Geschwisterdynamik - Hans Sohni - E-Book

Geschwisterdynamik E-Book

Hans Sohni

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit Geschwistern verbindet man die Vorstellung von tiefer Verbundenheit, aber auch von Rivalität. Sie sind in Mythologie und Märchen, in Biografien, Romanen und Filmen allgegenwärtig. In erstaunlichem Kontrast zur täglichen Lebenserfahrung und zur kulturellen Gewichtung wurden Geschwisterbeziehungen bis in die 1980er Jahre beinahe vollständig aus dem psychoanalytischen Diskurs ausgeblendet oder auf ein negatives Potenzial reduziert. Diesem Desiderat setzt Hans Sohni eine psychoanalytische Entwicklungspsychologie lebendiger Geschwisterbeziehungen entgegen und bezieht familientheoretische, Entwicklungs- und präventive Ansätze ein. Er fasst den Geschwisterstatus als eigenständige Lebenserfahrung, beleuchtet dessen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und untersucht die Dynamik von Abgrenzung und Bezogenheit. Sohni zeigt auf, welche Möglichkeiten die Berücksichtigung der Thematik in verschiedenen Therapiesettings bietet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 195

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Sohni

Geschwisterdynamik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book-Ausgabe 2012

© der Originalausgabe 2011 Psychosozial-Verlag

Walltorstr. 10, D-35390 Gießen

Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19

E-Mail: [email protected]

www.psychosozial-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung & Layout: Hanspeter Ludwig, Wetzlar

www.imaginary-world.de

Satz: Andrea Deines, Berlin

ISBN Print-Ausgabe 978-3-8379-2117-5

ISBN E-Book-PDF 978-3-8379-6513-1

Inhalt

Einleitung
Konzeptualisierung der Geschwisterbeziehungen
Die frühe Psychoanalyse
Die Interpersonalität der Persönlichkeit
Instrumente zur Erfassung der Geschwisterdynamik
Die horizontale Beziehungsebene zwischen Geschwistern
Geschwister im Familiensystem
Geschwister – eine lebenslange Beziehungsentwicklung
Geschwisterdynamik in der Psychotherapie
Geschwisterübertragungen
Rivalität und Konkurrenz, Neid und Eifersucht
Geschwisterverlust
Verteilung von Verantwortung und Ungleichheit vor den Eltern
Gewalt und sexueller Missbrauch
Sensibel werden für die Geschwisterdynamik – Schlussbemerkung
Literatur

Einleitung

»Einen Bruder zu haben, eine Schwester, einfach zu wissen, dass sieda sind, darauf kommt es an!« Aussagen tiefer geschwisterlicher Verbundenheit wie diese sind uns allen vertraut. Aber Geschwister werden auch als bedrohlich und feindselig erlebt oder als Rivalen. Alles in allem zeigt sich ein zwiespältiges Bild. Kulturell sind Geschwister allgegenwärtig – in Mythologie und Märchen, in Biografien, Romanen und Filmen. Dabei ist es auch der Erfahrung von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten nicht entgangen, dass Geschwister oft in ihrer Bedeutung an erster Stellevorden Eltern rangieren.

Drei Beispiele dazu: Erwachsene adoptierte Personen suchen häufiger nach ihren Geschwistern als nach ihren leiblichen Eltern. – In seiner Zeit als Chirurg in der jugoslawischen Befreiungsarmee beeindruckte den späteren Psychoanalytiker Paul Parin (1996) die Erfahrung, dass schwer kranke Patienten, die erstmals die Möglichkeit hatten, Verwandte zu empfangen, nichteinmalnach Vater oder Mutter verlangten, sondern immer dringend ein Geschwister sehen wollten. – 1939 wurden in England knapp 50 Prozent der Schulkinder, etwa 750.000, mit ihren Lehrern aus den Städten aufs Land verschickt. John Bowlby, der Begründer der Bindungstheorie, bezog sich später auf die Deprivation dieser Kinder und betonte die zentrale Bedeutung ihrer Mütter. Was er wegließ, war der von den Lehrern erhobene Befund, dass die Kinder nicht ihre Mütter, sondern vor allen anderen ihre Geschwister vermissten (Mitchell 2003).

