Gesichter der Furcht -  - E-Book

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Beschreibung

Egal ob im Schlaf, auf dem Heimweg oder im Job — im 1. Kurzgeschichtenband von Chris alias CreepyPastaPunch lauert der Horror hinter jeder Ecke. In seinen 15 fiktiven und bisher unveröffentlichten Storys kommen alle Fans von Gruselliteratur und True Crime auf die richtige Dosis Gänsehaut. Zum Fürchten, Rätseln und Erschrecken — für alle, die vom Internet-Hype um Creepypastas nicht genug bekommen können. Mit sprechenden, schwarz-weißen Illustrationen im Horror-Manga-Stil.

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Seitenzahl: 280

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Impressum

Gesichter der Furcht

1. Auflage

© 2023 Community Editions GmbH

Weyerstraße 88-90

50676 Köln

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger aller Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten. Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Die Inhalte dieses Buches sind von Autor und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung von Autor und Verlag für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Text: © Christoph Schmuck

Illustrationen: © Dominik Jell

Fotos: © Christoph Schmuck

Layout, Design & Satz: Loreen Lampe

Projektleitung: Hanna Kirsch

Gesetzt aus der Le Monde Livre Classicvon Adobe Fonts.

Gesamtherstellung: Community Editions GmbH

ISBN 978-3-96096-325-7

www.community-editions.de

SCHLAFPARALYSE

Als Kind hatte ich vor vielen Dingen panische Angst. Mit zwei Jahren fürchtete ich mich vorm Weihnachtsmann, zumindest wird meine Mutter nicht müde, das zu erzählen. Ein paar Jahre später fürchtete ich mich vor einer Szene aus Spongebob Schwammkopf, in der man den Vampir Nosferatu sehen konnte, den ich für eine reale Gestalt hielt. Geister und andere Kreaturen, die in den dunklen Ecken meines Zimmers darauf warteten, dass ich einschlief, sorgten dafür, dass ich so manche Nacht ins Bett meiner Eltern krabbelte. Von Außerirdischen, die mich entführen wollten, ganz zu schweigen.

Diese Ängste waren nicht ungewöhnlich für ein Kind. Man fürchtet sich in dem Alter nun einmal vor allem, was merkwürdig ist, was einem ein Gefühl von Unsicherheit und Hilflosigkeit gibt, doch normalerweise verschwinden diese Ängste irgendwann, wenn man älter wird und sich der Verstand ausprägt. Wir lernen, hinter die Fassade zu schauen, und verstehen, dass Wesen wie Geister, Monster und Co. nicht real sind und uns daher auch keinen körperlichen Schaden zufügen können.

Natürlich erschreckt man sich auch im Erwachsenenalter noch bei Horrorfilmen und Jumpscares, doch mit den kindlichen Ängsten ist das nicht mehr vergleichbar.

Die Logik siegt, und auch ich war jahrelang fest davon überzeugt, dass übernatürliche Dinge nicht existieren. Bis zu einem schrecklichen Vorfall vor rund zwei Monaten.

Es war ein Tag wie jeder andere, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich tagsüber etwas Spannendes unternommen hätte. Ich weiß nur noch, dass ich den Abend damit verbracht hatte, meiner liebsten Fußballmannschaft biertrinkend dabei zuzusehen, wie sie zum dritten Mal in Folge verlor.

Entnervt und müde trottete ich nach dem Spiel in mein Schlafzimmer. Ich zog mir die Klamotten vom Körper und warf sie einfach auf den Fußboden, so wie ich es jeden Abend machte, da ich mir irgendwie angewöhnt hatte, die Kleider erst am nächsten Morgen in den Korb mit der schmutzigen Wäsche zu werfen, der sich in meinem Badezimmer befand.

Ich erinnere mich noch, dass ich meine Tür schloss und das Schlafzimmerfenster kippte. Es war eine milde Sommernacht und der Vollmond leuchtete überraschend hell durch mein Fenster. Ein schöner Anblick, der mich allerdings nicht sonderlich von der deprimierenden Niederlage meines Lieblingsvereins ablenkte.

Und so legte ich mich, nur mit einer Unterhose bekleidet, in mein Bett, schloss die Augen und schlief ein.

Es war, als hätte ich nur kurz die Augen geschlossen, als ich sie mit einem Mal wieder aufriss. Irgendetwas war seltsam. Ich lag auf dem Rücken, genau so, wie ich eingeschlafen war, mein Kopf durch zwei Kissen etwas erhöht, und ich blickte starr nach vorne zu meinem Kleiderschrank.

Das eben noch helle Licht des Mondes war schwächer geworden. War er weitergewandert oder bedeckten Wolken den Himmel? Ich versuchte, meinen Kopf zur Seite zu drehen, um aus dem Fenster zu sehen und die Situation besser einzuschätzen, aber es war, als hätte ich vergessen, wie man den Kopf bewegt. Und nicht nur das: Als ich aufstehen wollte, bemerkte ich, dass auch der Rest meines Körpers wie gelähmt war. Ich hatte jegliche Kontrolle über ihn verloren, unfähig, mehr zu tun, als meinen Blick panisch durch den Raum wandern zu lassen. Ich spürte, wie meine Atmung schneller wurde, konnte fühlen, wie mein Herz in der Brust immer stärker pochte und die Schläge so heftig wurden, dass ich das Blut durch meine Ohren rauschen hörte.

