Geschichte wird von den Besiegten geschrieben -  - E-Book

Geschichte wird von den Besiegten geschrieben E-Book

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Beschreibung

Nach einem geflügelten Wort wird die »Geschichte von den Siegern geschrieben«. Demgegenüber steht die These Reinhart Kosellecks, dass Niederlagen und ihre Verarbeitung die Entstehung von Erklärungs- und Kompensationsmustern bedingen: Die Erfahrung des Besiegtwerdens könne einen »Erfahrungsgewinn« ermöglichen; Sieger hingegen müssten ihre Denkmodelle nicht hinterfragen, da sie gerade durch kurzfristige Erfolge bestätigt wurden. Die Beiträge dieses Bandes untersuchen ein breites Spektrum an Formen des Umgangs mit militärischen Niederlagen in Antike und Mittelalter und stellen damit Kosellecks These erstmals großflächig auf die Probe.

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Cover for EPUB

Manuel Kamenzin, Simon Lentzsch (Hg.)

Geschichte wird von den Besiegten geschrieben

Darstellung und Deutung militärischer Niederlagen in Antike und Mittelalter

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Nach einem geflügelten Wort wird die »Geschichte von den Siegern geschrieben«. Demgegenüber steht die These Reinhart Kosellecks, dass Niederlagen und ihre Verarbeitung die Entstehung von Erklärungs- und Kompensationsmustern bedingen: Die Erfahrung des Besiegtwerdens könne einen »Erfahrungsgewinn« ermöglichen; Sieger hingegen müssten ihre Denkmodelle nicht hinterfragen, da sie gerade durch kurzfristige Erfolge bestätigt wurden. Die Beiträge dieses Bandes untersuchen ein breites Spektrum an Formen des Umgangs mit militärischen Niederlagen in Antike und Mittelalter und stellen damit Kosellecks These erstmals großflächig auf die Probe.

Vita

Manuel Kamenzin, Dr. phil., ist als Akademischer Rat im Bereich Mittelalterliche Geschichte der Universität Bochum tätig.

Simon Lentzsch, Dr. phil., ist Senior Researcher an der Université de Fribourg im Bereich Alte Geschichte.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

Manuel Kamenzin/Simon Lentzsch: Geschichte wird von den Besiegten geschrieben (?). Einleitung

1.

Einleitung

2.

Voraussetzungen und Vorüberlegungen

3.

Zentrale althistorische und mediävistische Forschungsbeiträge zu einer ›Kulturgeschichte der Niederlage‹

4.

Ziele, Anlage und Beiträge dieses Bandes

Literaturverzeichnis

I.

(Forschungs)Perspektiven auf Niederlagen

Christian Wendt: Das sizilische Abenteuer und seine Verarbeitung. Thukydides über die athenische ›Heimatfront‹

1.

Einleitung

1.1

Ein Besiegter schreibt Geschichte

1.2

Die Sizilische Expedition im Werk

1.3

Die Sizilische Expedition als ›nemesis‹

2.

Die Sizilische Expedition und Athens Niederlage

2.1

Das »ergon megiston«

2.2

Ein Fehler, aber nicht in der »gnome«

2.3

Sizilien: Ein Krieg im Krieg

3.

Die ›Heimatfront‹

3.1

Paralogos

3.2

»Sehend-Werden« und Bürgersinn

3.3

Ephemere Qualität des kohäsiven Effekts

4.

Fazit: Niederlage als Krise und Chance

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Christopher Degelmann: Gerücht, Krieg, Kriegsgerücht. Militärische Rückschläge in der athenischen Informationspolitik des 5. Jahrhunderts v. Chr.

1.

Einleitung

2.

Eine Annäherung an das fluide Phänomen des Gerüchts

3.

Codierung und Semantisierung: Zur Rhetorik des Gerüchts

4.

Zum athenischen Erfahrungshorizont

5.

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Martin Clauss: Historiographische Ausdeutungen von Kriegsniederlagen. Der streyt von Könick Frederich zur Schlacht von Mühldorf (1322)

1.

Einleitung

2.

Zur Schlacht bei Mühldorf

3.

Der Streit König Friedrichs als Erzählung

4.

Motive der Niederlagenausdeutung im Streit König Friedrichs

5.

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Helen Wiedmaier: »Sie bedeckten das Antlitz der Erde wie Heuschrecken.« Die Konstruktion von Männern als Besiegte im 14. Jahrhundert

1.

Einleitung

2.