John Bowlby bildet mit dieser Haltung keine Ausnahme. In erstaunlichem Kontrast zur täglichen Lebenserfahrung und zur kulturellen Gewichtung wurden Geschwisterbeziehungen bis in die 1980er Jahre beinahe vollständig aus dem psychoanalytischen Diskurs ausgeblendet oder sogar auf ein negatives Potenzial reduziert. In Fallberichten erscheinen sie nur als Derivat der Eltern-Kind-Beziehung und Geschwisterübertragungen scheint es nicht zu geben. Seither lockert sich diese regelrechte Tabuisierung der Geschwisterbeziehung in der Psychoanalyse. In den letzten zehn Jahren finden Geschwister im gesamten psychosozialen Umfeld deutlich zunehmende Gewichtung. Nach meinem Eindruck geht der Impuls für diese veränderte Sicht allerdings weniger von der Psychoanalyse als von entwicklungspsychologischen Theorien und Studien aus.

Konzeptualisierung der Geschwisterbeziehungen

Die frühe Psychoanalyse

Die Psychoanalyse als Theorie und als Bewegung entstand Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien und damit in einer »bürgerlichen Gesellschaft«. Das bedeutete ein hierarchisches, patriarchalisches Denken und eine seit dem 17. Jahrhundert überkommene vertikale Sicht auf Kinder aus der Erwachsenenperspektive. Kinder waren »kleine Erwachsene«, und zwar abhängig von Erwachsenen. Von einem allgemeinen Bewusstsein für ein eigenständiges Geschehen zwischen Geschwistern können wir da kaum ausgehen.

Im Paris derselben Epoche befreite sich Simone de Beauvoir aus der Enge eines vergleichbaren bürgerlich-patriarchalischen Milieus. Ihre Biografie illustriert, welche nicht selten verzweifelte Kraftanstrengung es kostete, sich von diesen Bastionen zu emanzipieren, und wie glücklich die junge Frau war, als sie in der Orientierung an Gleichgesinnten ihrer Generation eine existenzielle Unterstützung erfuhr. Übrigens schätzte sie auch den Rückhalt in der vertrauten Beziehung zu ihrer jüngeren Schwester, sie war sich dieser reichen geschwisterlichen Welt immer bewusst – die von ihren Eltern gar nicht wahrgenommen wurde. Diese Eltern hielten zäh an den patriarchalischen Resten ihrer Welt fest – eine Haltung, die Freud (1900) missbilligte, denn nach seiner Ansicht fördert sie bei den Kindern feindschaftliche Gefühle gegenüber ihren Eltern.

Über die Kindheit von Sigmund Freuds sechs eigenen Kindern ist wenig bekannt. Es heißt, Freud habe für den Alltag nicht zur Verfügung gestanden und – wie andere Väter – nicht einmal mit den Kindern gespielt. Und die Mutter soll, mit Billigung des Vaters, die Kinder »sehr psychoanalysefremd« (Freud/Andreas-Salomé 1980, S. 271) erzogen haben. Das macht zwar neugierig, aber wie es in dieser Kinderstube wirklich zuging, werden wir nie erfahren. Dafür erschließt sich in den soeben erstmals veröffentlichten Briefen Freuds an seine erwachsenen Kinder (Schröter 2010) seine Haltung als Vater. Die Briefe beginnen ca. 1910, die Kinder sind zu Beginn der Korrespondenz jeweils etwa 20 Jahre alt, Freud über 50.

Das Bild, das aus dem Briefwechsel entsteht, zeigt Freuds liebevolles Interesse an seinen Töchtern und Söhnen, für die Schwiegertöchter und Schwiegersöhne (mit viel gegenseitiger herzlicher Zuneigung) und für die Enkel. Freud unterstützte seine Kinder großzügig materiell und mit Zuspruch in Krisen – so kommt er frühmorgens zu einem Wiener Vorstadtbahnhof, um seinen Sohn als Soldat bei der Durchreise zu sehen, oder er nimmt im Krieg die beschwerliche Reise in die Karpaten auf sich, um über Leitern in den Tunnelbau eines anderen Sohnes zu steigen und diesen wie nebenbei zur Scheidung zu ermutigen. Fürsorglich pflegt er einen intensiven Austausch, informiert auch die Geschwister untereinander und ist bestrebt, alle in einer Familiensolidarität zu verankern (die – nicht veröffentlichte – Korrespondenz der Mutter mit den Kindern war vielleicht noch umfangreicher, ist aber vorläufig nicht zugänglich).