Meine Angst wurde immer größer, Panik machte sich in mir breit, dann zog etwas meine Aufmerksamkeit auf sich.

In der Ecke meines Zimmers war jemand. Oder besser: etwas.

In dem gut einen Meter breiten Spalt zwischen meinem Kleiderschrank und der Wand sah ich eine Bewegung. Mein Blick wurde starr, meine Sicht passte sich den Lichtverhältnissen an und mir bot sich der schemenhafte Anblick von etwas Übernatürlichem.

Das Ding bewegte sich leicht wankend vor und zurück. Auf der Höhe, wo bei einem Menschen der Kopf zu erwarten gewesen wäre, sah ich allerdings nur einen riesigen Brustkorb, der sich bei jedem Atemzug aufplusterte und wieder in sich zusammensank.

Das Grauen wuchs noch einmal sprunghaft, als ich weiter oben den Kopf der Kreatur erblickte. Durch die Schwärze hindurch sahen mich zwei riesige Augen an. Und wenn ich riesig sage, dann meine ich auch riesig. Denn die ledrig gräuliche Fratze dieses Wesens bestand nur aus seinen Augen und einem breiten Mund, der sich im Takt seiner Atmung öffnete und schloss. Weitere Merkmale eines menschlichen Gesichts konnte ich nicht entdecken, weder Haare noch Ohren oder eine Nase zeichneten sich in der Dunkelheit ab.

Da lag ich also, starrte diesem nächtlichen Besucher direkt in die unmenschlichen, gänzlich weißen Augen, und mein Herz, das eben noch wie verrückt das Blut durch meinen Körper gepumpt hatte, fühlte sich nun an, als wäre es für einen Moment stehen geblieben.

Noch immer konnte ich mich absolut nicht bewegen, doch selbst wenn, ich hätte nicht gewusst, was ich hätte tun sollen.

Vermutlich waren nur einige Sekunden verstrichen, aber mir kam es vor wie eine Ewigkeit. So eine Panik hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht verspürt!

Irgendwann schaffte ich es, meiner Angst zum Trotz, die Augen zu schließen. In diesem Moment fühlte ich mich wieder wie ein Kind, das nachts ein gruseliges Knacken alter Holztüren oder das unheilvolle Pfeifen des Windes hört und krampfhaft versucht, mit zusammengekniffenen Augen einzuschlafen. Am liebsten hätte ich mir wie damals die Decke über den Kopf gezogen, doch noch immer konnte ich mich nicht rühren. Ich redete mir ein, dass alles nur Einbildung war, dass garantiert nichts und niemand in meinem Zimmer stand, dass ich in Sicherheit und die Lähmung ein Streich meiner Psyche war, und obwohl ich nie in meinem Leben mehr Angst verspürt hatte, gelang es mir nach einer Ewigkeit, endlich einzuschlafen.

Am nächsten Morgen wachte ich auf, die Sonne strahlte in mein Zimmer und angenehm warme Luft drang durch das gekippte Fenster herein und wehte durch meine Gardinen. Voller Schrecken dachte ich an das in der Nacht Erlebte zurück. Lag ich noch immer auf dem Rücken? Nein, in Seitenlage. Ich versuchte, meinen Arm zu heben. Es klappte. Ich konnte mich wieder bewegen, zum Glück.

Für einige Sekunden lag ich still da, ich hatte Angst, mich zurück auf den Rücken zu drehen und in die Ecke zu gucken, in der dieses Ding gestanden hatte. Tief atmete ich ein und aus. Irgendwann hatte ich genug Mut geschöpft, ich drehte mich um und … da war nichts. Ich war allein.

Den ganzen Tag über versuchte ich, die Erlebnisse als einen Albtraum abzustempeln, doch egal wie oft ich es mir auch einredete, ich glaubte einfach nicht daran. Es hatte sich so real angefühlt.

Da mir diese Situation keine Ruhe ließ, googelte ich an meinem Handy nach Erklärungen. Ich hatte bereits einige Suchwörter eingegeben, doch die Ergebnisse halfen mir nicht weiter. Erst als ich „nach Aufwachen nicht bewegen können“ eintippte, stieß ich auf ein Phänomen, von dem ich bis dato noch nichts gehört hatte: Schlafparalyse, ein Zustand, bei dem der Betroffene aus der REM-Schlafphase erwacht, aber der Körper gelähmt bleibt. Eigentlich ist das ein Mechanismus des Körpers, der nächtliche Stürze aus dem Bett verhindert, indem er dafür sorgt, dass man beim Träumen seine Körperteile nicht bewegt.

Das erklärte meine Bewegungslosigkeit, doch nicht diese merkwürdige Kreatur in der Ecke meines Schlafzimmers. Eine Antwort hierauf fand ich erst, als ich auf Foreneinträge stieß, bei denen Menschen sich über ihre eigenen Schlafparalysen austauschten. Und sie beschrieben ähnliche Vorkommnisse! Auch sie sahen verstörende Wesen oder gruselige Menschen, die nachts in ihren Zimmern standen. Manche sprachen von unheimlichen Frauen, die an ihren Bettenden auftauchten, von haarigen Bestien, die sich unter den Betten versteckten, kleinen Dämonen, die auf ihnen saßen und das Gefühl hervorriefen, sie würden ersticken. Mit meiner Erfahrung war ich also nicht allein, doch die Frage, warum diese Kreaturen auftauchten, war wohl nicht so einfach zu erklären.