Die Schlacht bei Gammelsdorf: Fliehende Kämpfer

3.

Die Schlacht bei Sempach: Sterbende Kämpfer

4.

Die Schlacht am Morgarten: Fliehende Kämpfer

5.

Die Schlacht am Morgarten: »superbia« und »humilitas«

6.

Die Schlacht bei Mühldorf: Das rechte Verhalten nach der Niederlage

7.

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

II.

Die unterlegene Gesellschaft

Julia Hoffmann-Salz: Gottes Zorn und Königs Beitrag. Niederlagen seleukidischer Heere und hasmonäischer Truppen in den Konflikten um die Etablierung der hasmonäischen Eigenherrschaft

1.

Einleitung

2.

Der Konflikt zwischen Seleukiden und Hasmonäern

3.

Umgang mit und Deutung von Niederlangen bei den Hasmonäern

4.

Seleukidische Herrschaftsideologie und militärische Niederlagen

5.

Umgang mit und Deutung von Niederlagen der Seleukiden im Konflikt mit den Hasmonäern

6.

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Simon Lentzsch: Massaker und Meuchelmörder. Darstellung und Deutung von Roms Niederlagen auf der Iberischen Halbinsel im Zweiten Jahrhundert v. Chr.

1.

Einleitung

2.

Roms Feldzüge auf der Iberischen Halbinsel im 2. Jahrhundert

3.

Darstellung und Deutung von Roms Niederlagen gegen Viriathus

3.1

Die Herkunft des Viriathus und das Bild seines Charakters

3.2

Viriathus als Anführer der Lusitaner

3.3

Der Tod des Viriathus und das Ende der römischen Niederlagenserie

4.

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Meret Strothmann: Die Niederlage des Maxentius an der Milvischen Brücke. Desaster oder Neuorientierung für das pagane Rom?

1.

Einleitung

2.

Die Bürger Roms und ihr Kaiser

3.

Maxentius gestaltet sein Rom

4.

Rom wird zum Kriegsschauplatz

5.

Maxentius im Spiegel der Quellen

6.

Die andere Seite: Konstantin rüstet zur Schlacht

7.

Im Vorfeld der Schlacht an der Milvischen Brücke

8.

Von dem Problem einen Sieg zu feiern

8.1

Der Sieg aus der Sicht der Römer

8.2

Der Sieg aus der Perspektive Galliens

8.3

Zur Darstellung des Sieges

9.

Der (fehlgeschlagene) Versuch einer Demontage des Verlierers

10.

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Sonja Ulrich: Niederlagen in der ›Kriegshistoriographie‹ des Orosius

1.

Einleitung

2.

Ebene 1: Kritik der Geschichtsschreibung

3.

Ebene 2: Krieg(e) als Übel in jeder Hinsicht?

4.

Ebene 3: Eine Besiegten-Perspektive

5.

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Malte Prietzel: Niederlagen und Erinnerungsgemeinschaften

1.

Einleitung

2.

Die Rolandsschlacht, 15. August 778

3.

Die Schlacht bei Wahlstatt, 9. April 1241

4.

Die Schlachten bei Grandson, Murten und Nancy, 1476/77

5.

Fazit: Erinnerungen und Gemeinschaften

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Benjamin Müsegades: Das Desaster verarbeiten. Deutungs- und Bewältigungsstrategien der Markgrafen von Baden und der Grafen von Württemberg nach der Schlacht von Seckenheim 1462

1.

Einleitung

2.

Seckenheim 1462: Das Desaster und die Folgen

3.

Deuten und Bewältigen

4.

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Ungedruckte Quellen

Gedruckte Quellen

Literatur

Dirk Jäckel: »Ich schreie in dir, doch ich finde keinen Menschen«. Deutung und Bewältigung christlicher Niederlagen in arabischen und syrischen Klageliedern des 12. und 13. Jahrhunderts

1.

Einleitung

2.

Vom Sinn der Klage

3.

Die Klage über Tripoli

4.

Klagelieder über Jerusalem

5.

Fazit. Abermals: Vom Sinn der Klage

Quellen- und Literaturverzeichnis

Ungedruckte Quellen

Quellen und Regesten

Literatur

Christoph Mauntel: Kontingenzerfahrung ohne Erkenntnis? Die Eroberung Englands 1066 aus englischer Perspektive

1.

Einleitung

2.

Zum historischen Kontext

3.

Englische Perspektiven auf 1066

3.1

Die Angelsächsische Chronik

3.1.1

Version C

3.1.2

Version D

3.1.3

Version E

4.