Ist Freud anderer Meinung als ein Sohn oder eine Tochter, dann äußert er offen seine Haltung, respektiert aber ausnahmslos andere Entscheidungen, ohne hineinzureden: »Wenn Du mit Dir zufrieden bist, kann ich es auch sein« (an Mathilde zu ihrer Partnerwahl, 1908). Die Briefe zeigen einen besonnenen Vater, der seine Gefühle analysiert: So erkennt er seine Sorge um die an der Front kämpfenden Söhne als mitbedingt durch Neid auf ihre Jugend. Er induziert keine Spannungen zwischen seinen Kindern und bietet ihnen »protektive Bedingungen« für eigenständige Entwicklungen. »Es war doch ein wertvolles Erlebnis für mich zu erfahren«, schreibt er als 72-Jähriger, »wieviel man von seinen eigenen Kindern haben kann« (Schröter 2010, S. 377).

Für die Geschwisterbeziehungen von Mathilde, Martin, Oliver, Ernst, Sophie und Anna Freud untereinander ergibt sich aus dieser Korrespondenz kein deutliches Bild. Die Eltern regen die gegenseitige Kommunikation intensiv an, und die Geschwister stehen besonders zur Zeit des Ersten Weltkriegs – im Alter zwischen 25 und 30 Jahren – in engem Austausch, besuchen sich häufig, nehmen intensiv aneinander teil. Berichte wie dieser der 17-jährigen Sophie von 1910 zeigen ein heiteres Miteinander: »Martin dichtet Abschiedsgedichte, Oli [Oliver] stellt mit Begeisterung Fahrpläne zusammen […]. Martin ist sehr liebenswürdig und die beiden andern Buben [Oliver und Ernst] auch sehr nett. Wir wollten sehr gerne, daß Mama telegraphiert, ›Kinder ausnahmslos reizend‹, aber Mama wollte doch nicht« (Schröter 2010, S. 465).

Freuds Geschwistererfahrungen

Sigmund Freuds Erfahrungen mit den eigenen Geschwistern gleichen dagegen einer Katastrophe. Seine Mutter Amalie heiratete knapp 20-jährig einen 40-jährigen Witwer (in dessen dritter Ehe), wahrscheinlich führte die Schwangerschaft mit Sigmund (dem ersten von acht Kindern) zur Heirat. Für die Mutter war das ein Schock: Sie musste weg aus Wien, weg von ihrer Familie, besonders von ihrem Lieblingsbruder Julius, in eine Provinzstadt, in eine Einzimmerwohnung, umgeben von zwei mit ihr gleichaltrigen Brüdern ihres Mannes. So war sie unglücklich schon vor und dann nach Sigmunds Geburt, besonders wegen der schweren Erkrankung ihres Bruders Julius.

Sie wurde gleich wieder schwanger. Vieles spricht dafür, dass sie für Sigmund eine emotional abwesende, »tote« Mutter war. Sigmund war wahrscheinlich 15 Monate alt, als sein Bruder Julius zur Welt kam, für die Mutter ein Ersatz(kind) für ihren Bruder Julius. Dieser Bruder starb 1858, einen Monat vor dem Tod von Sigmunds Bruder Julius, Sigmund war damals 23 Monate alt. Die Mutter war in dieser Zeit nicht fähig, sich Sigmund liebevoll zuzuwenden. Möglich ist, dass Sigmund jetzt für die Mutter in die Rolle eines Ersatzkinds für den doppelten Verlust des Bruders Julius und des Sohns Julius geriet (Maciejewski 2006). Das Ganze stellt für Sigmund eine komplexe traumatische Erfahrung in seiner Beziehung zur Mutter wie zum früh verstorbenen Bruder dar.

Später äußerte Freud, dass er bei Julius’ Geburt »böse Wünsche und echte Kindereifersucht« empfand und dass der Tod des Brüderchens Selbstvorwürfe in ihm wachrief (weil er ihm bei der Ankunft den Tod gewünscht habe). Freuds Biografen sind sich einig darin, er habe lebenslang unter dieser »Überlebensschuld, im Besitz des Feldes geblieben zu sein« (Freud 1986, S. 288f.) gelitten, dem »Trauma Julius«.

