Geschichten eines alten Österreichers - Alfons Clary-Aldringen - E-Book

Geschichten eines alten Österreichers E-Book

Alfons Clary-Aldringen

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Beschreibung

Erinnerungen an eine Welt von Gestern Alfons Clary-Aldringen entstammt einer jahrhundertealten böhmischen Adelsfamilie: Seine Vorfahren sind Zeitgenossen von Wallenstein und Napoleon, bekleiden hohe Ämter am habsburgischen Hof, sind Trauzeuge von Maximilian von Mexiko oder Hofdame bei Kaiserin Elisabeth. Alfons selbst wird 1912 von Franz Joseph I. zum k. u. k. Kämmerer ernannt, leistet im Ersten Weltkrieg Dienst als Offizier und übernimmt schließlich den Familiensitz Schloss Teplitz, von wo seine Familie 1945 als Angehörige der deutschsprachigen Minderheit vertrieben wird. Seinen Lebensabend verbringt er in Venedig – Verwandte und Freunde hat er in ganz Europa. Atmosphärisch dicht, mit feinem Humor und voll kluger Beobachtungen lassen diese unvergesslichen Memoiren die untergegangene Welt der Donaumonarchie wiederauferstehen und präsentieren ein lebendiges Stück Geschichte für künftige Generationen. Mit einem Vorwort von Golo Mann und zahlreichen Abbildungen aus dem Familienarchiv Clary-Aldringen

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Seitenzahl: 479

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Geschichteneines altenÖsterreichers

Erinnerungen vonAlfons Clary-Aldringen

Mit 32 Abbildungen

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Redaktioneller Hinweis:

Der Originaltext aus dem Jahr 1977 wurde anlässlich der Neuausgabe in die neue Rechtschreibung gesetzt. Einzelne, heute nicht mehr zeitgemäße Begriffe blieben unverändert, um die Authentizität des Werkes als historisches Zeitdokument zu wahren.

Der Umwelt zuliebe #ohnefolie

© 2024 by Amalthea Signum Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und Satz: Nica Steiner, Wien

Umschlagabbildung: Alfons Clary-Aldringen mit seiner Frau

Ludwine in Venedig © Familienarchiv Clary-Aldringen

Alle Abbildungen im Buch: © Familienarchiv Clary-Aldringen, ausgenommen Seite 141: © Familienarchiv Clary-Aldringen im Staatsarchiv Tetschen-Bodenbach

Herstellung: VerlagsService Dietmar Schmitz, Erding

Gesetzt aus der Adobe Caslon Pro und der Dosis

Designed in Austria, printed in the EU

ISBN 978-3-99050-272-3

eISBN 978-3-903441-31-6

Für meine Frau,meine Kinder und Enkel

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe 2024

von Hieronymus Fürst Clary und Aldringen

Vorwort

von Golo Mann

Teplitz

Familie

Wien der Kindheit

Der Hofmeister

London

Kleine Länder und Hauptstädte

Drei Märchenköniginnen

Der Kaiser Josef II. Auch etwas über die Jagd

Das Einjährig-Freiwilligenjahr

Hamburg

Prag

Geistergeschichten

Polnisches. Auch Russisches

Kaiser und Thronfolger

Aus dem Ersten Weltkrieg

Eigene Familie

Ein Großgrundbesitz in Böhmen

Zwei Schwestern

Die beiden Masaryk

Die Völkerbundliga. Konrad Henlein

Der Präsident Beneš. Von der Not der Dreißigerjahre und von ein wenig Hilfe

Abschied von Böhmen, 1945

Venedig

Epilog

Stammbaum

Vorwort zur Neuausgabe 2024

Venedig, am 6. Oktober 1978. Alfons Fürst Clary und Aldringen hatte sich am Vorabend nicht wohlgefühlt, war zeitig schlafen gegangen und an diesem Morgen nicht mehr aufgewacht. Das Leben des »alten Österreichers« war zu Ende.

Aber seine Geschichten leben weiter. Die ersten Auflagen seines Buches in Deutschland bei Ullstein 1977 und die erste englische Ausgabe hatte er noch selbst erlebt, die amerikanische Auflage und das deutsche Taschenbuch aber nicht mehr; 1996 erschien noch einmal eine Ausgabe bei Amalthea in Österreich und die davon abgeleitete Veröffentlichung in tschechischer Sprache, die ihm besonders wichtig gewesen wäre. Eine französische Auflage erschien Ende 2023, und eine Übersetzung in das Italienische liegt vor.

Durch die »Geschichten« lebt aber auch er weiter. In der Erinnerung derer, die ihn kannten, sowieso. Aber viele lernten ihn erst durch die Geschichten kennen, die er zu erzählen hatte. Viele Menschen verstanden Geschichte erst besser beim Lesen seiner Geschichten, die sein Leben immer in die Entwicklung Europas eingebunden haben und damit in Wichtigeres als in kleine Nationalitäten oder politische Strömungen.

Geboren 1887 im Königreich Sachsen, aber aus Böhmen stammend, dessen König der Kaiser von Österreich war, aufgewachsen in Dresden, Stuttgart, London, Wien, Prag und Brüssel, nach 1918 Bürger der Ersten Tschechischen Republik, als solcher 1938 zwangsweise abgetreten an das sogenannte Dritte Deutsche Reich, 1945 der Volkswut entkommen in die amerikanische Zone von Deutschland, hatte er schließlich 1948 im gerade erst zur Republik gewordenen Italien, einem Gründungsmitglied der europäischen Vereinigung, Wohnsitz nehmen können. Auch ein solches Leben endet einmal, aber die Geschichten, die es ausmachen, leben weiter.

Wie in Italien oft üblich, wurde sein Sarg nicht erdbestattet, sondern in die Grabkapelle einer befreundeten Familie in Latisana verbracht. Das Leben der Hinterbliebenen ging weiter.

Hieronymus Clary-Aldringen mit seinem Großvater Alfons und seiner Großmutter Ludwine sowie seinem jüngeren Bruder Christian, ca. 1960

Zweiundsechzig Jahre waren meine Großeltern verheiratet und nur am Anfang ihrer Ehe kriegsbedingt nicht immer zusammen gewesen. Es war deshalb nicht einfach, die Wünsche meiner Großmutter mit den gegebenen Möglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen, um ihre Zukunft passend zu organisieren.

Schließlich konnte sie – bestens versorgt und betreut – in ihrer vertrauten Venezianer Umgebung wohnen bleiben. Am 4. April 1984 starb sie friedlich im dortigen Krankenhaus, und auch ihr Sarg wurde in eine Grabkapelle in Latisana aufgenommen.

1984 war auch das Jahr, in welchem der Ruhestand meines Vaters Marcus begann, der seit 1956 beruflich und nach der Scheidung meiner Eltern mit seiner zweiten Frau Gisela in den USA gelebt hatte. Beide kümmerten sich jetzt um die Modernisierung der Wohnung in Venedig, und die Unterlagen und Korrespondenzen, die dabei geordnet wurden, hätten noch Stoff für viele Geschichten ergeben.

Die erste Hochzeit eines von uns Enkelkindern, die meiner Schwester Resy, hatten die Großeltern 1972 noch erlebt, wenngleich sie auch, gesundheitlich bedingt, nicht daran teilnehmen konnten; zur Taufe der ersten Urenkelin waren sie aber dann noch nach München gekommen. Auch bei meiner eigenen Hochzeit konnte die Großmama nicht dabei sein, aber dann später noch den ersten Clary-Urenkel in den Armen halten. Auch in der Familie meiner Tante in Italien wurde geheiratet, geboren und gestorben, wie halt das Leben so ist.

Der »alte Österreicher« war immer ein Europäer gewesen. So hatte er auch immer die Historie verstanden, die er kannte und der seine Gedanken galten. Sein Europa umfasste auch einen größeren Raum als denjenigen, der vom Haus Habsburg geprägt war, aber alle diese Länder, vor oder nach 1806, bildeten den Kern dessen, wovon seine Geschichten handeln und oft die Glorie, manchmal aber auch den Niedergang beschreiben.

Aus den politischen Veränderungen in diesem Europa, vor allem seit den Entwicklungen am Ende der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts, entstanden neue Gegebenheiten, die die Geschichten des »alten Österreichers« weiterführten, verlängerten und zum Teil mit neuem Sinn erfüllen. Der Fall des sogenannten Eisernen Vorhangs und die echte Demokratisierung der osteuropäischen Länder waren Ereignisse, die das Leben von Millionen von Menschen veränderten – und dadurch auch ihre Heimat, die auch für meinen Großvater ein Teil seiner europäischen Heimat gewesen war, in der die von ihm erzählten Geschichten stattgefunden hatten.