Um 1130: Die Eroberung aus der Rückschau

4.1

William von Malmesbury und der unergründliche Ratschluss Gottes

4.2

Henry von Huntingdon und der Wink der Rechten Gottes

5.

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Ungedruckte Quellen

Edierte Quellen

Literatur

Laury Sarti: Die Wiederholung einer Niederlage? Die französische Haltung in der Schlacht von Azincourt

1.

Einleitung

2.

Zwei Schlachten, eine Geschichte?

3.

Wahrnehmung und Deutung

4.

Reflexionen zu den Ursachen

5.

Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

Ungedruckte Quellen

Gedruckte Quellen

Literatur

III.

Der unterlegene Herrscher

Oliver Stoll: »Aureo hamo piscari …« – »Fischen mit goldenem Haken«. Vom Risiko militärischer Niederlagen für den römischen Kaiser

1.

Einleitung

2.

Was erwartet man von einem römischen Kaiser?

3.

Am Beginn: verdrängen und dann rächen. Augustus, Tiberius und der ›Fall Varus‹

4.

Indirekte und direktere Kritik am eifersüchtigen Kaiser: Nero und Domitian

5.

Erstaunliche (instrumentalisierte) Kritik: Lucius Verus und seine Vorgänger bei Fronto

6.

Ein Kaiser findet einen Sündenbock: Septimius Severus und sein Scheitern vor Hatra

7.

Verschweigen und Umdeuten: Der Tod Gordians III. und der Schandfrieden des Philippus Arabs, der Tod des Decius und die Perfidie des Trebonianus Gallus

8.

Kritisieren, Überschreiben, Vergessen: Diokletian und sein Caesar Galerius

9.

Was, wenn der goldene Haken verloren geht und was passiert mit denen, die ihn verlieren?

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Literatur

Manuel Kamenzin: Anfang vom Ende oder Wendepunkt? Die Niederlage Friedrichs II. bei der Belagerung von Parma 1247/8 bei Matthaeus Parisiensis und Salimbene de Adam im Vergleich

1.

Einleitung

2.

Kaiser, Papst und Parma

3.

Zwei Chronisten des 13. Jahrhunderts

4.

Die Belagerung Parmas

4.1

Matthaeus Parisiensis: Der Fluch des Bischofs

4.2

Salimbene: Der Stellenwert der Beute

5.

Die Folgen der Niederlage

5.1

Matthaeus Parisiensis: Reue, Umkehr und der Tod in der Kutte

5.2

Salimbene: Das siebte Unglück und der Tod des Kirchenverfolgers

6.

Fazit: Die Chronisten, der Besiegte und der Erkenntnisgewinn

Quellen- und Literaturverzeichnis

Ungedruckte Quellen

Gedruckte Quellen

Literatur

Manuel Kamenzin/Simon Lentzsch: Von Besiegten und Geschichte(n). Ausblick

1.

Einleitung

2.

Niederlagen und Erkenntnisgewinn

3.

Der Blick nach vorn

Literaturverzeichnis

Autorinnen und Autoren

Personenregister

Ortsregister

Vorwort

Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, in deren Rahmen sich vom 10.–12. Juni 2021 Alt- und MittelalterhistorikerInnen zur Darstellung und Deutung von Niederlagen in Antike und Mittelalter ausgetauscht haben. Als Tagungsort war die Ruhr-Universität Bochum vorgesehen, aufgrund der seinerzeit notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie fand die Tagung jedoch im virtuellen Raum statt. Obgleich der persönliche Kontakt vor Ort also leider entfiel, waren Engagement und Diskussionsfreude auf Seiten der Teilnehmenden glücklicherweise nicht beeinträchtigt. Wir freuen uns sehr, dass die Ergebnisse der Vorträge und Diskussionen nun in gedruckter Form vorliegen.

Gerne ergreifen wir die Gelegenheit, einer Reihe von Institutionen und Personen zu danken, die uns bei unserem Unterfangen großzügige Unterstützung in verschiedener Form haben angedeihen lassen.