Sigmund wuchs mit dem ein Jahr älteren Neffen Johann und der ein Jahr jüngeren Nichte Pauline wie mit Geschwistern auf. »Dieser Neffe und dieser jüngere Bruder bestimmen nun das Neurotische, aber auch das Intensive an allen meinen Freundschaften« (1897 an Fließ; Freud 1986, S. 289). Drei Jahre später hat Freud den Bruder »verschwinden« lassen, jetzt ist nur noch vom Neffen Johann die Rede: »Alle meine Freunde sind in gewissem Sinne Inkarnationen dieser ersten Gestalt« (Freud 1900). Die Tilgung des jüngeren Bruders ist eine schwerwiegende Auslassung, immerhin handelt es sich um eine mitstrukturierende Rolle für Freuds spätere Freundschaften.

Es bleibt nicht bei dieser einen Auslassung. Freud hat den Bruder beziehungsweise das Trauma seiner Überlebens»schuld« immer wieder ausgespart und in seinem gesamten Werk nie direkt thematisiert, teils in unbewusster Selbsttäuschung, teils in absichtlicher Verschleierung. Dass Freud der Liebling seiner Mutter gewesen sei, ist die Legende vom »goldenen Sigi«, von ihm selbst inszeniert (und vielleicht im Zusammenspiel beidseitiger Abwehr auch von der Mutter): »Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten wirklich den Erfolg nach sich zieht« (Freud 1917, S. 266). Diese Äußerung lässt sich vor allem autosuggestiv lesen, als Abwehr seiner ambivalenten Beziehung zur Mutter und als »Verdrängung« seines Bruders.

Für seine fünf jüngeren Schwestern soll Sigmund eine Art väterlicher Bruder gewesen sein. Die nächstjüngere Schwester Anna klagte später über Sigmunds Dominanz: Während die Schwestern Kerzen benutzen mussten, hatte er eine Petroleumlampe; er aß allein in seinem Zimmer; er setzte durch, dass das Klavier abgeschafft wurde, weil ihn Annas Üben störte, und so entfiel der Klavierunterricht für seine Schwestern. Der zehn Jahre jüngere Bruder Alexander stellte Sigmunds Autorität nie infrage. Beide reisten viel zusammen, Alexander trug das Gepäck des älteren Bruders. Auf dieser Basis verband gegenseitige Zuneigung die Brüder lebenslang.

Freuds Geschwistererfahrungen lassen sich also in etwa so zusammenfassen: In der frühen Kindheit sind sie mehrfach traumatisch mit einem jüngeren Bruder und einer selbst traumatisierten Mutter; später die Dominanz über fünf jüngere Schwestern, die ihn bewunderten; keine Erfahrung mit dem Rivalisieren zwischen Brüdern. Er wollte sich immer als privilegierter Ältester sehen, fühlte sich aber in dieser Position wohl lebenslang durch sein Julius-Trauma bedroht.

Geschwister in Freuds Theorie

Sigmund Freuds Behandlung der Geschwisterthematik in seiner psychoanalytischen Theorie spiegelt seine autobiografische Geschwistererfahrung wider. Es ist eine traumatische Erfahrung und daraus leitet sich auch seine negative Sicht der Geschwisterdynamik ab. Aus seiner Erfahrung in der Selbstanalyse, dass er – anders als bei anderen Konflikten, die er mit diesem Instrument lösen konnte – seinem Geschwisterkomplex nicht gewachsen war und dieser ihn immer wieder einholte, schreibt er Geschwisterbeziehungen generell eine dunkle, bedrohliche Seite zu. Er hält hier irrtümlich die destruktive Dynamik seiner traumatischen Erfahrung für eine allgemeingültige. Da es ihm nicht gelingt, diese für ihn bedrohliche Dynamik zu bewältigen, retuschiert er sie aus seiner Biografie weg und verzichtet für sein theoretisches Konzept auf die Geschwistererfahrung, mit dem Ergebnis einer alleinigen vertikalen Eltern-Kind-Achse, einem familiendynamischen Torso.

Eingestreut an verschiedenen Stellen seines Werkes charakterisiert Freud Geschwisterbeziehungen wie folgt:

»Seine Geschwister liebt das kleine Kind nicht notwendigerweise, oft offenkundig nicht. Es ist unzweifelhaft, daß es in ihnen seine Konkurrenten haßt, und es ist bekannt, wie häufig diese Einstellung durch lange Jahre bis zur Zeit der Reife, ja noch späterhin ohne Unterbrechung anhält. Sie wird ja häufig genug durch eine zärtlichere abgelöst oder sagen wir lieber: überlagert, aber die feindselige scheint sehr regelmäßig die frühere zu sein. Am leichtesten kann man sie an Kindern von 2 ½ bis 4 und 5 Jahren beobachten, wenn ein neues Geschwisterchen dazukommt« (Freud 1916, S. 208f.).

