Gespräche mit Klemperer -  - E-Book

Gespräche mit Klemperer E-Book

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Peter Heyworth hat mit Klemperer, zunächst für den Rundfunk, ausgiebig-eindringliche Gespräche geführt. Er hat zu fragen, der Befragte zu antworten verstanden. Die Gespräche sind zu einer konzentrierten Autobiographie gefügt. In ungetrübtem Erinnern zeichnet Klemperer seine Laufbahn nach – vom frühen Dirigieren für Max Reinhardt über die entscheidenden Begegnungen mit Gustav Mahler, seine Konventionen umstürzende Leitung der Krolloper in Berlin bis zum Exil und zu den grandiosen, schwerster körperlicher Behinderung abgetrotzten Aufschwüngen im höchsten Alter. Mit wenigen Worten wird Musik-, Kultur-, Zeitgeschichte lebendig. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 267

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gespräche mit Klemperer

FISCHER Digital

Geführt und herausgegeben von Peter Heyworth

 

Die Partien aus Interviews in englischer Sprache übersetzte Jochen Voigt

Inhalt

LebensdatenEinführungGespräche mit Klemper1. Kapitel Frühe Erinnerungen2. Kapitel Mahler und der Beginn einer Karriere3. Kapitel Strauss, Pfitzner und die deutsche Provinz4. Kapitel Strawinsky, Hindemith und die Krolloper5. Kapitel Schönberg und Emigrationsjahre6. Kapitel Dirigenten und Dirigieren7. Kapitel Der Dirigent als Komponist[Bildteil]EpilogAnhangErhaltene Kompositionen von Otto KlempererStücke für großes OrchesterKammermusikenStücke für Chor und OrchesterOpernStücke für Singstimme und OrchesterBearbeitungenDiskographieAbkürzungenI.II.RegisterDie Porträtstudie von Georg [...]

Lebensdaten

14.5.1885

geboren in Breslau

 

1889

Umzug der Familie nach Hamburg

 

1901

Hoch’sches Konservatorium, Frankfurt am Main

 

1902

Klindworth-Scharwenka-Konservatorium, Berlin

 

1905

Stern’sches Konservatorium, Berlin

 

1906

Debut als Dirigent: Offenbachs ›Orpheus in der Unterwelt‹ – inszeniert von Max Reinhardt

 

1907–1910

Kapellmeister und Chordirektor am Deutschen Königlichen Landestheater in Prag

 

1910–1912

Kapellmeister an der Oper in Hamburg

 

1913–1914

Erster (leitender) Kapellmeister in Barmen

 

1914–1917

Kapellmeister, dann stellvertretender Direktor der Oper in Straßburg

 

1917–1924

Generalmusikdirektor der Oper in Köln

 

1924–1927

Generalmusikdirektor der Oper in Wiesbaden

 

1924

Debut in Moskau und Leningrad

 

1926

Debut in New York

 

1927–1933

Staatsoper Berlin (1927–1931 zunächst Direktor, dann musikalischer Leiter [Generalmusikdirektor] der Staatsoper am Platz der Republik, Krolloper genannt. 1931–1933 an der Staatsoper Unter den Linden)

 

1929–1933

Als Nachfolger des Gründers Siegfried Ochs Dirigent des Philharmonischen Chors, Berlin

 

1929

Debut in London

 

1933–1939

Ständiger Dirigent des Los Angeles Philharmonic Orchestra

 

1947–1950

Budapester Oper

 

1951

Erstes Konzert mit dem Philharmonia Orchestra, London

 

1959

Hauptdirigent auf Lebenszeit des Philharmonia Orchestra and Chorus, London

 

1964

In gleicher Eigenschaft bei New Philharmonia Orchestra and Chorus, London

 

1972

Otto Klemperer gibt seine öffentliche Tätigkeit auf

 

6.7.1973

gestorben in Zürich

Einführung

Im Sommer 1969 fragte mich Robert Chesterman von der Canadian Broadcasting Corporation, der schon eine Serie von Gesprächen mit bedeutenden Dirigenten auf Band aufgenommen hatte, ob Otto Klemperer zu einem ähnlichen Vorhaben seine Zustimmung geben würde. Ich war nicht optimistisch. Ich wußte von Klemperers Abneigung gegen Interviews und dergleichen, aber ich erklärte ihm in einem Brief Mr. Chestermans Vorschlag. Ich war freudig überrascht, als ich postwendend eine Antwort erhielt: Klemperer sei nicht interessiert daran, ein Interview im üblichen Sinne zu geben; doch falls ich einige Tage erübrigen könne, werde er gern ausführlicher über sein Leben, seine Ansichten über Musik und andere Dinge sprechen. Also fuhren Mr. Chesterman und ich Ende August nach Zürich, wo Klemperer wohnte. So kam dieses Gespräch zustande.

Inzwischen hatte der Westdeutsche Rundfunk von unserer Vereinbarung erfahren. Er bat mich im Hinblick auf Klemperers herannahenden fünfundachtzigsten Geburtstag, die Bitte um ein Interview in deutscher Sprache, wie geartet und wie kurz es auch sein mochte, aufs Tapet zu bringen. Ich verhielt mich natürlich zunächst ablehnend, da ich fühlte, Klemperers guten Willen schon genug beansprucht zu haben.