Zu nennen sind hier zunächst die Fakultät für Geschichtswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum, das Departement für Geschichte der Université de Fribourg sowie das Internationale Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung »Schicksal, Freiheit und Prognose. Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa« an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die uns einen anregenden und konstruktiven Rahmen für unser Projekt geboten haben. Hervorzuheben sind dabei besonders Prof. Dr. Tanja Itgenshorst (Fribourg) und Prof. Dr. Klaus Oschema (Bochum), die unser Vorhaben von Beginn an mit großem Interesse und tatkräftiger Unterstützung begleitet haben. In Bochum fühlen wir uns darüber hinaus dem Forschungsschwerpunkt »κρίσεις – Disruptive Transformationen als produktive Herausforderung« verbunden und hoffen, mit unserem Projekt einen instruktiven Beitrag zu den dort behandelten Themen zu leisten.

Für die Aufnahme in die Reihe »Krieg und Konflikt« gilt unser herzlicher Dank den Reihenherausgebern, insbesondere Prof. Dr. Martin Clauss (Chemnitz) sowie Prof. Dr. Oliver Stoll (Passau), von deren hilfreichem Rat wir bei der Arbeit an diesem Vorhaben profitieren durften.

Der »Fondation pour la protection du patrimoine culturel, historique et artisanal« (Lausanne) sowie der Publikationskommission der Université de Fribourg danken wir für großzügige Zuschüsse zu den Druckkosten.

Die British Library (London) hat uns freundlicherweise die Verwendung der Abbildung gestattet, die auf dem Umschlag dieses Buches zu sehen ist.

Allen Mitarbeitenden des Campus-Verlages, vor allem Jürgen Hotz, danken wir für die überaus angenehme und konstruktive Zusammenarbeit. Als studentische Hilfskräfte haben uns Salome Walz (Fribourg) bei der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge sowie Bianca Baum und Nina Straub (Bochum) bei der Organisation und Durchführung der Tagung engagiert und ›beyond the call of duty‹ unterstützt.

Schließlich und vor allem gilt unser Dank selbstverständlich allen Kolleginnen und Kollegen, die mit ihren Beiträgen unsere Idee eines epochenübergreifenden Projektes durch ihre Hinweise, Diskussionen, Fragen und Gedanken erst mit Inhalt und Leben gefüllt haben. Wir würden uns sehr glücklich schätzen, wenn die Beiträge dieses Bandes als Anregung für den interepochalen Dialog zum Thema des Umgangs mit Krisen und Niederlagen sowie darüber hinaus aufgenommen werden sollten.

Düsseldorf und Bern im April 2023

Manuel Kamenzin und Simon Lentzsch

I.(Forschungs)Perspektiven auf Niederlagen

Das sizilische Abenteuer und seine Verarbeitung. Thukydides über die athenische ›Heimatfront‹

Christian Wendt

1.Einleitung

1.1Ein Besiegter schreibt Geschichte

›Geschichte wird von den Besiegten geschrieben‹ – in welchem Kontext wäre ein derartiges Dictum auf Anhieb angebrachter als für das Geschichtswerk des Thukydides, das ja für viele immer noch als erste wahrhaftige Referenz für historiographisches Tun gilt.45 Die Niederlage Athens im sogenannten Peloponnesischen Krieg von 431–404 v. Chr. ist denn wohl auch ein zentrales Movens für den Athener Thukydides, seine Sammlung von Material beziehungsweise seine als »xungraphe« bezeichneten Aufzeichnungen46 in ein durchkomponiertes Werk mit paradigmatischem Anspruch zu verwandeln. Jedoch ist, entgegen vielen Stimmen der Forschung,47 besonders bemerkenswert, in wie starkem Maß der Autor es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Spezifik der athenischen Position samt einer wollten der Erklärung, wie es zur athenischen Niederlage kommen konnte, zu transzendieren und stattdessen einen panhellenischen, womöglich gar wesentlich weiteren Focus einzunehmen, in dem naturgemäß Athen eine besondere und wesentliche Rolle zu spielen imstande ist.

Thukydides also schreibt nicht allein den Roman des Untergangs Athens, und doch erachtet er seine Heimatstadt sowohl als eine treibende Kraft innerhalb des größeren Geschehens, das das gesamte Hellenentum und die weitere Welt erfasst,48 als auch als eine gegebene Bühne, die es gestattet, ihm wichtige Themen auf exemplarische Weise verhandeln zu lassen, um sie so reflektierbar zu machen. Hat er damit die Position des Besiegten oder immerhin des Mitbesiegten überwunden? Oder handelt es sich um eine Form der Verarbeitung dieses Niedergangs, der für ihn persönlich zudem schmerzlich mit seiner Exilierung seit dem Jahr 424 verbunden war? Dies ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden – allerdings ist es sicher von Interesse, dass Thukydides die Problematik des Zustandekommens verschiedener Niederlagen als ein zentrales Thema verfolgt und sich demzufolge an der athenischen mit geradezu obsessiver Intensität abarbeitet, um aus ihr Schlüsse zu ziehen.

