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Beschreibung

Digitale Gewalt kommt nicht nur im öffentlichen Raum vor, sondern auch in privaten Beziehungen - und hat in Kombination mit häuslicher und sexualisierter Gewalt eine deutlich geschlechtsspezifische Komponente. Durch Informations- und Kommunikationstechnologien haben Gewaltformen wie Doxing, Stalking, Hate Speech und Online-Belästigung und -Bedrohung stark zugenommen und durch die Nutzung des Internets ihre Wirkmächtigkeit verstärkt. Die Beiträger*innen des Bandes liefern für den Umgang mit diesen Gewaltformen grundlegende interdisziplinäre Analysen und diskutieren sowohl juristische, technische und aktivistische Interventionen als auch Erfahrungen aus der Beratungspraxis. Dabei werden zentrale politische Änderungsbedarfe ausgemacht und entsprechende Handlungsoptionen aufgezeigt.

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Der bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe ist der Dachverband von bundesweit rund 200 Fachberatungsstellen, die schwerpunktmäßig Beratungsarbeit bei geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen leisten. Seit 2017 gibt es im bff mit »Aktiv gegen digitale Gewalt: Konzepte gegen digitale Gewalt im sozialen Umfeld und im öffentlichen Raum« das bundesweit erste Projekt, das sich mit geschlechtsspezifischer digitaler Gewalt beschäftigt.

Nivedita Prasad (Dr. phil.) ist Professorin für Handlungsmethoden und genderspezifische Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin und leitet dort den Studiengang »Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession«. Für ihr Engagement gegen Menschenrechtsverletzungen an Migrantinnen wurde sie 2012 mit dem ersten Anne-Klein-Frauenpreis der Heinrich-Böll-Stiftung geehrt.

bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, Nivedita Prasad (Hg.)

Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung

Formen und Interventionsstrategien

Diese Publikation wurde im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA002 mit Mitteln des Bundesministerium für Bildung und Forschung im Open Access bereitgestellt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenz-Text: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld

© bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, Nivedita Prasad (Hg.)

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Innenlayout: Emily Jones, Lena Fischer und Antea Mandić

Lektorat: Silvia Zenzen und Laura Busse-Klingler

Korrektorat: Emily Jones, Lena Fischer und Antea Mandić

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5281-9

PDF-ISBN 978-3-8394-5281-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-5281-9

https://doi.org/10.14361/9783839452813

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Einleitung

Jenny-Kerstin Bauer, Ans Hartmann und Nivedita Prasad

Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt als Diskussionsgegenstand

Digitalisierung geschlechtsspezifischer GewaltZum aktuellen Forschungsstand

Nivedita Prasad

Menschenrechtlicher Schutzrahmen für Betroffene von digitaler Gewalt

Ulrike Lembke

Formen digitaler geschlechtsspezifischer Gewalt

Jenny-Kerstin Bauer und Ans Hartmann

Spezifika geschlechtsspezifischer Gewalt im digitalen Raum

Funktionsprinzipien des Internets und ihre Risiken im Kontext digitaler geschlechtsspezifischer Gewalt

Jenny-Kerstin Bauer

Intersektionale Machtverhältnisse im Internet

Jasna Strick und Anne Wizorek

Rechtliche Handlungsoptionen bei digitaler Gewalt

Möglichkeiten und Grenzen strafrechtlicher Intervention bei digitaler Gewalt

Christina Clemm

Zivilrechtliche Interventionen bei digitaler Gewalt

Nadine Dinig

Rechtliche Handlungsoptionen: Öffentliches Recht

Ulrike Lembke

Erfahrungen und Strategien im Umgang mit digitaler geschlechtsspezifischer Gewalt

Erfahrungen mit der Beratung von betroffenen Mädchen und Frauen im Kontext digitaler Gewalt

Andrea Bocian, Jessica Lütgens und Angela Wagner

Das Internet der DingeDie Auswirkungen »smarter« Geräte auf häusliche Gewalt

Leonie Maria Tanczer

Der Feind in der eigenen TascheStalkerware und digitale Überwachung im Kontext von Partnerschaftsgewalt

Chris Köver

Individuelle Strategien im Umgang mit geschlechtsspezifischer digitaler Gewalt

Jenny-Kerstin Bauer und Ans Hartmann

Strategien im Umgang mit Online-Hate Speech

Harald Klant

Digitale Erste Hilfe: Prävention und Intervention

Digitale Erste Hilfe und Sicherheitsprinzipien für Berater*innen bei digitaler Gewalt

Jenny-Kerstin Bauer und Helga Hansen

Digitale Sicherheit für frauenspezifische Einrichtungen

Helga Hansen

Ausblick

Effektiver Schutz vor digitaler geschlechtsspezifischer Gewalt

Jenny-Kerstin Bauer, Ans Hartmann und Nivedita Prasad

Autor*innen

Einleitung

Jenny-Kerstin Bauer, Ans Hartmann und Nivedita Prasad

Digitale Gewalt gerät immer mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Dies hat sicher zum einen mit der zunehmenden Digitalisierung des Alltags, zum anderen aber auch mit dem damit einhergehenden Anstieg von digitalen Angriffen zu tun. Häufig ist Hate Speech gemeint, wenn von digitaler Gewalt die Rede ist; digitale geschlechtsbezogene Gewalt im sozialen Nahraum oder die Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt hingegen sind Themenkomplexe, die bislang kaum beachtet werden. Diese Lücke möchte dieses Buch beginnen zu schließen.

Unterscheidung Hate Speech und digitale Gewalt im sozialen Nahraum

In der öffentlichen Debatte wird oft nicht unterschieden zwischen Hate Speech und digitaler Gewalt im sozialen Nahraum; dies ist aber für ein umfassendes Verständnis digitaler Gewalt von fundamentaler Bedeutung. Hate Speech zielt darauf ab, bestimmte Meinungen, Bewegungen, Personen und/oder Personengruppen abzuwerten. Sie ist eine Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und wird vielfach von rechtsextremen und rechtspopulistischen Akteur*innen koordiniert eingesetzt, um Menschen einzuschüchtern bzw. bestimmte Meinungen zu manipulieren und scheinbar alternative Narrative zu entwickeln (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017; Amadeu Antonio Stiftung 2018). In vielen Fällen kennen sich angreifende und betroffene Personen im analogen Leben nicht. All dies macht u.a. juristische Interventionen sehr hürdenreich. Hate Speech richtet sich vorwiegend gegen Personen, die entweder selbst einer strukturell benachteiligten Gruppe angehören oder sich gegen die Diskriminierung dieser Gruppen einsetzen. Hate Speech bedient sich daher häufig rassistischer, sexistischer, homo-, transfeindlicher und/oder ableistischer Denkmuster und Beleidigungen, häufig in intersektionaler Kombination.1 Ein prominentes Beispiel sind die Erfahrungen der Journalistin Dunja Hayali, die regelmäßig aufgrund ihrer politischen Meinung angegriffen, aber gleichzeitig auch wegen ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung und der irakischen Herkunft ihrer Eltern beleidigt und bedroht wird. Dass Frauen und trans Personen auch im Kontext von Hate Speech regelmäßig sexualisierte Gewalt angedroht wird, zeigt, dass auch Hate Speech vielfältige geschlechtsspezifische Komponenten hat.

Eine deutliche geschlechtsspezifische Komponente zeigt sich auch bei digitaler Gewalt im sozialen Nahraum, wo es – wie bei anderen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt auch – häufig darum geht, Macht zu demonstrieren, zu kontrollieren, einzuschüchtern und einen Beziehungsabbruch zu vermeiden. Digitale Gewalt im sozialen Nahraum richtet sich gegen Personen mit denen es in der Vergangenheit eine intime Beziehung gab oder aber eine Person, die auf ein Beziehungsbegehren nicht positiv reagierte. Hierbei kann es sowohl darum gehen sich für eine Trennung oder Ablehnung aus Tätersicht zu ›rächen‹ oder aber darum (Ex-)Partnerinnen zu kontrollieren und zu überwachen. Die Möglichkeiten einer solchen Gewaltanwendung sind inzwischen sehr vielfältig und es ist zu befürchten, dass diese Vielfältigkeit sich noch erweitern wird.2 In der Regel handelt es sich um Einzeltäter3, mit denen es eine Beziehung gab; ihre Namen, Adressen, soziales Umfeld etc. sind häufig bekannt, was zumindest die Erreichbarkeit von Seiten der Behörden erleichtert. Daher können auch eher niedrigschwellige Interventionsoptionen in Betracht gezogen werden, die sich im Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt bewährt haben, wie z.B. die sogenannte Gefährderansprache, die von Seiten der Polizei erfolgen kann, wenn Täter wiederholt gewalttätig auffallen. Digitale Gewalt im sozialen Nahraum ist meist keine einzelne losgelöste Gewalthandlung, sie »funktioniert nicht getrennt von ›analoger Gewalt‹, [sondern] sie stellt meist eine Ergänzung oder Verstärkung von Gewaltverhältnissen und -dynamiken dar« (bff 2019: o.S.), weshalb wir hier von der Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt sprechen. Vielfach wird die Unschärfe dieses Begriffs kritisiert, nicht zuletzt, weil der Oberbegriff keine strafrechtliche Entsprechung findet. Der ganze Themenkomplex ist ein sich im Wandel befindlicher Diskurs. Häufig wird noch mit Vermutungen und Arbeitsdefinitionen gearbeitet, die sich in naher Zukunft verändern können. Derzeit ist der Begriff dafür geeignet, eine Vielzahl an vorhandenen Erfahrungen und Lebensrealitäten einen Namen zu geben und das Thema damit sprech- und schreibbar zu machen.