Am letzten Tag der kanadischen Gespräche erwähnte ich jedoch die Sache gegenüber seiner Tochter, und am selben Tage teilte sie mir mit, ihr Vater sei willens, eine ähnliche Serie von Gesprächen auf Deutsch zu führen. Klemperers Englisch war in Satzbau und Vokabular begrenzt, und ich denke, ein Grund für seine Einwilligung in eine zweite Serie war das Gefühl, gewisse Dinge könne er besser in seiner Muttersprache ausdrücken – Dinge, vielleicht auch zuweilen recht unverblümte, die er einer deutschen Zuhörerschaft sagen wollte.

Im November 1969 kehrte ich zu den WDR-Aufnahmen nach Zürich zurück und erfuhr, daß Klemperer am Vortage einen seiner unzähligen Unfälle erlitten hatte. Der ungarische Baß Deszoe Ernster hatte ihn zu einer kleinen Ausfahrt eingeladen. Als Klemperer zu einem Spaziergang aus dem Auto steigen wollte, war er gestürzt. Er war ein Mann von imponierender Statur, und Herr Ernster hatte nicht vermocht, ihn aufzuheben, bevor sich nach einer halben Stunde Hilfe eingefunden hatte. Als ich ankam, war Klemperers Gesicht blutig und zerschunden, und er war sichtbar mitgenommen. Ich drängte ihn, die Gespräche zu vertagen. Aber mit seiner außergewöhnlichen Willenskraft – sie hat ihn durch eine Serie von Unglücksfällen getragen, die einen minderen Mann zerstört hätten – bestand er darauf, wie geplant vorzugehen.

Es gab Augenblicke, da seine Stimme erschreckend schwach wurde. Dann aber begann eine Frage ihn zu befeuern, und er erwachte zu neuem Leben. Aber ich fürchte, diese Tage waren für einen Mann seines Alters nach einem schlimmen Sturz eine beträchtliche Belastung.

Und ich muß gestehen, sie waren auch für mich keine Entspannung. Wir saßen nebeneinander im Wohnzimmer seiner kleinen und einfach eingerichteten Wohnung, Klemperer in seinem üblichen Sessel mit gerader Lehne, eine Lampe über seiner Schulter, Stock auf der einen, Pfeife und Bücher auf der anderen Seite. Besonders ein Detail blieb in meinem Gedächtnis haften. Gelegentlich unterbrachen wir das Gespräch, wenn ich Fräulein Klemperer oder dem Techniker im anderen Zimmer etwas sagen mußte. Jedesmal, wenn ich zurückkam, fand ich Klemperer in ein Buch vertieft. Hier, so schien mir, war ein Mann von einer beharrlichen Konzentrationskraft, wie sie selten geworden ist im Zeitalter von Radio und Fernsehen.

Bei verschiedenen Gelegenheiten hatten Otto Klemperer und seine Tochter mich in London zu sich geladen, und daher war ich weniger eingeschüchtert als bei meiner ersten Begegnung mit diesem riesen- und adlerhaften Mann. Ich hatte gelernt, daß eines der entscheidenden Elemente seines komplexen Charakters Bescheidenheit war: wenn er eine Frage stellte, wollte er auch eine Antwort. Er war einfach gelangweilt mit einem Gesprächspartner, der den Ball nicht leidlich geschickt über das Netz zurückschlagen konnte. Ich hatte seinen Humor kennengelernt und mich darüber amüsiert; sein So-Tun, als sei er ein Spielzeug in den Händen seiner Tochter, seiner Pflegerin, Schwester Ruth Vogel, und seiner Haushälterin Anna Hesch, die ihn abwechselnd betreuten; seine Gewohnheit, eine provozierende Bemerkung zu machen, nur um die Reaktion der Anderen zu testen; seinen lakonischen Witz und seinen spezifisch jüdischen Sinn für Ironie. Aber wie viele Orchester festgestellt haben, hinter Scherz und Ironie stand eine gewaltige Gestalt, die Dummheit ungern ertrug. Ich kann nicht sagen, daß ich mich behaglich fühlte, als das erste Band zu laufen begann.

Es gab andere Schwierigkeiten. Otto Klemperer war ein Mann von wenigen Worten. Wenn er nichts zu sagen hatte, sagte er eben das. Viele seiner Antworten waren kurz, sogar einsilbig. Manche gerieten zu kaum mehr als einem Knurren. Folglich mag mancher Leser fühlen, seine Antworten seien flüchtig. Mir ging es ebenso, aber ich konnte wenig daran ändern. Oft mußten Auskünfte, besonders über seine eigenen Leistungen, aus ihm herausgezogen werden. Ich war mir z.B. zu der Zeit nicht bewußt, daß er mehr als irgendein anderer dazu beigetragen hat, Janáčeks Opern zu dessen Lebzeiten außerhalb seiner tschechischen Heimat bekannt zu machen. Da ich ihn zunächst nicht danach fragte, erzählte er es auch nicht. Auch erzählte er mir nicht, daß er bei der szenischen Aufführung von Strawinskys ›Oedipus Rex‹ in der Krolloper selbst Regie geführt hatte. Alte Menschen erinnern sich bekanntlich weit zurückliegender Tage lebhafter als des jüngst Geschehenen. Aber Stück für Stück konnte ich ein ziemlich vollständiges Bild seiner Karriere zusammensetzen, die bis ins Jahr 1906 zurückgeht, als Klemperer sein Debüt als Dirigent in Reinhardts Inszenierung von Offenbachs ›Orpheus in der Unterwelt‹ in Berlin machte.