Erwachsene tragen von früher her böse Wünsche gegen ihre Geschwister in ihrem Unbewussten, die sich in Träumen realisieren können: »[…] wenn man den Wunsch nach dem Tode der Geschwister hinter einem Traume aufdeckt, braucht man ihn selten rätselhaft zu finden und weist sein Vorbild mühelos im frühen Kindesalter […] nach« (Freud 1916, S. 209).

Bei genauerem Hinschauen fällt auf, wie Freud sich windet, solche schwerwiegenden Aussagen zu belegen: Er finde es hochinteressant, kleine Kinder in ihrem Verhalten zu jüngeren Geschwistern zu beobachten. Es folgt die verblüffende Mitteilung: »Bei meinen eigenen Kindern, die einander rasch folgten, habe ich die Gelegenheit zu solchen Beobachtungen versäumt« (Freud 1900, S. 257). Er hole sie bei seinen Neffen und Nichten nach. Hier bringt Freud aber nur harmlose Beispiele.

Bleiben als Belege für seine negative Sicht die Träume seiner Patienten – bei keiner seiner Patientinnen habe er einen Traum vom Tod der Geschwister vermisst! Die englische Analytikerin Prophecy Coles meint dazu lakonisch, sie halte nichts davon, dass unsere psychische Existenz von Destruktivität bestimmt sei, und sie kenne kein Baby, auf das eine Objektfeindlichkeit dieser Art zutreffe. Eine Deformation der Fähigkeit zu lieben sei eine Schicksalserfahrung, die die Leute in unsere Praxen führe (Coles 2003; Sohni 1994).

Der offensichtliche Widerspruch zwischen Freuds negativen Aussagen in seinem Werk sowie seinen eigenen positiven Erfahrungen bei seinen Kindern und (später) Enkeln, wie sie sich in den Briefen an seine Kinder darstellen, bleibt unerklärbar. Hat er wirklich angenommen, die eigenen Kinder hatten zuerst ein feindseliges Verhältnis zueinander und sie wünschten in ihren Erwachsenenträumen ihren Geschwistern den Tod? Kaum glaubhaft. So bleibt zum Beleg nur einer: nämlich er selbst mit seiner traumatischen Erfahrung und ihren späteren Auswirkungen. AberseinVersuch, mit der unerträglichen Situation fertig zu werden, bestand in Schweigen.

Nur ein Querverweis sei hier die Anmerkung, dass auch in psychoanalytischen Institutionen der Anfangszeit so etwas wie »Geschwisterkonflikte« auftraten, aber nie als solche wahrgenommen wurden. Im Umgang der Analytikerinnen und Analytiker der ersten Generation und bei den frühen Versuchen, sich institutionell zu organisieren, kam es wie in jeder vergleichbaren Situation zu Konflikten. Diese Konflikte entstanden auf der horizontalen Achse einer Gruppe und einer Generation. Es sind Geschwisterkämpfe, Bruder- und Schwesternkämpfe. Und genau das wurde für die Beteiligten zu einer besonderen Herausforderung (siehe etwa Ferenczi 1908, S. 52; Freud/Jung 1974, S. 584; Schröter 1995; Maciejewski 2006; vgl. ausführlicher Sohni 2011).

Die Interpersonalität der Persönlichkeit

Unser heutiges Verständnis menschlicher Persönlichkeit und Identität ist ein interpersonales. Es geht von einer »Entwicklung miteinander« aus, in der Individualisierung und Beziehungsfähigkeit parallel entstehen. Diese Sichtweise bietet auch den Rahmen für eine Konzeptualisierung der Geschwisterbeziehungen und ihrer tieferen Dynamik.

Der Geschwisterstatus bedeutet eine eigenständige Lebenserfahrung. Unter den Herausforderungen psychosozialer Integration verändern sich Geschwisterbeziehungen während des gesamten Lebens. In der geschwisterlichen Bezogenheit gestaltet sich eine horizontale Beziehungserfahrung im vertikalen Zusammenspiel mit den Eltern.

Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und Familientheorie bieten Instrumente, mit denen Geschwisterbeziehungen in ihrer Komplexität darstellbar sind. Die Psychodynamik der Geschwisterbeziehungen umfasst zugleich die individuelle Entwicklung des einzelnen Kindes, die Gesamtfamilie als interpersonale Einheit, das vertikale Zusammenspiel zwischen Eltern und Kindern sowie das horizontale Zusammenspiel der Geschwister untereinander.

In diesem komplexen Zusammenspiel können neben den gesunden Zügen auch Muster gestörter Beziehungen auftreten. Therapeutisch geht es also darum, den Blick zu schärfen für die Unterscheidung pathogener und gesunder Abläufe. Es gilt, die Bedingungen zu klären, unter denen sich Geschwisterbeziehungen in ihrem konstruktiven Potenzial entwickeln. Neben dem Umgang mit gestörten Geschwisterbeziehungen und ihren teilweise dramatischen Folgen geht es in der Psychotherapie auch darum, diese Beziehungen als Ressourcen zu sehen und zu nutzen.

Im psychoanalytischen Diskurs existieren viele Begriffe zugestörtenBeziehungen, wir verfügen aber bisher nicht über einen entsprechenden Begriff fürgesundeEntwicklungen – abgesehen von so schwerfälligen wie »Salutogenese« oder verwaschenen wie »Anpassung«. Daher spreche ich vonförderlichenBedingungen, konstruktiven oder einfach lebendigen Geschwisterbeziehungen. Mein Anliegen ist, dieses Geschwisterbild in unser Bewusstsein zu rücken, zumal es nach meiner Erfahrung jungen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten heute weniger Mühe macht als älteren, sich in ihrem Beziehungsdenken die verschiedenen Ebenen gleichzeitig und in ihren multiplen Wechselwirkungen vorzustellen.

Am wenigsten geläufig ist uns vielleicht die Vorstellung, dass sich Geschwister nicht nur in ihrer jeweiligen individuellen Entwicklung unterstützen, sondern in ihrer Identität und Persönlichkeit durch gemeinsame Beziehungserfahrungen verbunden bleiben. Im psychosozialen Kontext interessiert heute die Frage, inwieweit Geschwisterbeziehungen nicht nur die längsten unseres Lebens sind, sondern zu einer wichtigen Ressource werden können.

Instrumente zur Erfassung der Geschwisterdynamik

Unser heutiges Verständnis der Persönlichkeitsentwicklung ist schrittweise entstanden. Lange gab es »das Kind«, dann eine »Mutter-Kind-Dyade«, es folgt eine »Triade von Mutter-Vater-Kind« und schließlich eine Familie als »Beziehungssystem«. Wohlgemerkt: Irrtümlich verstanden die Forscher diesen Prozess zunächst als Schrittfolge der psychischen Entwicklung selbst, während er tatsächlich nur Schritte einer zunehmend komplexer werdenden Theoriebildung kennzeichnet. Die nachfolgend skizzierten Ansätze bereiten sozusagen den Boden vor, bis schließlich die Geschwister explizit in die individuelle Persönlichkeitsentwicklung einbezogen werden.

Das Freud’sche Strukturmodell der Persönlichkeitsentwicklung ist auf die »ödipale« Entwicklung hin zentriert. Der »Ödipuskonflikt« umfasst die sexuellen und aggressiven Triebwünsche, die »das Kind« gegenüber seinen Eltern empfindet (im Extremfall »will« der kleine Junge seine Mutter heiraten und seinen Konkurrenten, den Vater, beseitigen). Einseitig geht es um die Fantasien des Kindes im Hinblick auf seine Eltern, und zwar innerhalb eines vertikalen Beziehungsdreiecks. Ungeachtet der realen Beziehungen des Kindes soll sich in einem intrapsychischen Prozess die psychische Struktur bilden. Wo bleiben da die Geschwister?

Die heute tonangebenden Objektbeziehungstheorien erweitern den psychischen Entwicklungsprozess zu einem interpersonalen. Erfahrungen, die das Selbst mit anderen Menschen – auch seinen frühen Bezugspersonen – sammelt, werden internalisiert und führen zum Aufbau von Objektrepräsentanzen (permanenten inneren Strukturen). Das Selbst zeigt also einen interpersonalen Charakter. Es entstehen kognitiv-affektive Schemata des Selbst und des Anderen (Objekts), die das spätere Verhalten regulieren. In dieses Modell können Geschwister eingefügt werden. Die Objektbeziehungstheorien kennen allerdings bisher nur Mutter- und Vaterobjekt. Die Entstehung einer Geschwisterobjektrepräsentanz aus der Geschwisterdynamik haben sie noch nicht konzipiert.