Grundsätzlich gab es zwei Theorien. Die erste handelte davon, dass die Bewegungslosigkeit im Menschen eine Panikattacke hervorruft. Zusammen mit der angeregten Fantasie des vorausgegangenen REM-Schlafzustandes entstehen Halluzinationen. Demnach sind die Wesen also nicht echt, sondern nur Ausgeburten unserer Fantasie, sozusagen Albträume im wachen Zustand.

Doch neben dieser recht wissenschaftlich klingenden These gab es auch eine andere Erklärung, die vor allem von Betroffenen verbreitet wurde. Einige behaupteten, es gäbe unerklärbare Wesen, die in unserer Nähe existieren, aber von uns Menschen nur in Phasen absoluter Hilflosigkeit wahrgenommen werden können. Kinder wären angeblich in der Lage, diese Kreaturen häufiger zu sehen, da sie selbst diese Art der Hilflosigkeit öfter verspürten.

Während ich diese Erklärungen so las, wurde mir mulmig zumute, ich klammerte mich an die Hoffnung, dass alles nur Einbildung war, und stempelte den zweiten Erklärungsversuch als Schwachsinn ab. Besonders erschreckend fand ich aber, dass manche Menschen wohl chronisch von dieser Paralyse betroffen sind. Während die meisten vielleicht ein oder zwei Mal im Leben so eine Paralyse erleben müssen, gibt es andere, die mehrfach im Monat damit zu kämpfen haben.

In dem Forum fand ich auch einige Tipps, wie man sich angeblich vor diesem Zustand schützen kann. Kein Alkohol vor dem Schlafen, die Zimmertemperatur nicht zu niedrig und falls doch eine Schlafparalyse auftritt, zunächst versuchen, einen einzelnen Finger zu bewegen, und sobald dies gelingt, sich Stück für Stück vorarbeiten, bis man die Paralyse überwindet.

Ich hatte mich zunächst gefreut, eine Art Rettungsanleitung gefunden zu haben, nur leider hatten Dutzende Menschen daruntergeschrieben, dass ihnen diese Tipps nicht halfen.

Je länger ich mich durch die Foren klickte, desto unruhiger und nervöser wurde ich. Als ich bemerkte, wie meine Handflächen zu schwitzen begannen, entschied ich mich, den Browser zu schließen und einfach das Beste zu hoffen. 27 Jahre lang hatte ich keine Schlafparalyse gehabt, wieso sollte sie also nun von heute auf morgen chronisch werden?

So gut es ging, versuchte ich, alles zu verdrängen, und ging meinem normalen Alltag nach. Doch um ehrlich zu sein, wie soll man den Anblick eines solchen Monsters vergessen?

Als die Nacht hereinbrach und ich mich in mein Bett legte, war die Furcht vor einer Rückkehr dieser Kreatur unfassbar groß. Immer wieder huschte mein Blick an die Stelle, an der sie in der vorherigen Nacht gestanden hatte, und immer wieder stellte ich erleichtert fest, dass sie leer war. Und trotzdem, irgendetwas in mir war sich sicher, dass dieses Ding, ob real oder Halluzination, auch in dieser Nacht wiederkommen würde.

Doch meine Vorahnung bewahrheitete sich nicht. Ich erwachte erst am nächsten Morgen, vollkommen beweglich und ohne übernatürlichen Besucher in meinem Zimmer.

Nachdem auch die nächsten drei Wochen alles normal verlief, fühlte ich mich endlich sicher, dass ich die ganze Sache überstanden hatte und es nur ein einmaliges Erlebnis gewesen war.

Doch dann, ungefähr 25 Tage nach meiner ersten Paralyse, wachte ich erneut in meinem Bett auf und konnte mich nicht bewegen.

Es war genau wie beim letzten Mal, ich lag auf dem Rücken, mein Körper war so schwer wie Blei und ich konnte nur meine Augen bewegen. Mein Herz raste und hektisch sah ich hin zu der Stelle zwischen Kleiderschrank und Wand, die mir seit jener Nacht Angst machte. Trotz der miserablen Lichtverhältnisse konnte ich die schemenhafte Gestalt ausmachen, die dastand und mich schwer atmend beobachtete.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in die Dunkelheit. Die Panik drohte mich zu übermannen. Doch trotz Todesangst erinnerte ich mich an den Tipp, der mich angeblich retten sollte. Ich behielt die Kreatur im Blick – nicht, dass ich mich hätte retten können, wenn sie sich bewegt hätte –, und versuchte krampfhaft, meinen Zeigefinger anzusteuern. Das, was normalerweise unterbewusst und ohne größere Anstrengung funktionierte, kam mir in diesem Moment wie eine unlösbare Aufgabe vor. Ich strengte mich an, die Fingerbewegung zu visualisieren, versuchte, meine Muskeln im Finger zu spüren, und irgendwann, obwohl der Rest meines Körpers ans Bett gefesselt blieb, schaffte ich es, den Zeigefinger von der Matratze ein kleines Stück anzuheben.

