Gestatten, dass ich sitzen bleibe - Udo Reiter - E-Book

Gestatten, dass ich sitzen bleibe E-Book

Udo Reiter

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Beschreibung

Ein ziemlich tolles Leben Das beindruckende Leben des Udo Reiter, der mit dreiundzwanzig Jahren einen Schicksalsschlag erlitt, an dem viele andere zerbrochen wären. Trotz seiner Querschnittlähmung gelingt es ihm mit Chuzpe, Fleiß und Hartnäckigkeit, eine glanzvolle Medienkarriere zu machen. Er ist fünf Jahre lang Hörfunkdirektor beim Bayerischen Rundfunk und baut nach der Wende den Mitteldeutschen Rundfunk auf, dem er viele Jahre erfolgreich als Intendant vorsteht. Er begegnet zahlreichen Persönlichkeiten des politischen und kulturellen Lebens, wie Golo Mann, Leonard Bernstein, Helmut Schmidt und Justus Frantz. Von all dem erzählt er mit Esprit und Witz, aber auch mit entwaffnender Offenheit. Sein Leben als Rollstuhlfahrer ist nicht nur anstrengend und aufregend, sondern bringt ihn mitunter auch in komische Situationen, etwa wenn er in der mongolischen Wüste Motorrad fahren soll oder von zwei Bodyguards beinahe dem Papst auf den Schoß gekippt wird. „So etwas Schönes, Starkes und mühelos Genaues habe ich selten gelesen.“ Martin Walser

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Seitenzahl: 322

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UDO REITER

Gestatten, dass ich sitzen bleibe

MEIN LEBEN

Impressum

ISBN 978-3-8412-0565-0

Aufbau Digital

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Februar 2013

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2013 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg unter Verwendung eines Fotos von Milena Schlösser

Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

www.aufbau-verlag.de

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Innentitel

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Inhaltsübersicht

»Arschlings Riggebach«

Gotteskind

»Benimm dich, sonst kommt der Schlauch«

Der Bruder vom Reiter

Singe, wem Gesang gegeben

»Kein Wunder, dass du ein Monster geworden bist«

»Die bessern Leit«

»Wenn das stimmt, ist mein Weltbild falsch«

Hinten weit in der Türkei

Rohtraut, Schön-Rohtraut

Nie wieder laufen

The Krüppel Brothers

In memoriam Dr. Maximilian Schäfer

Jakob van Hoddis

Smith & Wesson, 38-er spezial

»Doktoressa, helfen Sie!«

»Im Abendstudio hören Sie …«

»Sind wir zu negativ?« – Überlegungen zum Journalismus

Ein Spritzer rotes Gift

»Pferde auf der Fahrbahn«

Der Mann von der Frau Lehrer

Franziska Gustava

Rollstuhlgeschichten

Der Kuss des Maestros

Deutschland, einig Vaterland

Ein dreifaches Dilemma

Vergleichende Angebote

Das mongolische Sandwich - vom Reisen im Rollstuhl

Der Kirchturm von Gottscheina

Vom Provisorium zum ARD-Vorsitz

Die Wunder von Rom

Die Nacht von Magdeburg

Vom Schlachthof zum Medienzentrum

Digitale Revolution

Schwachstellen

»Der ewige Intendant«

Mohammed Mustafa

»Dein Leib ist abgebrauchet«

Zwischen Innovation und Korruption

»Ein Skandal folgt auf den nächsten«

»Reiter feuert Merkel«

»A man should know when to leave the party …«

»Wir alle fallen. Diese Hand da fällt«

Der König ist tot, es lebe der König

Bildnachweis

Personenregister

Am Nikolausabend 1966 habe ich mir das Kreuz gebrochen. Ich war in meinem alten VW-Käfer unterwegs von Pfaffenhofen an der Ilm, wo ich den Onkel Hans besucht hatte, zurück nach München, wo ich damals studierte. Die Straße geht durch einen Ort namens Reichertshausen. Es gibt dort eine Milchfabrik, und in jener Nacht gab es noch etwas: Blitzeis.