Inzwischen gibt es zu digitaler Gewalt im internationalen Kontext diverse Studien, Policy Papiere etc. häufig jedoch ohne die notwendige Unterscheidung zwischen Hate Speech und digitaler Gewalt im sozialen Nahraum. Die Ergebnisse der Studien machen deutlich, dass digitale Gewalt ein Phänomen ist, was zunimmt und eine Wirkmächtigkeit aufweist, die mit anderen analogen Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt vergleichbar ist.4 Da auch digitale Gewalt eine Menschenrechtsverletzung5 darstellt, wird deutlich, dass hier ein (inter)nationaler Handlungsbedarf besteht. Bei aller Ähnlichkeit zu analoger Gewalt gibt es Besonderheiten der Gewalt im digitalen Raum, die es im Umgang mit einzelnen Formen digitaler Gewalt zu beachten gilt.6

Erfahrungen mit digitaler Gewalt im sozialen Nahraum

Es ist u.a. den Fachberatungsstellen und Frauenhäusern, die Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt unterstützen, zu verdanken, dass es inzwischen eine gut vernetzte interdisziplinäre Struktur zur Unterstützung von Frauen gibt, die geschlechtsspezifische Gewalt erleben. Die Analyse von Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung hat dazu beigetragen, dass sich auch auf der Ebene der juristisch möglichen Interventionen in der Vergangenheit viel getan hat. Bitter ist daher die Erfahrung, dass viele strafrechtliche Handlungsoptionen7 bislang bei digitaler Gewalt erfolglos waren, weshalb es hilfreich sein kann, neben strafrechtlichen Interventionen hier über zivilrechtliche8 und/oder ordnungsrechtliche9 Möglichkeiten der Begegnung mit digitaler Gewalt nachzudenken. Die verschiedenen juristischen Analysen zeigen, dass deutlich mehr möglich sein müsste, als derzeit umgesetzt wird. Es bleibt zu hoffen, dass diese – noch theoretisch erscheinenden – Handlungsoptionen dazu beitragen werden, dass Betroffene weiterhin den juristischen Weg suchen, um Gerechtigkeit für sich, aber auch strukturelle Änderungen für ähnlich gelagerte Fälle zu erwirken.

Einige Fachberatungsstellen berichten seit bald 15 Jahren davon, dass – vor allen Dingen jüngere – Klient*innen10 immer häufiger erleben, dass sie entweder in der Beziehung durch Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) kontrolliert wurden oder, dass sie nach einer Trennung durch die Hilfe von IKT beleidigt, verfolgt und/oder diffamiert werden.11 Erst 2017 startete das erste Projekt in Deutschland zu digitaler Gewalt in Deutschland, welches im bff – dem Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – angesiedelt ist. Bis dahin gab es im deutschsprachigen Raum wenige bis keine fachspezifischen Publikationen und zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich mit der Rolle von IKT im Zusammenhang geschlechtsspezifischer Gewalt (gegen Erwachsene) auseinandersetzten. Angebote zur Sensibilisierung und Unterstützung bei digitalen Gewaltformen bezogen sich vornehmlich auf Jugendliche und junge Erwachsene. Größere Bündnisse, wie das 2011 gegründete »Bündnis gegen Cybermobbing« oder das 2013 initiierte »No Hate Speech Movement Deutschland« bezogen sich singulär auf bestimmte Gewaltformen und vernachlässigten häufig noch deren geschlechtsspezifische Dimension. Inzwischen gibt es vereinzelt weitere Projekte, so z.B. ein Projekt zu Cyberstalking beim FRIEDA-Frauenzentrum e.V. in Berlin, ein Projekt bei der Frauenhauskoordinierung zum Schutz vor digitaler Gewalt unter Einbeziehung der Datensicherheit im Frauenhaus und eine geplante Ausstellung des PETZE-Institut für Gewaltprävention gGmbH in Trägerschaft des Frauennotruf Kiel e.V. Wissenschaftliche Forschungsarbeiten zum Thema in Deutschland sind weiterhin nicht vorhanden.

Neben den Erfahrungen in der Beratung mit von digitaler Gewalt betroffenen Frauen, gibt es inzwischen auch interdisziplinäre Expertisen, die verdeutlichen, dass schon sehr kleine technische Veränderungen präventiv wirken könnten, wenn sich die Industrie hierauf einließe bzw. die Politik darauf bestünde.12 Auch hat die Erfahrung gezeigt, dass bei aller möglichen Erleichterung, die technische Errungenschaften mit sich bringen, diese mit Vorsicht zu genießen sind, weil sie ein neues Medium der Gewaltausübung darstellen können.13

Da es bislang wenig technische und juristische effektive Maßnahmen gibt, sind Betroffene darauf angewiesen, eigene, zum Teil sehr phantasievolle Bewältigungsstrategien im Kontext von digitaler Gewalt im sozialen Nahraum14und Hate Speech15 zu finden. Diese sehr unterschiedlichen Strategien im Umgang mit digitaler Gewalt zeigen die Handlungsmacht der Betroffenen auf und regen an, einen eigenen Umgang mit digitaler Gewalt zu finden bzw. als Zeug*innen Betroffene öffentlich zu unterstützen.

(Präventiver) Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt

Neben möglichen juristischen Interventionen, sind technische Interventionen für Einzelpersonen16 und Organisationen17 von Bedeutung. Gerade die technischen Interventionen können zum einen nach einem erfolgten Angriff hilfreich sein, vor allen Dingen aber können sie präventiv wirken.

In anderen Ländern gibt es inzwischen mehrere gute Beispiele im Umgang mit geschlechtsspezifischer digitaler Gewalt, die verdeutlichen, wie eine feministische diskriminierungssensible Antwort auf geschlechtsspezifische digitale Gewalt aussehen könnte.18 Die Erfahrungen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass – wie bei allen Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt – auch bei digitaler Gewalt ein effektiver Umgang ein vernetztes interdisziplinäres Vorgehen erfordert, indem sowohl Präventionsmaßnahmen als auch realistische Interventionsmöglichkeiten erarbeitet werden. Anders als bei analoger Gewalt braucht es hier allerdings auch die Expertise von Techniker*innen und Personen, die sich mit IKT auskennen. Hierdurch können nicht nur Präventions- und Interventionsoptionen erarbeitet werden, vielmehr könnten hier auch IKT gestützte Interventionen für Betroffene erarbeitet werden.

Digitale geschlechtsspezifische Gewalt ist kein neues Phänomen, aber teilweise von schnelllebigen technologischen Entwicklungen abhängig. Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge zeigen auf, in welcher Vielschichtigkeit die Errungenschaften der Digitalisierung zur Ausübung geschlechtsspezifischer Gewalt genutzt werden. Sie fassen eine Auswahl relevanter Debatten und Praxiserfahrungen zusammen, welche sich täglich weiterentwickeln und fortlaufend diskutiert werden.

Literatur

Amadeu Antonio Stiftung (2018): »Hate Speech und Fake News«.https://amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/hate_speech_fake_news.pdf [Zugriff: 20.2.2020].

bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (2019): »bff: aktiv gegen digitale Gewalt«.https://frauen-gegen-gewalt.de/de/bff-aktiv-gegen-digitale-gewalt.html[Zugriff: 20.2.2020].

Bundeszentrale für politische Bildung (2017): »Was ist Hate Speech?«.https://bpb.de/252396/was-ist-hate-speech[Zugriff: 12.8.2020].

1Siehe Beitrag: Intersektionale Machtverhältnisse im Internet.

2Siehe Beitrag: Formen digitaler geschlechtsspezifischer Gewalt.

3Auch Frauen oder trans und nicht-binäre Personen können Täter*innen von Gewalt sein; da geschlechtsspezifische Gewalt in oder nach Partner*innenschaften aber weiterhin vorwiegend durch cis-Männer ausgeübt wird, ist hier von »Tätern« die Rede.

4Siehe Beitrag: Forschungsstand: Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt.

5Siehe Beitrag: Menschenrechtlicher Schutzrahmen für Betroffene von digitaler Gewalt.

6Siehe Beitrag: Funktionsprinzipien des Internets und ihre Risiken im Kontext digitaler geschlechtsspezifischer Gewalt.

7Siehe Beitrag:Möglichkeiten und Grenzen einer strafrechtlichen Intervention bei digitaler Gewalt.

8Siehe Beitrag:Zivilrechtliche Interventionen bei digitaler Gewalt.

9Siehe Beitrag: Rechtliche Handlungsoptionen: Öffentliches Recht.

10Es könnte der Eindruck entstehen, als würde in diesem Band nicht einheitlich gegendert werden. Die Entscheidung beispielsweise von »Tätern« oder »Täter*innen« zu sprechen entspricht der inhaltlichen Analyse der jeweiligen Autor*in, deren Aussage wir durch ein einheitliches Gendern nicht verändern wollen.

11Die Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt war Vorreiterin diesbezüglich in Deutschland und veranstaltete bereits 2010 einen Fachtag zum Thema digitale Gewalt, siehe hierzu:https://frauennotruf-frankfurt.de/fachwissen/tagungen/archiv/ [Zugriff: 8.9.2020]. Siehe Beitrag: Erfahrungen mit der Beratung von betroffenen Mädchen und Frauen im Kontext digitaler Gewalt.

