantiner). Im Arabischen wiederum waren rum die griechisch-orthodoxen Christen. Vermeintlich ethnische Labels beschrieben somit unterschiedliche soziale Gruppen.[2] Ethnisch verstanden wurden sie vor allem unter dem Vorzeichen des Nationalismus, und diese Ethnisierung religiöser, sprachlicher und geographischer Zugehörigkeit ist keineswegs selbstverständlich. Gleiches gilt für die Betonung religiöser Zugehörigkeit gegenüber Ethnizität und Sprache, wie sie besonders klar im Verhältnis von »Muslim« und »Türke« zum Ausdruck kommt.

Vom 16. bis in das ausgehende 19. Jahrhundert wurde die Bevölkerung des Vorderen Orients und Nordafrikas nicht durch massive Migrations-, Verdrängungs- oder Vernichtungsprozesse verändert. Dies bedeutet natürlich nicht, dass sich niemand bewegte: Freiwillig oder unfreiwillig wanderten im 16. Jahrhundert aus Spanien und Portugal vertriebene sephardische Juden nach Nordafrika und in das Osmanische Reich ein; im Osmanischen und im Safavidischen Reich wurden aus strategischen und ökonomischen Gründen immer wieder tribale, ethnische und religiöse Gruppen zwangsumgesiedelt. Die Zeiten des massenhaften Zustroms tribaler Verbände aber waren vorbei. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert an gerieten die Gesellschaften dann erneut in Bewegung: Die forcierte Migration und Vertreibung sunnitischer Muslime aus Südosteuropa, der Krim und dem Kaukasus hatte bereits in den 1770er Jahren eingesetzt; in den 1880er Jahren verstärkte sich die jüdische Zuwanderung nach Palästina; massive Auswirkungen hatten Vertreibung und Massenmord an kleinasiatischen Christen seit den 1890er Jahren und der sogenannte Bevölkerungsaustausch zwischen Türken und Griechen in den frühen 1920er Jahren. Die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 war mit der Flucht und Vertreibung Hunderttausender arabischer Palästinenser verbunden, wenig später gefolgt von der Migration und Ausweisung Hunderttausender orientalischer Juden.

Die Entkolonisierungs- und Nationalisierungspolitik im Maghreb, in Ägypten und in Teilen des Fruchtbaren Halbmonds führte in den 1950er und 1960er Jahren zur Flucht und Vertreibung europäischer Staatsangehöriger und nichtmuslimischer Minderheiten, die mit Kolonialismus oder Zionismus in Verbindung gebracht wurden. Die Etablierung der Islamischen Republik Iran im Jahr 1979 war begleitet von einem Massenexodus regimefeindlicher Iraner; die Kriege im Irak, in Syrien und am Persischen Golf lösten seit den 1990er Jahren riesige Flüchtlingsströme aus, und deren Zahl potenzierte sich noch einmal im Gefolge der politischen Proteste der Jahre 2010/11 (Arabellion, Arabischer Frühling) und der eskalierenden Hegemonialkonflikte zwischen sunnitischen und schiitischen Regionalmächten. Weniger politisch als vielmehr ökonomisch bedingt war dagegen die Massenmigration von Arbeitskräften in die ölproduzierenden Staaten der Arabischen Halbinsel und nach Libyen, die in den 1970er Jahren einsetzte und neben Arabern erstmals auch Millionen von Arbeitskräften aus Südasien und Südostasien erfasste, die allerdings als Gastarbeiter eingestuft wurden und deren Aufenthalt entsprechend als zeitlich begrenzt galt und gilt.

Es ist mit Recht argumentiert worden, dass Religion und Sprache für Politik und Gesellschaft des Vorderen Orients und Nordafrikas generell bedeutsamer waren als die ethnische Herkunft.[3] Fast überall zählte, ob jemand als Muslim, Christ, Jude oder Zoroastrier galt, wenn dies auch nicht unbedingt in der Weise rechtlich festgeschrieben und politisch relevant wurde wie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unter den Vorzeichen moderner Nations- und Staatsbildung. Für alle großen religiösen Gemeinschaften stellte sich daher die Frage nach Rechtgläubigkeit und Häresie. Grenzziehungen sind im islamischen Recht und in der islamischen Theologie ebenso angelegt wie in der jüdischen, christlichen und zoroastrischen – und häufig genug übersetzten sich diese Grenzziehungen in staatliches Handeln. Der heutige Betrachter muss die entsprechenden Zuschreibungen kennen, er muss sie jedoch nicht übernehmen.

Fast überall im Vorderen Orient und in Nordafrika bildeten Muslime zahlenmäßig die Mehrheit – Sunniten im Maghreb, in Ägypten, Sudan, im Fruchtbaren Halbmond und auf der Arabischen Halbinsel mit Ausnahme des nördlichen Jemens, Omans und der nordostarabischen Golfküste; Zwölferschiiten in Iran, in bestimmten Regionen des Iraks, an der Ostküste der Arabischen Halbinsel und im südlichen Libanon; fünferschiitische Zaiditen im nördlichen Jemen; die aus der frühislamischen Bewegung der Kharijiten hervorgegangenen Ibaditen in Oman (vgl. Schaubild im Anhang). Kleinere muslimische Gemeinschaften wie die siebenerschiitischen Ismailiten lebten verstreut im heutigen Indien, Pakistan, Afghanistan, Iran, Syrien, Libanon, Jemen und Ostafrika; ihr Zentrum lag bis ins 20. Jahrhundert auf dem indischen Subkontinent. Die muslimischen Untergruppen können nur in Ermangelung eines passenden deutschen Ausdrucks als »Konfessionen« oder »Denominationen« bezeichnet werden. Die Bezeichnung »Sekte« sollte man grundsätzlich meiden.

Neben den Sunniten, Schiiten und Ibaditen lebten in verschiedenen Regionen Gruppen, die sich selbst als Muslime verstanden oder dies zumindest unter bestimmten Umständen taten, die von der Mehrheit aber nicht als Muslime anerkannt wurden oder wiederum nur, wenn dies politisch opportun schien. Zu nennen sind hier die türkischen und kurdischen Aleviten, die aus der weitverzweigten, auf Ali, den Cousin und Schwiegersohn des Propheten Muhammad, ausgerichteten religiösen Strömung hervorgingen, die mit ihnen nicht identischen syrischen Alawiten, die früher oft Nusairis genannt wurden, oder auch die Drusen. All diese Gemeinschaften lebten bis ins 20. Jahrhundert hinein in bestimmten Regionen und brachten ihre religiösen Traditionen erst spät in schriftliche Form. Im 19. Jahrhundert entstanden neue religiöse Bewegungen wie die Ahmadiyya, die sich selbst als Muslime verstanden, von der Mehrheit aber als Abtrünnige (Apostaten) ausgegrenzt wurden und werden. Die Bahais hingegen lösten sich vom Islam und entwickelten sich zu einer eigenständigen Religionsgemeinschaft; auch sie werden in weiten Teilen der islamischen Welt als Apostaten verfolgt.

Das Spektrum der orientalischen Kirchen reichte von den griechisch-orthodoxen Christen als Angehörigen der früheren byzantinischen Reichskirche über die mia- bzw. monophysitischen Armenier und Kopten bis zur duophysitischen Kirche des Ostens. Nachdem sich im 12. Jahrhundert bereits die libanesischen Maroniten der Autorität des Papstes unterstellt hatten, entstanden im 16. und 17. Jahrhundert weitere mit Rom unierte Kirchen. Unter dem Einfluss einer intensivierten europäischen Mission formierten sich im 18. Jahrhundert neue katholische und im 19. Jahrhundert mehrere protestantische Kirchen, ein Prozess, der innerhalb der betroffenen Gemeinschaften heftige Spannungen auslöste. Die muslimische Mehrheitsgesellschaft nahm hiervon in der Regel wenig Notiz. Auch das Verhältnis der verschiedenen jüdischen Gruppen (orientalische Juden, Sepharden, Aschkenasen, Karäer) zueinander war häufig angespannt. Religionsgemeinschaften wie die iranischen Zoroastrier (Anhänger Zarathustras, auf dem indischen Subkontinent: Parsen) und die kurdischen Jesiden spielten im sozialen und politischen Geschehen jenseits ihrer eigenen Siedlungsgebiete kaum eine Rolle.