In diesem Zusammenhang also soll hier auf eine Konstellation im thukydideischen Werk eingegangen werden, die wie unter einem Brennglas die Situation analysiert, wie eine konkrete Niederlage in einer spezifischen Gesellschaft wahr- und aufgenommen wird, welche Potentiale sie generiert und welche Effekte mit ihr kurz- und mittelfristig verbunden sind. Dass dies eingebunden ist in die übergreifende Kriegsanalyse des Autors und somit die Information, die uns überliefert ist, einem spezifischen Konstruktionsvorbehalt unterliegt, macht sie für uns nicht weniger fruchtbar, sondern im Gegenteil erschließt sich die weitere Dimension der Darstellung erst durch eben diesen Filter, der es uns gestattet, im Wortsinn zu formulieren: Geschichte wird von Besiegten geschrieben – oder in diesem Fall sogar: gemacht.49

1.2Die Sizilische Expedition im Werk

Die militärische Operation Athens gegen Syrakus in den Jahren 415–413, die Thukydides zufolge auf den Gewinn ganz Siziliens und gar darüber hinaus ausgerichtet war,50 erhält in seinem Geschichtswerk eine Sonderstellung: zwei ganze Bücher, 7 und 8, sind ihr gewidmet, dazu noch zwei explizite Prolepseis in den Büchern 1 und 251 sowie eine Reihe von Anspielungen, die sich erst mit intensiverer Kenntnis entschlüsseln lassen.52 Doch der Entscheidung, Egesta zu unterstützen und eine Streitmacht gegen Sizilien zu entsenden, der grundlegenden Unkenntnis der Athener von dem Ort, wo sie schließlich eine militärische Katastrophe erfahren werden, der Materialschau bei der Ausfahrt im Hafen wie den Intrigen gegen einen der Strategen Alkibiades wie dessen Flucht, den Motiven des Eros und der Gier, der Überfahrt, die nicht so planmäßig verläuft, wie sie sollte, den vielen Entscheidungen vor Ort, der ausnehmend knappen militärisch-strategischen Entscheidung zu Lande wie auch der desaströsen letzten Seeschlacht im Hafen von Syrakus – all diesen Ereignissen räumt Thukydides gewaltigen Platz in seinem Bericht ein, wie denn auch dem schmählichen Untergang der verbliebenen Landtruppen, bis hin zum langsamen Sterben der Gefangenen in den Steinbrüchen samt der fürchterlichen Begleitumstände. Das entstehende Panorama ist eines der Überforderung (bei gleichzeitig erst zuletzt gänzlich vertaner Chance), der Erdung aller hochfliegenden athenischen Berechnungen, deren Scheitern schließlich eine Fülle an Konsequenzen hervorruft, die niemals im Blickfeld der Planer gewesen waren.

Sparta tritt wieder in den Krieg ein, nun dank der Finanzierung aus Persien in der Lage, eine eigene Flotte auszurüsten, die athenischen Bündner verlassen scharenweise den Seebund, Athen muss seine letzten Kräfte mobilisieren, um die verbliebenen Stellungen zu halten. Die noch direkt zuvor im Melierdialog geäußerte Selbstgewissheit der Athener, zu ihrem expansiven Handeln berechtigt zu sein wie eben die Götter,53 verflüchtigt sich zu einem Zaudern ihres führenden Generals Nikias, wann denn überhaupt ein Versuch gewagt werden könne, die Soldaten in einer konzertierten Aktion noch rechtzeitig auszuschiffen.54

Der Sizilischen Expedition entspricht also ein Wendepunkt, ein konkret festzumachender Umschlag, der die Vorzeichen des großen Konflikts endgültig umschreibt. Thukydides selbst bezeichnet die ganze Operation zudem bereits im Nachruf auf Perikles im 2. Buch als besonders herauszuhebenden Fehler, den die Athener im Kriegsverlauf begangen hätten55 – darauf wird später noch zurückzukommen sein.