Insbesondere war ich begierig, ihn nach den vielen großen Komponisten auszufragen, mit denen er Verbindung hatte. Nicht, weil ich ihm die Rolle eines Champions zeitgenössischer Musik zuschreiben wollte, obwohl er ja in der Tat einer war. Die Bedeutung von Klemperers Verbindung mit einigen der überragenden schöpferischen Gestalten seiner Zeit reicht tiefer. Er ist Repräsentant des rasch schwindenden Zeitalters, in welchem der Dirigent noch nicht auf das Niveau des bloßen Virtuosen gesunken war, sondern eng verstrickt in die Musik seiner Zeit, so daß seine Sensibilität und seine Technik sich im Kampf um die Deutung dieser Musik entwickelten. Mahlers Einfluß auf Klemperers Leben geht weit über den einfachen Glücksfall der Empfehlung zu den beiden ersten Engagements hinaus. Als Mensch und Musiker zugleich war Mahler ein formender Einfluß, und in geringerem Maße trifft dasselbe auf Klemperers Verbindung mit Strawinsky und Schönberg zu. (Er war einer der wenigen Musiker seiner Generation, welche sich für die Musik beider Komponisten einsetzten, die fast ihr ganzes Leben lang als einander ausschließend betrachtet wurden.) Wäre sein Beethoven der gleiche, hätte Klemperer nicht bei Schönberg studiert und seine Musik aufgeführt? Hätte der Stil der Krolloper, die er von 1927 bis 1931 leitete, solch einen entscheidenden Bruch mit der Tradition bedeutet, wenn er nicht für Strawinskys antiromantische Ästhetik offen gewesen wäre? Ich glaube, die Antwort auf beide Fragen ist Nein. Deshalb habe ich soweit wie möglich die Namen der Komponisten, die mit Klemperer verbunden waren, in die Kapitelüberschriften eingesetzt.

Die auf den Bandaufnahmen basierenden Programme wurden im Mai 1970 zu Klemperers 85. Geburtstag von der CBC und vom WDR gesendet. Natürlich gaben diese Programme nur einen Bruchteil des Bandmaterials wieder, so daß ich darüber nachsann, ob man nicht versuchen sollte, die Gespräche in einer vollständigeren Form darzubieten. Otto Klemperer war kein Schriftsteller. Sein kleiner Band ›Erinnerungen an Gustav Mahler‹ enthält wertvolle Informationen (manche davon sind hier natürlich wiederholt). Aber es ist kaum mehr als eine Broschüre, und da Klemperer nicht die Absicht hatte, eine Autobiographie zu schreiben, schien es mir wert, eine Art Ersatz für sie durch eine Verknüpfung der englischen und der deutschen Gespräche zu schaffen, von denen jedes Dinge enthält, die in den anderen fehlen. Wie gut auch immer vorbereitet, Gespräche schweifen unvermeidlich, Themen werden aufgegriffen, fallen gelassen, wieder aufgenommen und in anderem Zusammenhang diskutiert. In dem Kampf, aus den englischen und deutschen Texten eine sinnvolle Einheit herzustellen, mußte ich beiden Versionen Gewalt antun. Dabei ging unvermeidlich etwas verloren.

Klemperer war gewiß kein literarischer Mann. Seine Sprache war vor allem einfach und direkt (selbst wenn es die Implikationen manchmal nicht waren). Aber schon die Notwendigkeit, das Material neu zusammenzusetzen und ineinanderzuschieben, um Wiederholungen zu vermeiden und eine Sprache hervorzubringen, die sich leicht liest, hat mich unvermeidlich an manchen Stellen dem Original untreu werden lassen, eine Schuld, für die man mir hoffentlich mildernde Umstände zubilligen wird. Klemperer hat z.B. nicht in langen Satzperioden geredet, wie sie hier manchmal erscheinen, da ich überflüssige und häufig wiederkehrende Fragen ausgelassen und so eine Reihe von kurzen Antworten zusammengelegt habe. Andererseits aber habe ich eine Anzahl von Widersprüchlichkeiten stehen lassen. Walt Whitmans Worte

Widerspreche ich mir selbst?

Nun gut, so widerspreche ich mir selbst.

(Ich bin weiträumig, enthalte Vielheit)[1]

treffen auf Otto Klemperer zu wie nur auf irgendeinen Mann, dem ich begegnet bin.

Um den Apparat nicht überlastig werden zu lassen, habe ich biographische Details und zusätzliche Erklärungen auf den Index beschränkt, der für die deutsche Ausgabe um einige im englischen Original als Fußnoten gesetzte Anmerkungen erweitert wurde. Der Leser wird merken, daß gelegentlich auf Ereignisse hingewiesen wird wie Strawinskys Tod und Klemperers Ausscheiden aus dem öffentlichen Konzertleben, die nach den eigentlichen Gesprächen stattgefunden haben. Diese Hinweise wurden bei einem späteren Besuch in Zürich hinzugefügt, als Klemperer die schriftliche Version überprüfte.