Drei Generationen: Hieronymus Clary-Aldringen mit Großvater Alfons und Vater Marcus (v. r. n. l.), 1974

Mehr als dreißig Jahre ist es jetzt her, dass sich auch in der Heimat unserer Familie, in Teplitz-Schönau, vieles weiterentwickelt hat. Eine Restitution wurde zwar nicht gewährt, weil unsere Familie seit Oktober 1938 als »deutsch« zu gelten hatte, aber die persönlichen Beziehungen von und nach Teplitz und seine Umgebung sind vielfältig und gut. Das Schloss wird baulich in gutem Zustand gehalten und ist seit Jahrzehnten Museum. Zu sehen sind die verbliebenen früheren Bestände, aber auch lokale archäologische Funde, Fossilien, Mineralien und Tierpräparate wie auch wechselnde Ausstellungen aus verschiedenen Themenbereichen. Die umfangreiche Bibliothek war einmal nach Prag verbracht worden, ist aber seit Längerem wieder zurück in den ehemaligen Räumen. Viele Mitarbeiter der Verwaltung sind seit Jahren mit dem Haus und seinen Beständen verantwortungsvoll verbunden. Der Park wird gepflegt und genutzt, und der Kurbetrieb ist reorganisiert worden und wird von Gästen aus der ganzen Welt gebraucht.

Unsere Familie wird in allen diesen Orten freundlich begrüßt, wenn wir oft und immer wieder Teplitz besuchen. Der Clary’sche Waldbesitz, der sich in dieser Gegend von Eichwald/Dubí bis zur sächsischen Grenze bei Zinnwald/Cínovec erstreckt, war in den Jahrzehnten vor der Wende durch schlecht gefilterte industrielle Abgase schwer geschädigt worden, hat sich dann aber gut erholt. Nun ist er leider von der klimabedingten Trockenheit betroffen, die auch unsere anderen Wälder in der Böhmischen Schweiz durch ausgedehnte Brände schwer geschädigt hat.

Das ganze Familienarchiv ist schon früher in eine staatliche regionale Archivorganisation eingegliedert worden, wo es geordnet und inventarisiert wurde und der wissenschaftlichen Geschichtsforschung zur Verfügung steht.

Die Kirche nach venezianischem Modell, die mein Urgroßonkel Carlos um 1900 in Eichwald/Dubí bauen ließ, gehört heute der Gemeinde, von der sie auch erhalten wird, und findet als Kirche sowie gelegentlich als Konzertraum angemessene Verwendung. Unter der Kirche befindet sich eine Gruft unserer Familie, und Bürgermeister und Gemeinderat haben veranlasst, dass auf einer großen Tafel die Namen aller derjenigen zu lesen sind, die dort ihre letzte Ruhe hätten finden sollen, nun aber andernorts die Auferstehung erwarten. Wenn aber die erhaltenen Überreste der verstorbenen Großeltern jetzt noch von Italien nach Böhmen gebracht werden können, ist kürzlich angeboten worden, sie doch endgültig auch dort unterkommen zu lassen.

Alfons Clary-Aldringen (2. v. r.) mit seiner Frau Ludwine (l.) und Dr. Otto von Habsburg-Lothringen (2. v. l.) anlässlich der Veröffentlichung seiner Memoiren, München 1977

Die Entwicklungen im Großen brauche ich nicht zu beschreiben, aber man kann sich darüber freuen, was nach dem Wahnsinn der beiden Weltkriege und dem Irrsinn von Nationalismus und Sozialismus trotzdem aus Europa geworden ist.

Jede Zeit schreibt ihre eigene Geschichte, aber gründet auch immer auf der Vergangenheit. Vieles in der Gegenwart versteht man erst, wenn man die Vergangenheit im Guten wie im Schlechten kennt. Die Geschichten eines alten Österreichers können dazu beitragen, Vergangenheit zu erfahren, um die Gegenwart zu gestalten und damit die Zukunft zu bereichern.

So wünsche ich allen Lesern wieder schöne, interessante und unterhaltsame neue Entdeckungen in den Geschichten eines alten Österreichers.

– Hieronymus Fürst Clary und Aldringen im Frühjahr 2024

Vorwort

Schreiber dieser Zeilen gehört zu den wenigen – gar nicht so sehr wenigen, denn in die enge Wohnung in Venedig kommen viele Gäste –, die oft das Glück hatten, Fürst Alfons Clary erzählen zu hören. Er ist ein begnadeter Erzähler, nicht nur von Anekdoten und novellenartigen Begebenheiten, die er erlebte; auch Schilderer von Menschen, Situationen, Landschaften. Der Wunsch, von seinen Verehrern oft geäußert, das im engen Umkreis Verschwendete möchte doch auch einem weiteren Publikum zugänglich gemacht werden, ist nun in Erfüllung gegangen. Sicher, das geschriebene Wort ist etwas anderes als das gesprochene; die lachenden Augen des Erzählers, die Bewegungen seiner Hände, mitunter sein sich Erheben und eine ganze Szene Mimen – das können wir beim Lesen nicht sehen. Und doch ist seine Persönlichkeit ganz und gar in dem, was er, in so hohem Alter, niedergeschrieben hat: Menschenliebe, der alle Menschenkenntnis nicht beikommen, Humor, den kummervolle Erfahrungen nicht bezwingen konnten, Bescheidenheit trotz des Ranges, den er in einer untergegangenen Welt einmal einnahm, Diskretion und das allernatürlichste Schriftstellertalent. Dass solches ihm eignet, hat er erst in seinem neunzigsten Lebensjahr entdeckt.

Einer der Familien angehörend, die bis 1918 sich in die Regierung oder oberste Verwaltung der Habsburgermonarchie teilten, also unbestreitbar von bevorrechtigter Geburt, hat Clary es doch nicht jederzeit leicht gehabt; in der Jugend nicht als Sohn eines jüngeren Sohnes, für den es vermutlich nichts zu erben gab, der also in großer Welt sich mit wenig Geld in der Tasche bewegte, nicht als Soldat im Ersten Weltkrieg; und je weiter man lesend in der Zeit vordringt, desto deutlicher wird der Eindruck: Schwierig war es eigentlich fast immer. Völlig ungetrübt erscheint nur die Kindheit; und es mag sein, dass ihr Glück, später verdoppelt durch eine überaus glückliche Ehe, das ganze spätere Leben hat erleuchten helfen.

Was sein Österreich betrifft – einige Leser könnten ihm vorwerfen, dass er es idealisiert. Solchem Tadel könnte ich mich nicht anschließen. Über die sozialen Dunkelheiten des Donau-Reichs, des alten Europa überhaupt, weiß er durchaus Bescheid; zu seiner Zeit interessierte er sich mehr dafür, als es seine Standesgenossen im Durchschnitt taten. Weil aber das alte Österreich von der Publizistik der Zwanziger- und Dreißigerjahre mit so verblendeter Ungerechtigkeit behandelt wurde und vielfach heute noch wird – »Völkergefängnis« haben gerade jene die Stirn, es zu nennen, die selber buchstäblich Völkergefängnisse erbauten, spotten ihrer selbst und wissen nicht wie –, so interessiert er sich mehr für das, was gut war am Reiche Franz Josephs; und dass eine Menge Gutes daran war, hat ja begonnen, sich herumzusprechen.

Alfons Clary hat noch seinen Großvater gekannt, der Goethe im Teplitzer Schloss sah, in Wien zusammen mit Napoleons Sohn Reitstunden nahm. Eine Schwester seines Großvaters, Mathilde Radziwill, Urenkelin des Fürsten de Ligne, konnte ihm vom Wiener Kongress erzählen, den sie als Kind erlebt hatte. Solche indirekten Erinnerungen sind in seinem Geist so präsent wie das, was er selber erlebte: Kämmerer des Kaisers Franz Joseph, Gast in Konopiste bei dem Erzherzog Thronfolger, Gast im alten England, im alten habsburgischen Polen; Offizier im Ersten Weltkrieg, unfreiwilliger, jedoch bereiter Bürger der Ersten Tschechoslowakischen Republik, als solcher vergeblich versuchend, zwischen deutschen und tschechischen Böhmen vermitteln zu helfen. Präsident Masaryk hat ihm immerhin interessiert zugehört. Präsident Beneš leider ohne jedes Verständnis. Praktisch ausgebildet – unter anderem im Hamburger Bankhaus Warburg –, nicht ohne administrative Erfahrung in Prag, konnte Clary ein Erbe, das er schwer belastet angetreten hatte, unter schwierigsten Umständen wieder in die Höhe bringen. Seine liebsten Interessen sind die kunsthistorischen und historischen überhaupt, die er heute noch pflegt. Er ist einer der letzten Überlebenden des Vielvölkerstaates, der alten Habsburgermonarchie, aus Studium und Erfahrung einer ihrer gründlichsten Kenner. Darin, vor allem, liegt der Reiz seiner Erinnerungen.

Er liegt auch in der Persönlichkeit des Autors, der das Gedächtnis eines Jünglings mit der abgeklärten Weisheit des Alters verbindet, der, neunzigjährig, an den Ereignissen seiner Umwelt noch so regen Anteil nimmt, wie er es vor siebzig, vor achtzig Jahren tat.