12Siehe Beitrag: Der Feind in der eigenen Tasche: Stalkerware und digitale Überwachung im Kontext von Partnerschaftsgewalt.

13Siehe Beitrag: Das Internet der Dinge: Die Auswirkung »smarter« Geräte auf häusliche Gewalt.

14Siehe Beitrag:Individuelle Strategien im Umgang mit geschlechtsspezifischer digitaler Gewalt.

15Siehe Beitrag: Strategien im Umgang mit Online Hate Speech.

16Siehe Beitrag: Digitale Erste Hilfe und Sicherheitsprinzipien für Berater*innen bei digitaler Gewalt.

17Siehe Beitrag: Digitale Sicherheit für frauenspezifische Einrichtungen.

18Siehe Beitrag: Ausblick: Effektiver Schutz vor digitaler geschlechtsspezifischer Gewalt.

Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt als Diskussionsgegenstand

Digitalisierung geschlechtsspezifischer GewaltZum aktuellen Forschungsstand

Nivedita Prasad

Von geschlechtsspezifischer Gewalt wird ausgegangen, wenn Frauen aufgrund ihres Geschlechts Gewalt ausgesetzt sind, oder aber wenn es sich um eine Form von Gewalt handelt, von der Frauen überproportional betroffen sind (vgl. CEDAW 1992: Abs. 6). Auch digitale Gewalt hat eine geschlechtsspezifische Komponente (vgl. z.B. EIGE 2017), daher ist es nur folgerichtig, dass sie zunehmend auch Beachtung in entsprechenden Dokumenten und Berichten zu geschlechtsspezifischer Gewalt findet. So findet sich bereits 2006 in einem Bericht der UN zu Gewalt gegen Frauen ein expliziter Hinweis auf Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) gestützte Gewalt (vgl. UN General Assembly 2006: Abs. 105). Seither finden sich immer wieder implizite und explizite Hinweise auf digitale Gewalt in vielen internationalen Dokumenten, Studien, Berichten oder Studienarbeiten zu Gewalt gegen Frauen, allerdings unter sehr unterschiedlichen Terminologien, wie z.B. IKT Violence, Cyberstalking, Cyberharassment, Digital Violence, Online Violence, Internet based Violence oder Technology-related Violence against Women und Technology-based Abuse. Hierbei kann es sich um Online Hate Speech handeln oder aber um digitale Gewalt im sozialen Nahfeld. Der Fokus dieses Artikels liegt auf der Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt im sozialen Nahfeld – häufig im Kontext von (Ex)Partnerschaften.

Im Rahmen einer Studie des Pew Research Center zu Online Harassment (kurz: Pew-Studie) wurden sowohl Frauen als auch Männer zu ihren Erfahrungen mit digitaler Gewalt befragt; so konnten ihre Erfahrungsberichte direkt gegenübergestellt werden. Dieser Vergleich hat ergeben, dass Frauen überproportional von sexueller Belästigung betroffen sind (vgl. Pew Research Center 2017: 10). Auffällig ist, dass Frauen und trans Personen auch häufig im Kontext ihrer Geschlechtszugehörigkeit oder Geschlechtsidentität diskreditiert wurden (vgl. ebd.: 14f.). Die UN-Sonderberichterstatterin gegen Gewalt gegen Frauen weist zudem darauf hin, dass der Schaden von Online Gewalt gegen Frauen verstärkt durch gesellschaftliche Stigmen wird, denen Frauen besonders ausgesetzt sind (vgl. UN Special Rapporteur on violence against women 2018: Abs. 25). Auch können Auswirkungen desselben Missbrauchs auf Frauen und Mädchen aufgrund intersektionaler Machtverhältnisse durchaus unterschiedlich sein (vgl. Henry/Powell 2018: 30; European Women’s Lobby 2017: 7). So werden Women of Color rassistisch/sexistisch beleidigt, behinderte Frauen ableistisch/sexistisch und/oder lesbische Frauen sexistisch/homophob (vgl. auch Amnesty International 2017).

Annäherung an den Begriff digitalisierte geschlechtsspezifische Gewalt

Die Verwendung dieser sehr unterschiedlichen Begriffe hindert die Annäherung an den Begriff »digitalisierte geschlechtsspezifische Gewalt«; erschwerend kommt hinzu, dass häufig Phänomene – wie psychische Gewalt – beschrieben werden, die auch auf digitale Gewalt zutreffen können, ohne dass dies explizit benannt wird. Digitale Gewalt auf psychische Gewalt zu reduzieren birgt die Gefahr, dass der Eindruck entsteht, hierbei handele es sich durchgängig um eine Form von Gewalt ohne körperliche Bedrohung/Handlung. Es wird ignoriert, dass digitale Gewalt auch zu körperlicher und sexualisierter Gewalt führen kann, z.B. wenn öffentlichen Gewaltaufforderungen gefolgt wird, Personen durch digitale Mittel aufgespürt werden oder Täter1 häuslicher Gewalt digitale Technik nutzen, um die Wirkmächtigkeit ihrer Gewalt zu verstärken. Hier verschränken sich physische Gewalt und psychische Gewalt mittels digitaler Technik. Gewalthandlungen können so immer weiter über die Sphäre des »Hauses« hinausreichen (vgl. Frey 2020: 46).

Es finden sich im Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) verschiedene Artikel, die implizit oder explizit Anwendung auf digitale Formen von Gewalt finden können, so z.B. psychische Gewalt (Art. 33), Stalking (Art. 34) oder sexuelle Belästigung (Art. 40). Im Kontext von Stalking geht der Kommentar der Istanbul-Konvention explizit auf »Verfolgung in der virtuellen Welt« (Europarat 2011: Abs. 182) und »unerwünschte Kommunikation […] insbesondere über moderne Kommunikationswege und die IKT« (ebd.) ein. Auch in der Beschreibung von bedrohendem Verhalten wird »die Schaffung falscher Identitäten oder die Verbreitung falscher Informationen im Internet« (ebd. Abs. 183) erfasst.

Der UN-Frauenrechtsausschuss bezieht sich 2017 in einer Allgemeinen Empfehlung auf digitale Gewalt, indem er digitale Umgebung als einen Ort nennt, wo Gewalt gegen Frauen stattfinden kann (vgl. CEDAW 2017: Abs. 20). In Anlehnung an die Definition des CEDAW Ausschusses ergänzt die UN-Sonderberichterstatterin gegen Gewalt gegen Frauen die Definition von Gewalt gegen Frauen als:

»jede Handlung einer geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen, welche teilweise oder vollständig durch die Nutzung von IKT wie Handys und Smartphones, das Internet, soziale Medien, Plattformen oder EMail begangen, unterstützt oder verstärkt wird, gegen eine Frau, weil sie eine Frau ist oder Frauen überproportional betrifft.« (UN-Special Rapporteur on violence against women 2018: Abs. 23, Übersetzung N.P.)

Geschlechtsspezifische digitale Gewalt – wie von der UN-Sonderberichterstatterin definiert – kann zum einen in Form von Online Hate Speech auftreten, welches sich vorwiegend gegen politisch agierende Frauen oder trans Personen im öffentlichen Raum richtet, häufig durch fremde Täter*innen. Zum anderen tritt sie als Erweiterung/Verstärkung von Formen analoger Gewalt auf – vorwiegend durch (Ex-)Beziehungspartner, oder solche, deren partnerschaftliches Interesse nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. In einer Expertise für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung ergänzt Frey das Feld der Erwerbsarbeit und Öffentlichkeit (Frey 2020: 12) als eines, in dem digitale geschlechtsspezifische Gewalt stattfinden kann2. Während Online Hate Speech nicht zuletzt durch rechtliche Auseinandersetzungen, die durch öffentliche Personen geführt wurden, immer häufiger auch öffentlich diskutiert wird und dadurch ins Bewusstsein rückt, ist die Digitalisierung von Gewalt im sozialen Nahfeld hingegen ein Themenkomplex, der nur langsam in den Fokus der Öffentlichkeit gerät. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass die meisten Beschreibungen und Definitionen von digitaler Gewalt sich vorwiegend auf Online Hate Speech fokussieren und Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt im persönlichen Umfeld eher vernachlässigen (siehe z.B. Human Rights Council 2013: Abs. 66, Amnesty International 2017, Lembke 2018). Allgemeine Definitionen zu Gewalt gegen Frauen im sozialen Nahfeld hingegen berücksichtigen häufig die Besonderheiten der Nutzung von IKT nicht.

Eine aktuelle und ziemlich umfassende Studie ist die des Forschungszentrums Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring (kurz: Wiener Studie) aus dem Jahr 2018. Hier wurden 61 Berater*innen, 42 Personen im Rahmen von Fokusgruppen und über 1.000 Internetnutzerinnen in einer repräsentativen Stichprobe im Alter von 25 bis über 64 Jahren zu »Gewalt im Netz gegen Frauen und Mädchen in Österreich« befragt. Diese Untersuchung verwendet eine Definition, die sowohl Online Hate Speech als auch digitale Gewalt im sozialen Nahfeld abdeckt und definiert Gewalt im Netz als:

»jede sprachliche (durch Schrift oder aufgezeichnete Sprache) oder darstellende (durch Bild oder Video) Äußerung, verbreitet oder zugestellt durch das Medium Internet, die von unmittelbaren und/oder mittelbaren EmpfängerInnen als bedrohlich, herabwürdigend oder verunglimpfend empfunden wird oder durch die die EmpfängerInnen sich in ihrer Lebensgestaltung auf unzumutbare Weise beeinträchtigt fühlen. Bezugspunkt ist nicht ausschließlich das individuelle Empfinden, sondern das Empfinden eines wahrnehmbaren Teiles der rechtsverbundenen Sprachgemeinschaft. Besonders zu berücksichtigen ist dabei jeder Ausdruck der Diskriminierung auf Grund der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion oder Weltanschauung, des Alters, der sexuellen Orientierung, einer körperlichen oder intellektuellen Beeinträchtigung oder des Geschlechts.« (Forschungszentrum Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring 2018: 28 [Herv. i.O.])