Objekttheoretiker wie William R. Fairbairn, Michael Balint und Donald W. Winnicott lenkten die Aufmerksamkeit von der Struktur auf den Inhalt. Fairbairn betonte das Bedürfnis nach dem Anderen, Balint nannte es »primäre Liebe«. Mit diesem Konstrukt wird Beziehung etwas Substanzielles, ist nicht mehr nur funktional. Und ein Kind wird darin bei seiner Entwicklung selbst aktiver Partner. Alfred Adler hatte schon (kontrovers zu Freud) die Auffassung vertreten, das Kind komme nicht als Egoist zur Welt, sondern mit einem angeborenen »Gemeinschaftsgefühl« (Adler 1933). Auch diese Theorie erscheint wie ein erster Schritt zu einem Verständnis der Geschwisterdynamik.

Psychoanalytische Theorien lassen oft den Eindruck entstehen, die Entwicklung sei ein progressiver Prozess hin zur Individuation. Das Getrenntsein von anderen sei das erstrebenswerte Ziel. Darin äußert sich abendländisch-westliches Denken, in dem Autonomie mehr gilt als soziale Verbundenheit, die häufig als »Abhängigkeit« missverstanden wird. Meist unbemerkt wird so ein kulturspezifischer Inhalt verallgemeinert. Die japanische Kultur beispielsweise begreift das Selbst anders, nämlich als ein relationales und abhängiges; in afrikanischen Kulturen korrespondiert das Selbst nicht mit einem anderen Individuum, sondern mit einer Gruppe.

Kritiker des einseitig autonomen Selbst westlicher Denkart fordern schon lange ein Konzept der »we-ness« (Wir-heit). Eine in der Psychoanalyse bisher fehlende »Wir«-Psychologie neben der Selbst-Psychologie würde einen grundlegenden Wandel in unserer Weltsicht bedeuten. Sie könnte es auch erleichtern, das Zusammenspiel von Geschwistern zu beschreiben. Shihui Han und Georg Northoff (2009) verbinden in ihrem neuen Ansatz Psychoanalyse und Hirnforschung. Danach arbeitet das Gehirn als neuronales Kontinuum zwischen dem Ich und dem Wir. »Ich-bezogene« westliche und »wir-bezogene« chinesische Versuchspersonen zeigen bei denselben Fragestellungen entsprechend unterschiedliche Aktivitäten der beteiligten Hirnareale. Die ich- und wir-bezogenen Hirnfunktionen arbeiten also kulturspezifisch.

IminterpersonalenAnsatz der Psychoanalyse (Sullivan 1980; Mitchell 1988) wird psychische Entwicklung so verstanden, dass Erfahrungen des Selbst mit »dem Anderen« verinnerlicht werden. Feministische Psychoanalytikerinnen gewichten dabei die intersubjektive Dimension stärker, betonen also eine horizontale Sicht: Jessica Benjamin (1990) interessiert sich fürwechselseitig gleichwertigeBeziehungen. Die Psychoanalyse soll aus einer »Subjekt-Objekt«-Disziplin zu einer »Subjekt-Subjekt«-Disziplin werden.

Analytikerinnen wie Jessica Benjamin (1990) oder Margarete Mitscherlich (1990) ersetzen das vertikale ödipale Modell (Kind und Eltern) durch das horizontale Modell derGeschwisterlichkeit. Sie erinnern an die Faszination, die von diesem horizontalen Topos vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins beginnende 20. Jahrhundert ausging. Georg F.W. Hegel (1980) lieferte dazu den philosophischen Entwurf, für ihn stellte Geschwisterlichkeit den Prototyp wechselseitiger Beziehung dar. Dieser Ansatz liefert unter den psychoanalytischen den wichtigsten Impuls, um die Geschwisterdynamik in den Blick zu bekommen.