In vielen Teilen des Vorderen Orients und Nordafrikas existierten mehrere Sprach- und Schriftkulturen nebeneinander. Manche waren Schriftsprachen, andere nicht; einige waren über weite Regionen verbreitet, andere nur lokal oder regional verankert. Das Phänomen der Mehrsprachigkeit oder, wie es genauer heißen sollte: der Kompetenz in mehreren Sprachen beschränkte sich zumal unter Nichtmuslimen keineswegs auf die gebildeten Eliten. Arabisch war nicht allein die Sakralsprache der Muslime in der gesamten muslimischen Ökumene, sondern diente zwischen Marokko und dem Irak über alle religiösen Grenzen hinweg den gebildeten Kreisen als Verkehrssprache, in vielerlei Dialekten auch als Alltagssprache der breiten Bevölkerung. Zu Arabisch, Persisch und Türkisch mit ihren unterschiedlichen Sprachebenen kamen berberische Sprachen und Dialekte, die kollektiv als Tamazight bezeichnet werden, nubische Sprachen, türkische und kurdische Sprachgruppen, West- und Ostarmenisch. Von besonderem Interesse sind die sprachlichen Mischungen und Grenzgänge (»cross-overs«): Das Osmanische etwa entstand aus einer Verbindung türkischer, arabischer und persischer Elemente. Viele ethnisch-religiöse Minderheiten übernahmen im Laufe der Zeit Arabisch, Persisch oder Türkisch als ihre Schrift- und Umgangssprache; gelegentlich verwendeten sie hierfür ein eigenes Alphabet oder gewisse Sonderzeichen. Die christlichen Kopten in Ägypten beispielsweise sprachen und schrieben Arabisch. Die griechisch-orthodoxen Karamanlı in Kleinasien hingegen schrieben ihren türkischen Dialekt in griechischen Lettern; viele osmanische Armenier schrieben Türkisch in armenischer Schrift, in Teilen des Iraks schrieben Juden eine eigene Form des Aramäischen in hebräischen Buchstaben. Im Zuge von Wanderungsbewegungen einschließlich der Massenmigration in westliche Länder wurden diese Sprachen und Dialekte seit dem späten 19. Jahrhundert auch weit über ihr Ursprungsgebiet hinaus verbreitet.

3.Leitlinien, zentrale Begriffe und Konzepte der Darstellung

Die Geschichte des Vorderen Orients und Nordafrikas ist die Geschichte von Beziehungen, Austausch und Transfers und daher Teil der Globalgeschichte, ein »Interaktionsgeschehen innerhalb weltumspannender Systeme«.[1] Dabei richtete sich der Blick über Jahrhunderte hinweg nicht primär auf Europa, sondern auf Zentralasien, den Indischen Ozean und Teile Südostasiens, im Falle des Maghrebs auch auf den subsaharischen Raum. Aus China wurden materielle Güter, Techniken und künstlerische Ausdrucksformen adaptiert, jenseits des mongolischen Machtbereichs jedoch keine Institutionen und Praktiken; auch übersetzt wurde, so scheint es, kaum. Japan und Korea lagen bis an die Wende zum 20. Jahrhundert jenseits des Horizonts. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts trat Europa ins Zentrum der Aufmerksamkeit, später gefolgt von den Vereinigten Staaten von Amerika.

Für diese wie für jede andere historische Darstellung gelten gewisse Regeln: Die Historikerin muss für die Sprache ihrer Quellen sensibel sein, sie kann sie aber nicht einfach übernehmen, sondern muss sie im Lichte heutiger Annahmen befragen, zum Beispiel daraufhin, wie sie gesellschaftliche Gruppen und Verhältnisse darstellen bzw. »repräsentieren«, und daraufhin, was sie nicht sagen und erfassen. Das ist die »Dekonstruktion«, von der vor allem die Diskurstheorie handelt. Die Quellen sprechen zu ihren Lesern – aber sie sprechen ihre eigene Sprache. Mit Blick auf außereuropäische, noch dazu kolonial überformte Gesellschaften und Kulturen stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit moderner, das heißt in der Regel westlich geprägter Begriffe besonders dringend. Die Übersetzung von einer Sprache in die andere beinhaltet bekanntlich nie die bloße Übertragung stabiler Bedeutungen, ganz abgesehen von den Verschiebungen in Metaphorik, Klangfarbe und Sprachmelodie, die für die Rezeption eine ganz zentrale Rolle spielen. Jede Übersetzung bringt einen Verlust an Nuancen und Konnotationen der Ausgangssprache mit sich. Sie kann aber auch, und das wird häufig übersehen, bereichernd wirken, wenn nämlich die Empfängersprache auf dem konkreten Feld über feinere Farben und Ausdrucksmöglichkeiten verfügt als die Ausgangssprache.

Auch mit Blick auf den Vorderen Orient und Nordafrika gibt es Begriffe, die zumindest sinngemäß ins Deutsche übersetzt werden müssen, um eine unnötige Exotisierung zu vermeiden und die vergleichende Betrachtung zu ermöglichen. Fachtermini wie Scharia (islamische Rechts- und Werteordnung, der islamic way of life), Waqf (fromme Stiftung) oder Timar (Pfründe) können jedoch nicht durchgängig vermieden werden. Die Aufgabe wird nicht leichter dadurch, dass die moderne Wissenschaft immer neue Termini hervorbringt, die in einigen Fällen die Wünsche betroffener Gruppen aufgreifen, die mitunter ihre Eigenbezeichnungen ändern, in anderen modischen Konventionen folgen. An die Stelle des mittlerweile als abwertend verstandenen »Zigeuner« etwa ist die Bezeichnung Sinti und Roma getreten. Die Kategorie »Rasse« kann man seit der nationalsozialistischen Diktatur im deutschen Sprachraum nicht mehr verwenden, in den USA ist race ein politischer Kernbegriff. Eine Person oder Gruppe »weiß« zu nennen ist in der Regel kein Problem, »schwarz« oder »farbig« hingegen schon. Auch hier ändert sich der Sprachgebrauch ständig: Was vor nicht allzu langer Zeit »Schwarzafrika« hieß, heißt nun subsaharisches Afrika. In den USA war die Bezeichnung black lange Zeit akzeptiert, wurde dann aber weitgehend durch African American ersetzt; in Teilen des subsaharischen Afrika hingegen werden die Bezeichnungen »schwarz« und »Schwarzer« weiterhin ganz selbstverständlich verwandt. Immer ist die Wortwahl nicht eine bloße Frage der political correctness, sondern Hinweis auf die Standortgebundenheit (und damit zugleich Wandelbarkeit) wissenschaftlicher Rede.

Grundsätzlich gefragt werden muss daher zum einen, wie Politik, Gesellschaft und Kultur in ihrer eigenen und in späteren Zeiten vorgestellt und repräsentiert wurden, und zum anderen, mit welchen Kategorien sie heute wissenschaftlich analysiert oder »erzählt« werden können. Die folgenden Leitfragen machen dies deutlich: Wie ist Kultur zu verstehen, und zwar gerade im Verhältnis zu Religion – als durchgehendes Muster der Wahrnehmung und Repräsentation oder als abgegrenztes Feld neben anderen sozialen Feldern wie Politik, Wirtschaft oder Recht? Was heißt »islamisch geprägt« – ein Konzept, das sich im Übrigen in keiner der regionalen Sprachen ausdrücken lässt? Wie gestaltet »der« Islam als Religion und Kultur individuelle und kollektive Identität, gesellschaftliche Organisation und politisches Handeln in »islamisch geprägten« Räumen und Gemeinschaften? Die Frage wird im Zusammenhang mit den Prozessen der Modernisierung und Säkularisierung besonders wichtig. Religion und Gesellschaft des Vorderen Orients und Nordafrikas scheinen nicht nur im Vergleich zu Westeuropa geringer institutionalisiert zu sein. Wie wirkt sich dies auf die soziale und politische Ordnung aus? Was sind geeignete Kategorien sozialer Ordnung? In welchen physischen und sozialen Räumen bewegen sich Individuen und Gemeinschaften?