Die Euphorie, die ich bei diesem kleinen Erfolg verspürte, hielt leider nicht allzu lange an. Bislang hatte die Kreatur nur in der Ecke gestanden, doch mein Befreiungsversuch schien sie zu verärgern. Denn kurz nachdem ich den Finger angehoben hatte, hörte ich ein tiefes Gurgeln, das nicht mal ein Tier hätte erzeugen können. Es war nicht nur unmenschlich, es war unnatürlich.

Ein fahler Arm streckte sich aus der Dunkelheit heraus. Vier lange dürre Finger mit spitzen braunen Nägeln legten sich um meine Schranktür und die Kreatur trat aus der dunklen Ecke hervor.

In dem schwachen Mondlicht zeigte sich erst das bleiche Gesicht mit dem tiefschwarzen Mund und den riesigen weißen Augen, dann richtete das Wesen seinen Blick, wenn man es denn so nennen mag, auf mich. Die Panik aus der ersten Paralyse war nichts im Vergleich zu dem, was ich fühlte, als die schreckliche Kreatur sich immer weiter aus der dunkelsten Ecke schälte und ich langsam den gesamten Körper sehen konnte. Die Gestalt war über zwei Meter groß und stieß neben schweren Atemstößen weiterhin ein bedrohliches Gurgeln und Knurren aus.

Aus Furcht schloss ich die Augen und versuchte, mich erneut auf meine Finger zu konzentrieren. Gleichzeitig rechnete ich jede Sekunde damit, dass scharfe Zähne, die ich zwar nicht gesehen hatte, aber im Maul der Bestie vermutete, mich auseinanderrissen.

Mit viel Mühe schaffte ich es, einen zweiten Finger zu bewegen. Das Gurgeln wurde lauter. Ich hob den dritten und vierten Finger meiner linken Hand an. Das Gurgeln verwandelte sich in ein schreckliches Knurren und schwere Schritte kamen langsam näher.

Als ich endlich alle Finger von der Matratze lösen konnte, war es, als hätte ich den Bann gebrochen. Ich riss meinen Arm in die Höhe und setzte mich auf. Die Paralyse war vorüber.

Am liebsten wäre ich aus dem Bett gestürzt und zur Tür gerannt, doch das war gar nicht nötig. Die Kreatur war verschwunden, zurück blieben nur mein schweißnasser Körper und das sichere Gefühl, knapp dem Tode entronnen zu sein.

Obwohl die Kreatur mich nicht physisch verletzt hatte, so hinterließ diese Nacht bei mir tiefe und bleibende seelische Narben. Ich entwickelte eine regelrechte Phobie vor dem Schlafen, meine Angst, dieses Wesen erneut zu erblicken, war so unbeschreiblich, dass ich mich dazu zwang, die Nächte durchzumachen, zumindest so lang, wie mein Körper es mir erlaubte.

Natürlich bemerkte mein Umfeld, dass etwas mit mir nicht stimmte. Freunde und Familie erwähnten häufiger, dass ich kaputt und müde wirkte, doch ich sagte einfach, dass ich gerade viel Stress auf der Arbeit hätte. Dort blieb meine verringerte Aufmerksamkeit und die dauerhafte Müdigkeit natürlich auch nicht unbemerkt. Ich schämte mich zuzugeben, dass ich nicht schlafen konnte, weil ich Angst vor einem Monster hatte. Meine Eltern würden mich für verrückt erklären und meine Freunde sich womöglich hinter meinem Rücken das Maul über mich zerreißen.

Also blieb ich so lange am Stück wach wie nur irgendwie möglich, und wenn an Schlaf kein Weg mehr vorbeiführte, stellte ich mir stets einen Wecker, der jede Stunde klingelte, einfach in der Hoffnung, dass dieses Wesen in den kurzen Schlafphasen nicht erscheinen würde.

Und obwohl ich mein Schlafpensum erfolgreich reduzierte, teilweise drei oder vier Tage am Stück wach blieb, konnte ich mein Problem damit nicht lösen. Vor einer Woche schlief ich versehentlich auf meinem Wohnzimmersofa ein, ohne mir zuvor einen Wecker gestellt zu haben. Ich hatte mich eigentlich nur kurz hingesetzt, doch ehe ich mich versah, übernahm die Müdigkeit die Kontrolle über meinen Körper. Der lange Arbeitstag hatte mir den Rest gegeben.

Auch wenn ich mich nicht daran erinnere, wie lange ich geschlafen hatte, erinnere ich mich genau an den Moment, in dem ich wach wurde. Das nun schon bekannte Gefühl der Lähmung lag auf mir, doch etwas war anders als die letzten Male: Ich konnte die Bestie nirgends entdecken.

Sofort begann ich wieder mit dem Versuch, meinen Zeigefinger in Bewegung zu bekommen. Denn auch wenn ich das Monster nicht sehen konnte, wollte ich kein Risiko eingehen und möglichst schnell diese Paralyse beenden. Mal ganz abgesehen davon, dass die Situation, sich nicht bewegen zu können, auch ohne Monster schon furchteinflößend genug ist.