– Golo Mann1977

Teplitz

Jetzt, da ich im Alter kein Vaterland und keine Heimat mehr habe, ja eigentlich keinem Volk mehr so recht zugehöre, bin ich das geworden, wozu ich wohl von Anfang an angelegt gewesen war, ein Europäer, und fühle mich in den meisten Ländern unseres Kontinents zu Hause, so wie früher in allen Teilen der alten k. u. k. Monarchie – diesem Vorläufer eines gesamteuropäischen Gemeinwesens, wenn ein solches je entstehen sollte. Als Diplomatenkind nahm ich immer etwas von den Ländern auf, in denen mein Vater auf Posten war, am meisten wohl von England – unsere »Miss« hatte da durch ihre Erziehungskünste brav vorgearbeitet. Sehr hing ich an Wien, der Kaiserstadt, und später, seit meiner Studienzeit, auch an Prag; am allermeisten aber doch an Teplitz, wo meine Familie seit dem Dreißigjährigen Krieg beheimatet war. Wir liebten das Schloss, die Landschaft, die Wälder, das Erzgebirge, auch die Luft trotz des leichten Kohlendunstes. Nicht lange vor ihrem Tod, im Jahre 1954, war meine ältere Schwester, Elisalex de Baillet Latour, bei uns in Venedig; es war Sommer und sie saß am offenen Fenster, ein leichter Wind blies von den Fabriken in Mestre herüber, da sagte sie: »Wie köstlich, es riecht ja wie in Teplitz!«

Kein Wunder, dass wir von der Stadt so viel erfahren wollten, wie nur möglich war. Sicher gab es in Böhmen viele größere und schönere, auch in schönerer Lage befindliche Schlösser, aber irgendwie hatte Teplitz einen besonderen Charme, den auch unsere Gäste aus nahen und fernen Ländern spürten. Wir haben uns gefragt, worin dieser Zauber bestand. Man sagt manchmal, dass Gutes und Böses in einem Haus weiterleben; mag sein, dass dies zutrifft, in Teplitz hatten zehn Generationen meiner Familie gelebt, und ich glaube, dass sie glücklich waren; keine Gewaltmenschen, sondern gute und fröhliche Leute, eifrige Jäger, auch den Künsten, der Musik zugetan. Dann war da noch etwas anderes: Die heißen, heilenden Quellen hatten immer schon Fremde angezogen, die mit ihren Eigenheiten, Talenten und Kenntnissen auf die Einwohner wirkten, sodass Teplitz auch in kultureller Hinsicht ein Anziehungspunkt wurde.

Das Kloster war sehr reich, auch an Grundbesitz. Mit den Hussitenkriegen brach eine böse Zeit über Teplitz herein. Nach der Schlacht von Aussig im Jahre 1426, in der das Heer Kaiser Sigmunds von den Hussiten besiegt wurde, drangen die Sieger in Teplitz ein und zerstörten das Kloster. Was mit den Nonnen und den Bewohnern der Stadt geschah, weiß man nicht genau. Wie ich höre, werden jetzt Ausgrabungen gemacht, und es sind Reste des Klosters gefunden worden.

Die Stadt und der Besitz gelangten in die Hände mächtiger tschechischer Familien und schließlich durch Erbschaft an die Wřešovic und Kinsky.

Wie bekannt, hat Böhmen im Dreißigjährigen Krieg Furchtbares erlebt. Es heißt, bei Kriegsende sei nur noch ein Viertel der Bevölkerung übriggeblieben. Ärger noch als die eigentlichen Kriegshandlungen waren die Überwinterungen der Heere, gleichgültig, ob es die Kaiserlichen, die Schweden oder die Sachsen waren; das Vieh wurde geschlachtet und das Saatgut zum Brotbacken verwendet. Die unglücklichen Bauern versuchten, wo sie es konnten, ihr Vieh in den Wäldern zu verstecken, noch günstiger waren Höhlen – in unseren Wäldern in der Böhmischen Schweiz hießen solche noch zu meiner Zeit »Kuhstall«. Auch in der Sächsischen Schweiz gab es einen »Kuhstall«, eine besondere Attraktion für Touristen. Lange vor dem Ersten Weltkrieg gab es dort ein Buch, in dem sich Besucher eintragen konnten. Ein besonders begeisterter Naturfreund schrieb:

»Ich hab ihn gesehen, ich hab ihn gesehen,Ich habe den göttlichen Kuhstall gesehen!«

Ein anderer Ausflügler schrieb darunter:

»Ich hab es gelesen, ich hab es gelesen,Ein Ochs ist im Kuhstall gewesen!«

Nach der Ermordung Wallensteins in Eger, bei welcher Gelegenheit auch der Besitzer von Teplitz, Graf Wilhelm Kinsky, ums Leben kam, wurden dessen Güter konfisziert und verkauft. Feldmarschall Aldringen erwarb außer anderen Herrschaften auch Teplitz und Binsdorf. Er erfreute sich nur ganz kurz des Besitzes, denn er fiel noch im gleichen Jahr, 1634, in der Schlacht bei Landshut. Eine Kanonenkugel riss ihm den Kopf ab – seinen großen braunen Filzhut habe ich oft im Wiener Heeresmuseum angeschaut! Seine Gattin, eine Gräfin Arco aus Südtirol, war kurz vorher bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben; da auch das Kind nicht lebte, wurden die Geschwister des Feldmarschalls seine Erben. Anna Aldringen vermählte sich als Witwe mit dem Grafen Hieronymus Clary, und von da an blieb die Herrschaft Teplitz bis 1945 in unserem Besitz.

Aldringen, der Stifter unseres Teplitzer Glücks, war sicher ein hervorragender Soldat und Administrator; leider nur war auch sein Gewissen so weit, wie man es von anderen Heerführern seines Zeitalters kennt. Ich erfuhr es, als meine Frau und ich in den Dreißigerjahren die Stadt Mantua besuchten. Es hatte nämlich Aldringen während des »Mantuanischen Erbfolgekrieges« die Stadt erobert und gründlich ausgeplündert, besonders den mit Kunstschätzen reich gefüllten herzoglichen Palast. Als wir nun den Palast besichtigten, gab unser historisch bewanderter Führer uns Erklärungen nicht nur über das, was da war, auch über das, was unwiederbringlich fehlte; wobei er mehrfach den Namen des »maledetto Aldringen« ausstieß und dem seit dreihundert Jahren Toten gleichsam mit der Faust drohte. Dasselbe geschah uns im städtischen Museum! Wenn wir vorgehabt hatten, in Mantua zu übernachten, so zogen wir nun doch vor, die Stadt eilends zu verlassen, denn der Name Aldringen stand ja in unseren Pässen!

Schloss Teplitz, Blick vom Schlossplatz

Auch Teplitz bot am Ende des Dreißigjährigen Krieges einen erbärmlichen Anblick, ein großer Teil lag in Schutt und Asche; 1650 lebten nur zwei Drittel der früheren Einwohner, und es sollen nur sechsundsechzig bewohnbare Häuser übriggeblieben sein.

Aber Böhmen war, seiner Natur nach, ein reiches Land, und seine Bewohner beider Landessprachen müssen auch damals so fähig und arbeitsam gewesen sein, wie sie es später waren und heute noch sind – oder sein könnten. Das Land hat sich erstaunlich schnell von den Gräueln des langen Krieges erholt.

Von den Kriegen Friedrichs des Großen blieb Teplitz verschont. Die kriegsführenden Parteien hatten heimlich ein recht vernünftiges Abkommen getroffen, wonach die Stadt nicht militärisch besetzt werden sollte, sodass Offiziere beider Heere dort ungestört die Kur gebrauchen und Linderung ihrer Leiden finden sollten. 1778 kam es über die bayerische Erbfolge fast wieder zum Krieg, zum Glück brachte der Vertrag von Teschen eine Lösung ohne kriegerische Handlungen. Jedoch hatten die Preußen ohne Kriegserklärung ein Stück von Nordböhmen besetzt, darunter auch Teplitz. Die Soldaten waren unbeschäftigt, so gruben sie die Kartoffeln aus den Feldern und pflückten das Obst von den Bäumen, daher der vom Volk gegebene Name »Kartoffel- und Zwetschkenkrieg«. Vor dem Abzug der Preußen wurde dann noch tüchtig geplündert, und dabei erging es unseren Soldaten schlecht.

König Friedrich Wilhelm III. von Preußen war sehr oft in Teplitz, zum ersten Mal während der Kriegshandlungen von 1813, als in den Tagen der Schlacht von Kulm das Hauptquartier der drei Monarchen von Österreich, Russland und Preußen im Schloss war.

Nach dem Sieg von Kulm unterschrieben Metternich, Nesselrode und Hardenberg in Teplitz einen Vertrag, der später zur Heiligen Allianz führte. Im Schloss stand noch zu unserer Zeit der Tisch, an dem dieser Vertrag unterzeichnet worden war; darauf befand sich eine Kopie desselben und in dem gleichen Raum, einer Halle, die Büsten von Kaiser Franz, Kaiser Alexander von Russland und König Friedrich Wilhelm III.

Am 29. September 1835 fand am Schlachtfeld von Kulm die Grundsteinlegung der Denkmäler statt, die später dort errichtet wurden. Wieder waren die drei Monarchen anwesend, doch nur der König Friedrich Wilhelm III. von Preußen regierte noch, bei uns war Kaiser Ferdinand seinem Vater gefolgt und in Russland Kaiser Nikolaus seinem Bruder.