Wenn sich das Thema der Judenverfolgung in Deutschland mit der Beharrlichkeit eines Leitmotivs durch die Gespräche zieht, so liegt der Grund darin, daß viele der Männer, mit denen Klemperer aufs engste verbunden war, den Tod erlitten oder daß ein Großteil ihres Lebens ruiniert wurde durch die antisemitische Politik der Nazis. Klemperer selbst war achtundvierzig Jahre alt, als Hitler 1933 Reichskanzler wurde. Er war auf der Höhe seiner Kraft, allgemein anerkannt als einer der zwei oder drei überragenden Dirigenten seiner Generation und vor allem bewundert als ein Interpret deutscher Musik. Für seine Leistungen auf diesem Gebiet erhielt er die Goethe-Medaille im selben Jahr, in dem er aus seinem Geburtsland fliehen mußte. Wäre er weniger tief deutsch in seinen Empfindungen und seiner Erziehung, wäre er ein besseres Beispiel für die den Nazis so teure Vorstellung vom entwurzelten, kosmopolitischen Juden gewesen, so hätte sich Amerika ihm als eine weniger fremde Welt erwiesen. Wäre er weniger ein Kind einer Zeit gewesen, von der man bis 1933 weithin glaubte, sie sei liberal und humanistisch, so dürfte der Schock, sich als Opfer rassischer Verfolgung zu finden, weniger groß gewesen sein. So aber war er zu einundzwanzig Jahren Exil verurteilt. Er mußte mit seiner Familie durch fremde Länder ziehen, oft krank und manchmal arm. Ohne Zweifel haben der gewaltige Erfolg und Ruhm, die ihm an seinem Lebensabend zuteil wurden, einen gewissen Ausgleich für diese Leiden mit sich gebracht. Aber wie die Gespräche weitgehend bestätigen, war die Erinnerung an jene Jahre eine Wunde, die sich nie geschlossen hat.

 

Meinen besonderen Dank möchte ich Fräulein Lotte Klemperer sagen, ohne deren Unterstützung und Rat diese Gespräche nicht veröffentlicht worden wären; Mynheer Philo Bregstein, der mir großzügigerweise gestattete, verschiedene Passagen aus einem von ihm mit Otto Klemperer geführten Interview miteinzuschließen; Mr. Robert Chesterman, der mit Feingefühl und guter Laune die CBC-Aufnahmen leitete; Herrn Dr. Seifert vom WDR Köln, der der Initiator der deutschen Gespräche war; dem Deutschlandfunk für seine Erlaubnis, einige kurze Auszüge aus einem Interview zu verwenden, das Klemperer Herrn Ernst-Ludwig Gausmann gab; Mr. Harold Rosenthal, der mir für Anmerkungen großzügig Auskünfte erteilte, und Frau Anna Hesch, deren zarter und aromatischer Sauerbraten mir zeigte, daß dies nicht jenes fettige Schmorfleisch zu sein braucht, das man nicht selten in Restaurants serviert bekommt.

Tiefen Dank schulde ich vor allem Otto Klemperer, der meine Fragen mit Geduld und Wohlwollen ertrug. Kein Mensch hat mehr dazu beigetragen, mein Verständnis für die Welt der großen Klassiker von Haydn bis Mahler zu vertiefen. So ist dieses kleine Buch ein Akt der Verehrung und Dankbarkeit.

Peter Heyworth

London, Juni 1972/Dezember 1973

Gespräche mit Klemper

Der vorliegende Text bewahrt nach Möglichkeit Otto Klemperers Sprech- und Ausdrucksweise. Seine Äußerungen in deutscher Sprache werden nach dem Wortlaut wiedergegeben, dem die Übersetzung aus dem Englischen sich anzupassen suchte.

1. Kapitel Frühe Erinnerungen

HEYWORTH

Herr Doktor Klemperer, Sie sind in Deutschland geboren. Aber ist nicht Ihre Herkunft eher österreichisch als deutsch?

 

KLEMPERER

Mein Vater ist in Prag geboren, und mein Großvater – der war Religionslehrer – liegt dort begraben. So gehörten wir zur österreichisch-ungarischen Monarchie. Der Name Klemperer war ursprünglich Klopper. Früher mußte ein Mitglied der jüdischen Gemeinde die Schläfer wecken, damit sie rechtzeitig zur Synagoge kamen. Das war dann der Klopper, weil er an alle Türen klopfte. Der Urgroßvater meines Vaters wurde 1758 als Gumpel Klopper geboren und wurde fünfundvierzig Jahre später, 1803, als Marcus Klemperer beerdigt.

Ich habe meinen Großvater nicht gekannt, aber er soll ein sehr strenger und orthodoxer Mann gewesen sein. Er hatte fünf Kinder, darunter Nathan, meinen Vater. Mein Vater hatte eine wunderschöne Stimme und konnte ausgezeichnet die deutschen Klassiker rezitieren, speziell Goethe und Schiller. Trotz seines Talents konnte er nicht Künstler werden, da mein Großvater es sich nicht leisten konnte, mehr als einen Sohn studieren zu lassen. So trat er in das Puppengeschäft seines Bruders Hermann in Breslau ein.