Während ich noch um meine Befreiung kämpfte, ertönte plötzlich hinter mir das knarzende, quietschende Geräusch meiner alten Schlafzimmertür, die langsam aufgeschoben wurde. Nur wenige Meter hinter mir hörte ich die schweren Schritte und das laute Knurren, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass sich Todesangst noch mal steigern könnte. Doch die Kreatur nicht sehen zu können und nur zu erahnen, wie sie mir immer näher kam, hob sie in ganz neue Sphären.

Ich versuchte absolut alles, meine Hand zu bewegen, meinen Kopf zu drehen, zu schreien, irgendwas zu tun, doch nichts funktionierte. Die Panik in mir war einfach zu groß, um ruhig daran zu arbeiten, die Paralyse zu überwinden, denn egal was ich versuchte, nichts half. Das Knurren kam immer näher, bis ich es ganz klar direkt hinter mir verorten konnte. Und nicht nur das. Jetzt roch ich auch den fauligen Atem, der stoßweise über mich fegte. Dann legte das Wesen langsam seine knöcherige Hand auf meinen Kopf.

In dem Moment verabschiedete ich mich von absolut jeder Hoffnung, dieser Kreatur zu entkommen, und versuchte nicht einmal mehr, mich aus der Paralyse zu lösen. Ich wusste instinktiv, dass dies mein Ende war, der Griff um meinen Kopf wurde immer enger, und ich spürte, wie das Gesicht des Monsters sich langsam meinem Hals näherte.

Da piepte mein Handy, das auf dem Sofakissen neben mir lag. Der Bildschirm leuchtete hell und mit einem Mal war die Kreatur verschwunden und ich hatte die Kontrolle über meinen Körper zurück.

Die Push-Benachrichtigung einer Spam-E-Mail hatte mich vor meinem sicheren Ende gerettet. Man könnte meinen, ich wäre voller Panik aufgesprungen und aus dem Raum gerannt, aber nein. Ich blieb auf dem Sofa sitzen und weinte einfach nur, nicht aus Erleichterung, sondern aus purer Verzweiflung. Ich hatte den kalten Griff seiner Pranken und seinen Atem deutlich gespürt, dieses Wesen war echt und keine Halluzination, da gab es keinen Zweifel.

Erst als die ersten Sonnenstrahlen durch meine Fenster schienen, entschied ich, trotz aller Hoffnungslosigkeit nicht kampflos aufzugeben. Ich deckte mich mit den stärksten Kaffeesorten ein, die ich finden konnte, kaufte mir Energy-Drinks und einige koffeinhaltige Limonaden. Ich war wild entschlossen, wach zu bleiben, und ich schaffte es länger als je zuvor. Fünf Tage blieb ich am Stück wach. Meine Augen brannten, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und doch wollte ich nicht aufhören. Krampfhaft klammerte ich mich an die Vorstellung, nie wieder schlafen zu müssen, obwohl ich wusste, dass dies unmöglich war.

Doch am gestrigen Tag – es war der sechste schlaflose Tag in Folge–, passierte etwas Unvorhergesehenes.

Während ich an meinem PC saß und mich mit einem alten Strategiespiel vom starken Verlangen nach Erholung ablenkte, übermannte mich der Sekundenschlaf. Immer wieder sackte mein Kopf vornüber, bevor ich wieder aufwachte. Und obwohl ich in diesen kurzen Momenten nicht in eine REM-Schlafphase gelangen konnte, war ich mir sicher, dass die Kreatur, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, in meiner Nähe war. Immer wenn ich kurz die Augen schloss, glaubte ich zu hören, wie das Biest atmete, gurgelte oder sich bewegte. Ich drehte mich nach dem Aufschrecken stets panisch um, doch ich konnte es nicht sehen. Was sollte ich tun, abwarten und hoffen, irgendwie noch länger wach zu bleiben? Nein! Ich hatte mir einen anderen Ausweg überlegt: Ich wollte zu meinen Eltern fahren. Damals, als ich ein verängstigtes Kind gewesen war, hatte ihre Anwesenheit dafür gesorgt, dass mich meine Albträume nicht fangen konnten, warum sollte das heute also anders sein? Und selbst wenn ihre Anwesenheit mir nicht half, so würde ich wenigstens nicht sterben, ohne zuvor noch einmal bei ihnen gewesen zu sein und ihnen erklärt zu haben, was los ist.

Eine innere Unruhe machte sich in mir breit, ich musste mich beeilen. Ich sprang von meinem Stuhl und riss ihn dabei um. Hastig lief ich zur Garderobe, griff meine Jacke und verließ, ohne einen Blick zurückzuwerfen, meine Wohnung. Mit zittriger Hand schloss ich meine Autotür auf und startete die rund 20-minütige Fahrt zu meinem Elternhaus.

Nur leider kam ich dort niemals an.

Obwohl ich beim fluchtartigen Verlassen meiner Wohnung zunächst einen Adrenalinschub verspürt hatte, der mir das täuschende Gefühl gab, meine Müdigkeit überwunden zu haben, so war das Tief, das unweigerlich auf dieses Hoch folgte, zu viel für meinen Körper.

Es muss irgendwo auf der Landstraße passiert sein, denn meine letzte Erinnerung besteht darin, wie ich zwischen den Bäumen am Straßenrand entlangfuhr. Ich erwachte im örtlichen Krankenhaus und bemerkte, dass ich an mehrere Geräte angeschlossen war, die piepten oder andere unangenehm laute Geräusche von sich gaben.