Wie es genau passiert ist, weiß ich nicht. Ich erwachte am nächsten Tag im Kreiskrankenhaus in Pfaffenhofen und wunderte mich, dass so viele Leute um das Bett standen: der Onkel Hans, die Tante Berta, mein Cousin Alfons, gut, die waren aus Pfaffenhofen, aber da standen auch mein Vater und meine Mutter und meine Freundin und mein Bruder, und alle sahen mich so komisch an. Ich habe gemurmelt: »Oh, die ganze Bagage!« und war dann wieder weg. Das nächste Mal wachte ich in München auf, im Klinikum rechts der Isar. Man versuchte gerade, mich auf einem Röntgentisch aufzusetzen, was mir fürchterlich weh tat. Der Grund für die Schmerzen wurde mir später klar: Es war das gebrochene Rückgrat.

Nach und nach gingen mir die Folgen dieses Nikolaustags auf: Ich war vom fünften Brustwirbel abwärts querschnittgelähmt. Ich würde nie mehr laufen können, ein Krüppel im Rollstuhl, und das mit dreiundzwanzig Jahren. Kein Studienabschluss, kein Beruf, keine Perspektive. Nicht gerade die Pole-Position.

»Arschlings Riggebach«

Dabei hatte es gar nicht so schlecht angefangen. Am 28. März 1944 kam ich in Lindau, einer idyllischen kleinen Insel im Bodensee, auf die Welt. Mein Vater war Flugzeugmechanikermeister und arbeitete bei Dornier in Friedrichshafen. Weil die Produktion von Flugzeugen als kriegswichtig galt, musste er nicht an die Front und überlebte den Krieg unbeschadet. In Lindau hat man vom Krieg wenig mitbekommen. Die Häuser haben gezittert, wenn Bomben auf das sechsundzwanzig Kilometer entfernte Friedrichshafen fielen. Dann gingen die Sirenen, meine Mutter packte mich in den Kinderwagen und rannte mit mir in den Wald, der gleich hinter unserer Wohnung begann. Das war alles.

Als der Krieg vorbei war, war ich ein Jahr alt. Es begann eine Kindheit in »Riggebach«. Dieses Rickenbach war ein Dorf auf dem Festland im Westen von Lindau nahe der Grenze zu Österreich. Keine feine Gegend. Ein paar Bauernhöfe, ein Fabrikgelände, ein Lebensmittelhändler, der Schuhmacher Taubenberger, der Bäcker Hechelmann und später Werkswohnungen der neu gegründeten Lindauer Dornierwerke. Dort, im Mühlweg 10, wohnten wir. Wenn es beim Skatspielen schlecht lief, sagten die Lindauer: »Es geht arschlings Riggebach.«

Gleich nach dem Krieg – den Flugzeugbau in Friedrichshafen gab es nicht mehr – hat mein Vater bei den Albau-Werken in Lindau-Reutin in der Kemptener Straße angefangen. Das war eine Klitsche, die aus dem Rest-Aluminium der nationalsozialistischen Flugzeugproduktion Paddelboote und Kochtöpfe herstellte. Das Geschäft muss schlecht gegangen sein, mein Vater kam am Ende des Monats oft ohne Geld nach Hause. Dafür bekam er ein paar Aluminiumtöpfe. Mit denen fuhren wir samstags zum »Hamstern«. Er setzte mich in den Kindersitz auf seiner Fahrradstange und radelte mit mir das Bodenseeufer hinunter: Wasserburg, Langenargen, Nonnenhorn. Wir klapperten die Bauernhöfe ab, und wenn wir Glück hatten, tauschten die Bauern die Töpfe gegen ein paar Äpfel oder einen Sack Kartoffeln. Damals habe ich die ersten Kirschen meines Lebens bekommen. Auf dem Heimweg habe ich sie vorn auf dem Fahrrad aus einem Körbchen heraus gegessen und die Kerne auf die Straße gespuckt. Zu Hause hatte ich Bauchweh.