Fragen von Gleichheit und Ungleichheit sollen in der Erzählung breiten Raum einnehmen. Dazu gehören Geschlechterrollen und das Geschlechterverhältnis, die ja mehr umfassen als die Stellung der Frau. Sie sollen, wenn immer möglich, nicht als separates Thema abgehandelt, sondern in alle Themenfelder eingearbeitet werden. Ähnliches gilt für das Verhältnis von Muslimen und Nichtmuslimen und für die so wichtigen Abstufungen von Freiheit und Unfreiheit, die unterschiedlichste Felder berühren, allzu häufig aber als Sonderthemen (Toleranz, Unterdrückung, Sklaverei) behandelt werden.

IDie frühneuzeitlichen Imperien im 16. Jahrhundert

AReichsbildungen

Um 1500 dominierten zwei Großreiche den Vorderen Orient und mit Einschränkungen auch Nordafrika, beide wurden von Eroberern türkischer oder turko-mongolischer Herkunft gegründet: Am ältesten und langlebigsten war das Osmanische Reich (um 1300–1922), das im 16. und 17. Jahrhundert von Südosteuropa und den ägäischen Inseln über Kleinasien bis in den Kaukasus reichte und von Mesopotamien über die Levante, den Hijaz, die ostafrikanische Küste und Ägypten bis in das heutige Algerien. Das entspricht dem heutigen Vorderen Orient und Nordafrika ohne Marokko, das Innere der Arabischen Halbinsel, Oman und Iran. Kurzlebiger und territorial weniger ausgedehnt war das Safavidische Reich (1501–1722), das neben dem heutigen Iran zeitweise auch Teile Afghanistans, Aserbaidschans, des Kaukasus und des Iraks beherrschte. Das turko-mongolische Reich der Großmoguln in Indien, das kurze Zeit später entstand (1511 bzw. 1526, je nachdem, ob man den Einmarsch der Timuriden unter Babur oder die Schlacht von Panipat als entscheidend wertet) und mit dem die Osmanen und Safaviden vielfältige Beziehungen unterhielten, muss hier gewissermaßen außen vor bleiben. Im Osten konkurrierten im 16. Jahrhundert die Usbeken mit den Osmanen und Safaviden. Auf der Arabischen Halbinsel und im Maghreb behaupteten sich regionale Mächte: Oman war unabhängig, Teile des Jemens hingegen gerieten für ein Jahrhundert unter osmanische Herrschaft. In Marokko verteidigten einheimische Dynastien ihre Stellung gegenüber lokalen Rivalen, Osmanen, Spaniern und Portugiesen, während die Region zwischen Westalgerien und der Cyrenaika in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts unter osmanische Herrschaft gelangte. Im Folgenden werden die Grundzüge von Herrschaft und Gesellschaft immer wieder am osmanischen Beispiel illustriert, da sie dort am dichtesten dokumentiert und aufgearbeitet sind. Das Safavidenreich bildet hierzu in vielem einen aufschlussreichen Kontrast.

1.Osmanen und Safaviden

Rückblick: Das Osmanische Reich vom Beylik zum Sultanat

Die »Türk« der innerasiatischen Steppe, die sich seit der Spätantike auf dem Weg friedlicher Wanderung und kriegerischer Vorstöße im eurasischen Raum ausbreiteten und erste »alttürkische« Reiche gründeten, vertraten ursprünglich wohl keine auf gemeinsamer Abstammung begründete ethnische Gruppe, sondern eine politische Einheit, die sich aus einer Anzahl tribaler Verbände zusammensetzte.[1] Als gemeinsame Verkehrssprache scheinen sie Türkisch benutzt zu haben, sprachen allerdings verschiedene Dialekte und bedienten sich darüber hinaus je nach Religionszugehörigkeit verschiedener Schriften. Über die Zeit differenzierten sich ihre Lebensweise und ihre Kultur einschließlich des religiösen Bekenntnisses in den verschiedenen Lebensräumen immer stärker aus; die islamisierten Türken wurden in den zeitgenössischen Quellen Turkmenen genannt. Im 11. Jahrhundert etablierte sich ein Zweig des zum sunnitischen Islam konvertierten Familienverbands der Seldschuken in Kleinasien, wo er unter dem Namen Rum-Seldschuken bekannt wurde, »römische« Seldschuken – ein Hinweis auf Ostrom bzw. Byzanz; ihre Hauptresidenz wurde Konya, das byzantinische Ikonion. 1243 unterlagen die Rum-Seldschuken den Mongolen und wurden 1260 Vasallen der Il-Khane, Nachkommen des mongolischen Eroberers Dschingis Khan (gest. 1227), die mittlerweile große Teile Irans, des Iraks und des Kaukasus unterworfen hatten.

Karte 1: Türkische Stammesgruppen, Dynastien und Reiche

Zu den turkmenischen Anführern, die sich an der Wende zum 14. Jahrhundert zwischen dem rum-seldschukisch-ilkhanidischen und dem byzantinischen Machtbereich bewegten, gehörte ein gewisser Osman (möglicherweise hieß er Atman, gestorben ist er vermutlich 1326), auf den sich die Osmanen später als Gründer von Staat und Reich beziehen sollten. Osman setzte sich mit seinem Anhang – Schafe züchtenden Wanderhirten, die zum Islam konvertiert und wahrscheinlich unter mongolischem Druck im frühen 13. Jahrhundert nach Westen gezogen waren – im nordwestlichen Kleinasien fest. Seine Erfolge zogen immer neue turkmenische Gruppen an, die weitgehend autonom unter ihren eigenen militärischen und religiösen Anführern als Grenzkämpfer von der Beute und den Abgaben der unterworfenen Bevölkerung lebten. 1326 eroberte Osmans Sohn Orhan (regierte wohl von 1324 bis 1362) das Handelszentrum Prousa (Bursa) und kurz darauf Nikaia, das spätere Iznik. 1354 setzten die Osmanen über die Dardanellen auf europäischen Boden über, nahmen den Hafen von Gallipoli und gut ein Jahrzehnt später das thrakische Adrianopel ein. Diesen wichtigen Handelsknotenpunkt machten sie zum Zentrum ihrer europäischen Besitzungen und benannten ihn in Edirne um. Von dort drangen sie immer tiefer nach Südosteuropa vor. Ungeachtet aller Siege auf kleinasiatischem und europäischem Boden war die osmanische Herrschaft jedoch wenig gefestigt. 1402 unterlag Sultan Bayezid I. in der Schlacht von Ankara dem Heer des turko-mongolischen Eroberers Timur. In den 1430er Jahren aber stieg das osmanische Sultanat erneut zu einer regionalen Großmacht auf. 1453 fiel schließlich Konstantinopel, das seit der Plünderung durch ein lateinisches Kreuzfahrerheer im Jahr 1204 seine frühere Stellung längst eingebüßt hatte und eher von symbolischer denn von realer Bedeutung war, 1461 folgte das byzantinisch-georgische Kaiserreich von Trapezunt.

Die Siege signalisierten keineswegs das Ende des osmanischen Eroberungsdrangs, für den es keine »natürliche Grenze« gab und kein definiertes Endziel: Die Osmanen hatten kein »Vaterland«, das es zu verteidigen galt, sondern einen Macht- und Einflussbereich, den sie bis an die Grenze des Möglichen ausweiteten. Strategische und kommerzielle Überlegungen spielten dabei eine wichtige Rolle. Zur gleichen Zeit tauchten im Osten neue Widersacher auf: Die wohl nach ihren Feldzeichen benannten turkmenischen Stammeskonföderationen der (tendenziell schiitischen) »Schwarzen Widder« oder »Hammel« (Kara Koyunlu) und der (sunnitischen) »Weißen Widder« oder »Hammel« (Ak Koyunlu) unterwarfen die Region von Ostanatolien bis zum Kaspischen Meer; im Südosten reichte ihr Einfluss bis an den Euphrat und die iranische Provinz Kerman. Ihre Hauptstoßrichtung wies jedoch nach Osten, nicht nach Westen; ihre Hauptgegner waren dementsprechend nicht die Osmanen, sondern die Timuriden, deren Herrschaft in Zentralasien und Nordostiran (Khurasan) sie zwischen 1500 und 1507 beseitigten.[2] Zur selben Zeit aber erwuchs den Osmanen ein Gegner, der eine ganz andere Dynamik entfaltete als die miteinander konkurrierenden Weißen und Schwarzen Widder: die religiös-politische Bewegung der Safaviden, die eine Neuorientierung osmanischer Politik erzwang.