Im Rahmen der Pew-Studie wurden 4.248 erwachsene US-Amerikaner*innen3 zu Online Belästigung befragt. Online Belästigung wurde hier durch die Darstellung möglicher Handlungen wie Beschimpfungen, absichtliches öffentliches Beschämen, physische Bedrohungen und Stalking beschrieben (vgl. Pew Research Center 2017: 3f.). Auch hier wird deutlich, dass sowohl Hate Speech als auch Online Gewalt im sozialen Nahfeld abgefragt wurden.

Eine der wenigen Definitionen, die sich ausschließlich auf digitale Gewalt im sozialen Nahraum fokussiert, ist die seit 2017 regelmäßig aktualisierte Definition des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff), da dort die Spezifizität von digitaler Gewalt im sozialen Nahfeld im Fokus steht. Der bff definiert digitale Gewalt als:

»alle Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt, die sich technischer Hilfsmittel und digitaler Medien (Handy, Apps, Internetanwendungen, Mails etc.) bedienen und/oder geschlechtsspezifische Gewalt, die im digitalen Raum, z.B. auf Online-Portalen oder sozialen Plattformen stattfindet. Digitale Gewalt funktioniert nicht getrennt von ›analoger Gewalt‹, sie stellt meist eine Ergänzung oder Verstärkung von Gewaltverhältnissen und -dynamiken dar.« (bff 2019: o.S.)

Neben expliziten Definitionen können auch Beschreibungen psychischer Gewalt auf einzelne Formen digitaler Gewalt Anwendung finden, so z.B. in einem Bericht der Grundrechteagentur der Europäischen Union (FRA), in dem unter psychischer Gewalt neben ökonomischer Gewalt und Erpressung, auch kontrollierendes Verhalten, »Herabsetzen oder Demütigen in der Öffentlichkeit oder Privatsphäre, Verbieten, die Wohnung zu verlassen, bzw. Einschließen, Zwingen, gegen ihren Willen pornografisches Material anzusehen, absichtliches Verängstigen oder Einschüchtern sowie mit Gewalt drohen oder damit drohen, jemand anderen zu verletzen« (FRA 2014: 25) aufgeführt wird.

In der Erfassung von psychischer Gewalt wurden im Rahmen der letzten Prävalenzstudie zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland u.a. regelmäßige Erfahrungen der Abwertungen, Schikanierungen, Drohungen, Erpressungen, Verleumdungen abgefragt, die so belastend waren, dass sie als Psychoterror oder seelische Grausamkeit empfunden wurden (vgl. BMFSJ 2004: 104f.). Viele dieser Handlungen finden im Kontext digitaler Gewalt statt. Es ist davon auszugehen, dass künftige Prävalenzstudien digitale Gewalt explizit und ausreichend differenziert abfragen müssten.

Zusammenfassend wird deutlich, dass der Themenkomplex digitale Gewalt im sozialen Nahfeld immer mehr und expliziter Verwendung in Berichten/Studien zu Gewalt gegen Frauen findet. Hier gibt es weiterhin zahlreiche Definitionen und Begrifflichkeiten, die aber verdeutlichen, dass diese Form der geschlechtsspezifischen Gewalt zunehmend in den Fokus rückt. Wünschenswert wäre eine deutlichere Differenzierung zwischen Online Hate Speech und digitaler Gewalt im sozialen Nahraum.

Formen digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt4

Formen digitaler Gewalt, die analoge Gewalt verstärken oder auch alleine wirken, sind vielfältig. Einige dieser Handlungen sind nur mit Hilfe von IKT umsetzbar, während andere ihre Wirkmächtigkeit durch IKT erhöhen können. Bei Gewaltformen, bei denen das Internet eine Rolle spielt, kommt erschwerend hinzu, dass im Internet hinterlassene Informationen sehr schwer endgültig löschbar sind. Hinzu kommt die sehr schnelle Verbreitung, die auch künftig dafür sorgen wird, dass Menschen auf diese Informationen zugreifen können.5

Bisher in Studien (vgl. FRA 2014, National Network to end domestic violence 2015, bff 2017, European Women’s Lobby 2017, Pew Research Center 2017, UN Special Rapporteur on violence against women 2018 und Forschungszentrum Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring 2018) und in der Praxis bekannte Formen sind die Durchführung oder Androhung folgender Handlungen:

•»Doxing«: Veröffentlichung von privaten Adressen/Telefonnummern und/ oder Herstellung von Profilen von Frauen im Netz, um sie zu diskreditieren, zu beschämen oder ihrem Ruf zu schaden; z.B. mit dem Hinweis sie würden vermeintlich sexuelle Dienstleistungen anbieten.

•Das bewusste Verbreiten von Gerüchten oder Zwangsoutings, beispielsweise bezüglich der sexuellen Aktivität, des Gesundheitsstands, sexueller Orientierung einer Person.

•Erstellen von Fake Profilen im Netz und Versenden von Infos mit dieser falschen Identität; hierzu gehört auch das sogenannte Deepfaking. Hier werden Gesichter von Personen z.B. in Pornos hineinmontiert; hierfür reichen öffentlich verfügbare Bilder wie z.B. von Facebook oder professionellen Websites (vgl. Forschungszentrum Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring 2018: 30).

•Hacken von Konten, z.B. um Passwörter zu verändern, die eine Kontaktaufnahme nach außen oder das Abheben von Geld erschweren.

•Andere ermutigen oder auffordern, Frauen zu schaden (z.B. Vergewaltigungsaufrufe).

•Verbreitung von einvernehmlich hergestellten Nacktfotos/pornographischem Material im Bekanntenkreis und/oder dem Internet, auch bekannt als ›Revenge porn‹ oder besser »bildbasierte sexuelle Ausbeutung« (vgl. European Parliament’s Committee on Women’s Rights and Gender Equality 2018: 17).

•Herstellen und/oder Verbreiten von heimlich hergestellten Nacktfotos/ pornographischem Material/Aufnahmen sexualisierter Gewalt im Bekanntenkreis und/oder dem Internet, hierzu gehören auch »Sextortion«6 oder »Upskirting«7.

•Cyberharassment8: Das ungewollte Empfangen von Nacktfotos/pornographischem Material/Nachrichten, sexuelle Avancen oder Nachrichten mit explizit sexuellem Inhalt und/oder nichteinvernehmliches »Sexting«9.

•Kontrolle über Aufenthaltsorte, Gespräche etc. durch das (versteckte) Installieren einer entsprechenden App – sogenannte Spy-Apps10. Dies kann über die Geräte der Frauen oder aber über die Geräte gemeinsamer Kinder erfolgen (vgl. National Network to end domestic violence 2015: 5).

•Online- oder Cyberstalking: hierzu gehören z.B. Nachrichtenterror, ungewollte absurde und kostenintensive Onlinebestellungen und/oder Überwachung der betroffenen Person.

•Kontrolle über das Internet of Things (IoT)11, also einem »Netzwerk, das alle denkbaren Geräte drahtlos direkt miteinander kommunizieren lässt, ohne dass zwingend ein Mensch dazwischengeschaltet ist« (Stelkens 2019: 3).

•Zerstören von emotional wertvollen Daten, wie z.B. Tagebüchern, E-Mails oder Fotos auf einem Computer/Datenträger.

•Kontrolle über Personen und ihre Social Media Accounts.

•Identitätsdiebstahl im Netz, mit dem Vorhaben unter der gestohlenen Identität ruf- oder finanziell schädigende Handlungen zu tätigen.

•»Swatting«: Notrufe bei der Polizei in Verbindung mit falschen Beschuldigungen.

•Gewalt auf Selbstmordforen oder Foren für Personen mit Magersucht oder Bulimie, wenn vorher vereinbarte ›Ziele‹ nicht erreicht werden (vgl. Forschungszentrum Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring 2018: 30).

•Beleidigungen und Verletzung (z.B. Vergewaltigungen) von Online Identitäten von Personen im Rahmen von Onlinespielen.

Eine solche Auflistung wird angesichts der zahlreichen und sich ständig (weiter-)entwickelnden technischen Möglichkeiten und Kommunikationswege nie abschließend sein können. Theoretisch ist Onlinegewalt in allen Foren, Plattformen etc. denkbar. Allerdings wird immer wieder Facebook als die Plattform genannt, auf der am häufigsten Gewalt erlebt wurde. Dies hängt vermutlich mit der Häufigkeit der Nutzung von Facebook, dem Nutzungsverhalten der befragten Gruppe und den zum Befragungszeitraum vorherrschenden Trends zusammen. An zweiter Stelle werden textbasierte Kommunikationsdienste wie Messenger, WhatsApp, EMails oder SMS genannt. Gewalt wird zudem auf Datingplattformen ausgeübt, aber auch auf Snapchat oder Instagram. Am wenigsten wurde von Gewalt auf Twitter, YouTube und eigenen Blogs oder Webseiten berichtet (vgl. ebd.: 35f.). Vereinzelt sind Berichte von Frauen zu hören, die bei Plattformen wie Ebay Kleinanzeigen oder Kleiderkreisel bei dem Versuch Gebrauchsgegenstände zu verkaufen oder der Suche nach Nebentätigkeiten wie Babysitting sexuell belästigt wurden.

Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt als ein Kontinuum von Gewalt

Bei der Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt nutzen Täter IKT, um die Wirkmächtigkeit ihrer Gewaltausübung zu verstärken, oder nutzen Gewaltformen, die nur durch IKT möglich sind, häufig jedoch auch in Kombination. »Besonders bei Stalking wird deutlich, dass mittlerweile in nahezu allen Fällen das Internet oder digitale Medien dazu genutzt werden, Stalking-Handlungen auszuüben.« (bff 2017: 8) Ortiz-Müller weist zudem auf die Schwierigkeit der Trennschärfe zwischen Cyberstalking und anderen Formen von Stalking hin, indem er sagt, dass »Cyberstalking […] im weitest gefassten Sinn jede Form der Kontaktaufnahme über elektronische Medien, also bereits das Versenden von E-Mails und SMS [darstellt]« (Ortiz-Müller 2017: 29).

Dass eine Trennung zwischen digitaler und analoger Gewalt vielen Gewaltdynamiken nicht gerecht wird, wird auch in einer Untersuchung von Women’s Aid in Großbritannien deutlich, im Rahmen derer 307 Betroffene von häuslicher Gewalt befragt wurden. Fast die Hälfte (45 %) von ihnen gab an, auch Formen digitaler Gewalt im Rahmen ihrer Partnerschaft erlebt zu haben; ebenso berichtete knapp die Hälfte (48 %) über Belästigung oder Online Abuse nach der Trennung und 38 % berichteten von Online Stalking nach der Trennung (vgl. Women’s Aid 2014: 8, vgl. auch EIGE 2017: 2). Auch das kanadische Citizens Lab weist auf verschiedene Untersuchungen hin, die die gleichzeitige Betroffenheit von analoger und digitaler Gewalt belegen. So z.B. eine Umfrage des National Public Radio, im Rahmen derer Mitarbeitende von 72 Zufluchtsorten für Betroffene häuslicher Gewalt befragt wurden. Die dort Befragten Berater*innen gaben an, dass 85 % von ihnen Betroffene unterstützt haben, die durch GPS von Gewalttätern verfolgt wurden. Dies deckt sich in etwa mit den Ergebnissen des in den USA ansässigen National Network to End Domestic Violence, wonach 71 % der Täter von häuslicher Gewalt die Computeraktivitäten der Betroffenen überwachten und 54 % dies mit Stalkerware auf dem Smartphone taten (vgl. Parsons u.a. 2019: 1). Es wird dadurch deutlich, dass Gewalt gegen Frauen in einem Kontinuum und/oder in Interaktion innerhalb eines digitalen Raums verübt wird.

Wie sich die Wirkmächtigkeit von Gewalt durch die Nutzung von IKT verstärkt, wird an einzelnen Beispielen anschaulich: So hat Eifersucht in Beziehungen immer auch dazu geführt, dass Partner*innen kontrolliert wurden; die ›Effektivität‹ dieser Kontrolle erhöht sich jedoch deutlich mit dem Einsatz von IKT. Auch ist es kein neues Phänomen, dass Paare sich einvernehmlich nackt oder bei sexuellen Handlungen filmen oder fotografieren und dieses Material nach einer Trennung gegen den Willen verbreitet wird. Neu hingegen ist die Reichweite, Geschwindigkeit und Langlebigkeit der Verbreitung solcher Bilder. Auch die Häufigkeit der Belästigungen im Netz ist eine deutlich höhere, da das Internet es ermöglicht, eine Flut von Nachrichten kostenlos in sehr kurzer Zeit immer wieder auch anonym zu verschicken. Hinzu kommt, dass online Gewalt »ohne räumlichen Bezug von jedem Ort der Welt zu jeder Tages- und Nachtzeit ausgeübt werden [kann]. Viele Täter*innen fühlen sich in der scheinbaren Anonymität des Netzes sicher und unangreifbar.« (Ortiz-Müller 2017: 29)

Auch sind Konflikte in einem gemeinsamen Haushalt z.B. über die Wärmeregulierung kein neues Phänomen, ebenso wenig wie – im Kontext von gewaltvollen Beziehungen – Partner*innen verwehrt wird, das Haus zu verlassen. Durch die Einrichtung eines Smarthomes diese Angelegenheiten zentral durch eine Person geregelt werden; es spricht einiges dafür, dass dies den Geschlechterstereotypen entsprechend eher die Männer sind (vgl. Stelkens 2019: 3), was letztendlich dazu führt, dass alle anderen Personen im Haushalt immer weniger Kontrolle über ihr Leben haben. Hier wird nicht nur eine ungleiche Machtverteilung zementiert. Während in einer analogen Auseinandersetzung einzelne Familienmitglieder sich diesen Vorgaben zumindest zeitweise widersetzen können, indem sie z.B. in Abwesenheit die Wärme ihren Wünschen nach regulieren oder das Haus verlassen, indem sie die Tür verkeilen oder heimlich Besuch empfangen, kann auch hier die digitale Kontrolle ganz andere Dimensionen erreichen. In einem Smarthome ist eine Heizung anders gar nicht zu regulieren und jede Bewegung der Wohnungstür kann der Person gemeldet werden, die das Smarthome verwaltet.

Da sich die Gewaltdynamiken zwischen analoger und digitaler Gewalt ähneln und Phänomene wie ungleiche Machtverteilung in Partnerschaften, Kontrolle von Partner*innen, Grenzüberschreitungen oder die Einschränkung der Bewegungsfreiheit Kernelemente von geschlechtsspezifischer Gewalt sind, spricht einiges dafür, digitale Gewalt im sozialen Nahfeld nicht als ein gesondertes Thema zu betrachten. Vielmehr erscheint es notwendig, diese als eine Erweiterung von analoger Gewalt zu verstehen, nicht zuletzt auch, um die über Jahrzehnte erarbeitete Expertise in diesem Bereich zu nutzen, um Betroffene zu unterstützen und effektive strukturelle Veränderungen zu forcieren. Allerdings geht dies einher mit der Erweiterung der eigenen Expertise und Wissen um digitale Gewalt.

Ausmaß und Prävalenzen digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt

Bislang ist wenig bekannt über die Prävalenz von bzw. Betroffenheit durch IKT unterstützte Gewalt in oder nach partnerschaftlichen Beziehungen. Einzelne Studien und Berichte vermitteln einen ersten Eindruck darüber, wer in welchem Ausmaß betroffen sein könnte. Erschwert werden Aussagen zu digitaler Gewalt im sozialen Nahfeld auch dadurch, dass die meisten Studien auch Online Hate Speech gleichzeitig abfragen. Erst bei der Beschreibung der Handlungen wird deutlich, was sich auf digitale Gewalt im sozialen Nahraum und was sich eher auf Online Hate Speech bezieht. So auch im Rahmen der Wiener Studie, die feststellte, dass

»[j]ede dritte Befragte (32,4 %, n= 1.005) angab, mindesten [sic!] einmal in den letzten 12 Monaten eine Online-Gewalterfahrung erlebt zu haben. Am häufigsten waren Frauen und Mädchen von Online-Beschimpfungen und Beleidigungen aufgrund ihrer politischen Weltanschauung (12,8 %) und von persönlichen Beschimpfungen (11,6 %) betroffen. Des Weiteren erhielten 10,9 % der Befragten ohne ihre Zustimmung sexuell anzügliche Mitteilungen (in Textformaten, Fotos und Videos). Überdurchschnittlich waren jüngere Frauen und Mädchen (15- bis 18-Jährige) von allen Gewalt-Dimensionen betroffen […].« (Forschungszentrum Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring 2018: 69)

Im Rahmen der Pew-Studie gaben 41 % (im Unterschied zu 35 % im Jahre 2014) der Befragten an, mindestens eine Art von Online-Belästigung erlebt und 66 % diese beobachtet zu haben (vgl. ebd.: 3). Unter den Betroffenen sind 18 %, die angeben, sie hätten schwere Formen von Belästigung erlebt; hierzu gehören Stalking, physische Bedrohungen, sexuelle Belästigung oder Belästigung über einen längeren Zeitraum (vgl. Pew Research Center 2017: 3f.).