1.3Die Sizilische Expedition als ›nemesis‹

Vielmals ist auch auf die vermeintlich tragische Komposition hingewiesen worden, die das Erleben der Niederlage auf Sizilien als Moment der ›nemesis‹ gegenüber der zuvor ausgestellten athenischen Hybris konstruiert.56 Diese Interpretation hat einiges für sich, sie ist geradezu verlockend eingängig, und doch scheint sie mir in einigem zu kurz zu greifen, zumal Thukydides wesentlich mehr vorführt als das unabwendbare Geschick, das sich aufgrund fehlerhaften Vorverhaltens unbarmherzig verwirklicht. Im übertragenen Sinn ›bestraft‹ die sizilische Niederlage das kontinuierlich irrationale und hypertrophe Planspiel Athens, und das thukydideische Narrativ greift auch auf tragische Elemente zurück;57 und doch ist die gesamte Sizilische Expedition auch die Erzählung von der Verkettung vieler falscher Entscheidungen, von ebenso vielen verpassten Gelegenheiten (vielleicht zum Erfolg, in jedem Fall aber zur Schadensbegrenzung), und die Totalität des Untergangs hat gerade mit der Offenlegung eben der stetig wachsenden athenischen Überforderung mit der Situation zu tun, die schließlich der ganzen hellenischen Welt offenbart wird. Das glorreiche, faszinierende und gleichermaßen gefährliche Athen ist seines Nimbus beraubt, gewissermaßen auf Normalmaß gestutzt worden.58

Thukydides konzipiert diese Demonstration als historische Obduktion, indem er eine Fülle an Faktoren in ihrer Interaktion als für die Entwicklungen kausal darstellt. Hier sind alle Ebenen angesprochen: die persönliche wie die kollektiv athenische, die allgemein makropolitische wie die auf zwei Akteure zu beschränkende interpolitische – und alle sind unlösbar miteinander verwoben, in einem schier unüberschaubaren großen Zusammenhang, der bereits per se Überforderung im Umgang generieren muss. Diese Ausgangslage also, die gesamte Sizilische Expedition als Laborsituation verstehen zu können, die die Komplexitäten von Politik konsequent vor Augen führen kann und soll, führt zu der Perspektive, mittels derer hier der berühmte Komplex betrachtet wird. Es geht also um die Verarbeitung und den Umgang mit der Niederlagensituation, so wie Thukydides sie analysiert.

Dies soll in drei Etappen geschehen. Zunächst wird der Zusammenhang von Sizilischer Expedition und der athenischen Niederlage im Peloponnesischen Krieg nochmals beleuchtet werden; auf dieser Basis wird dann die konkrete Aufnahme der Niederlage an der ›Heimatfront‹ untersucht und das besondere Potential der Situation aus Thukydides’ Sicht eruiert. Schließlich wird in einem längeren Fazit die Problematik von Krise und Chance im thukydideischen Sinne diskutiert.

2.Die Sizilische Expedition und Athens Niederlage

Zunächst zur Bedeutung der Sizilischen Expedition innerhalb der thukydideischen Gesamtanalyse. Dabei fällt rasch auf, wie viele verschiedene Zuschreibungen der Autor dem Ereigniskomplex angedeihen lässt: Die drei womöglich wichtigsten oder einschlägigsten sollen in der Folge kurz aufgegriffen und in ihrer Bedeutung für die thukydideische Einschätzung diskutiert werden.

2.1Das »ergon megiston«

Zuallererst sticht die Formulierung ins Auge, die Thukydides wählt, um die athenische Niederlage in Worte zu fassen:

»Man kann wohl sagen, dass dies Ereignis von allen in diesem Kriege das bedeutendste war, meines Erachtens sogar von allen, die wir aus der Überlieferung der Hellenen kennen, für die Sieger der größte Ruhm, für die Untergegangenen das größte Unglück: auf der ganzen Linie ganz besiegt und unter Leiden, von denen keines etwa klein war, hatten sie in buchstäblicher Vernichtung Fußvolk und Schiffe und überhaupt alles verloren, und nur wenige von so vielen kehrten nach Hause zurück.«59

Angesichts der vielen Superlative (»ergon megiston«, »lamprotaton«, »dystychestaton«) in diesem Fazit zum Verlauf der Expedition ist es wohl statthaft, von einer der explizitesten Einschätzungen des Thukydides überhaupt zu sprechen. Die geradezu einmalige Bedeutung eines einzelnen Phänomens ist in dieser Form nicht noch einmal im Werk zu finden, und es wird dabei mehreres unterstrichen: Zunächst ist die Auswirkung des Geschehens enorm, an der Besonderheit des Einschlags kann nicht mehr gezweifelt werden. Es ist zudem die Betonung des harschen Gegensatzes zwischen den strahlendsten Siegern und den endgültig zu Boden gedrückten Verlierern, die diese Passage zu einer besonderen macht; nur auf diese Weise kann Thukydides die Dimension des Sturzes Athens und des Verlusts aller seiner Suprematiebestrebungen bildhaft verdeutlichen (man ist an die heimkehrenden Perser in Aischylos’ Tragödie erinnert60), denn die Erniedrigung gerät absolut.