Inzwischen war der König von Preußen schon ein Stammkurgast geworden und allgemein beliebt. 1770 geboren, hatte er sich 1793 mit der 1776 geborenen schönen Prinzessin Luise von Mecklenburg vermählt, die bereits 1810 starb. Als er 1824 wieder zur Kur in Teplitz weilte, verliebte er sich in die aus Schlesien stammende Gräfin Auguste Harrach, die dreißig Jahre jünger war als er, und heiratete sie. Er gab ihr den Titel einer Fürstin von Liegnitz. Während dieses Kuraufenthaltes machte er gern längere Spaziergänge mit der Gräfin, auf Feldwegen, vielleicht um den Blicken der Neugierigen zu entgehen! Bei einem solchen Spaziergang hatte er Kornblumen gepflückt und der Gräfin in ihr goldblondes Haar gesteckt. Dies führte zu der irrigen Ansicht, dass die Kornblumen seine Lieblingsblumen seien, und es wurden ihm immer wieder welche gereicht.

Schloss Teplitz, Parkseite

Im Juni 1878 hatte Karl Nobiling auf Kaiser Wilhelm I. einen Schrotschuss abgegeben, der ihn schwer verletzte. Er kam zu einer Kur nach Teplitz und wurde auch mit Kornblumen empfangen, was ihn wenig freute, da er und seine Geschwister, die ihre Mutter besonders geliebt und verehrt hatten, die zweite Ehe des Vaters keineswegs billigten. Aber die Legende lebte weiter – noch in meiner Jugend trugen besonders national gesinnte Leute die Kornblume im Knopfloch!

Als Kaiser Wilhelm I. einmal im Schlosse speiste, ließ er sich meinen kurz vorher geborenen Vetter Johannes zeigen – weil dieser die fünfte männliche Generation Clary war, die er gekannt hatte.

Ein anderer gekrönter Kurgast in Teplitz war Marie Louise, die zweite Gattin Napoleons.

Bevor dieser seinen Feldzug gegen Russland begann, war er mit Marie Louise 1812 in Dresden, wohin auch ihr Vater Kaiser Franz und dessen dritte Gattin Maria Ludovica kamen, Letztere von Teplitz aus, wo sie die Kur gebrauchte.

Es fanden einige politische wichtige Besprechungen statt, nach welchen Napoleon sich zu seiner Armee begab, Marie Louise nach Teplitz, um dort ihre Familie zu treffen.

Napoleon stand damals auf der Höhe seiner Macht, er schien unbesiegbar zu sein, war schon der Beherrscher West- und Mitteleuropas, und die meisten Staatsmänner glaubten, dass er nun auch Russland besiegen würde. Im Mai 1812 schrieb Metternich an den österreichischen Gesandten in St. Petersburg »Russland ist verloren, die Armee ist nicht auf der Höhe und die Finanzen sind unzureichend«. In Dresden waren die Macht und der Reichtum des französischen Hofes sehr sichtbar und überragten die aller anderen Souveräne, was für die österreichische Kaiserin Maria Ludovica, eine Erzherzogin aus dem Haus Österreich Este, nicht leicht zu ertragen war. Ihr Vater war aus Modena vertrieben worden, als dieses Herzogtum dem neuen Königreich Italien einverleibt wurde. Napoleon behandelte seinen Schwiegervater Kaiser Franz mit gebührender Achtung, die anderen deutschen Fürsten fast mit Geringschätzung; aber sie mussten sich von ihm, den man als den zukünftigen Herrscher der Welt betrachtete, vieles gefallen lassen! Die Franzosen hatten auch die Bourbons aus Neapel vertrieben, denen nur Sizilien verblieb. Die Königin Maria Carolina von Neapel, eine Tochter der Kaiserin Maria Theresia, machte aus ihren Gefühlen keinen Hehl. Ihre Tochter Maria Theresia war die zweite Gattin von Kaiser Franz und die Mutter von Marie Louise gewesen. Als die alte Königin die Nachricht erhielt, dass diese Enkelin die Gattin Napoleons werden sollte, rief sie aus: »Zu allem andern Unglück werde ich jetzt auch noch des Teufels Großmutter!«

Nach dem Krieg 1914–1918 wurden zum ersten Mal die Briefe Napoleons an seine Gattin veröffentlicht, die ihn in einem neuen Licht erschienen ließen – als einen braven Ehegatten, der sich um alles besorgte, was seine viel jüngere Gattin betraf. Die Briefe beginnen meist mit »Ma bonne Louise«; auf dem Weg nach Russland schreibt er ihr schon von Bautzen, wie sie es mit Trinkgeldern und Gastgeschenken in Teplitz halten soll: Der Hausfrau, meiner Ururgroßmutter Christine Clary de Ligne, ist ein Schmuckstück zu geben. Aber in der Familie hieß es, dass kein solches, sondern nur eine, an sich schöne, Biskuitbüste Napoleons geschenkt wurde. Der Hofstaat der Kaiserin war so groß, dass die Clarys aus dem Schloss ausziehen mussten, um Platz zu machen. Marie Louise war offensichtlich ihrem Vater sehr zugetan und auch sonst sehr gütig und freundlich. Die Clarys waren für Marie Louise keine Unbekannten, 1811 war Johann Clary als Sonderbotschafter zu der Taufe des Königs von Rom nach Paris gesandt worden. In unserem Archiv hatten wir den Bericht, den er nach der Rückkehr seinem Kaiser abstattete. Bemerkenswert sind die Ratschläge, die Napoleon seinem Schwiegervater gab, unter anderem auch den, die Ungarn ja nicht zu stark werden zu lassen.

Die Verhandlungen, die zur Ehe Napoleons mit der Erzherzogin Marie Louise führten, waren nicht einfach gewesen. Endlich war es so weit, dass Maréchal Berthier am 24. Februar 1810 nach Wien abreisen konnte. Der Maréchal war als Prince de Wagram bekannt, ein für Wiener Ohren nicht angenehmer Klang; so führte er dort seinen anderen Titel, Prince de Neufchâtel. Am 4. März traf er in Wien ein und am 8. hielt er offiziell im Auftrag des Kaisers der Franzosen um die Hand der Erzherzogin an. Zu gleicher Zeit bat er den Erzherzog Carl, den Kaiser bei der Trauung per procura zu vertreten. Am 11. März, um sieben Uhr abends, fand die Trauung in der Augustinerkirche statt. Am 12. März schrieb Kaiser Franz an den neuen Schwiegersohn einen Brief, in welchem er ihm die vollzogene Trauung anzeigte.

In der Übersetzung lautet dieser Brief:

»Mein Bruder und sehr lieber Schwiegersohn, ich beauftrage meinen Kämmerer Graf Clary, Eurer Kaiserlichen Majestät diesen Brief zu übergeben. Der hohe Vertrag, der unsere beiden Throne auf immer verbindet, ist gestern geschlossen worden. Ich möchte als Erster Eure Majestät zu einem von Ihr ersehnten Ereignis beglückwünschen, das auch mich mit Freude erfüllt, und das ich als das kostbarste und zugleich sicherste Pfand unseres Glücks und daher auch das unserer Völker betrachte. Wenn das Opfer, mich von meiner Tochter zu trennen, unendlich groß ist, wenn im gegenwärtigen Augenblick mein Herz über die Trennung von diesem geliebten Kind blutet – der Gedanke und, ich zögere nicht es auszusprechen, die tiefinnerliche Überzeugung ihres Glücks, sind allein imstande, mich zu trösten.

Graf Metternich, der in wenigen Tagen dem Grafen Clary folgen wird, soll Eure Kaiserliche Majestät mündlich die lebenslängliche Zuneigung aussprechen, die ich dem Fürsten gewidmet habe, der seit gestern eines der kostbarsten Mitglieder meiner Familie geworden ist.

Ich beschränke mich im gegenwärtigen Moment darauf, Eure Kaiserliche Majestät zu bitten, die Versicherung meiner Hochachtung und meiner unverbrüchlichen Freundschaft zu empfangen.

Ich bin Eurer Kaiserlichen Majestät lieber Bruder und Schwiegervater, Franz.«

Die neue Kaiserin verließ Wien am 13. März früh und kam am 27. März in Compiègne an, wo Napoleon sie erwartete und mit ihr die Nacht verbrachte. Dies war ein nicht sehr korrektes Vorgehen und löste in Wien Erstaunen aus.

Am 13. März um sieben Uhr früh war Carl Clary, der Sohn des Fürsten Johann, mit dem Brief des Kaisers nach Paris aufgebrochen, wo er am 19. eintraf; am nächsten Tag wurde er von Napoleon zur Übergabe des Briefs empfangen. Er blieb noch drei Monate in Paris, von wo er fortlaufend an seine Frau und seine Mutter Briefe schrieb, mit genauen Schilderungen aller seiner Erlebnisse und der Menschen, die er kennenlernte. Darunter ist auch die Beschreibung der kirchlichen Trauung, die in einem als Kapelle gerichteten Saal in den Tuilerien stattfand, dies, um nicht die Erinnerung an Napoleons erste Heirat mit Joséphine Beauharnais zu wecken.