Der Aufstieg der Safaviden

Auch die Anfänge der Safaviden reichen in die Wirren des Mongolensturms zurück, als sich zwischen Zentral- und Kleinasien ein maßgeblich von Predigern, Heilern, Sufis und Derwischen getragener Islam verbreitete, der vielfach ausgesprochen eigenwillige Formen annahm. In diesem unruhigen Milieu wirkte Scheich Safi ad-Din (er lebte um 1252 bis 1334 und war also ein Zeitgenosse Osmans und Orhans) als Meister einer Sufi-Bruderschaft, die später als »Safawiyya«, das heißt »Anhänger des Safi ad-Din«, bekannt wurde. Die Familie stammte ursprünglich wohl aus dem kurdischen Gebiet und lebte seit dem 11. Jahrhundert in der Nähe von Ardabil, im heutigen Aserbaidschan, wo sie umfangreichen Landbesitz erwarb. Typisch für seine Zeit und Umgebung, verband Safi ad-Din das Selbstverständnis als Sunnit mit der besonderen Verehrung Alis – des Cousins und Schwiegersohns des Propheten Muhammad – und der von den Schiiten verehrten Imame. Das machte ihn nicht zum Schiiten; seine Bruderschaft wurde erst später schiitisiert, und dieser Prozess war nicht geradlinig. Safi ad-Din selbst sprach Persisch, die Mehrheit seiner Anhänger einen westtürkischen Dialekt. Schrittweise passte sich die Familie des Scheichs kulturell und sprachlich ihrer Anhängerschaft an.

Einer seiner Nachfolger, Scheich Junaid (gest. 1460), verwandelte die Bruderschaft in eine militante religiös-politische Bewegung, wie sie zu anderer Zeit und an anderem Ort auch die Fatimiden, die Almoraviden und die Almohaden gebildet hatten. Hier manifestierte sich eine Verknüpfung von Religion und Politik, die unter islamischen Vorzeichen möglich, aber keineswegs zwingend ist. Die Bewegung (hier passt der Begriff besonders gut) war im kulturellen wie im physischen Sinn mobil. Von der Vorstellung starrer Schranken zwischen Muslimen und Christen, Sunniten und Schiiten, Türken, Mongolen, Kurden und Persern muss man sich für diesen Zeitraum grundsätzlich freimachen. Wie die Safawiyya zu dieser Zeit organisiert war, ist kaum mehr auszumachen. Der mongolische Begriff oymaq für ihre militärischen Einheiten lässt sich als Clan oder Stamm übersetzen, doch folgt daraus nicht notwendig, dass Clans und Stämme ihre Grundlage abgaben. Mittlerweile waren die Mitglieder der Safawiyya unter ihren Gegnern als Kızılbaş (türk. Rotköpfe) bekannt, und zwar wegen ihrer Kopfbedeckung, einer roten Kappe mit zwölf Zwickeln, um die turbanartig ein Tuch gewunden werden konnte; die zwölf Zwickel verwiesen auf die zwölferschiitischen Imame, die persische Bezeichnung taj-i Haidari (»Haidar-« oder »Löwen-Krone«), auf Ali. Die Fremdbezeichnung übernahmen sie schließlich selbst. Von den Kara Koyunlu aus Ardabil vertrieben, fanden sie unter den kleinasiatischen Turkmenen breiteren Rückhalt und bei den (sunnitischen) Ak Koyunlu militärische Unterstützung, die durch Heiraten gefestigt wurde. Der Anführer der Ak Koyunlu, Uzun Hasan (reg. 1457–1478), war zu einer regionalen Größe aufgestiegen, suchte unter anderem ein Bündnis mit Venedig und nutzte für seine Zwecke das tribale Register ebenso wie das religiöse. Nach seinem Tod verwickelten sich die Kızılbaş in die Kämpfe um lokale und regionale Vormacht, in denen ihr Oberhaupt, Scheich Haidar, und dessen ältester Sohn Ali ums Leben kamen. Haidars jüngerer Sohn Ismail wurde nach Lahijan in die kaspische Region Gilan gebracht, wo ihn der lokale Machthaber, ein zaiditischer Schiit, unter seinen Schutz nahm. In Lahijan gewann Ismail wohl erstmals tiefere Einblicke in schiitische Lehren.

Als Ismail 1499 an die Spitze der Kızılbaş trat, war er zwölf Jahre alt. Ungeachtet seiner Jugend erwies er sich als charismatischer Führer ungewöhnlichen Formats und Anspruchs, den er in eigenen Gedichten unterstrich – ein Hinweis auf die zentrale Rolle der Dichtung für Propaganda und Polemik.[3] Sein Selbstverständnis bewegte sich deutlich jenseits etablierter Doktrinen, gleich ob sunnitisch oder schiitisch, aber es stand in Einklang mit den messianischen Verheißungen seines Ursprungsmilieus. Mit ihm trat er zugleich in Konkurrenz zu anderen messianischen Führern, die in meist mehrdeutiger Weise als Mahdi, Imam, »Vertreter des Imam«, »Abglanz«, »Hülle« oder Inkarnation Gottes auftraten. Häufig artikulierten sie eine Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen. Der Mehrheit der sunnitischen und zwölferschiitischen Muslime galten Ismail und seine Gefolgsleute dagegen als religiöse »Übertreiber« (arab. ghulat). Ismail verließ seinen Zufluchtsort Lahijan und wandte sich zunächst nach Ardabil, dem Stammsitz der Familie. Bald schlossen sich ihm weitere turkmenische Stammesgruppen an; Eheschließungen festigten die Bande unter den führenden Clans der Kızılbaş. 1500 schlugen sie die Truppen des Shirvanshah, eines Machthabers am Kaspischen Meer, gegen den Ismails Großvater und Vater im Kampf gefallen waren. Nach einem Sieg über die Ak Koyunlu zogen sie 1501 in deren Residenz Täbriz ein, eines der großen Handelszentren entlang der Seidenstraße, das schon früheren Dynastien als Hauptsitz gedient hatte. In Täbriz nahm Ismail – der gerade einmal den nordwestlichen Rand Irans besetzt hatte – den Titel eines persischen Großkönigs an (shahanshah oder padishah-i Iran) und ließ zugleich die Freitagspredigt im Namen der von den Zwölferschiiten verehrten Imame halten. Bis 1512 eroberten die Kızılbaş West- und Zentraliran sowie den Irak einschließlich Bagdads und der Schreinstädte Najaf, Kerbela und Kazimain, die im Arabischen als ʿatabat (Schwellen) bekannt sind und in denen mehrere zwölferschiitische Imame bestattet lagen. Im Kampf gegen die turko-mongolischen Usbeken nahmen sie das nordostiranische Khurasan ein sowie Herat im heutigen Afghanistan, wo der Timuride Husain Baiqara – Vorbild vieler türkischer und turko-mongolischer Herrscher einschließlich der Osmanen – noch wenige Jahre zuvor Hof gehalten hatte (vgl. Karte 2).

Das Osmanische Reich: Vom Sultanat zum Imperium

Die Safaviden, die unter den Turkmenen in Kleinasien, Syrien und dem nördlichen Irak viel Rückhalt fanden und im Gegensatz zu den Osmanen selbst aktiv für ihre Überzeugung missionierten, bedrohten die osmanische Herrschaft von außen wie von innen. Sultan Bayezid II. (reg. 1481–1512) reagierte vorsichtig auf die neue Bedrohung und stieß damit, wie es scheint, in der Armee auf Widerstand. Noch zu seinen Lebzeiten brachten sich seine Söhne Korkud, Ahmed und Selim als Nachfolger in Stellung. Als in der Gegend von Antalya ein gewisser Şah Kulu (pers. Shah Qulu, »Sklave des Schahs«), dessen Vater im Dienst von Ismails Großvater Haidar gestanden hatte, zugunsten der Safaviden bzw. Kızılbaş agitierte, schlossen sich ihm viele unzufriedene osmanische Gefolgsleute an. In dieser kritischen Lage rebellierte Prinz Selim und zwang seinen Vater 1512 zur Abdankung.