Dort lernte mein Vater meine Mutter auf einer Puppenmesse kennen. Meine Eltern waren sich nahe gekommen durch die Musik. Mein Vater sang Schubert, Loewe, Mozart und Brahms, und meine Mutter, die Klavierlehrerin von Beruf war, begleitete und kritisierte ihn, denn er konnte keine Noten lesen und sang alles nach Gehör. Meine erste musikalische Erinnerung habe ich an meinen Vater, wenn er sang, besonders ›Dichterliebe‹. Ich habe immer eine große Liebe zu Schumann gehabt, und noch heute freue ich mich, wenn ich eine Symphonie von Schumann machen kann.

Meine Eltern heirateten 1881 und ließen sich in Breslau nieder. Die Ehe war im Grunde gut und war eine Mischung von askenasischem und sephardischem Blut. Die Familie meiner Großmutter mütterlicherseits, die Rées, kam ursprünglich aus Spanien. Nach der berühmten Vertreibung der Juden 1492 gingen sie nach Frankreich und zogen dann zur Zeit der Bartholomäusnacht nach Altona, das damals dänisch war. Später ließen sie sich endgültig in Hamburg nieder.

Nun gab es Streit zwischen meinem Vater und seinem Bruder Hermann, und so entschlossen sich meine Eltern, 1889 nach Hamburg überzusiedeln. Da konnten sie auch auf die Hilfe der Familie meiner Mutter hoffen, die ziemlich reich war. Es ist eine schöne Sitte bei den Juden, daß einer dem anderen hilft. Aber mein Vater interessierte sich mehr für Schubert und Schiller als für Buchhaltung, so daß es uns finanziell nicht gut ging. Ursprünglich wollte er eine Dampfwäscherei gründen, aber dazu fehlte ihm das Kapital. Es kamen schlimme Jahre. Mein Vater verdiente gar nichts. Reiche Verwandte halfen. Endlich fand er eine Stelle als Disponent eines Strumpfgeschäftes – eine Branche, in der er sich gar nicht auskannte. Da hatten wir es ein paar Jahre besser, bis er auch diese Stelle verlor. So ging es weiter, bergauf, bergab, mal hatte er ein kleines Einkommen, mal gar nichts. Er war eben ein miserabler Kaufmann, aber er besaß eine wirkliche künstlerische Begabung.

 

HEYWORTH

Haben Sie irgendwelche andere frühe Kindheitserinnerungen an Breslau?

 

KLEMPERER

Nur an ein Erlebnis kann ich mich gut erinnern. Wir machten einen Nachmittagsspaziergang, und ein sehr großer, schwarzer Hund sprang mich an, auf meine Schultern. Seitdem hatte ich immer Angst vor Hunden. Und immer wieder, in veränderter Form, habe ich einen schwarzen Hund oder schwarzen Mann gesehen. Das war nie ein gutes Omen für mich.

 

HEYWORTH

Wie alt waren Sie, als Sie Breslau verließen?

 

KLEMPERER

Da war ich viereinhalb. Das erste, was ich in Hamburg vom Zug aus sah, waren die Litfaßsäulen mit Konzert- und Theaterplakaten. Sie faszinierten mich, und später spielten sie ja eine große Rolle in meinem Leben. Ich habe in Hamburg gelebt, bis ich sechzehn war, und mich absolut als Hamburger gefühlt.

Unsere Wohnung grenzte an eine große Wiese, auf der Kühe weideten. Wir tranken die Milch frisch aus dem Euter. Diese Wiese war auch der Ort meines ersten ›Verbrechens‹. Ich ging nicht gerne zur Schule und war ein liederlicher Schüler. Und so vergrub ich dort ein schlechtes Schulzeugnis. Es half aber nichts, die Schule schickte meinen Eltern ein Duplikat.

Mein Klassenlehrer schrieb mir ins Buch: »Wer etwas kann, den hält man wert, den Ungeschickten niemand begehrt.« Ich war sehr ungeschickt. Manchmal fiel ich hin und machte meinen Anzug schmutzig, worauf ich zu Hause ausgeschimpft wurde. Schon von früh an versuchte ich, mir alles Unangenehme vom Leibe zu halten. Ich hatte es nicht gerne, gescholten zu werden. So erfand ich eine Lüge. Ich erzählte meinen Eltern, ein großer schwarzer Mann mit schwarzem Bart ist mir gefolgt und hat mich umgestoßen, ich habe mich nur durch Weglaufen gerettet. Meine Eltern glaubten das, und meine Mutter ging sogar zur Polizei.

Ich habe oft diese Lüge benutzt. Aber ich fühlte genau, daß ich damit etwas sehr Unrechtes tat. Ich dachte: »Es ist schrecklich, daß ich immer lüge.« Trotzdem hielt ich lange daran fest. Dann sah ich in einer Illustrierten das Bild von einem Mann, der auf seinem Sterbebett ein Bekenntnis ablegte, und ich dachte, genau so wird es mit mir sein. Schließlich konnte ich es nicht mehr aushalten, und eines Abends – ich hatte schon im Bett gelegen – lief ich ins Wohnzimmer und beichtete alles meinen Eltern. Sie glaubten mir nicht und lachten: »Du bist übermüdet. Geh wieder ins Bett, und wir reden dann morgen darüber.« Am nächsten Morgen bestand ich auf meiner Erklärung, und als ich schließlich sogar vorschlug, als Buße nicht mit in die Sommerferien zu fahren, glaubten sie mir. Und so geschah es. Meine Mutter fuhr mit meinen Schwestern fort, und ich blieb mit meinem Vater zu Hause.