Die Schleppe der Kaiserin wurde von fünf Damen getragen, den drei Schwägerinnen Napoleons – es waren die Königinnen von Spanien, Holland und Westfalen – und von seinen zwei Schwestern, der Großherzogin von Toscana und der Fürstin Borghese. Der Kaiser war übelster Laune, da es gerade einen ganz großen Familienkrach gegeben hatte, denn die fünf stolzen und übermütigen Damen hatten sich zuerst geweigert, die Schleppe zu tragen und taten es dann nur unwillig, einem »Befehl« des Kaisers folgend.

Schon sehr früh gab es in Teplitz Kurlisten, und die Namen, die man da fand, waren für uns von größtem Interesse.

Als ich ein Kind war, war es nicht Sitte, an den Eltern Kritik zu üben, die, in meinem Fall, zu Kritik auch wirklich keinen Anlass gaben. Über Verwandte, über Onkel und Tanten durfte man lachen, aber der Spott war ein freundlicher, zumal wenn es sich um solche handelte, die ihrerseits lieb zu uns waren. Wie oft hörten wir sie sagen, »man müsste oder man sollte« dies oder jenes tun – aber dann geschah meistens nichts. So war es mit dem Klavier, auf dem Chopin und Liszt gespielt hatten. Es war in Herrnskretschen an der Elbe in dem Haus gelandet, in dem die Familie alljährlich die Zeit der Hirschbrunft verbrachte, vielleicht, weil das Klavier aus hellem Kirschholz zu anderen Biedermeiermöbeln dort passte. Immer wieder hieß es, dass man es nach Teplitz zurückbringen »sollte« – es blieb aber, wo es war. Erst nach dem Tod meines Onkels brachte ich es wirklich zurück, es bekam einen Ehrenplatz in einem Gartensalon mit Empire-Möbeln, und die eingerahmte Kopie eines Briefes von Chopin wurde daraufgestellt; in dem Brief hatte er seinen Aufenthalt in der Badestadt und einen Abend im Schloss der Clary beschrieben. Ich ließ auch noch ein Täfelchen anbringen mit dem Datum dieses Ereignisses und einem Vermerk, dass Liszt ebenfalls auf diesem Klavier gespielt habe. Dank dem Täfelchen ist nichts verloren gegangen, und noch heute steht das Klavier im Musikzimmer des Schlossmuseums.

Ein anderer berühmter Kurgast in Teplitz war Beethoven, doch ist er nie ins Schloss gekommen, da er wegen seiner Schwerhörigkeit oft übler Laune war und keinerlei Einladungen annahm. Er ging aber gern mit Goethe im Schlossgarten spazieren. Die in einem Gemälde von Röhling verewigte Szene ist ja bekannt: Die beiden begegnen der Kaiserin Maria Ludovica mit Gefolge; Goethe tritt beiseite und lüftet den Hut, während Beethoven, das Verhalten des Dichterfürsten für unwürdig erachtend, mit zorniger Miene und verschränkten Armen durch die Gruppe marschiert. Das mag sich wirklich so zugetragen haben oder auch nicht.

Richard Wagner weilte 1834 und später noch zweimal zur Kur in Teplitz, von wo er seiner Schwester begeisterte Briefe schrieb; er machte auch Ausflüge in die Böhmisch-Sächsische Schweiz, und man sagt, er habe an dieser herrlichen Gegend einen solchen Gefallen gefunden, dass die Ausstattung einiger seiner Opern nicht unbeeinflusst davon blieb. Leider hat aber meine Familie ihn in Teplitz nicht kennengelernt. In einem Brief aus dem Jahre 1834 erwähnt er, dass ihm das »heimische Bier« trefflich munde, Bier, das aus unserer Brauerei in Turn bei Teplitz kam. In Böhmen gab es viele Brauereien, von denen manche sich ständig vergrößerten, sodass erbitterte Konkurrenzkämpfe entstanden. Das Letztere hatte auch seine gute Seite, denn die Brauereien wurden gezwungen, nur allerbestes Bier zu produzieren. Entsprechend nahm freilich auch die Notwendigkeit einer wirksamen Reklame zu. 1934 waren einige benachbarte Großbrauereien mit neuen Reklamen herausgekommen, die auch in den Kinos von Teplitz und Umgebung gezeigt wurden. Unser Brauereidirektor suchte nach einem »Schlager«. Da verfiel ich auf die Idee, den Brief Wagners zu verwenden. Nun erschien in denselben Kinos folgende Anzeige: »Schon vor hundert Jahren lobte Richard Wagner das heimische Turner Bier«, welcher Text den Kopf des Meisters umrahmte. Der Erfolg war beträchtlich, allerdings erhielt ich auch viele grobe Briefe von empörten Wagnerianern, die mich beschuldigten, »das Haupt des hehren Meisters durch eine Bierreklame zu schänden«. Ich bildete mir ein, dass Wagner nur darüber gelacht hätte; ungefähr so wie ich über jene Briefe lachte!

Goethe war 1810, 1812 und 1813 in Teplitz zur Kur. In letzterem Jahr blieb er dreieinhalb Monate dort und verbrachte viel Zeit im Kreis des Fürsten Johann Clary, seiner Gattin Christine und ihres Vaters, des Maréchal Fürsten de Ligne. Auch die junge Kaiserin Maria Ludovica sah er viel, wie auch deren Hofdame Gräfin Josephine O’Donell, Friedrich von Gentz, Varnhagen von Ense, Rachel Levin, die Brüder Humboldt, den Rechtsgelehrten Savigny und Wilhelm Grimm. Er befreundete sich auch mit der Nichte der Fürstin Clary, Titine de Ligne, und schrieb für sie eine hübsche Strophe auf dem Revers eines Wiener Zweigulden-Bankozettels, den ihm Titine am 2. September 1812 bei einem Pferderennen in Dux abgewonnen hatte:

»Ein klein Papier hast Du mir abgewonnen,Ich war auf Größeres gefaßt,Denn viel gewinnst Du wohl, worauf Du nicht gesonnen,Worum Du nicht gewettet hast.«

In einem Flügel des Schlosses war ein Theater im Jahr 1753 errichtet worden, das für Amateuraufführungen verwendet wurde. Später hat man es während der Sommersaison für einen Gulden »Anerkennungszins« an Direktoren vermietet, die mit ihrer Truppe aus Dresden oder Prag kamen. Die Aufführungen scheinen auf beachtlicher Höhe gestanden zu haben, Goethe besuchte sie gern; er hatte im Parkett seinen Stammplatz, einen sogenannten Sperrsitz, das heißt, einen Sitz, der zugeklappt wurde und nur mit einem Schlüssel herabgelassen werden konnte.

Mit meiner Frau Lidi vor dem ehemaligen Theater in Schloss Teplitz, 1920er-Jahre

Mit der Zeit genügte das kleine Theater aber nicht mehr und so baute die Stadt ein großes, im Jahre 1876 feierlich eröffnetes. Im September 1919 brannte dieses gute alte Theater, welches die Teplitzer und wir mit ihnen sehr gerne gehabt hatten, leider ab; an seiner Stelle wurde ein Monumentalbau errichtet, in dem sich ein großer und ein kleiner Theatersaal, ein Kino, ein Kaffeehaus und ein »Ratskeller« befanden. Dieser überaus stattliche Bau wurde erst 1924 fertig; hatte man daran gedacht, in der Zwischenzeit das uralte Schlosstheater wieder zu benützen, so erwies sich dies als unmöglich, das Theater war im Inneren gar zu baufällig geworden, und eine Wiederherstellung hätte gar zu viel Geld gekostet. So entstanden aus dem Zuschauerraum und der Bühne zwei größere Bibliotheken, in denen unsere zahlreichen, von Generationen gesammelten Bücher untergebracht werden konnten. Goethes Sperrsitz durfte aber doch nicht der Spitzhacke zum Opfer fallen, er wurde zur Gänze entfernt, und ich stiftete ihn dem städtischen Museum.

Im Jahre 1932 wollte die Stadt zur Erinnerung an Goethe ein Denkmal errichten. Da der Dichter so oft im Schlossgarten spazieren gegangen war, sollte er dort aufgestellt werden, wozu ich meine freudige Zustimmung gab und das Denkmal damit unter meinen Schutz nahm. Die Enthüllung war feierlich, eine Reihe prominenter Persönlichkeiten fand sich ein, die Rektoren der Universitäten von Prag und Leipzig, mehrere Herren aus Weimar, ein Herr von Vulpius, Nachkomme von Goethes Schwager, des Verfassers von Rinaldo Rinaldini, auch Schriftsteller, darunter Johannes Urzidil. Diese Herren hielten von Geist und Gelehrsamkeit funkelnde Reden, sodass es für mich, der als Letzter an die Reihe kam, recht schwer wurde, überhaupt noch etwas zu sagen. Ich konnte nur mit einigen kleinen Geschichten aufwarten, die Goethe mit der Familie Clary verbanden und die zum Teil später in dem trefflichen Werk Urzidils Goethe in Böhmen erwähnt wurden. Nach der Feier hatten wir das Vergnügen, viele der Herren als Gäste zum Mittagessen zu haben. Da konnte ich ihnen die Zimmer zeigen, in denen er der Kaiserin Maria Ludovica vorgelesen oder sich mit dem Maréchal de Ligne unterhalten hatte, auch das Teleskop auf dem Schlossturm, neben dem der alte Herr der jungen Titine de Ligne heimlich ein Küsschen gegeben hatte. Wir aßen von Porzellan, welches schon zu Goethes Zeiten benutzt worden war. So genossen die Gäste den Reiz, vielleicht von denselben Tellern zu speisen wie einst der Dichterfürst.