Karte 2: Iran, Kaukasus und angrenzende Gebiete im 16. Jahrhundert

Auf den Thron gelangt, ging Selim I. (später bekannt als Yavuz Selim: der »Grimme« oder »Gestrenge«) mit größter Härte gegen wirkliche und vermeintliche Anhänger des Şah Kulu und der Safaviden vor. Tausende wurden nach Südosteuropa deportiert, ebenso viele massakriert; gewisse Quellen sprechen von bis zu 40000 Toten. Als eine safavidische Armee auf anatolischen Boden vordrang, entschloss sich der Sultan zum Gegenschlag. Um zu rechtfertigen, dass er Muslime bekämpfte, verschaffte er sich ein Rechtsgutachten (Fatwa), das Ismail und seine Anhänger zu Häretikern und den Kampf gegen sie für religiös geboten erklärte.[4] In der Schlacht von Çaldıran nordöstlich des Van-Sees erlitt das von Schah Ismail persönlich angeführte safavidische Heer im August 1514 eine vernichtende Niederlage. Ausschlaggebend waren die Disziplin, Logistik und Artillerie der auch zahlenmäßig überlegenen osmanischen Truppen. Dann aber weigerten sich diese, weiter nach Osten vorzurücken, und zwangen den Sultan zur Umkehr – ein Beleg unter vielen für die Grenzen seiner Macht, die keineswegs unumschränkt (absolut) war.

Abb. 1: Die Schlacht von Çaldıran (anon., Geschichte Schah Ismails, Isfahan, nach 1675)

Die Konfrontation mit den Safaviden erhöhte die Bedeutung Südostanatoliens und Syriens als Grenzland zum Machtbereich der Mamluken, freigelassenen »weißen« Militärsklaven, die seit dem 13. Jahrhundert den Raum zwischen Ägypten, Syrien, Hijaz und Jemen beherrschten. Schon Bayezid hatte gegen die Mamluken Krieg geführt, nun fürchteten die Osmanen nicht ohne Grund ein safavidisch-mamlukisches Bündnis. 1515 nahmen sie das turkmenische Emirat der Dhulkadir ein, einen klassischen Pufferstaat im anatolisch-syrischen Grenzgebiet, der sich den Mamluken als Vasall unterstellt hatte, um sich so vor den Osmanen zu schützen. Im folgenden Jahr zog Sultan Selim mit seinem Heer aus Istanbul aus, wobei zunächst unklar blieb, ob es gegen die Safaviden oder die Mamluken gehen würde. Die Entscheidung fiel bald, denn alarmiert vom Fall der Dhulkadir rückte der Mamlukensultan Qansuh al-Ghuri in Syrien vor. Im August 1516 kam es nördlich von Aleppo zur Schlacht von Marj Dabiq. Erneut scheinen Logistik und Feldartillerie der Osmanen den Ausschlag gegeben zu haben, doch war auch ihre Kavallerie der mamlukischen überlegen. Qansuh al-Ghuri fiel, sein Heer löste sich auf; die osmanischen Truppen besetzten Syrien, ohne auf nennenswerten Widerstand zu treffen. Abermals scheint jedoch das weitere Vorgehen unklar gewesen zu sein. Erst ein Gegenangriff des neuen Mamlukensultans in Gaza und die Ermordung eines osmanischen Unterhändlers führten die Entscheidung herbei: Ende Januar 1517 besiegte die osmanische Armee in der Nähe von Kairo die mamlukische Streitmacht. Der Fall des mamlukischen Sultanats bedeutete zugleich das Ende des abbasidischen Schattenkalifats. Symbolisch wichtig war überdies die Unterwerfung des Emirs von Mekka, machte sie den Sultan doch zum Herrn der islamischen heiligen Stätten in Mekka und Medina. Auch materiell lohnten sich die Eroberungen: Nur ein Jahrzehnt später trugen die syrischen Provinzen Aleppo und Damaskus rund zehn Prozent zum osmanischen Staatshaushalt bei, Ägypten mit seinen reichen Einkünften aus Landwirtschaft, Gewerbe und Transithandel sogar ein Viertel.[5]

Die Konsolidierung safavidischer Herrschaft in Iran

Die Niederlage von Çaldıran beschädigte den Nimbus Schah Ismails als charismatische Heilsfigur, förderte letztlich aber, wie oft bemerkt worden ist, die Iranisierung der Safaviden, die zugleich ein Musterbeispiel für die Veralltäglichung von Charisma darstellt (dazu unten mehr). Die Safaviden kamen in mehr als einer Hinsicht vom Rand: Sie eroberten Iran von den nordöstlichen Grenzlanden aus und waren auf iranischem Boden nicht verwurzelt. Ismails Stammbaum war zudem mit seiner Mischung aus Kurden, Turkmenen und byzantinischen Prinzessinnen außergewöhnlich »farbig«. Religiös gesehen vertraten die Safaviden eine bestenfalls marginale, von sehr vielen Sunniten und Zwölferschiiten als heterodox (abweichend) bewertete Richtung des Islam. Die Verwandlung der Safaviden äußerte sich ideologisch in der schrittweisen Abkehr von der extremen Schia; organisatorisch wurden die Kızılbaş durch neue, an die Person des Schahs gebundene Gruppen und Institutionen in Armee, Verwaltung und religiösem Establishment ergänzt und zu einem gewissen Grad sogar verdrängt.

Die Konsolidierung im Innern ging mit langwierigen, rücksichtslos geführten Kampagnen an zwei Fronten einher: Im Nordosten kämpften die Safaviden mit den Usbeken um Khurasan und Transoxanien, die klassische Durchzugsroute türkischer und mongolischer Stammesgruppen auf ihrer Wanderung nach Westen. Die Auseinandersetzung wurde religiös aufgeladen als Kampf der Schiiten gegen die Sunniten, reihte sich in der zeitgenössischen Wahrnehmung zugleich aber in den vorgeblichen Gegensatz von »Iran« und »Turan« ein (Turan bezeichnete in Iran die nordöstlich angrenzenden »türkischen« Gebiete). Im Nordwesten stritten die Safaviden mit den Osmanen um Südostanatolien, Mesopotamien und den Kaukasus von Dagestan bis Georgien. Während die Safaviden schließlich Transoxanien an die Usbeken verloren, konnten sie Khurasan dauerhaft halten. 1558 eroberten sie im heutigen Afghanistan die wichtige Grenzstadt Kandahar von den indischen Großmoguln zurück. Im Westen aber erwiesen sich letztlich die Osmanen als überlegen: 1534 nahmen sie Bagdad ein, 1546 gewannen sie Basra am Persischen Golf. Der Frieden von Amasya zog 1555 die Grenze zwischen safavidischem und osmanischem Gebiet nach politischen, nicht nach kulturellen Gesichtspunkten: Das mehrheitlich turksprachige Aserbaidschan wurde safavidisch und ist als Folge bis heute zwölferschiitisch orientiert. In Georgien und Armenien zementierte der Vertrag die bereits bestehende Unterscheidung in einen westlichen und einen östlichen Landesteil. Westgeorgien und Westarmenien fielen an die Osmanen, Ostgeorgien (Kartlien und Kachetien) und Ostarmenien an die Safaviden, die sich allerdings mit einer lockeren Oberhoheit begnügten. Ungeachtet mehrerer Wellen der Zwangskonversion blieben sowohl Armenien als auch Georgien christlich. Der »arabische Irak« mit seinen schiitischen Pilgerstätten und Gelehrtenzentren sowie die kurdischen Gebiete blieben in osmanischer Hand. Um sich besser vor osmanischen Angriffen zu schützen, verlagerte Ismails Sohn und Nachfolger Tahmasp I. seine Residenz von Täbriz in das weiter östlich, in den persischsprachigen Kernlanden gelegene Qazvin.