Aber gegen Ende des Sommers fuhr mein Vater mit mir für eine Woche in die Holsteinische Schweiz. Es sollte eine Fußwanderung werden. Das hatte mein Vater meiner Mutter aus Geldgründen versprochen. Aber natürlich kam es ganz anders. Wir fuhren schon mit dem Zug nach Eutin, wohnten in einem sehr hübschen Hotel und ließen es uns gutgehen. Abends sang mein Vater in der Wirtsstube, und ich begleitete ihn am Klavier. Einige Gäste waren entzückt und hielten uns wohl für »fahrende Künstler«, die engagiert waren, bis mein Vater sie aufklärte. Es war eine schöne Woche. Aber die Erinnerung an den schwarzen Hund, der mir in Breslau auf die Schultern gesprungen war, blieb in mir noch lange Zeit wach.

 

HEYWORTH

Sie meinen, der schwarze Hund und der schwarze Mann gehörten in Ihrer Vorstellung zusammen?

 

KLEMPERER

Ja, genau. Nach der »Sünde« hatte ich mir fest vorgenommen, sowas darf nicht mehr passieren, und ich wurde ein guter Schüler. Ich sagte zu mir selbst: »Solche Dinge kommen nicht mehr vor.« Aber Sie verstehen, es lag mir viele Jahre auf dem Gewissen, daß ich die Unwahrheit gesagt hatte. Es war eine Art Besessenheit.

Im Alter von dreizehn Jahren kam ich auf das Realgymnasium des Johanneums, also ohne Griechisch, nur mit Latein und modernen Sprachen. Sie fielen mir leicht, aber Mathematik war für mich ein Greuel, und ich schrieb ab, soviel ich konnte. Eine Stunde ist mir unvergeßlich. Es war eine Vertretungsstunde. Der Lehrer sagte, da er mit dem üblichen Stoff nicht vertraut sei, wolle er uns etwas vorlesen. Er las die Rede des Marcus Antonius aus Shakespeares ›Julius Caesar‹ vor. Sie machte einen überwältigenden Eindruck auf mich.

Größtenteils waren die Lehrer sehr sympathisch. Aber ich war immer der Zweite in der Klasse. Der Erste durfte ich nicht werden, das ging nicht. Das wäre gegen die allgemeine Tendenz gewesen.

 

HEYWORTH

Ich verstehe nicht ganz.

 

KLEMPERER

Ich war der Zweite. Meine Noten waren oft besser als die des Ersten, aber ich wurde nicht Primus.

 

HEYWORTH

Und warum?

 

KLEMPERER

Antisemitismus! Weil man doch nicht einen Juden zum Primus in einem großen deutschen Gymnasium macht. Ganz ohne Zweifel. Einmal hatten wir in einer Stunde französische Diskussion. Also man durfte nur französisch reden. Damals war gerade die Flottenvorlage aktuell. Mein Vater, der ein eingefleischter Liberaler war, schimpfte, daß diese Vorlage überhaupt bis vor den Reichstag gekommen war. In der Stunde unterhielt sich nun der Lehrer mit den Schülern über diese Frage. Da bin ich aufgestanden und habe gesagt: »Mais la flotte coutera beaucoup d’argent et le peuple doit payer.« Was sich danach ereignete, können Sie sich gar nicht vorstellen. »Sozialdemokrat«, schrien sie alle auf mich ein. Der Lehrer sagte nur: »Aber ich verstehe Sie nicht, warum Sie so schreien, das war doch grammatikalisch ganz richtig.« Echt deutsch.

Und dann zum Beispiel: Am Sedanstag machte die Klasse immer einen Ausflug nach Friedrichsruh zu Bismarcks Grab. Dabei trug ein Junge die Fahne und ein anderer das sogenannte Klassenzeichen – ich durfte beides nie tragen, das ging eben nicht.

In einer Zeichenstunde mußten wir einmal einen kleinen Würfel, der vor uns lag, zeichnen. Na, der Lehrer kam, und ich hatte es wieder nicht richtig. Ich sagte: »Wissen Sie, ich kann eben keine gerade Linie so aus der Hand – das geht nicht.« Sagt er: »Kein Wunder bei deiner Rasse.« Antisemitismus, ach Gott, der war immer da. Napoleon hatte zwar die Gleichberechtigung der Juden in Deutschland verordnet. Aber als er geschlagen war, setzte die Reaktion in Preußen und Österreich wieder ein, und der Antisemitismus war stärker als zuvor. Deutschland wurde zum Polizeistaat. Und die Revolution von 1848 änderte daran nicht viel.

 

HEYWORTH

Was sind Ihre frühesten musikalischen Erinnerungen?