Familie

Genealogen werden von den Historikern wohl gering geschätzt, wenn nicht geradezu verachtet. Ich glaube, zu Unrecht, denn ohne genealogische Zusammenhänge zu kennen, kann man die Geschichte des alten Europa schwer verstehen.

Die Ahnen – Unter meinen Ahnen gab es solche, die ich besonders gern hatte, sei es, dass ihre Bilder mir gefielen, sei es, dass sie etwas Besonderes geleistet hatten, oder auch nur, weil ich lustige Geschichten von ihnen wusste. Beliebt waren natürlich der Feldmarschall Aldringen, der Feldmarschall Fürst Charles de Ligne, der Oberstjägermeister Fürst Franz Wenzel Clary und mein Urgroßvater Fürst Carl Clary. Er war ein Enkel des Oberstjägermeisters und ein Sohn von Johann Nepomuk, von dem wir hauptsächlich wussten, dass er ein General-Hofbaudirektor gewesen war, und selber sehr baufreudig. Wenn mein Onkel Carlos Clary sich wieder einmal von der Bauwut wie besessen zeigte, so hieß es in der Familie: »Ja, das kommt vom Fürsten Johann.«

Der Letztere hatte Pech und Glück zugleich, denn als zur Zeit der Schlacht von Kulm, 1813, russische Truppen in die Umgebung von Teplitz kamen, trieben sie auch auf der Clary’schen Herrschaft ihr Unwesen, raubten und zerstörten so manches, obwohl sie unsere Verbündeten waren. Kaiser Alexander I. von Russland, der zugleich mit Kaiser Franz von Österreich und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen sein Hauptquartier in Teplitz hatte, war peinlich berührt, als er von dem angerichteten Schaden hörte, und verpflichtete sich sofort, für alles aufzukommen. Meinem Urgroßvater war das angenehm, denn mit der Entschädigungssumme konnte er Meierhöfe aufbauen, beschädigte Kurhäuser erneuern und manches Gute schaffen. Er hatte Marie Christine, die Tochter des Feldmarschalls de Ligne, geheiratet, die wie ihr berühmter Vater sehr geistreich war, aber nicht immer ganz bequem. Sie hatten zwei Söhne, von denen der jüngere 1805 bei Ulm schwer verwundet in französische Gefangenschaft geriet; er erholte sich nie von seiner Verwundung und starb noch jung als kaiserlicher Oberst. Der ältere Sohn, Carl, hatte von seinem Großvater Prince de Ligne Geist und Witz geerbt und war der Liebling seiner Mutter. Er besaß ein ausgesprochenes Schriftstellertalent, in unserem Archiv in Teplitz gab es einen reichen Schatz von Briefen und Tagebüchern aus seiner Feder.

Im Jahre 1912 wurde ein Teil der Briefe unter dem Titel Trois Mois à Paris herausgegeben. Die Heirat der Erzherzogin Marie Louise mit Napoleon fand per procura in der Augustinerkirche in Wien, 1810, statt; Erzherzog Carl vertrat den französischen Kaiser. Sobald die Ja-Worte gewechselt waren und die Ehe als gültig betrachtet werden konnte, verließ Carl Clary in allerhöchstem Auftrag die Kirche und eilte nach Paris, um Napoleon einen Brief seines neuen Schwiegervaters, Kaiser Franz, zu überbringen. Der Brief enthielt die Nachricht von der vollzogenen Eheschließung. Carl Clary blieb drei Monate in Paris und schrieb von dort sehr informative und unterhaltende Briefe an seine Frau und an seine Mutter. Er war auch ein begabter Zeichner und illustrierte unter anderem die Undine von De La Motte Fouqué. Die Originale dieser Illustrationen befanden sich auch in Teplitz.

Carl Clary starb schon bald nach seinem vierundfünfzigsten Geburtstag. Seine Kinder liebten ihn, und seine Tochter Mathilde Radziwill erzählte uns oft von ihm. Was sie aber nicht erzählte und was wir erst viel später erfuhren, war ein trauriger Roman aus seiner Jugend.

Seine Mutter hatte für ihn große Ambitionen und wollte ihn gern gut verheiraten. Im Jahre 1801 erschien in Dresden Fürst Michael Radziwill mit seiner Frau, seinen Kindern und einem großen Gefolge. Fürst Michael besaß ungeheure Ländereien in Russisch-Polen, es sollen zwei Millionen Hektar gewesen sein. Wenn auch ein großer Teil davon aus Urwäldern und Sümpfen bestand, handelte es sich doch um ein riesiges Vermögen, das dem Fürsten große Macht im Land verlieh. Nun war aber der Besitz kurz vorher von Petersburg aus unter Zwangsverwaltung gestellt worden, und die Radziwills lebten in Dresden im Exil, von ihren Einkünften abgeschnitten.

Im Sommer 1801 kamen sie in Teplitz an, wo der Fürst die Kur gebrauchen sollte, und verkehrten natürlich im Clary’schen Schloss. Wie nicht anders zu erwarten, verliebte sich Carl Clary in die schöne Prinzessin Angélique, was seine Mutter mit Angst und Schrecken erfüllte; sie sah voraus, dass die früher so reichen, nun verarmten Radziwills sich in Teplitz niederlassen und wie die Heuschrecken das Clary’sche Vermögen auffressen würden. Unter irgendeinem Vorwand schickte sie darum ihren verliebten Sohn nach Weltrus zu seinen Verwandten Chotek, dem böhmischen Hofkanzler Grafen Rudolf und seiner Frau Maria Sidonia Clary, der Schwester von Carls Vater, und gab ihm einen Brief mit, in dem Maria Sidonia gebeten wurde, den jungen Neffen möglichst lange dazubehalten, um eine drohende Verlobung zu verhindern.

Die Choteks nahmen den Briefinhalt gar zu wörtlich, besonders die älteste Tochter des Hauses, Luise, gleich alt mit Carl, die noch keinen Mann gefunden hatte. Das Kesseltreiben begann, und bald konnte nach Teplitz berichtet werden, dass eine Verlobung Carls mit Luise bevorstehe. Diese war eine sehr energische Dame, die ihre Beute nicht wieder loslassen würde. Als Carls Mutter die Nachricht erhielt, war sie außer sich; nicht nur missbilligte sie eine Ehe zwischen so nahen Verwandten, sie hatte auch diese Nichte besonders ungern. Es war aber nichts mehr zu ändern. Und dann geschah noch das Ärgste: Kaiser Alexander hob die Zwangsverwaltung wieder auf, und die Radziwills konnten zu ihren zwei Millionen Hektar zurückkehren. Angélique heiratete bald darauf einen Fürsten Czartoryski, starb aber schon nach sechs Jahren. Romantiker behaupten, sie sei aus Liebeskummer gestorben, ein weniger romantischer Onkel meinte, Schwindsucht sei wohl die wahre Ursache gewesen. Für diesmal war die Verbindung Radziwill-Clary traurig gescheitert, in der folgenden Generation gab es dafür einen reichlichen Ersatz.

Carl und Luise heirateten 1802, seine Mutter weigerte sich, bei der Hochzeit zugegen zu sein, und soll noch durch sieben Jahre nie ein Wort an ihre Schwiegertochter gerichtet haben. Diese muss eine recht willensstarke Persönlichkeit gewesen sein. Als ihr Gatte 1831 starb, übernahm sie die Leitung des Vermögens für ihren achtzehnjährigen Sohn, meinen Großvater, und gab sie auch nicht auf, als er schon längst großjährig geworden war. Selbst nach seiner Heirat, 1841, dachte sie nicht daran, die Zügel der Regierung aus der Hand zu geben oder ihrer Schwiegertochter den Platz als Hausfrau zu überlassen. Ich habe den Verdacht, dass mein Großvater seiner Mutter gegenüber viel zu schwach war. Es kommt bei Ehen unter nahen Verwandten manchmal vor, dass den Töchtern Kraft und Energie erhalten bleiben, während sie bei den Söhnen verloren gehen.