Damit beschreitet Thukydides einen Pfad, den er bereits zu Beginn seines Werkes eingeschlagen hatte – die Größe des von ihm zu untersuchenden Zusammenhangs wird unter erheblichem Aufwand belegt, um darauf aufbauend festzustellen, dass sein Sujet unanfechtbar das wesentlichste sei, dem man sich widmen könne.61 Dies geschieht allerdings nicht allein aus prahlerischer Tendenz, sondern eher aus einer spezifischen Argumentation heraus: Denn da sein Werk einen dauernden Nutzen entfalten sollte, musste auch das gewählte Thema dazu in der Lage sein, Einsichten zu generieren, die tragfähig das zu zeigen vermochten, was Thukydides als »anthropinon« bezeichnet62 – also das allgemein Menschliche, die menschliche Natur o.ä. Dies nun könnten wir in unserem Zusammenhang wieder antreffen: Wenn die Sizilien-Expedition letztlich das größte einzelne Phänomen sowohl im Peloponnesischen Krieg (und hier rechnet Thukydides sie zu seinem großen Krieg dazu) als auch in der griechischen Geschichte ist,63 so ist es demzufolge auch möglich, aus ihr besondere Lehren zu ziehen – sie ist im eigenen Maßstab ein geeignetes Anschauungsmaterial im thukydideischen Sinne. Ihre schlichte Dimension ist auch dafür ein Indikator.

2.2Ein Fehler, aber nicht in der »gnome«

Darüber hinaus etikettiert Thukydides die Entscheidung, gen Sizilien zu fahren, als einen der Kardinalfehler der nachperikleischen Politik. Viele Fehler seien begangen worden, doch exemplarisch benannt wird das sizilische Unternehmen, das so vieles anzubieten scheint, was sich letztlich als hochproblematisch herausstellen sollte: Überdehnung der Kräfte, zu geringe Kenntnis innerhalb der Entscheidungsfindung, eine aufgeheizte und leidenschaftliche Atmosphäre in der Bürgerschaft. Doch all dieses wird von Thukydides erst in Buch 6 narrativ in Anschlag gebracht;64 in Buch 2 verweist der Autor auf seine spezifische Einschätzung der Fehlerhaftigkeit der Operation, ohne die dramatischen Effekte seiner Darstellungskunst zu bemühen, sondern stellt fast lapidar fest:

»Daher wurden immer wieder, bei der Größe der Stadt und ihrer Herrschaft, viele Fehler begangen, vor allem die Fahrt nach Sizilien, die eigentlich nicht falsch war im Plan gegenüber den Angegriffenen, nur dass die Daheimgebliebenen, statt dem ausgesandten Heer mit zweckmäßigen Beschlüssen weiterzuhelfen, überm Ränkespiel der einzelnen Bürger, die um die Volksführerschaft buhlten, die Kraft des Auszugs im Felde sich abstumpfen ließen und in der Stadt die inneren Wirren anfingen.«65