Der Bericht der FRA, der sich explizit auf Gewalt im sozialen Nahfeld fokussiert, hat die Prävalenz von psychischer Gewalt erfasst und kommt zu dem Ergebnis, dass

»[j]ede dritte Frau (32 %) […] psychische Mißhandlung in der Partnerschaft entweder von ihrem derzeitigen oder früheren Partner/einer derzeitigen oder früheren Partnerin erlebt [hat]. Dazu gehören Verhalten wie Herabsetzen oder Demütigen in der Öffentlichkeit oder Privatsphäre, Verbieten, die Wohnung zu verlassen, bzw. Einschließen, Zwingen, gegen ihren Willen pornografisches Material anzusehen, absichtliches Verängstigen oder Einschüchtern sowie mit Gewalt drohen oder damit drohen, jemand anderen zu verletzen, der der Befragten wichtig ist.« (FRA 2014: 25)

Einigkeit in nahezu allen Studien gibt es darüber, dass Alter »das stärkste Differenzmerkmal« (Forschungszentrum Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring 2018: 63) bei digitaler Gewalt darstellt, was vermutlich mit der altersdifferenten Nutzung neuer Medien/Technologien einhergeht. Dies bestätigt auch der Bericht der Europäischen Grundrechteagentur FRA zu Gewalt gegen Frauen, der darauf hinweist, dass

»[d]ie Gefahr, zum Ziel von drohenden und beleidigenden Annäherungsversuchen im Internet zu werden, […] für junge Frauen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren zweimal so hoch [ist] wie für Frauen im Alter zwischen 40 und 49 Jahren und mehr als dreimal so hoch wie für Frauen im Alter zwischen 50 und 59 Jahren.« (FRA 2014: 32)

Dieses wird spezifiziert mit dem Ergebnis, wonach »in den 12 Monaten vor der Befragung […] in den 28 EU-Mitgliedstaaten 4 % aller 18 bis 29 Jahre alten Frauen oder 15 Millionen Online-Stalking erlebt [haben], während im Vergleich dazu 0,3 % der Frauen, die 60 Jahre oder älter sind, dies erlebt haben« (FRA 2014: 30). Im Rahmen der Prävalenzstudie zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland wurde zwar nicht zwischen analoger und digitaler psychischer Gewalt differenziert, dennoch ist der Befund, dass »junge Frauen […] am häufigsten psychische Gewalt erlebt haben und dass der Anteil der von psychischer Gewalt […] Betroffenen kontinuierlich abnimmt, je älter die Befragten waren« (vgl. BMFSJ 2004: 110) auffällig.

Sowohl die Wiener Studie, als auch die Pew-Studie fanden zunächst heraus, dass ein Großteil der gewaltausübenden Personen nicht bekannt oder gar anonym war. Lediglich rund ein Drittel der Frauen kannten die gewaltausübenden Personen. Diese waren Freund*innen, Bekannte, Familienmitglieder, (Ex-)Partner*innen. Interessant ist der Befund der Wiener Studie, wonach nur 9,3 % der Befragten (Ex-)Partner*innen sowie 4,1 % derzeitige Partner*innen als Täter*innen nannten (Forschungszentrum Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring 2018: 53). »Diese Darstellung ändert sich jedoch bei näherer Betrachtung von einzelnen Online-Gewalterfahrungen. Beim Weiterleiten von sexualisierten Fotos oder Videos in intimen Situationen von den befragten Frauen und Mädchen waren es insbesondere der/die Ex-(Ehe)PartnerIn (37,5 %) bzw. Verwandte (26,5 %) […].« (Forschungszentrum Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring 2018: 54) Aufschlussreich ist die Ausdifferenzierung der Betroffenheiten nach intersektionalen Kategorien sowohl in der Pew-Studie, als auch in der Wiener Studie. Die Pew-Studie stellt fest, dass 32 % der Befragten aufgrund ihrer Geschlechtsidentität angegriffen wurden, 34 % wegen ihres Aussehens, 23 % wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, 13 % wegen ihrer sexuellen Orientierung, 45 % sprachen von intersektionaler Diskriminierung im digitalen Raum (vgl. Pew Research Center 2017: 21). Die Wiener Studie fand heraus, dass 3,9 % der befragten Frauen und Mädchen auch wegen ihrer Herkunft oder Kultur12 (3,9 %) bzw. ihrer Religion (3,1 %) einer Beeinträchtigung (2,4 %) und/oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung (1,8 %) beschimpft wurden (vgl. ebd.: 50). Dies führt näher betrachtet zu dem Ergebnis, dass Frauen und Mädchen, die lesbisch, bi, trans oder queer sind, überdurchschnittlich oft persönlich beschimpft wurden und ungefragt sexuell anzügliches Material erhielten (vgl. ebd.: 58). Beschimpfungen aufgrund rassistischer Vorurteile wurden in dieser Studie unter der Kategorie ›Deutsch als Erstsprache‹ erfasst, welche sich auch als eine einflussreiche Differenzkategorie herausstellte. Mädchen und Frauen mit Migrationsgeschichte waren demnach fast doppelt so häufig von persönlichen Beschimpfungen betroffen als Frauen ohne Migrationsgeschichte (vgl. ebd.).

In nahezu allen Studien wird Stalking als die Form von Gewalt dargestellt, bei der Täter sich am häufigsten sowohl analoger als auch digitaler Kontrollmöglichkeiten bedienen. Besorgniserregend ist der Befund, dass in den 28 EU-Mitgliedstaaten 18 % der Frauen seit dem 15. Lebensjahr Stalking erlebt haben; 5 % von ihnen sogar in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung (vgl. FRA 2014: 28). »Dies entspricht etwa 9 Millionen Frauen in den 28 EU-Mitgliedstaaten, die im Zeitraum von 12 Monaten Stalking erlebt haben.« (Ebd.) Während hier nicht zwischen analogem und Cyberstalking unterschieden wird, zeigen weitere Ergebnisse derselben Untersuchung,

»dass Frauen durch eine Reihe von verschiedenen TäterInnen sexuell belästigt werden und dies auch durch die sogenannten neuen Medien erfolgen kann. Jede zehnte Frau (11 %) hat unangemessene Annäherungen auf Websites sozialer Medien erlebt oder sexuell explizite E-Mails oder Textnachrichten (SMS) erhalten.« (ebd.: 13)

Explizite Zahlen zu Deutschland gibt es noch keine; Beratungsstellen, Frauenhäuser und andere Zufluchtseinrichtungen für von Gewalt betroffene Frauen berichten aber davon, dass ihre Klient*innen immer häufiger auch digitale Gewalt erleben.13 Laut einer Sprecherin des Bundeskriminalamts habe es in Deutschland im Jahr 2016 fast 6.000 Fälle gegeben, bei denen Bildmaterial aus intimen Situationen geleakt – also ohne Erlaubnis gepostet – wurde (vgl. Baden 2018: o.S.); über die vermutete Dunkelziffer oder das in der Praxis bekannte Hellfeld gibt es bislang keine belastbaren Schätzungen/Zahlen.

Nutzung von IKT im Kontext von Menschenhandel

Noch weniger ist über das Ausmaß des Einsatzes von IKT im Kontext von Menschenhandel bekannt. Es fällt auf, dass bei der Erwähnung von Menschenhandel nicht explizit darauf hingewiesen wird, um welche Form des Menschenhandels es sich handelt; implizit wird sich aber fast ausschließlich auf Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung bezogen. Einige Berichte nehmen an, dass auch im Kontext Menschenhandel digitale Gewalt stattfindet, ohne jedoch genauere Nachweise hierfür zu liefern oder die zugrunde liegende Definition transparent zu machen (vgl. z.B. UN Special Rapporteur on violence against women 2018: Abs. 32 und European Parliament’s Committee on Women’s Rights and Gender Equality 2018: 48). Erschwerend kommt hinzu, dass die Quelle mancher Behauptung nicht nachvollziehbar ist, so z.B.:

»Social media is used by traffickers to sell people whose photographs they share without their consent, often including photographs of their abuse of women as an example to others. Seventy-six percent of trafficked persons are girls and women and the Internet is now a major sales platform.« (Women’s Media Center, zit. nach: European Women’s Lobby 2017: 8f.)

Da die European Women’s Lobby nicht nur Menschenhandel, sondern auch jede Form der Prostitution und damit auch die selbstbestimmte Prostitution erwachsener Personen als Gewalt gegen Frauen bezeichnet und bekämpft, ist anzunehmen, dass hier möglicherweise nicht deutlich zwischen Prostitution und Menschenhandel differenziert wurde. So ist es durchaus vorstellbar, dass hier z.B. bereits Online-Werbung für sexuelle Dienstleistungen als eine Form digitaler Gewalt dargestellt wird. Daher ist bei solchen Behauptungen Vorsicht geboten. Auch über die Rolle des sogenannten Darknets im Kontext von Menschenhandel ist wenig bekannt (vgl. Cox 2015). Zwar wird vermutet, dass dort auch Menschenhandel stattfindet, Belege hierfür sind bislang nicht bekannt.

Die UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen weist darauf hin, dass Menschenhändler*innen damit drohen können, private Informationen online zu veröffentlichen, um Macht und Kontrolle über ihre Opfer beizubehalten und sie davon abzuhalten, sich zu trennen oder juristische Schritte gegen sie zu unternehmen (vgl. UN Special Rapporteur on violence against women 2018: Abs. 32). Dies ist eine Praxis, von der auch Berater*innen von Fachberatungsstellen gegen Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung berichten. Auch die (Drohung der) Nennung der Klarnamen von Betroffenen von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung oder (Online-)Veröffentlichung von Fotos in Arbeitskleidung dürfte ein ›effektives‹ Mittel sein, um Betroffene von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung zu erpressen. Denkbar ist auch, dass IKT genutzt wird, um Betroffene von Menschenhandel zu überwachen. Aber all dies ist bislang wenig grundlegend beforscht.