Viele Ahnenbilder fehlten im Teplitzer Schloss. Das begriff ich später, und zwar mit Hilfe alter Inventare. Da der ganze Teplitzer Besitz ein Majorat war, sodass nichts verkauft und den Erben vorenthalten werden durfte, wurden periodisch Inventare alles dessen gemacht, was da war. Wir besaßen ein genaues Inventar, aus dem Jahre 1750 oder darum herum. Jeder einzelne Gegenstand wurde nicht nur aufgezählt, sondern auch beschrieben. Welche Sessel oder Sesselüberzüge waren von Motten zerfressen, welche nicht und Ähnliches. Etwa zweihundert Bilder fehlten, darunter die allermeisten, die aus der Zeit vor dem Jahre 1778 stammten. In diesem Jahr hatte nämlich der schon oben erwähnte Zwetschkenkrieg stattgefunden. Und bei dieser Gelegenheit wurde unser Schloss gründlich von den Preußen ausgeplündert. Es gibt einen Brief der Kaiserin Maria Theresia an ihren Sohn, den Erzherzog Ferdinand von Modena, in dem sie schreibt: »Enfin les armées du Roi de Prusse ont quitté la Bohème en deux colonnes, après avoir cruellement pillé le château du pauvre Clary.« Was die preußischen Soldaten eigentlich mit diesen Bildern dann anfangen konnten, weiß ich nicht. Glücklicherweise gab es noch Ahnenbilder in einem anderen Schlösschen, das nicht geplündert wurde, und von dort stammten die wenigen alten Gemälde, die wir noch besaßen. – Diese Kriegs- und Plündergeschichte hatte ein merkwürdiges Nachspiel zu meiner eigenen Zeit.

Es gab eine große Scheune, in der das »Deputat-Brennholz« unserer Beamten aufgehoben wurde. Eines Tages im Jahre 1938 wurde mir mitgeteilt, das Dach der Scheune sei schadhaft. Bei der Besichtigung des Schadens bemerkte ich, dass der obere Teil der Scheune eingedeckt war und sich dort eine Art von sehr flachem Dachboden befand. Ich kroch hinauf und fand eine Masse von uraltem Unrat; offenbar war da seit Jahrhunderten deponiert worden, was so aus den Kanzleien ausgemistet worden war. Bevor man das Dach reparierte, sollte das alles heruntergenommen werden. Nun entdeckte man, dass ein Teil des Dachbodens mit Brettern vernagelt war. Ich wollte dabei sein, als diese Bretter entfernt wurden, und was fanden wir dahinter? Etwa vierzig Bilder, auf den ersten Blick in einem schauderhaften Zustand; vermutlich hatte es während hundert Jahren oder mehr darauf geregnet. Teilweise waren sie eingerollt oder zusammengefaltet oder gar wie ein Sacktuch zusammengepresst. Man hatte also während der Plünderung des Jahres 1778 den Versuch gemacht, einiges in aller Eile zu verstecken; wie es aber möglich war, das zu vergessen, ist mir noch heute ein Rätsel. Jetzt, nach hundertsechzig Jahren, wurden sie abgewaschen und mit Hilfe des alten Inventars auch teilweise identifiziert. Dann kam ein Restaurator aus Prag, der durch seine Kunst rettete, was zu retten war; wodurch sich die Zahl der Teplitzer Ahnenbilder doch beachtlich vermehrte.

Die Radziwills – Als Majorat gehörte die Herrschaft Teplitz dem älteren Bruder meines Vaters, sodass wir also, meine Eltern wie ihre Kinder, in meiner Jugend eigentlich nur Gäste dort waren, wenn auch sehr häufige. Aber über die Vorfahren, deren Porträts an den Wänden hingen, wusste nicht mein Onkel, sondern dessen Frau, eine geborene Radziwill, am besten Bescheid. Mit den Radziwills waren wir so vielfach verwandt, dass einem fast schwindelig dabei werden konnte. Es hatten nämlich zwei Schwestern meines Großvaters Clary im Jahre 1832 zwei Brüder Radziwill geheiratet, Söhne des Fürsten Anton (1775–1833). Wilhelm (1797–1870) vermählte sich mit Tante Mathilde (1806–1896), Boguslaw (1809–1873) mit Tante Leontine (1811–1890). Jede dieser Schwestern hatte acht Kinder, von denen wir viele kannten. Fürst Anton, für uns etwas wie ein Stammvater, war Besitzer der in Posen gelegenen Güter und heiratete im Jahre 1790 die Prinzessin Luise von Preußen. So wurden die Radziwills in Berlin beinahe als Mitglieder des Königshauses betrachtet, sie ließen sich auch in der preußischen Hauptstadt nieder, wo die Familie das Palais in der Wilhelmstraße erwarb, das nach 1870 verkauft und bald darauf die Reichskanzlei wurde. Der spätere Kaiser Wilhelm I. liebte als junger Prinz eine Tochter des Fürsten Anton, also eine Schwester der mir angeheirateten Großonkel, durfte sie aber nicht heiraten, weil sie doch nicht als ganz »ebenbürtig« anerkannt wurde; worüber zu seiner Zeit viel Tränenseliges geschrieben wurde. Ehe ich aber mit der Beschreibung der Familie Radziwill fortfahre, muss ich von Herrn Podlewski berichten. Auch er war ein Vermittler zwischen den beiden Familien, war er doch Hofmeister der beiden Onkel Radziwill gewesen, hatte er doch auch den Tanten später polnische Stunden gegeben. Herr Podlewski war klein und dick und sonderbar altmodisch gekleidet; uns Kinder erinnerte er an Bilder aus einem Buch Herrn Petermanns Jagdbuch, in dem merkwürdige Gestalten aus den Jahren um 1850 vorkamen. Ich glaube, dass er schlecht sah, denn er trug Brillen mit dicken Linsen, durch welche er meine Schwester Elisalex und mich freundlich, aber ernst musterte. Er kam jeden Sommer zur Kur nach Teplitz und wohnte im Schloss, begleitet von einem Mops, den wir sehr liebten. Auch der Mops, Nelly genannt, war dick, dazu unbändig gefräßig, er oder sie wurde von uns mit Biskotten gefüttert. Wenn sie solche haben wollte, stieß sie uns so lange, leise kläffend, an die Beine, bis sie das Gewünschte erhielt. Nun war aber eine lange Prozedur nötig, um zu den Biskotten zu gelangen; sie wurden in der großen Küche von einer »Mehlspeisköchin« gemacht, uns Kindern aber war das Betreten der Küche von unserer »Miss« strengstens untersagt worden. Jedoch befand sich ein Vorrat des ersehnten Gebäcks unter Verschluss in der Anrichte, betreut von einem Diener namens Kurek, dessen Sohn mein Spielgefährte war. Da er sehr auf seine Würde hielt, konnte ich Biskotten nur bekommen, wenn ich mit einem Bückling höflich darum bat. Von dem Besitzer des Mopses, Herrn Podlewski, hieß es, »er gehe mit dem Jahrhundert«. Es dauerte eine Weile, bis wir verstanden, was dieser Ausdruck bedeutete: Er war im Jahr 1800 geboren! Natürlicherweise wünschten wir uns, dass er hundert Jahre alt werden sollte; leider aber starb er mit neunundneunzig. Einmal war davon die Rede, dass er den Kaiser Napoleon gesehen habe, was mich lebhaft interessierte, denn es wurde in der Familie von dem großen Mann oft gesprochen, aber noch nie hatte ich jemanden getroffen, der den vor so langer Zeit gestorbenen Kaiser wirklich gesehen hatte. So bat ich Herrn Podlewski, uns davon zu erzählen, wozu er gerne bereit war. Es war 1812, als Napoleon gegen die Russen zog und viele Polen ihn als Befreier begrüßten, da kam er auch durch Wilna. Herr Podlewski, nicht ohne Stolz: »Ich war der Beste meiner Klasse im Französischen, so wurde ich ausgewählt, dem großen Kaiser ein Gedicht aufzusagen.« Und als wir ihn fragten, ob er sich denn an dies Gedicht noch erinnere, stand er feierlich auf, machte eine Verbeugung, und deklamierte es uns vor. – Im Jahre 1977 bin ich wohl der Letzte, der jemanden sah und sprach, der vor Napoleon I. ein Gedicht aufsagte und dann uns noch einmal dasselbe Gedicht! Übrigens dürfte Herr Podlewski auch derjenige gewesen sein, der meinen beiden Tanten ihren starken polnischen Patriotismus einpflanzte.

Zurück zu den Radziwills. Fürst Anton, für mich der Urvater, war ein Mäzen der Kunst und der Musik, sein Haus ein wahrer Musenhof, Chopin oft sein Gast; auch war er ein Freund Goethes und komponierte als Erster eine musikalische Begleitung zum Faust. Das Haupt des Hauses war zu seiner Zeit sein Vetter Dominik, Besitzer unermesslicher Güter in Polen. Bei uns zu Hause hieß es, wenn in Böhmen von Großgrundbesitz geredet werde, so handle es sich um Tausende von Hektaren, in Polen aber um Hunderttausende. Dominik war in die polnische Legion eingetreten, die Napoleon diente, und fiel als Oberst 1813 bei Hanau, in dem letzten Gefecht Napoleons auf deutschem Boden. Nach den Teilungen Polens war er de jure russischer Untertan. Der Kaiser Alexander von Russland fand es unstatthaft, dass er unter Napoleon gegen sein eigenes Reich gekämpft hatte, und sein gesamter Besitz wurde enteignet. Natürlich versuchte die Familie, dieses große Vermögen zu retten, und so wurden schon während des Wiener Kongresses alle Hebel in Bewegung gesetzt. Die Heirat von Anton mit der Nichte des Königs von Preußen erwies sich da als sehr nützlich. Dominik hatte einen außerehelich geborenen Sohn, der nicht in Betracht kam, aber eine eheliche Tochter Stephanie, die Erbin des nicht gebundenen Vermögens. Alexander erkannte ihre Erbrechte an, falls sie einen Russen heiratete. 1828 vermählte sie sich mit dem Prinzen Ludwig Sayn-Wittgenstein, dem Sohn des russischen Feldmarschalls gleichen Namens. Für das gebundene Vermögen, die Herzogtümer Nieswiez und Olyka, wurde dann Fürst Anton vom Zaren als Besitzer anerkannt und so das Vermögen für die Familie gerettet.