2.Die Osmanen und ihre Nachbarn

Im 16. Jahrhundert expandierte das Osmanische Reich an allen Fronten, und zwar nicht nur unter Selims Sohn Süleiman I. (reg. 1520–1566), der sich als einer der letzten osmanischen Herrscher noch regelmäßig an die Spitze seines Heeres stellte, sondern auch unter dessen Sohn und Nachfolger Selim II. (reg. 1566–1574), der dies nicht mehr tat. Süleiman, im Osmanischen Reich später bekannt als Kanuni, »der Gesetzgeber«, in Europa als »der Prächtige«, bestieg den Thron ohne Kampf (sein Vater Selim hatte, um mögliche Thronrivalen auszuschalten, alle seine Brüder und Neffen sowie vier seiner fünf Söhne umbringen lassen) und in einer Phase expansiver Hochstimmung. Zwei strategische Eroberungen – Belgrad 1521 und Rhodos 1522 – schienen gleich zu Beginn seiner Herrschaft neue Triumphe anzukündigen; beide hatte Mehmed II. »der Eroberer« im vorhergehenden Jahrhundert nicht einzunehmen vermocht. Doch in den Habsburgern und den Portugiesen fand Süleiman andere Gegner, als Mehmed II. sie in Byzanz gehabt hatte und Selim I. in den Mamluken und den Safaviden. Ungarn konnten die Osmanen in großen Teilen erobern, Wien und Rom nicht. Die Feldzüge zu Lande wurden begleitet vom Kampf um das Mittelmeer, das Rote und das Schwarze Meer und um Präsenz im Indischen Ozean. Im 16. Jahrhundert verfolgte die osmanische Regierung erstmals eine eigene Flottenpolitik, die, sieht man vom Mittelmeer ab, auf die Sicherung der Fernhandelswege gegenüber den nahezu zeitgleich expandierenden Safaviden und Portugiesen abzielte.

Feldzüge zu Lande und zu Wasser wurden bis ins 18. Jahrhundert nur von April oder Mai bis Anfang November geführt; anders sah es aus klimatischen Gründen in den arabischen Territorien aus. Der Marsch von Edirne nach Ungarn betrug etwa 50 Tage und von Istanbul nach Bagdad sogar 120, beides ohne die unverzichtbaren Rastzeiten.[6] An der osmanischen Ostfront konnte daher kein Feldzug innerhalb eines Jahres durchgeführt werden. Das erforderte nicht nur eine effiziente Logistik, sondern auch eine kluge Bündnispolitik; Macht- und Handelspolitik gingen dabei mitunter eigenwillige Verbindungen ein. Die Rhetorik war imperial und religiös, die Diplomatie häufig genug pragmatisch; eine martialische Jihad- bzw. Kreuzzugsrhetorik verhinderte nicht den intensiven Austausch von Waren, wie es auch zu den Zeiten der Kreuzzüge gewesen war.

Die Schwarzmeerregion

Die Gebiete nordwestlich des Schwarzen Meeres und zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer (heute Moldawien, Ukraine, Russische Föderation, Georgien und Aserbaidschan), die als Bindeglied das Mittelmeer mit den eurasischen Steppen verbanden, waren fruchtbar und nicht zuletzt aus diesem Grund für die Osmanen interessant. Von hier konnte Istanbul nicht nur mit Getreide, sondern auch mit Sklaven und Luxuswaren wie Pelzen versorgt werden. Nach dem Fall Konstantinopels eroberten die Osmanen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts strategisch gelegene Städte und Festungen am Schwarzen Meer, um 1550 war es faktisch ein osmanisches Binnenmeer. In den nördlich angrenzenden Steppen hingegen waren die Osmanen bis ins 17. Jahrhundert militärisch kaum präsent. Um kräfteschonend ihre Interessen zu wahren, arrangierten sie sich vielmehr mit lokalen Mächten. Ab 1475 diente das Khanat der Krimtataren unter der Familie der Giray als Puffer zum expandierenden Moskowiter Großfürstentum, zu Polen (ab 1569 Wahlkönigtum Polen-Litauen) und zu diversen Kosakenverbänden. Das Krimkhanat war dem Sultan tributpflichtig und lieferte vor allem Sklaven, die in unablässigen Feld- und Beutezügen in der Steppe, in Südrussland und in der heutigen Ukraine gefangen wurden, und erhielt seinerseits von Istanbul Subsidien und militärische Unterstützung.

Die regionale Machtbalance verschob sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts, als Russland – Großfürst Iwan IV. von Moskau hatte sich 1547 zum Zaren gekrönt – die Khanate von Kazan und Astrakhan besetzte, die nahe der Mündung der Wolga in das Kaspische Meer lagen. Damit hielt Russland die für den Handel so wichtige untere Wolga besetzt.[7] Angeblich um zentralasiatischen Pilgern die Wallfahrt nach Mekka zu erleichtern, tatsächlich aber um osmanische Truppen und Material direkt vom Schwarzen an das Kaspische Meer oder auch an die iranische Grenze befördern zu können, plante der osmanische Großwesir Sokollu Mehmed Pascha 1569 einen Kanal zwischen Don und Wolga. Das Unternehmen scheiterte jedoch an der mangelnden Unterstützung durch den Khan der Krim. In den 1570er Jahren weiteten Kosakenverbände – militärische Einheiten unklarer ethnischer Herkunft, die in der heutigen Ukraine und der Region des Don weitgehend eigenständig agierten – ihre Beutezüge auf osmanisches Territorium aus: 1614 plünderten sie die Schwarzmeerhäfen Sinop und Trabzon (Trapezunt), in den 1620er Jahren drangen sie mit eigenen Booten bis in den Bosporus vor. Von 1637 bis 1642 hielten Donkosaken das für den Handel wichtige Asow an der Mündung des Don in das Asowsche Meer besetzt, ein früheres Zentrum der Goldenen Horde, das bis ins 18. Jahrhundert zwischen Osmanen und Russen umkämpft blieb. In der Mitte des 17. Jahrhunderts aber gerieten die Kosaken weitgehend unter die Kontrolle des Zaren; manche ihrer Hetmane (von dt. Hauptmann) unterstellten sich dem Sultan. Die Eroberung der strategisch wichtigen polnischen Festung Kamieniec Podolski (türk. Kamaniçe) sicherte 1672 die osmanische Nordostfront für weitere zwei Jahrzehnte ab.

Südosteuropa und das Mittelmeer

In Südosteuropa und im Mittelmeerraum waren im 16. Jahrhundert Habsburg und Venedig die großen Gegenspieler der Osmanen. Zu Lande ging es in erster Linie um Ungarn und die Donaufürstentümer, zur See um die Kontrolle des westlichen Mittelmeerraums. Das unterstreicht die Bedeutung des Osmanischen Reiches als europäische Macht – tatsächlich kann man die Geschichte des frühneuzeitlichen Europas ohne die Osmanen nicht schreiben. Die Reformation und die Rivalität zwischen den Habsburgern in Spanien, den Niederlanden und Österreich auf der einen Seite und Frankreich auf der anderen, die auch in Italien und Nordafrika um Besitz und Einfluss konkurrierten, zogen neue Gräben in Europa und schufen zugleich neue Koalitionen. Als die Osmanen 1521 das serbische Belgrad einnahmen, den »Schlüssel zu Ungarn«, schien das zugleich den Weg für eine Eroberung Wiens zu öffnen. Die ehemals venezianischen Territorien in Albanien, Griechenland und der Ägäis waren bereits weitgehend in osmanischer Hand, doch besaß Venedig noch immer wichtige Inseln in der Ägäis sowie Handelsinteressen in der Levante und der Schwarzmeerregion. 1522 eroberten die Osmanen Rhodos, den Sitz des Johanniter-Ordens, ein Schritt, der vorrangig dazu diente, den Seeweg nach Ägypten zu sichern und die Johanniter als Korsaren auszuschalten. 1530 siedelten diese nach Malta über (daher wurden sie später auch als Malteser-Orden bekannt), von wo aus sie weiter gegen die Osmanen agierten.