Auswirkungen digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt

Die Ähnlichkeiten der Auswirkungen zwischen analoger und digitaler Gewalt sind nicht überraschend, zumal häufig beide Formen von Gewalt gleichzeitig angewandt werden. Die Wiener Studie stellte zunächst fest, dass Betroffene und Berater*innen die Auswirkungen digitaler Gewalt unterschiedlich einschätzen, kommen aber zu einer Gesamteinschätzung wonach

»Betroffene von Gewalt im Netz ähnliche Symptome zu zeigen [scheinen] wie andere Gewaltopfer, insbesondere bezüglich erhöhter Schreckhaftigkeit und Nervosität, in Bezug auf Ein- und Durchschlafstörungen sowie ein Gefühl der Entfremdung. Als die häufigsten psychosomatischen Folgen von Gewalt im Netz wurden Angespanntheit bzw. Nervosität (21,5 %), Schlafstörungen (9,0 %) und Konzentrationsschwäche (8,2 %) genannt. Zu den sozialen Folgen gehören Rückzugsverhalten und eine Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls: Fast jede fünfte von Gewalt im Netz betroffene Internetnutzerin beteiligte sich nach dem Übergriff weniger oder gar nicht mehr in den sozialen Netzwerken (19,7 %) und fühlt sich nach der Gewalterfahrung bedroht (17,5 %).« (Forschungszentrum Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring 2018: 70, [Herv.i.O.])

Im Rahmen der Pew-Studie werden psychischer Stress, Probleme mit Familie oder Freund*innen als Auswirkungen digitaler Gewalt genannt. Einige der Befragten nannten zudem Rufschädigung und Schaden an der Liebesbeziehung, einige wenige nannten Probleme in der Schule/Arbeit, finanzielle Einbußen und die Schwierigkeit einen Job oder eine Wohnung zu finden (vgl. Pew Research Center 2017: 20).

Auch in der Darstellung möglicher Auswirkungen digitaler Gewalt differenziert die UN-Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen nicht zwischen Hate Speech und die Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt. Sie nennt aber Rückzug aus dem Internet, soziale Isolation und »limitierte Mobilität, wenn Frauen ihre Freiheit verlieren sich sicher zu bewegen« (UN Special Rapporteur on violence against women 2018: Abs. 26; Übersetzung N.P.) als mögliche Auswirkungen. Darüber hinaus betont sie, dass digitale Gewalt auch zu physischem Schaden führen kann, wenn z.B. durch gefälschte Anzeigen private Adressen von Frauen mit der Behauptung veröffentlicht werden, sie würden dort (vermeintlich) sexuelle Dienstleistungen anbieten. Zu wirtschaftlichem Schaden kann es kommen, wenn im Internet hinterlassene Behauptungen die Arbeitssuche von Betroffenen erschweren oder einschränken (vgl. ebd.: Abs. 27).

Betroffene von Überwachung durch IKT können zudem finanzielle Einbußen erleiden, die je nach Einkommen von erheblichem Ausmaß sein können; diese entstehen z.B. durch die Beschaffung neuer Geräte, E-Mailkonten und Bankkonten. Ein Bericht des European Parliament’s Committee on Women’s Rights and Gender Equality schätzt die Kosten von digitaler Gewalt innerhalb von Partnerschaften auf 1.200 US-Dollar ein (vgl. European Parliament’s Committee on Women’s Rights and Gender Equality 2018: 34). Von digitaler Gewalt Betroffene, die beruflich auf das Internet bzw. auf eine Internetpräsenz angewiesen sind, erleiden einen Schaden, der nicht nur finanzieller Art ist, sondern deren Auswirkungen sich auch ökonomisch bemerkbar machen können. Denn eine (vorübergehende) Abwesenheit im Netz hat berufliche und damit auch ökonomische Folgen. Eine weitere ökonomische Folge von digitaler Gewalt entsteht, wenn Arbeitgeber*innen Personen kündigen, weil sie rufschädigende Informationen über sie im Netz finden.

Ungeklärt ist vielfach die Situation von Betroffenen von (Cyber-)Stalking und der Umgang im beruflichen Kontext mit der verpflichtenden Veröffentlichung von E-Mailadressen, auf die einige Arbeitgeber*innen bestehen. Die Sorge auf diese Weise für Stalker erreichbar zu sein, kann Betroffene davon abhalten beruflich aufzusteigen und hätte dadurch indirekte ökonomische Auswirkungen.

Die Association for Progressive Communication (APC) nennt zu den bereits genannten möglichen Auswirkungen auch die Verletzung des Rechts auf Leben durch den Einsatz von IKT und bezieht sich zum einen auf den Fall Fatma Yildirim gegen Österreich beim UN-CEDAW Ausschuss (vgl. CEDAW 2007). Frau Yildirim wurde, bevor sie von ihrem Mann umgebracht wurde, mehrfach telefonisch bedroht und belästigt (vgl. APC Women’s Rights Programme 2015: 2). Zum anderen beziehen sie sich auf Fälle, bei denen Betroffene als Folge von IKT gestützter Gewalt Suizid begangen haben14 (siehe auch UN-Special Rapporteur on violence against women 2018: Abs. 78). Zu diskutieren wäre daher, inwiefern solche Todesfälle nicht auch als Femizide zu werten wären.

Umgangsstrategien von Betroffenen

Die differenziertesten Aussagen zum Umgang von Betroffenen digitaler Gewalt finden sich ebenfalls in der Wiener Studie, die feststellte, dass die Betroffenen am häufigsten (53,7 %) Nutzer*innen sperren, 38,7 % versuchen, eine sachliche Auseinandersetzung mit den Verursacher*innen der Gewalt zu suchen, 23,1 % melden das Verhalten den Providern, während nur 21,4 % eine Beweissicherung vornehmen (vgl. Forschungszentrum Menschenrechte der Universität Wien/Weißer Ring 2018: 71f.). Unterstützung durch eine Vertrauensperson oder eine externe Stelle nahmen lediglich 7,5 % der Betroffenen an, manche wechselten ihre Telefonnummer und nur 6,9 % gab an, online Unterstützung durch Freund*innen erhalten zu haben. Erschreckend ist auch das Ergebnis, dass 9,6 ٪ gar nichts unternahmen (vgl. ebd.: 73). Auch berichten Berater*innen mehrheitlich davon, dass »Betroffene nach einer Erfahrung mit Gewalt im Netz soziale Medien mieden oder dort weniger aktiv waren« (ebd.: 66). Diese Ergebnisse decken sich nur zum Teil mit denen der Pew-Studie. Denn diese stellt zunächst fest, dass die Mehrheit der Betroffenen (61 ٪) die Vorfälle ignorierte. Von den verbleibenden 39 ٪ entschieden sich die Betroffenen zum Teil für mehrfache Reaktionen: die Hälfte konfrontierte die Tatverantwortlichen online und blockierte die Personen, 22 ٪ meldeten die Vorfälle den Providern, 14 ٪ diskutierten das Problem online und jeweils ca. 10 ٪ wechselten ihre Onlineidentität bzw. entfernten Profile und mieden Onlineplattformen. Lediglich 5 ٪ meldeten das Erlebte den Strafverfolgungsbehörden (vgl. Pew Research Center 2017: 26). Auch hier wurde festgestellt, dass sich Personen aus Sorge aus dem Netz zurückzogen.

Neben der Frage des Umgangs durch Betroffene stellt sich auch die Frage, ob und wie Zeug*innen digitaler Gewalt tätig werden oder ob sie durch ihr Schweigen eher eine Zustimmung signalisieren und damit eher gewaltverstärkend wirken. Da ein Großteil der digitalen Gewalthandlungen darauf abzielen, Personen öffentlich zu diskreditieren, ist dies, anders als bei analoger Gewalt, fast immer mit einer Großzahl von Zeug*innen verbunden, die mit ihrer Reaktion als korrektive Instanz auftreten könnten – wie sie dies im Kontext von Hate Speech bereits tun (siehe z.B. Amadeu Antonio Stiftung 2019). Auch sind viele Handlungen durch die öffentliche Verbreitung theoretisch nachweisbar und dem sozialen Umfeld des Täters bekannt. Vorstellbar wäre, das soziale Umfeld des Täters vermehrt zu animieren und hier unterstützend für die Betroffenen tätig zu werden bzw. auf eine Verantwortungsübernahme auf Seiten der Täter hinzuwirken.

Prävention

Selbstschutz bzw. Awareness

Auch im Kontext IKT gestützter Gewalt im sozialen Nahfeld zeigt sich, dass eine genderstereotype Verteilung von Aufgaben im Haushalt die Vulnerabilität von Frauen erhöht. So

»interessieren sich Frauen durchaus für ein SmartHome, sind jedoch geschlechterrollen- und alltagszeitbedingt nicht bereit, zusätzliche Zeit sozusagen spielerisch für die Auseinandersetzung mit den technischen Hintergründen aufzuwenden. Es ist also wahrscheinlich, dass Frauen nicht hinter die technischen Kulissen ihres Smartphones schauen werden. […]« (Stelkens 2019: 4)

Nicht nur im Sinne einer effektiven Prävention gegen IKT gestützte Gewalt kann es sinnvoll sein, die eigenen digitalen Fähigkeiten zu pflegen, bzw. ständig zu aktualisieren und die Medienkompetenzen zu erweitern. Denkbar wäre zumindest für die kommende Generation, dies zum verpflichtenden Teil des Schulunterrichts zu machen. Realistischerweise wird es nicht von heute auf morgen möglich sein, diesen technologischen Gendergap zu überwinden, daher wäre es wichtig, sich selbst in diesem Bereich fortzubilden, bzw. diesen Bereich nicht ›automatisch‹ männlichen Personen zu überlassen. Im Falle einer (gewaltvollen) Trennung ist es mindestens wichtig, sich zumindest daran zu erinnern, welche Geräte der Ex-Partner eingerichtet hat und wer sich mit wem Passwörter/Clouds etc. teilt. Im Idealfall kennen alle Beteiligten die Passwörter für die Einrichtung von gemeinsam genutzten Geräten, Clouds, Netzwerken, Plattformen etc.