Erst jetzt sah ich, dass meine Eltern bei mir saßen. Ich wollte mit ihnen sprechen, ich sah die Tränen, die meiner Mutter über die Wangen liefen, doch egal wie sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mich nicht mitteilen. Von einem Arzt, der zwischendurch hereinkam und mit meinen Eltern sprach, erfuhr ich, dass ich einen Autounfall gehabt hatte.

Anscheinend war ich am Steuer eingeschlafen und gegen einen Baum gefahren. Der Aufprall hatte dafür gesorgt, dass ich in ein Koma gefallen bin, aus dem ich bis jetzt nicht erwachen konnte und vielleicht auch niemals erwachen werde.

Ich konnte jedes einzelne Wort, das in meiner Nähe gesagt wurde, hören, doch meine Augen waren starr nach vorne gerichtet und nur im peripheren Blickfeld sah ich die Menschen, die um mich herumstanden.

Die gesamte Zeit verbrachte ich damit, über die Situation nachzudenken. Ich überlegte mir, was ich tun könnte, um richtig aufzuwachen. Fragte mich, ob ich überhaupt aufwachen könnte oder ob dies von nun an mein Leben war. Die Gedanken kreisten in meinem Kopf, sie wurden lauter und lauter und verängstigten mich.

Doch vor ein paar Minuten, mit einem Mal, verstummten sie.

Ich hörte etwas im Flur vor meiner Zimmertür, das meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war das mir so bekannte und gefürchtete Knurren und Gurgeln der Bestie, vor der ich so dringend hatte flüchten wollen.

Sie hatte mich gefunden, sie war mir gefolgt.

Während meine innere Stimme mich panisch anschrie, etwas zu unternehmen, lag mein Körper nur regungslos da. Mir blieb nichts anderes übrig, als aus dem Augenwinkel mitanzusehen, wie die große Kreatur langsam den Raum betrat und vor meinem Bett stehen blieb.

Seit ein paar Minuten steht sie nun da und beobachtet mich. Ich kann ihr nicht entkommen. Ich bin gefangen in meiner Paralyse, bis die Kreatur sich entscheidet, meinem mickrigen Leben ein Ende zu bereiten.

Dann, ganz langsam, öffnet das Monster sein tiefschwarzes Maul. Weiter und immer weiter öffnet es sich, ähnlich wie bei einer Schlange, kurz bevor sie ihr Opfer verschlingt.

Und ich weiß, dass ich aus dieser Schlafparalyse nicht mehr erwachen werde.

DER TAGESPLAN

Meine Tochter Janina war schon immer ein sehr zurückgezogenes Mädchen. Als Kind spielte sie kaum mit anderen Gleichaltrigen aus der Nachbarschaft, man musste sie regelrecht dazu drängen. Wenn wir sie fragten, ob sie Spaß hatte, sah sie uns nur fragend an, beinahe so, als wollte sie, dass wir ihr zuflüstern, was sie zu antworten hatte.

Als sie älter wurde und in die Pubertät kam, zog sie sich noch weiter in ihr Zimmer zurück. Zunächst klingt das zwar nach einem typischen Teenagerverhalten, insbesondere in einem Haushalt mit zwei Brüdern, den Eltern und der Großmutter, doch sie tat in ihrem Zimmer etwas, das normale Mädchen in ihrem Alter nicht tun würden. Sie tat nichts. Absolut gar nichts.

Immer wenn ich in ihr Zimmer kam, um nach ihr zu schauen, saß sie auf ihrem Bett und starrte stupide an die Wand. Und auch wenn ich sie ansprach, sie nach ihrem Tag fragte oder nach ihrem Befinden, schaute sie mich bloß wortlos an. Die Situation war beängstigend, und trotzdem hatten wir uns davor gesträubt, mit ihr ins Krankenhaus zu gehen, um ihre Psyche überprüfen zu lassen. Wir wollten einfach nicht wahrhaben, dass unsere eigene Tochter psychisch krank sein könnte und vielleicht Hilfe benötigte. Doch die Probleme waren nicht abzustreiten.

Als ich dann aber vor gut einem Jahr mit meiner Frau übers Wochenende verreist war und wiederkehrte, wurde uns die Entscheidung, was wir tun sollten, abgenommen.

Dass uns kein Empfangskomitee begrüßte, überraschte uns nicht sonderlich. Janina war, wie gesagt, nie sehr kontaktfreudig, und unsere Söhne, Jan, der damals 16 Jahre alt war, und Kevin, sein um ein Jahr älterer Bruder, saßen vermutlich in ihren Zimmern und zockten. Die beiden verkörperten wirklich jedes Klischee, sie entfernten sich von ihren Konsolen meist nur, um auf die Toilette zu gehen oder sich Essen aus der Küche zu holen. Solange sie wenigstens duschten, war das in Ordnung für mich.

Während meine Frau noch die Koffer ausräumte, ging ich die hölzerne Treppe hinauf. Von Jan und Kevin bekam ich auf mein fröhliches „Wir sind zurück!“, nur ein liebloses „Hey“ und „Ihr wart weg?“ entgegen. Ich seufzte. Die beiden machten es einem wirklich nicht leicht.