1525 wurde König Franz I. von Frankreich durch Kaiser Karl V. bei Pavia besiegt, gefangen genommen und erst gegen große Zugeständnisse wieder freigelassen. Darauf verständigte der französische König sich mit Sultan Süleiman – ohne diese Verständigung, die im übrigen Europa, da sie die Religionsgrenze überschritt, als »unheilige Allianz« denunziert wurde, in aller Form vertraglich festzulegen. Hier zeigten sich die Grenzen einer pragmatischen Kooperation mit dem religiös Anderen: Auf öffentliche Zustimmung konnte keine der beiden Seiten zählen. Die französisch-osmanische »Allianz« bestand bis ins ausgehende 18. Jahrhundert, als Napoleon Bonaparte Ägypten besetzte; aber sie blieb immer eine abhängige Variable im Arsenal der beteiligten Mächte, deren eigentlicher Gegner die Habsburger waren. Militärisch wurde sie allenfalls zur See wirksam. Immerhin kam die Zusammenarbeit dem Levante-Handel zugute, den der Sultan durch sogenannte Kapitulationen begünstigte, Handelsverträge mit nichtmuslimischen Mächten (hier dem französischen König), die ihren Namen der Tatsache verdankten, dass sie sich aus mehreren Kapiteln zusammensetzten; mit Kapitulation hatte dies nichts zu tun.[8]

Abb. 2: Brief Sultan Süleimans an den französischen König Franz I.

Die folgenden Jahre wurden vom Kampf um Ungarn beherrscht. In der Schlacht von Mohács fiel 1526 Lajos (Ludwig) II. Jagiello, König von Ungarn und Böhmen. Die politisch und religiös zerstrittenen ungarischen und böhmischen Stände wählten daraufhin zwei konkurrierende Nachfolger: Erzherzog Ferdinand von Österreich, den jüngeren Bruder Karls V., und den ungarischen Magnaten János Szapolyai (dt. Zapolya), einen erklärten Gegner der Habsburger, den der Sultan anerkannte. Süleiman eroberte 1529 Buda und zog von dort weiter gegen Wien, musste die Belagerung aber nach wenigen Monaten erfolglos abbrechen. Ungarn wurde nach weiteren Kämpfen 1541 in drei Gebiete aufgeteilt: Im Westen und Norden befand sich das sogenannte Königliche Ungarn, das die Habsburger gegen einen symbolisch wichtigen Tribut verwalteten. In der Mitte lag die zentral verwaltete, aber nur von wenigen Muslimen bewohnte osmanische Provinz Buda. Im Osten wurde das osmanische Vasallenfürstentum von Siebenbürgen (Transsilvanien, osman. Erdel) gebildet. Faktisch entwickelte sich ein Kondominium, in dessen Rahmen Osmanen, Habsburger und der lokale Adel strittige Fragen mehr oder weniger friedlich regelten. Österreich siedelte an der langen, von der Adria bis in die heutige Slowakei reichenden »Militärgrenze« Wehrbauern an und sicherte sie über starke Garnisonen, Festungen und Wachtürme. Nach den beiden »Langen Türkenkriegen« von 1593 bis 1606 und von 1683 bis 1699 sollte der Frieden von Karlowitz 1699 schließlich die Donau als osmanisch-österreichische Grenze festlegen. Weitere zwei Jahrzehnte später war ganz Ungarn einschließlich Siebenbürgens und des Banats in österreichischer Hand.

Eng mit den Landkriegen verbunden waren die Kampagnen im Mittelmeer; umkämpft waren dabei neben diversen nordafrikanischen Hafenstädten die ägäischen Inseln. Bereits im 14. Jahrhundert hatten mehrere kleinasiatische Fürstentümer (Beyliks) in der Ägäis Krieg geführt, die Osmanen bauten nach 1354 Gallipoli als Flottenstützpunkt aus. Die Einnahme von Konstantinopel, dessen Versorgung vom freien Zugang durch die Meerengen abhing, erhöhte ebenso wie die Unterwerfung Ägyptens, Mekkas und Medinas die Bedeutung maritimer Stärke für den Erhalt osmanischer Macht. Das Osmanische Reich wurde erstmals zu einer ernstzunehmenden Seemacht. Das Know-how kam anfangs aus Venedig und Genua und wurde fortlaufend durch Männer erweitert, die in osmanische Dienste traten, sei es, weil sie aus anderen Gebieten vertrieben wurden (Muslime von der Iberischen Halbinsel), sei es, weil sie ein besseres Fortkommen suchten (Korsaren und Konvertiten).

Während die Konstruktion der osmanischen Kriegsschiffe bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts unverändert blieb, änderte sich die Ausrüstung. Im 15. Jahrhundert handelte es sich meist um Galeeren (mehrreihige Ruderschiffe mit und ohne Segel) mit Rammsporn oder Enterbrücke, wie sie im Mittelmeer auch die Venezianer, Spanier und Korsaren benutzten. Um 1500 wurden sie mit Kanonen aufgerüstet, was dazu führte, dass sie schwerer und weniger wendig waren, zugleich aber ihre militärische Schlagkraft erhöhte. In den 1560er Jahren erlaubten neue Techniken den Bau größerer und schwererer Kriegsschiffe, die zuerst die Venezianer verwendeten und 1571 in der Seeschlacht von Lepanto gegen die Osmanen zum Einsatz brachten. Anders aber als die für den Atlantik entwickelten hochseetüchtigen Galeonen und Karacken der Portugiesen, Engländer, Niederländer und Franzosen – Segelschiffe mit hohen Bordwänden, die aus unterschiedlicher Position Breitseiten abfeuern konnten –, waren die osmanischen Kriegsschiffe schlecht für die Hochseeschifffahrt geeignet und nicht wintertüchtig. Die Notwendigkeit, regelmäßig Wasser und Lebensmittel für die Besatzung an Bord zu schaffen, schränkte die Bewegungsfreiheit (nicht nur) der osmanischen Flotte zusätzlich ein.

Zur See waren die Osmanen ihren europäischen Gegnern daher nicht überlegen. Anfangs operierte die osmanische Flotte vorwiegend im Schwarzen Meer und in der Ägäis, wenngleich schon im ausgehenden 15. Jahrhundert einzelne Korsaren des westlichen Mittelmeers in den Dienst des Sultans traten, während andere sich den Sultanen von Tunis oder Marokko andienten. Die berüchtigten Korsaren der nordafrikanischen »Barbareskenküste« taten im Übrigen wenig anderes als die gefeierten englischen Freibeuter oder auch die Ritter des Johanniter-Ordens: Nominell unterschieden sich Freibeuter und Korsaren von Piraten, indem sie sich einer Sache verschrieben, vorzugsweise dem Kampf für den König und die wahre Religion; die Christen sahen sich im Kreuzzug, die Muslime im Jihad. Anders als die Piraten verfügten sie entweder über eine förmliche Genehmigung ihres Souveräns, feindliche Schiffe zu kapern (Frei- oder Kaperbrief), oder sie handelten mit dessen stillschweigender Duldung. Ihr Geschäft war dennoch Plünderei, Raub und Sklavenhandel, verbunden mit der Terrorisierung der gegnerischen Bevölkerung. Die muslimischen Korsaren setzten so den Grenzkrieg der muslimischen Ghazis mit anderen Mitteln fort. Wie jene waren sie nicht an förmliche Kriegserklärungen gebunden, und wie jene hielten sie nur selten die Regeln humaner Kriegführung ein: Das Meer war bis ins frühe 18. Jahrhundert ein rechtsfreier Raum und der Seekrieg permanent, selbst wenn die beteiligten Mächte zu Lande gerade im Frieden lebten.