Die Sizilische Expedition also wird im Vorgriff beurteilt als ein zentraler Missgriff, der seinen defizitären Charakter gerade nicht zuvörderst dem Plan, der Grundmotivation und dem Zustandekommen der Entscheidung selbst verdankt66 – demgegenüber wird ein anderer für die hier eingenommene Perspektive wesentlicher Faktor in den Mittelpunkt der Analyse gestellt: Der sich anhand des gewagten Großunternehmens manifestierende Riss innerhalb der athenischen Bürgerschaft wird nachhaltig vertieft durch die wachsenden Rivalitäten all derer, die in einer Art Nachfolge des Perikles eine herausgehobene Stellung im athenischen Gemeinwesen beanspruchen und demzufolge die mit einem möglichen Erfolg gegen Syrakus verbundenen Profite nicht gern einem Mitprätendenten überlassen mögen. Und eben dieser Riss wird explizit für die entscheidende Schwächung des Vorstoßes und damit auch für das Fehlen einer tatsächlich gemeinschaftlichen Motivation verantwortlich gemacht. Das Potential der Polis und damit ihre Stärke nach außen werden entsprechend nicht ausgeschöpft, was jedoch eine Grundvoraussetzung gewesen wäre, um ein Vorhaben der Größenordnung der Sizilien-Expedition überhaupt sinnvoll durchführen zu können. Der Höhepunkt dieser Ränkespiele ist die Entscheidung, den Strategen Alkibiades allen Vorwürfen der Beteiligung am Hermenfrevel und der Mysterienschändung zum Trotz zunächst in leitender Funktion mit ausfahren zu lassen, um ihn samt einiger seiner Anhänger aus der Stadt zu entfernen und so leichter seinen Sturz betreiben zu können – man ist sich der Problematik bewusst, ja man nimmt sie in Kauf oder schafft sie sogar, um die Operation ihres planenden Kopfes zu berauben, und dies, nachdem diese bereits angelaufen ist.67 Die Heimatfront übernimmt gewissermaßen bereits vor jeglicher militärischer Leistungsmöglichkeit die Regie, und der mangelnde Zusammenhalt, die beginnende »stasis«, wird seitens des Analytikers als letztlich entscheidend für das Scheitern des Projekts und auch längerfristig das Scheitern Athens herausgearbeitet.68

2.3Sizilien: Ein Krieg im Krieg

Hinzu kommt, und auch dies ist ein wichtiger Aspekt für die schließlich folgende Beurteilung des Umgangs mit der Niederlage, die Reichweite der getroffenen Entscheidung für das sizilische Abenteuer. Kurz vor der sogenannten Archäologie Siziliens in den ersten Kapiteln des sechsten Buchs resümiert Thukydides, auf welcher Basis die athenische Volksversammlung ihren Entschluss fassen konnte. Die meisten athenischen Bürger, so der Historiker, hätten keine Vorstellung gehabt von der Größe der Insel, der Menge der dort wohnenden Menschen sowie dem Umstand, dass sie »damit einen nicht viel geringeren Krieg anfingen als den gegen die Peloponnesier«.69 Die von Thukydides offensichtlich gemachte Fehleinschätzung einmal beiseitegelassen, spielt hier eine gewaltige Rolle, dass Sizilien als ein eigener Krieg oder vielleicht besser: ein Krieg im Krieg behandelt wird. Denn die den Athenern nicht vor Augen stehende Konsequenz ihrer Entscheidung ist – zunächst unabhängig von der Frage, ob sie diese Auseinandersetzung siegreich gestalten können oder nicht – ein Ausweiten der kriegerischen Dimension, das für sie entweder nicht erkennbar ist oder aber, wie Alkibiades in Sparta im Nachhinein ausführt, Teil einer wesentlich umfassenderen Strategie für den schließlich auf diese Weise zu gewinnenden Krieg um die Vorherrschaft in Hellas sei.70

Somit stellt sich die Frage, inwieweit der Krieg gegen Sizilien paradigmatisch für die gesamte Kriegspolitik Athens stehen kann, da es um Faktoren geht, die wiederholt die athenischen Strategien betreffen und auch leiten. Insbesondere sticht die Vorstellung heraus, die eigene Überlegenheit – vornehmlich zur See – ermögliche es Athen, im Grunde jede Herausforderung anzunehmen, sofern ihre spezifische Stärke dabei zum Tragen komme.71 Allein Perikles’ Warnungen der ersten Kriegsjahre, das Gehaltene nicht zu erweitern, bis nicht der Krieg gegen Sparta gewonnen sei, stehen dem entgegen, aber sie werden sogar von ihm selbst in eigener Rhetorik konterkariert.72 Die Überlegenheits- und Sicherheitssuggestion des innerathenischen Diskurses bewirkt latent, dass ein so gewaltiges Unternehmen wie die Sizilische Expedition im Grunde nicht einmal als ein neuer Kriegszug wahrgenommen wird – allein in der meisterhaft konstruierten Szene der Ausfahrt aus dem Hafen überkommt die Anwesenden und Schaulustigen ein Moment des Grauens, und sie werden angesichts des gefährdeten Aufgebots von Zweifeln befallen, die sich jedoch wieder unterdrücken lassen.73

3.Die ›Heimatfront‹

Nach diesen Vorüberlegungen soll nun die athenische Heimatfront im Mittelpunkt stehen, also nach der thukydideischen Einordnung des Siziliendebakels auf größerer Ebene nun seine Darstellung des konkreten Umgangs mit der Niederlage in der Polis aufgegriffen werden.

3.1Paralogos