Als ich dann aber das Zimmer von Janina betrat, stockte mir kurz der Atem.

Mit eingefallenem Gesicht saß sie auf ihrem Bett und schaffte es nicht einmal, den Kopf in meine Richtung zu drehen. Ich lief zu ihr und fragte, was los sei. Als ich ihren Arm berührte, spürte ich, dass er dünner war als gewohnt. Sie starrte weiterhin nur geradeaus und atmete schwer. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie meine Anwesenheit überhaupt bemerkte.

Erst als der erste Schock langsam abklang und ich mit meinem Handy den Krankenwagen verständigte, vernahm ich den beißenden Ammoniakgeruch. Der Gestank ging direkt von meiner Tochter aus und ich verstand, um was es sich handelte: getrocknetes Urin. Ich rannte runter zu meiner Frau und wenige Minuten später traf endlich der Krankenwagen ein, der unsere Tochter mit ins Krankenhaus nahm. Dort stellten sie fest, dass Janina seit zwei Tagen, vermutlich seit dem Moment, in dem meine Frau und ich abgereist waren, nichts mehr getrunken oder gegessen hatte. Sie war stark dehydriert, hatte anscheinend kaum eine Sekunde geschlafen und das aufrechte Sitzen in der immer gleichen Position hatte dafür gesorgt, dass ihr Hintern wund geworden war.

Rückblickend betrachtet fiel mir auf, dass sie wohl tatsächlich nur dann etwas trank oder aß, wenn wir sie darauf angesprochen hatten oder sie aufforderten, zum gemeinsamen Familienessen zu erscheinen. Während wir weg waren, hatte ihr niemand gesagt, was sie tun sollte, und so tat sie anscheinend gar nichts, nicht einmal ihren normalen menschlichen Bedürfnissen war sie nachgekommen. Ihre Brüder waren in ihre Videospiele vertieft und hatten vermutlich nicht nach ihr geschaut, und ihre Großmutter, die bei uns lebte, seit mein Vater verstorben ist, wird wohl ihr Zimmer nicht betreten haben.

Das Verhältnis zwischen meiner Mutter und der restlichen Familie war etwas angespannt. Sie war eine sehr spezielle Frau, um es vorsichtig auszudrücken, und nahm kein Blatt vor den Mund. In der Vergangenheit hatte sie mehrfach den Kleidungsstil meiner Frau als „schlampig“ bezeichnet, meine Söhne als „Taugenichtse“ und Janina als „Psychomädel“. Bezeichnungen, auf die meine Kinder nie groß reagierten, auch wenn es bestimmt dennoch beleidigend für sie war. Meine Frau sah darüber hinweg, sie summte in diesen Momenten immer ihr Mantra, dass meine Mutter schon alt war und sich das Problem bald von allein lösen würde.

Ich weiß, dass meine Mutter im Grunde eine gutherzige Person war, und auch wenn es Spannungen gab, hatte ich gehofft, dass sie zumindest einmal bei meinen Kindern vorbeischaute, wenn sie schon im selben Haus wohnte. Doch Schuldzuweisungen brachten uns auch nicht weiter.

Nachdem die lebensbedrohliche Situation im Griff war, wurde Janina umgehend an einen Psychologen verwiesen.

Vier Wochen später wurden wir zu einem Gespräch einbestellt, bei dem wir über den Geisteszustand unserer 15-Jährigen aufgeklärt werden sollten.

Der Psychologe, ein älterer Herr mit Halbglatze, kleiner Hornbrille und weißem Kittel namens Dr. Frederic Nahls, erklärte uns, dass Janina eine Verhaltensstörung hatte. Auch in der Klinik war sie vollkommen teilnahmslos gewesen, bis man ihr sagte, was sie zu tun hatte, sei es nun essen, trinken, das Bad aufsuchen oder im Krankenhausgarten spazieren. Sobald man ihr eine Anweisung gab, folgte sie.

Also erstellte man ihr einen Tagesplan, an den sie sich halten konnte. Testweise schrieben die Psychologen zum Beispiel einmal auf, dass sie für eine Stunde die Zimmerpflanze beobachten sollte, um zu überprüfen, ob sich bei sinnlosen Aufgaben Widerstand in ihr regte. Doch ohne zu hinterfragen tat sie, was ihr aufgetragen wurde. Auch andere merkwürdige Befehle, wie alle fünf Minuten auf der Stelle joggen oder zehnmal hintereinander das Fenster öffnen und schließen, wurden, ohne zu zögern, durchgeführt.

Während Dr. Nahls dies mit einer seltsamen Faszination berichtete, konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass er meine Tochter als Versuchskaninchen missbraucht hatte. Da er aber der Profi war und ich mir wirklich Sorgen um Janinas Wohlergehen machte, wollte ich ihm nicht ins Wort fallen und lauschte aufmerksam seinen weiteren Erklärungen.

Dr. Nahls sagte, dass seine erste Vermutung darin bestand, dass ihr Gehirn eine deutliche Leistungsschwäche aufwies. Vielleicht war sie nicht in der Lage, Entscheidungen selbstständig zu treffen, und brauchte daher die Unterstützung einer außenstehenden Person. Um diese Theorie zu überprüfen, wurde ein Scan durchgeführt, der ihre Hirnwellen aufzeichnete. Doch das Ergebnis war überraschend, denn offenbar lag Janinas Problem nicht darin, dass in ihrem Kopf zu wenig vor sich ging, ganz im Gegenteil: Sie verarbeitete zu viele Gedanken auf einmal und war schlichtweg überfordert.