Im deutschsprachigen Raum führt Thea Bauriedl (1980, 1994) die Psychodynamik wechselseitiger Beziehungen weiter aus. Nicht Individuation oder Kontakt sind Ziel menschlicher Entwicklung, sondern diese vollzieht sich als eine individuelle und als eine soziale. Die Fähigkeit zur Abgrenzung und die Fähigkeit zur Kontaktaufnahme sind aufeinander bezogen. Es geht prinzipiell nicht um einen phasenhaften, sondern um einen dialektischen Vorgang. So entstehen »Ich« und »Anderer« gleichzeitig. Eine Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit ist immer wieder neu zu erarbeiten.

Dastriadische Modell, sich die psychische Entwicklung eines Menschen als interpersonalen Beziehungsprozess vorzustellen, ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit von entwicklungspsychologischer Beobachtung und psychoanalytischer Erforschung des Unbewussten. Zuerst sah man dabei Mutter, Vater undeinKind im Zusammenspiel vor sich. Das Kind wird einerseits in die imaginäre (von seinen Eltern repräsentierte) und andererseits in eine interaktionale Triade hineingeboren, in die es selbst aktiv eingreift.

Die imaginäre Triade beginnt mit den bewussten und unbewussten Fantasien der Eltern von ihrem Kind, und zwar noch vor seiner Geburt und womöglich schon vor seiner Zeugung. Schon hier kann die Geschwisterdynamik mitspielen: In der unbewussten Erwartung kann das eigene Kind für die Mutter und den Vater anstelle eines eigenen Geschwisters stehen. Horst-Eberhard Richter (1963) nannte diese elterliche Projektion »das Kind als Substitut für eine Geschwisterfigur«. So könnte die jetzige Elternfigur früher dem Bruder oder der Schwester an Schönheit, Klugheit, Selbstsicherheit unterlegen gewesen sein und muss jetzt unbewusst befürchten, durch das Kind die gleiche narzisstische Kränkung zu erfahren.

Während Freud »ödipale« Fantasien nur vom Kind her in Richtung auf seine Eltern beschrieb, ergänzte Richter die Gegenrichtung im vertikalen Beziehungsdreieck mit seinem Konzept unbewusster Fantasien der Eltern in Bezug auf ihr Kind. Solche unbewussten Geschwisterkonflikte bei den Eltern können sich vor der Geburt ihres ersten Kindes aktualisieren und wirken sich möglicherweise in Schwangerschaftsunterbrechungen, dem bewussten Verzicht auf Kinder oder als unerfüllter Kinderwunsch aus.

In der Psychoanalyse einer älteren Patientin spielten neben ihren Eltern auch ihre vier Geschwister wichtige Rollen, darunter die jüngste Schwester. Die Patientin erlebte sie von klein auf als »Gegenstück« zu sich selbst. Aus ihrer Sicht hatte die Schwester bei den Eltern einen »privilegierten« Platz, »ohne Gegenleistung« war sie den Eltern nahe, während sie selbst sich einen Platz bei den Eltern nur erkaufen konnte, indem sie ihre eigenen Wünsche verleugnete und auf die emotionalen Bedürfnisse des Vaters und der Mutter ersatzpartnerschaftlich einging. Mehrere Schwangerschaftsabbrüche und die Kinderlosigkeit der Patientin wurden im Therapieverlauf als auf die Elternundauf diese Schwester bezogen erkannt.

Die Ersatzpartnerschaft zu den Eltern und der Neid auf die Schwester lösten sich in der Therapie gleichzeitig auf, und zu den Schwangerschaftsabbrüchen stellte sich Trauer ein. Im Austausch mit der Schwester überraschte diese die Patientin mit ihrer Version, dass sie sich gar nicht als privilegiert erlebt habe, sondern ausgeschlossen von der intimen Vertrautheit der Patientin mit den Eltern und ausgeschlossen vom »Geschwisterquartett«. Die Patientin konnte an der daraus entstandenen Haltung ihrer Schwester – »Ich habe keine Geschwister« – nichts ändern, konnte sich aber in die Version der Schwester einfühlen. Sie musste nicht mehr agieren, war aber traurig darüber, dass erst einmal keine Nähe zu ihr möglich wurde.

Schon ein wenige Monate alter Säugling nimmt mit seinem Vater und seiner Mutter Kontakt auf, ohne dass einer der beiden ausgeschlossen würde, sofern diese Eltern triadische Beziehungsmuster (als innere Szenen) mitbringen (von Klitzing et al. 1999). Dieser Befund ist zugleich ein Entwicklungsprototyp, denn die triadische Beziehungsfähigkeit ist eine potenzielle