 

KLEMPERER

Wenn ich mich recht erinnere, war mein erster Eindruck von der Kunst gar nicht musikalisch. Im ›Wilhelm Tell‹ bei der Apfelschußszene brach ich in so lautes Weinen aus, daß meine Mutter mich aus dem Theater führen mußte. Ich war wohl acht oder neun zu der Zeit. Meine Eltern hatten jedes Jahr ein Abonnement für den Schiller-Zyklus, und wir Kinder gingen abwechselnd mit. Ich ging auch in die Oper. Ich weiß noch, wie sehr mich ›Fidelio‹ beeindruckte, als ich dreizehn war. Vor allem der Kanon im ersten Akt. Und dann ›Der Troubadour‹. Das fand ich großartig. Für Mozart hatte ich anscheinend noch nicht das Verständnis. Ich erinnere mich, der ›Don Giovanni‹ ist ziemlich eindruckslos an mir vorübergegangen. Dann, ich war vielleicht schon fünfzehn Jahre alt, nahm mich meine Mutter mit in ein Konzert, wo ›Tod und Verklärung‹ von Strauss zum ersten Mal in Hamburg gespielt wurde. Das hat mir kolossal imponiert. Der Klang des Orchesters und der ganze Aufbau – ich fand’s wundervoll.

 

HEYWORTH

Wann begann Ihre musikalische Ausbildung?

 

KLEMPERER

Von früh an bestand die Absicht, mich Musiker werden zu lassen. Ich hatte bei meiner Mutter Klavierunterricht, und mit sechs Jahren konnte ich schon hübsch Klavier spielen. Doch ich war recht schwierig und wußte immer alles besser: »Nein, ich will es aber so.« So kam ich zu einem Klavierlehrer, Herrn Havekoss, bei dem ich viel lernte. Bis zum fünfzehnten Lebensjahr hatte ich bei ihm jede Woche Unterricht. Ich studierte mit ihm Bachs Inventionen und schritt fort bis zu Beethoven-Sonaten, Kammermusik usw. Jeden Tag übte ich zwei Stunden.

Ich muß schon früh besondere Begabung für Musik gezeigt haben. Als kleiner Junge in Hamburg – etwa sieben oder acht Jahre alt – ging ich in den Zoologischen Garten und hörte einer Militärkapelle zu. Ich stand hinter einem Klarinettisten, schaute ihm in die Noten und bemerkte, daß er ganz anders spielte.

Ich fragte ihn, und da hat er gelacht: »Ist doch eine B-Klarinette.«[2] Er hatte natürlich recht, aber er war wohl auch erstaunt über mich.

Einmal besuchte uns eine Kusine meiner Mutter, Frau Helene Rée, und fand mich allein zu Haus. Sie war von meinem Klavierspiel sehr beeindruckt und erklärte meiner Mutter, daß sie meine Ausbildung bezahlen würde, denn meine Eltern waren dazu nicht in der Lage. Ich sagte zu allem »Ja«, aber ich dachte bei mir, wenn ich erst mündig bin, werde ich doch Schauspieler, das war mein großer Wunsch. Er wurde nie erfüllt, obwohl etwas davon immer geblieben ist.

Um 1900 kam ein Freund meiner Mutter, Herr Max Mayer, um zu entscheiden, ob ich zum Musiker genug Talent hätte. Er war ein deutscher Pianist, der in Manchester lebte. Ich mußte ihm vorspielen – Sonaten von Philipp Emanuel Bach und Beethoven. Er prüfte mein Gehör und fragte mich, ob ich was komponiert hätte. Ich spielte ihm ein kleines Stück vor, sehr kindlich, und er sagte: »Nun, das ist nicht sehr wichtig.« Dann sagte er zu meiner Mutter: »Ich weiß nicht, ob er ein Hans Richter wird, aber ich bin sicher, daß er ein guter Musiker wird.« Damit war es entschieden. Ich erinnere mich genau an den Ernst, mit dem er mir sagte, daß Erfolg nie das Wichtigste im Leben eines Musikers sein sollte. Das Wesentliche sei die innere Befriedigung, auch wenn äußerer Erfolg fehle. Mit meiner Mutter hatte ich in Hamburg in einem Konzert den holländischen Pianisten James Kwast gehört, und es wurde beschlossen, daß ich bei ihm in Frankfurt am Hoch’schen Konservatorium studieren würde. Ich habe also nicht mein Abitur gemacht. Ich war überfroh, von der Schule wegzugehen. Dieser Sommer 1901 war einer der glücklichsten meines Lebens. Ich verschlang viele Bücher – Halbe, Sudermann, Hartleben und Schnitzler – und lernte daraus sehr viel. Ende August brachte mich meine Mutter nach Frankfurt, wo ich bei einem alten Klavierlehrer wohnte. Nach bestandenem Examen wurde ich ins Konservatorium aufgenommen. So kam der Tag der Freiheit.

Kwast war kein Leschetitzky, der war mehr auf Technik erpicht. Aber er war ein großartiger Musiker. Ich lernte auch ein bißchen Geige spielen und studierte Theorie bei Iwan Knorr. Kwast und Knorr verdanke ich die Grundlagen meiner musikalischen Entwicklung. Frankfurt gefiel mir sehr gut. Vor allem war ich sehr froh, allein zu sein. Und dann hörte ich eine Menge Opern und Konzerte. Als Musikstudenten hatten wir das Recht, in die Generalproben zu gehen, ohne zu bezahlen. Da hörte ich Eugen d’Albert und Paderewski. Namentlich d’Albert, der das Fünfte Konzert von Beethoven spielte, schien mir großartig. Damals hörte ich auch zum ersten Mal den ›Ring‹.

 

HEYWORTH

Waren Sie ein eifriger Wagnerianer?