Für Berater*innen im Bereich der Anti-Gewalt-Arbeit heißt es in allen Fällen von Gewalt, mögliche digitale Bedrohungen regelmäßig abzufragen, um die digitale Sicherheit der Frauen, aber auch die Anonymität von Schutzeinrichtungen zu bewahren. Nicht nur in der Vergangenheit geteilte Geräte/Informationen sind hier relevant, sondern auch neue Geräte, die z.B. gemeinsame Kinder von dem getrennt lebenden Partner erhalten. Eine solche Abfrage könnte auch zur Bewusstwerdung der Gefahren digitaler Gewalt beitragen.15

Alle ›Warnungen‹, die Frauen davon abhalten sich ungehindert im Internet zu bewegen, können nicht als zielführend im Sinne einer feministischen Antwort auf Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt sein; vielmehr gleichen diese eher einer Kapitulation. Amnesty International spricht von einem »silencing effect«, wenn Frauen und trans Personen aufgrund ihrer Gewalterfahrung sich aus dem Netz zurückziehen und/oder zensieren (vgl. Amnesty International 2017: Chapter 5) und bewertet diesen Einfluss auf ihre freie Meinungsäußerung als besorgniserregend, nicht nur für Twitter, sondern für die gesamte Gesellschaft (vgl. ebd.). Die Pew-Studie spricht in diesem Zusammenhang von einem »chilling effect«16, wenn selbst ›nur‹ Zeug*innen von Online-Belästigung sich aus dem Netz aus Sorge zurückziehen (vgl. Pew Research Center 2017: 35).

Strukturelle Ebene: Prävention als menschenrechtliche Verpflichtung

Staaten, die ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen nachkommen, alle geeigneten Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen zu ergreifen, sind auch in der Pflicht präventiv tätig zu werden. So haben Staaten (wie Deutschland), die die Istanbul-Konvention ratifiziert haben, sich verpflichtet

»die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen [zu treffen], um sicherzustellen, dass vorsätzliches Verhalten, durch das die psychische Unversehrtheit einer Person durch Nötigung oder Drohung ernsthaft beeinträchtigt wird, unter Strafe gestellt wird.« (Europarat 2011: 15)

Eine ähnliche Verpflichtung ergibt sich auch aus der Ratifizierung von CEDAW, der UN-Frauenrechtskonvention17. In nahezu allen Studien und Berichten wird deutlich, dass die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten und deren Umsetzung als sehr defizitär bzw. ineffektiv wahrgenommen werden und damit keineswegs den Mindeststandards einer wirksamen Beschwerde18 erfüllen dürften. Nicht zuletzt deshalb müssen Betroffene eigene – zum Teil sehr phantasievolle und mutige19 – Wege des Umgangs mit digitaler Gewalt finden. So kommt beispielsweise der Bericht der FRA zu dem Ergebnis, dass

»im Internet und in sozialen Medienplattformen Maßnahmen ergriffen werden sollten, um Stalking-Opfer proaktiv bei der Meldung von Missbrauch zu unterstützen. Es sollte auch dazu aufgefordert werden, aktiv auf das Verhalten von TäterInnen zu reagieren. Parallel dazu kann die Polizei bestärkt werden, routinemäßig Fälle aufzugreifen und zu untersuchen, in denen Stalking über Internet oder Mobiltelefon eine Rolle spielt.« (FRA 2014: 13)

Im Kontext von digitaler Gewalt gilt die staatliche Verantwortung auch für technische Erneuerungen. So wäre zu diskutieren, ob Staaten (oder die EU) ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen nachkommen, wenn sie weiterhin Hersteller*innen von Apps, bzw. Betreiber*innen von Plattformen den Freiraum gestatten, den sie derzeit genießen. Köver weist darauf hin, dass einige Hersteller*innen ihre Apps ungeniert als »Hilfsmittel für Partnergewalt« (Köver 2019: o.S.)20 bewerben. Sie erinnert daran, dass Hersteller*innen von Apps beispielsweise gezwungen werden könnten, den

»›Tarn-Modus‹ zu entfernen, also die Möglichkeit, eine App unsichtbar im Hintergrund auf einem Telefon laufen zu lassen, ohne dass die überwachte Person dies mitbekommt. Schließlich gibt es keinen legalen Anwendungsfall, bei dem so ein Feature nötig wäre. Wenn eine Person der Überwachung zugestimmt hat, muss man die Software nicht vor ihr verstecken. Wenn es um das eigene Kind geht, kann auch dieses über die Kontroll-App informiert werden.« (Köver 2019: o.S.)

Auch im Kontext des IoT gäbe es technische Möglichkeiten, die einen faireren Umgang mit den Geräten ermöglichen. Denkbar wäre auch eine gesetzliche Regelung, nach der eine »manuelle Notsteuerung als Sicherheitsauflage in Smarthome Geräten« (Stelkens 2019: 8) vorgeschrieben wäre.

Um die Ineffektivät bisheriger staatlicher Reaktionen im Kontext digitaler Gewalt zu veranschaulichen, erinnert Stelkens an die lange ignorierten Risiken der atomaren Strahlung und der damaligen Aufforderung staatlicher Stellen sich mit Aktentaschen gegen atomare Strahlen zu schützen! In einer weiteren Analogie argumentiert sie, dass gemäß Straßenverkehrsrecht nur diejenigen ein gefährliches Werkzeug (Auto) bewegen dürfen, die zwangsversichert sind und über eine entsprechende Ausbildung verfügen (vgl. Stelkens 2016: 157). Das, so Stelkens weiter, »erscheint auf digitalen Autobahnen noch undenkbar« (ebd.). So wäre zu diskutieren, wie die Verkehrsregeln für einen fairen gleichberechtigten Zugang im Netz21 aussehen könnten, die intersektionalen Vulnerabilitäten Rechnung tragen. Hier bräuchte es sowohl Maßnahmen auf präventiver Ebene, als auch Interventionsmöglichkeiten bei Regelbruch, die zum einen die Betroffenen adäquat schützen, aber auch die Regelbrecher*innen effektiv und verhältnismäßig in die Verantwortung nehmen.

Intervention

Da digitale Gewalt ähnliche Auswirkungen hat wie analoge Gewalt gegen Frauen, dürften die Bedarfe von Betroffenen digitaler und analoger Gewalt ebenfalls ähnlich sein. Hierzu gehören z.B. eine sichere Umgebung, ein Umfeld, das ihnen ohne Schuldzuweisungen glaubt und sie stärkt, die Möglichkeit einer Trennung ohne zu große Einbußen und einen diskriminierungsfreien und faktischen Zugang zum Recht (wenn erwünscht). Bei digitaler Gewalt müsste zudem geprüft werden, ob die Hilfsangebote für die vorwiegend jüngeren Betroffenen angepasst werden müssten oder in der jetzigen Form angemessen sind. Erschwerend kommt bei digitaler Gewalt hinzu, dass Betroffene häufig selbst, aber auch ihr Umfeld, die Wirkmächtigkeit der Gewalt in Frage stellen; dies müsste verstärkt in entsprechenden Beratungsangeboten berücksichtigt werden. Auch zeigt sich in vielen Fällen eine technische Überforderung im Umgang mit Gewalt. Daher ist auf der Ebene der Intervention wichtig, neben der individuellen Unterstützung, auch über eine strategische Begleitung von Einzelfällen eine Erweiterung des Schutzrahmens für Betroffene von digitaler Gewalt zu erreichen. Ebenso wäre es wichtig, hier perspektivisch mehr technische Interventionsmöglichkeiten zu entwickeln. Da das Menschenrecht an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts und seiner Anwendung teilzuhaben (Art. 15 (1) Sozialpakt) natürlich auch für Betroffene von digitaler Gewalt gilt, könnte eine Übersetzung hiervon auch bedeuten, IKT zu nutzen, um gegen Gewalt gegen Frauen vorzugehen. Schmidt weist z.B. darauf hin, »dass IoT-Systeme bald einschreiten können, wenn sie häusliche Gewalt registrieren« (Schmidt 2018: o.S.).

Für gestalkte Personen gibt es die ersten Apps, wie z.B. No Stalk oder Skytsengel (vgl. Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. Beobachtungsstelle für gesellschaftspolitische Entwicklungen in Europa 2019: 7f.). Diese Apps können Vorfälle von (Cyber-)Stalking dokumentieren, im Notfall Unterstützer*innen informieren, Betroffenen die Möglichkeit geben in eine aktivere Rolle zu wechseln, aber auch Beweise für eine polizeiliche Anzeige zu verwenden, damit die Polizei eine sogenannte Gefährderansprache halten kann. Interessant ist hierbei der Befund, dass »in 80 % aller polizeilich erfassten Fälle das Stalking bereits nach dieser Ansprache aufhört« (ebd.: 7). Solche Mittel gilt es auszubauen bzw. zu bewerben, damit Betroffene von ihrer Existenz erfahren und Strafverfolgungsbehörden die dort gesicherten Nachweise anerkennen.

Vielfach werden neue gesetzliche Regelungen gefordert; sicherlich gibt es hier Lücken, die es zu schließen gilt.22