Die osmanische Seefahrt gewann zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine neue Qualität, als eine Reihe von Seefahrern, die sich zunächst als Piraten hervorgetan hatten, in den Dienst des Sultans traten. Als Befehlshaber osmanischer Flotten verknüpften sie von da an die Freibeuterei mit der Eroberung. Zu den bekanntesten dieser Männer zählen Kemal Reis (Re’is), der Onkel des berühmteren Piri Reis, sowie die Brüder Oruç (oder Aruj) und Hızır, vermutlich Söhne einer griechischen Mutter und eines ehemaligen Janitscharen, der sich auf der ägäischen Insel Lesbos niedergelassen hatte. Hızır wurde später unter dem arabischen Ehrennamen Khair ad-Din, »Bester des Glaubens«, bekannt (in Europa Khair ad-Din Barbarossa, osman. Barbaros Hayreddin). Als Prinz Korkud, unter dessen Protektion zumindest Oruç anfangs gestanden hatte, im Kampf um den Thron seinem Bruder Selim unterlag, verlagerten sie 1513 ihre Aktivitäten von der Ägäis an die tunesische Küste. Der Sultan von Tunis gestattete ihnen, ihre Beutezüge gegen die Abgabe eines Beutefünftels als religiös legitimierte ghazwa fortzusetzen; das entsprach den Kaperbriefen europäischer Mächte. 1516 riefen die Einwohner der Hafenstadt Algier die Brüder gegen die spanischen Habsburger zu Hilfe, die im Zuge der Reconquista immer neue Brückenköpfe (span. presidios) an der nordafrikanischen Atlantik- und Mittelmeerküste anlegten und vor den Toren Algiers die Festung Peñon errichteten. Vom stark befestigten Algier aus, wo sie über einen exzellenten Hafen, ein fruchtbares Hinterland und Zugang zum Transsaharahandel verfügten, operierten die Brüder sehr erfolgreich im westlichen Mittelmeer. Oruç kam 1518 ums Leben. Um seine Position zu festigen, bot Hızır, der bis dahin gewissermaßen als Privatunternehmer aufgetreten war, dem Sultan die Gefolgschaft an. Dieser akzeptierte, verlieh ihm den Titel eines Statthalters von Algier und sandte ihm Kanonen sowie ein Kontingent von mehreren tausend Janitscharen. Das erweiterte die osmanische Präsenz im westlichen Mittelmeer, schuf erstmals aber auch direkte Berührungspunkte und damit unweigerlich zugleich Konflikte mit den spanischen Habsburgern.

1533 ernannte Sultan Süleiman Khair ad-Din zum Großadmiral der osmanischen Flotte. Nachdem dieser mehrere bis dahin venezianische Inseln der Ägäis erobert hatte, bildeten Venedig und der Kirchenstaat mit den Habsburgern Karl V. und Ferdinand von Österreich 1538 die Heilige Liga. Ihre vereinigte Flotte unter dem Kommando des Genuesen Andrea Doria aber unterlag 1538 in der Seeschlacht vor Preveza, einer Küstenstadt im südlichen Epirus, der osmanischen Flotte. Die Gunst der Stunde nutzend, aktivierte der französische König die informelle anti-habsburgische Allianz. 1543 belagerte ein französisch-osmanischer Flottenverband das zu dieser Zeit habsburgische Nizza. Die osmanischen Schiffe erhielten sogar die Erlaubnis, im Hafen von Toulon zu überwintern, dessen Einwohner allerdings zuvor evakuiert worden waren, um möglichen Zusammenstößen vorzubeugen.[9] In wechselvollen Kämpfen eroberte die osmanische Flotte mehrere Hafenstädte im heutigen Libyen, Tunesien und Algerien sowie auf der Insel Menorca. Mit der Abdankung seines Vaters, Karls V., erbte Philipp II. 1556 die Krone von Spanien, den spanischen Niederlanden und 1580 auch von Portugal; die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches fiel an Erzherzog Maximilian von Österreich. Philipp II. schloss 1559 Frieden mit Frankreich und hielt sich so den Rücken frei für neue Kampagnen gegen die Osmanen.

Ungeachtet eines geltenden Friedensvertrages eroberte die osmanische Flotte 1570/71 das venezianische Zypern, unterlag im Oktober 1571 jedoch bei Lepanto im Golf von Patras einer Flotte der Heiligen Liga unter Don Juan d’Austria, dem jungen Halbbruder Philipps II. Das Desaster von Lepanto – die letzte mediterrane Seeschlacht übrigens, die noch mit Galeeren geführt wurde – blieb ohne unmittelbare Folgen, da alle Schiffe wegen des anstehenden Winters in ihre Häfen zurückkehren mussten.[10] Die Osmanen bauten unverzüglich eine neue Flotte, den Verlust der Mannschaften konnten sie so rasch nicht ausgleichen. 1573 überließen die Venezianer Zypern vertraglich den Osmanen. Philipp II. schloss 1580 mit dem Sultan einen Waffenstillstand, der die beiderseitige Grenze im westlichen Mittelmeerraum bis in die Neuzeit festschrieb. Politisch hatte der Sieg von Lepanto dennoch erhebliche Konsequenzen: In Europa entfachte er die Hoffnung, die Osmanen zurückdrängen und das Heilige Land zurückerobern zu können; vor allem in Portugal und im Kirchenstaat lebte die Kreuzzugsidee wieder auf. Zur gleichen Zeit drängten England und die Niederlande als aufsteigende Seemächte ins Mittelmeer. Im Zuge der kolonialen Expansion rivalisierender europäischer Staaten nahm die Seeräuberei ungekannte Ausmaße an.

Rotes Meer, Indischer Ozean und das Horn von Afrika

Um 1500 errichteten die Portugiesen entlang der Küsten Afrikas und Arabiens Stützpunkte und drangen bis in den Indischen Ozean vor. Damit wurde nicht nur ein neues Element in das regionale Gefüge eingeführt, es entstanden zugleich neue globale Zusammenhänge. Das sogenannte (erste) Zeitalter der Entdeckungen gilt nicht zu Unrecht als Auftakt der europäischen kolonialen Expansion. Als Marksteine gelten die Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung durch den Portugiesen Bartolomeu Dias im Winter 1487/88, die »Entdeckung« Amerikas durch den in spanischen Diensten stehenden Genuesen Christoph Kolumbus im Jahr 1492 und die »Entdeckung« des Seewegs nach Indien durch den ebenfalls in spanischen Diensten stehenden Portugiesen Vasco da Gama im Jahr 1497/98 – ein Seeweg, den chinesische, malaiische, indische, iranische und arabische Seeleute zumindest abschnittweise längst kannten. 1513 erblickte der Spanier Vasco Núñez de Balboa als erster Europäer den Pazifik, in den Jahren 1519 bis 1521 gelang dem Portugiesen Ferdinand Magellan (Fernão de Magalhães) die erste Weltumsegelung, bei der er selbst freilich ums Leben kam. In Europa veränderte die Entdeckung der Neuen Welt und des Seewegs nach Indien das bestehende Weltbild. Zugleich entwickelte sich die Atlantikküste zu einem neuen Schwerpunkt von Handel, Gewerbe und Bevölkerung. Die Auswirkungen auf die islamische Welt blieben indes zunächst begrenzt.

Von Westeuropa ausgehend lassen sich in den zweieinhalb Jahrhunderten zwischen 1500 und 1750 zwei parallele und ganz unterschiedlich angelegte Projekte ausmachen, die jedoch in vielfältiger Weise miteinander verbunden waren:[11] Das eine umfasste die Eroberung, Besiedlung und Missionierung der beiden Amerikas sowie der Karibik. Vor allem Nordamerika fing die überschüssige europäische Bevölkerung auf, während Mittel- und Südamerika sowie die Karibik Bodenschätze wie Gold und Silber und tropische Agrargüter wie Zucker und Tabak lieferten. Das andere Projekt bestand im Handel entlang der Küsten Afrikas und des Indischen Ozeans bis hin nach Südost- und Ostasien, einem Handel, der durch Waffengewalt erzwungen und geschützt wurde. Er baute auf alten Routen und Netzen auf, zerstörte diese in Teilen aber auch. Hier ging es vor allem um die Kontrolle des lukrativen Handels mit Luxus- und Massengütern: von Textilien, Seide, Porzellan und Waffen über Pfeffer, Ingwer, Zimt und andere Gewürze, etwas später auch Kaffee und Tee, bis zu Edelhölzern, Reis und sonstigen Lebensmitteln. Verknüpft waren beide Projekte über die gehandelten Waren. Der Sklavenhandel war integraler Teil des Atlantik- und des Indienhandels. Getragen wurde der koloniale Handel auf europäischer Seite vornehmlich von nationalen, meist privaten Handelsgesellschaften (chartered companies)