Der Psychologe erläuterte, dass der Mensch viele Entscheidungen am Tag treffen muss, und die meiste Entscheidungsfindung unterbewusst geschieht. Atmen und Blinzeln werden ohne aktiven Denkprozess ausgeführt. Andere Tätigkeiten sind allerdings mit klaren aktiven Entscheidungsfindungen verbunden. Allein der Vorgang „Essen“ ist mit Dutzenden verbunden: „Was soll ich essen?“ „Soll ich es holen gehen?“ „Welches Besteck benötige ich?“ „Wie viel Hunger habe ich?“ Und so weiter und so fort.

Da Janinas Gehirn durchgehend von Gedanken überlastet wäre, fiele es ihr schwer, überhaupt eine Entscheidung zu treffen. Der Doktor verglich es mit einer Tür: Während bei gesunden Menschen Gedanken einfach durch die Tür schreiten können und zu Entscheidungen werden, ist es bei ihr so, als würden Hunderte Gedanken auf einen Schlag durch diese Tür hindurchwollen. Nur dass diese dadurch verstopft und somit kein Gedanke es schafft, zu einer Entscheidung zu werden.

Letztlich bedeutete dies, dass Janina weiterhin bei uns leben konnte, aber langfristig nicht in der Lage war, ein autonomes Leben zu führen. Sie musste quasi fremdgesteuert werden.

Da es ein enormer Zeitaufwand war, ihren ganzen Tag zu planen, und auch ihre Gesundheit davon abhing, riet der Psychologe uns, eine Pflegerin zu engagieren, die uns diesen Aufwand abnehmen und jeden Morgen, nachdem ich, meine Frau und meine Söhne das Haus verlassen hatten, um zur Arbeit oder zur Schule zu gehen, ihr einen Plan vorlegen sollte, mit den Dingen, die sie zu tun hatte.

Mittlerweile war gut ein Jahr vergangen und seit die Pflegerin, eine nette ältere Dame namens Elli, sich um Janina kümmerte, hatte sich unser aller Leben drastisch verbessert.

Janina wirkte glücklich, wenn sie wusste, was sie zu tun hatte. Die Gewissheit, keine eigenen Entscheidungen treffen zu müssen, zu wissen, wann sie wo sein musste und was sie wann zu essen hatte, schien ihr Freiheit zu schenken. Sie sprach zwar weiterhin kaum mit uns, aber das war in Ordnung. Dr. Nahls hatte uns gesagt, dass das Bilden von Sätzen ebenfalls mit vielen Entscheidungen zusammenhängt, es sei also annehmbar, dass ihr das Reden enorm schwerfällt.

Doch eines Tages, ich war gerade in meinem Büro und sprach mit einem Kunden, klingelte mein Telefon. Es war die Polizei, ich sollte umgehend nach Hause kommen.

Ich machte mich sofort auf den Weg und kam eine halbe Stunde später zu Hause an. Das Haus war mit Polizeiband abgesperrt und mehrere Streifenwagen parkten davor.

„Sind sie Herr Drönning?“, fragte mich ein Polizist, der sich als Herr Christiansen vorstellte, mit einer gewissen Trauer in der Stimme, kaum dass ich angekommen war.

„Ja“, entgegnete ich umgehend. „Das bin ich, was ist passiert? Geht es allen gut?“.

„Vor ungefähr einer Stunde bekamen wir den Anruf Ihrer Nachbarin, dass sie Schreie einer Frau aus Ihrem Haus hören konnte, die dann aber recht abrupt verstummten.“ Herr Christiansen machte eine Pause, in der er gen Boden blickte. „Das klang nach einer akuten Gefahrenlage, also haben wir uns Zugang ins Haus verschafft, nachdem niemand geöffnet hat. Drinnen war erst mal alles ruhig, aber die Tür zur Wohnung Ihrer Mutter stand offen.“

Mein Herz schlug immer schneller. Ein Teil von mir wünschte sich, dass er endlich mit der Sprache herausrückte, ob es allen gut ging, gleichzeitig fürchtete ich mich davor.

„Herr Drönning“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. „Wir haben Ihre Mutter am Boden liegend vorgefunden. Sie verstarb noch am Tatort, es tut mir leid.“

Ich hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Sie wurde mit zehn Messerstichen ermordet.“

„W-wie bitte?“, brachte ich stotternd hervor. Das konnte doch nicht wahr sein! Ermordet? In unserem Zuhause? Wer sollte so etwas tun?

„Als wir das Schlafzimmer Ihrer Mutter betraten, lag sie blutend am Boden. Der Notarzt konnte leider nichts mehr für sie tun. Sie müssten bitte einmal mit uns auf die Wache kommen“, sagte der Polizist und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Glauben Sie etwa, dass ich sie umgebracht hätte?!“ Die bloße Vorstellung, jemand könnte behaupten, ich hätte meiner Mutter so etwas Schreckliches angetan, schockierte mich.