 

KLEMPERER

Außerordentlich. Zunächst interessierte ich mich ungeheuer für den Text. Ich nahm Wagner sehr ernst, ich hielt ihn für den Nachfolger Beethovens. Gott, ich war sechzehn. Ich war mit Mozart, Beethoven und Schubert aufgewachsen. Was anderes kannte ich nicht. Einmal sollte ich das Klavierkonzert von Grieg üben, und für mich klang es schrecklich modern.

 

HEYWORTH

Neigten Sie eher zu Brahms oder zu Wagner?

 

KLEMPERER

Zuerst zu Wagner. Aber das hat sich mit der Zeit geändert. Dann im Verlauf des Klavierstudiums in Berlin fühlte ich mich sehr zu Brahms hingezogen. Später, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, war ich in Straßburg Kapellmeister bei Pfitzner. Wie Sie wissen, war er ein großer Wagnerianer, und er hat mich zum Teil wieder zu Wagner zurückgeführt.

Aber mein größter Eindruck in Frankfurt war der berühmte Sänger Stockhausen. Er gab Gesangstunden, und ich weiß nicht weshalb, ich wurde gebeten, in seinen Stunden zu begleiten. Er hatte einige sehr talentlose Schülerinnen. Da sang einmal eine von ihnen Schumanns Lied ›Du Ring an meinem Finger‹. Und er sagte: »Es ist ja schrecklich, wie Sie das singen. Herr Klemperer, spielen Sie bitte mal einfach die Melodie am Klavier.« Ich hab’s getan, und da sagte er:

»Sehen Sie, so muß es klingen.« Ich war riesig stolz. Mein Leben in Frankfurt verlief sehr regelmäßig. Acht Stunden übte ich Klavier, eine Stunde Geige und eine Stunde Theorie. Mir gefiel mein Zehnstundentag. Mein erstes Auftreten in einem Konzert des Konservatoriums war für mich ein großes Ereignis. Ich spielte Beethovens D-dur-Sonate op. 10. Die starke Nervosität, die mich befallen hatte, verging, als ich anfing zu spielen. Später verschwand sie leider nie.

Nach nur einem Jahr verließ mein Lehrer Kwast Frankfurt wegen einer Liebes- und Scheidungsaffaire, und ich folgte ihm nach Berlin ans Klindworth-Scharwenka-Konservatorium. Berlin gefiel mir gar nicht. Verglichen mit dem Hoch’schen Konservatorium war doch alles sehr kleinlich. Aber ich hatte ganz gute Lehrer. Ich studierte eifrig Klavier, daneben Theorie bei Philipp Scharwenka, dem ich sehr viel verdanke. Dann hatte ich noch Partiturspiel bei Wilhelm Berger. Das war sehr gut. Er war damals ein sehr bekannter Komponist, und er dirigierte auch das Meininger Orchester als Assistent von Steinbach. 1905 ging Kwast ans Stern’sche Konservatorium, das weit über dem Klindworth-Scharwenka stand, und ich ging mit ihm. Dort hatte ich auch Kompositions- und Dirigierstunden bei Hans Pfitzner.

Natürlich ging ich in Berlin sehr viel in Konzerte. Ich erinnere mich besonders an eines im damaligen Künstlerhaus am Potsdamer Platz, in dem Johannes Messchaert ein ganzes Programm von Mahler-Liedern sang. Mahler selbst begleitete am Klavier. Messchaert hatte keine große, aber eine sehr ausdrucksvolle Stimme. Er war eigentlich der Joseph Joachim des Gesangs, nicht weniger. Wie er in den Bach-Kantaten gesungen hat, war unbeschreiblich. Aber an jenem Abend war der Saal halb leer. Es war 1906, und man wußte noch nicht recht, wer Mahler war. Man wußte nur, daß er aus Wien kam, und das war weit weg.

Ich hörte auch Busoni und Max Reger, der ein großartiger Pianist war. Den größten nichtmusikalischen Eindruck machten auf mich die Aufführungen von Max Reinhardt. Er brachte wirklich Leben in die Bude, denn damals war das Königliche Schauspielhaus schrecklich. Reinhardt hatte als Schauspieler angefangen, als sehr guter Schauspieler. Er spielte immer alte Männer. Dann wurde er Direktor am Neuen Theater, dem späteren Theater am Schiffbauerdamm, heute Brecht-Theater. Da inszenierte er ›Ein Sommernachtstraum‹ mit Mendelssohns Musik. Das war wunderschön. Und er gab ›Pelleas und Melisande‹ – Maeterlincks Stück – Oscar Wildes ›Salome‹ und deutsche Klassiker. Mit dem Licht hat er gezaubert. Und seine Schauspieler – Moissi als Oberon, wunderbar. Dann wurde er Direktor vom Deutschen Theater. Aber später machte er mehr Spektakel, zum Beispiel die ›Orestie‹ im Zirkus. Er verdiente eine Menge Geld, aber künstlerisch war es ein Abstieg. Er hat ja den ›Sommernachtstraum‹ ein dutzendmal inszeniert, in London, Los Angeles und anderen Städten, aber nie so gut wie in Berlin. Die Frische war nicht mehr da. Nach 1933 ging er nach Amerika, aber da hatte er nicht viel Erfolg. Sehen Sie, die Amerikaner dachten, oh, Max Reinhardt, der bringt uns eine neue Art von Theater. Aber das stimmte nicht. Er gehörte zum alten romantischen Theater und machte das sehr gut. Aber er war kein Erneuerer.