Von den beiden Großtanten Radziwill war uns Kindern Mathilde (1806–1896) die liebere, sie war immer gütig und versuchte nicht, uns zu erziehen. In ihrer eigenen Kindheit war sie die Lieblingsurenkelin des alten Feldmarschalls, des Prince de Ligne, gewesen, und wie staunten wir, wenn sie uns vom Wiener Kongress erzählte, wie der Zar Alexander immer so sonderbar steif zur Tür hereingekommen sei, und vom Staatskanzler Metternich, mit dessen Kindern aus erster Ehe sie als junges Mädchen befreundet gewesen war; sie sah den großen Mann durchaus mit den Augen seiner ihn liebenden Kinder. Sie war sieben Jahre älter als ihr Bruder, mein Großvater Edmund, und neunzehn Jahre älter als meine Großmutter, die mit sechzehn Jahren und drei Wochen geheiratete hatte. Die Autorität der älteren Schwester blieb ihr auch in vorgerückten Jahren. Gefiel ihr eine Unterhaltung nicht, so klopfte sie auf den Tisch und äußerte: »Ich bitt’ um einen anderen Diskurs!« Auch konnte sie ihren Bruder anreden: »Das verstehst du noch nicht, du Tschapperl.« Worüber mein Großvater nur lachte, er war dergleichen von ihr gewöhnt. Meine Mutter, die sehr wenig aß, war immer erstaunt darüber, wie viel Tante Mathilde bei Tisch zu vertilgen imstande war; dabei blieb sie immer spindeldürr, und ohne je sich Bewegung zu machen, wurde sie neunzig Jahre alt.

Die sechzehn Kinder der beiden Paare Radziwill-Clary wuchsen in Berlin und Teplitz auf, denn die Mütter, die an das Leben in Wien und Böhmen, später auch in Berlin, gewohnt waren, scheuten die Reisen nach Russland; nur auf das in Posen gelegene Schloss Antonin zogen sie im Herbst. Fürst Wilhelm, der eine meiner Großonkel, wurde preußischer General und Militärgouverneur von Brandenburg, sein Sohn Anton Generaladjutant Kaiser Wilhelms I., Fürst Boguslaw, mein anderer Großonkel, Mitglied des preußischen Herrenhauses. Die Großonkel und ihre Söhne bereisten jedes Jahr ihre Güter in Russisch-Polen; mit den Schlössern stand es freilich recht ungut, da sowohl Nieswiez wie Olyka 1830 von den Russen noch gründlicher ausgeplündert worden waren als Teplitz im Jahre 1778 von den Preußen. Obwohl die sechzehn Radziwill-Clary-Kinder also in Deutschland oder in Teplitz lebten, welch letzteren Ort ihre Mütter mit der ganzen Schar im Sommer aufzusuchen pflegten, blieb ihr polnisches Nationalgefühl immer erhalten, auch bei den Söhnen, die im preußischen Heer dienten. Da dürften Herr Podlewski und andere Lehrer mit im Spiel gewesen sein. Selbst die kleinen Mädchen pflegten ihr polnisches Fühlen; die Töchter von Boguslaw, Felicie und Elisabeth, schworen vor einem Bild der Madonna von Czenstochau, dass sie untereinander nie eine andere Sprache als Polnisch reden würden. Wie sie, besonders aber Felicie, ihren Schwur hielten, davon gleich.

Das Zusammenleben der beiden Familien verlief reibungslos im Palais der Wilhelmstraße, bis die Söhne eigene Familien gründeten, die Schwiegertöchter rebellierten bald. Der älteste Sohn von Wilhelm heiratete Marie de Castellane, Tochter der Pauline de Talleyrand, die offiziell die Nichte des berühmten Talleyrand war, in Wirklichkeit wohl sicher seine Tochter. Marie war eine hervorragend kluge und energische Dame, die als Erbgut ihrer Familie ein starkes Interesse und echtes Verständnis für die Politik besaß. Ihre Briefe an einen italienischen Militärattaché, die nach ihrem Tode veröffentlicht wurden, geben davon Zeugnis. Ihr Salon am Pariser Platz in Berlin war ein Treffpunkt von Diplomaten und Politikern. Sie sagte unverblümt ihre Meinung, derart, dass sie in der Familie mehr bewundert und gefürchtet als geliebt wurde. Bis zu ihrem Tod blieb sie Französin, hatte aber starke Sympathien für Polen. Vermutlich durch das Zusammenleben mit der ganzen Familie Radziwill in den ersten Jahren ihrer Ehe war sie in einen Kampf mit ihrer Schwiegermutter geraten und hasste oder verachtete alles, was Clary hieß oder mit Teplitz zu tun hatte. Ich kannte sie, wich ihr aber aus, da sie mir stets unangenehme Bemerkungen über Österreich machte, wenn sie mich nicht gänzlich übersah, was meistens der Fall war. In der Zeit der Balkankrise, 1912/13, war sie zu Besuch bei ihrer Tochter Betka Potocka in Lancut, zugleich mit mir. Ich hörte ihren antiösterreichischen Tiraden geduldig zu, wenn auch innerlich vor Wut kochend, zumal meine Vettern Potocki, um mich zu reizen, ihr recht gaben. Endlich konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und widersprach energisch, zum Entsetzen ihrer Enkel. Sie war zuerst erstaunt, dann ungehalten und würdigte mich keines Blicks. Am nächsten Tage aber sagte sie mir freundlich, dass ich recht gehabt hätte, für mein Vaterland zu sprechen; von da an war sie entschieden gnädiger mit mir. Nach dem Tod der beiden Großonkel Wilhelm und Boguslaw, 1870 und 1873, bezogen die Witwen Wohnungen in Berlin, die jungen Frauen drängten ihre Männer, die Schlösser in Nieswiez und Olyka wiederherzustellen, und so wurden aus den arg vernachlässigten riesigen Häusern mit der Zeit noch einmal prunkvolle Residenzen.

Grundbesitzer, deren Güter in zwei Staaten lagen, konnten auch Bürger beider Staaten sein, man nannte sie »sujets mixtes«. Nach den Teilungen Polens waren viele Polen in dieser Lage; sie wurde schwierig, wenn sie das Privileg der doppelten Staatsbürgerschaft verloren. Ein noch ernsteres Ärgernis tauchte auf, als durch einen Ukas des Zaren Ausländern verboten wurde, in den westlichen Gouvernements des russischen Reiches Land zu besitzen. Da hieß es, entweder schleunigst die russische Staatsbürgerschaft zu erwerben oder aber den Landbesitz zu verkaufen. Dank guter Beziehungen zum russischen Hof und allerlei Interventionen konnten alle jungen Radziwills das Ziel erreichen. Noch erinnere ich mich sehr genau an die Gespräche darüber in Teplitz und Wien.

Wir lasen damals mit Passion die Bücher der Madame de Ségur, Les Bibliothèques Roses. Besonders stark wurden wir beeindruckt durch ein Buch über Russland, das Le Général Dourakine hieß und in dem ein Bild eines in Ketten nach Sibirien deportierten polnischen Fürsten zu sehen war. So ungefähr stellten wir uns damals die polnischen Verwandten vor. Madame de Ségur war die Tochter des für den Brand von Moskau verantwortlichen Grafen Rostopchine, sie vermochte russische Zustände ausgezeichnet zu schildern. Uns Kindern kam es recht sonderbar vor, dass der Zar die Macht hatte, eine Familie um ihren Besitz zu bringen. Viel später sollten wir am eigenen Leib verspüren, dass es auch für Menschen, die keine Zaren sind, höchst einfach sein kann, Enteignungen, dazu viel gründlichere, zu verordnen. Die nun russisch gewordenen Radziwills lebten vor allem auf ihren in Russisch-Polen gelegenen Herrschaften, die sie mustergültig bewirtschafteten und modernisierten, zu ihrem eigenen Vorteil wie auch zu dem des Landes und Volkes. Im Jahre 1931 war ich als Gast für Saujagden bei meinem Vetter Janusz Radziwill in Olyka und war tief beeindruckt von seiner Verwaltung des riesigen Besitzes, wobei hervorragende Fachleute ihm Hilfe leisteten. Nach dem Wiedererstehen eines selbstständigen polnischen Staates, 1918, waren die meisten meiner Verwandten auch politisch tätig, sodass unser Leben nun auf verschiedenen Bahnen