Im Mühlweg liefen damals schnurrbärtige dunkelhäutige Männer herum: Marokkaner. Lindau war französische Besatzungszone. Das DKW-Motorrad, das mein Vater in den fünfziger Jahren gebraucht kaufte, hatte das Nummernschild »FBy 1099«. FBy hieß französische Besatzungszone Bayern. Die Hausfrauen im Mühlweg hatten Angst vor den Marokkanern. Nur die Frau Nagengast nicht. Die ließ sich mit einem ein und taufte ihre Tochter dann Yvonne. Sie wurde daraufhin von den anständigen Rickenbacherinnen gemieden.

Es gab wenig zu essen in den Nachkriegsjahren. Meine Eltern haben mir erzählt, dass sie manchmal in der Nacht aufgestanden sind, um die Kartoffelschalen vom Vortag nochmals aufzukochen und als Suppe zu essen. Wenn ich das heute erzähle, lacht mich meine Tochter immer aus und sagt, ich würde Sozialkitsch verbreiten. Ich bin aber ziemlich sicher, dass es so war. Meine Eltern haben sich das bestimmt nicht ausgedacht. Ende des Monats schickte meine Mutter meist mich zum Einkaufen. Einem Kind kann man kein Geld mitgeben, hieß es dann. Beim Zacher, dem Gemischtwarenhändler, konnte man anschreiben lassen: Brot, Zucker, Nudeln und gelegentlich Camelia. Das waren blaue Schachteln, auf denen ein merkwürdiger Spruch stand: »Camelia gibt allen Frauen Sicherheit und Selbstvertrauen«. Wenn ich fragte, was denn da drin sei, hieß es nur: »Das ist nichts für Kinder«. Aufklärung war damals noch nicht en vogue.

Die Albau-Werke waren inzwischen eingegangen. Mein Vater hatte eine neue Arbeit gefunden, bei der Lindauer Dornier GmbH, die sich nach dem Krieg in Rickenbach angesiedelt hatte. Die Firma gehörte Peter Dornier, dem zweitältesten der sieben Söhne des legendären Flugzeugbauers. Er versuchte sich mit Textilmaschinen und kooperierte dazu mit dem Chemnitzer Unternehmer Haubold, einem Nachfahren von Carl Gottlieb Haubold, dem »Vater des Chemnitzer Maschinenbaus«. Unser Haubold hatte mit seinen drei Töchtern nach 1945 die Sowjetische Besatzungszone verlassen und war nach Lindau umgesiedelt. Die schon etwas ältlichen Haubold-Damen wohnten in der sogenannten Villa, dem feinsten Haus in Rickenbach. Durch markante Kleidung, für Rickenbacher Verhältnisse ungewöhnliches Make-Up und einen dicken Opel-Kapitän, in dem sie durch die Gegend kutschierten, trugen sie zur optischen Aufwertung des Dorfes bei. Mit dem Haubold’schen Know-how wurde das neu gegründete Unternehmen im Lauf der Jahre zu einem weltweit erfolgreichen Produzenten von Webstühlen und Webmaschinen. Mein Vater fing 1950 dort als Werkmeister an. Er bekam zweihundert Mark pro Monat, und das regelmäßig. Es ging langsam aufwärts. Auf die Einkaufsliste kamen jetzt Butter, Leberwurst und gelegentlich »Südtiroler Sonnenschein«. Das war ein dünner Rotwein, die Literflasche um 1,75 DM. Dieser Exzess sprach sich herum, und mein Vater kam bei den Mühlweg-Leuten in den Ruf eines Gourmets.

Neben unserem Haus befand sich die Dornier-Kantine. Dort musste ich abends oft eine Flasche Bier holen. In der Kantine war auch das einzige Telefon im ganzen Mühlweg. Wenn beispielsweise jemand krank war und man den Dr. Klose rufen musste, ging man dorthin. Das war aber selten der Fall. Herr Weber, der Kantinenpächter, hatte riesengroße buschige Augenbrauen, wie ich sie später nur noch bei Theo Waigel gesehen habe. Er hat immer eine Sau gehalten und die dann selbst in der Waschküche geschlachtet. Wir Mühlweg-Kinder, der Herbst Helmut, der Spieß Oskar, der Dossenberger Walter und ich, durften dabei zuschauen. Es war gruselig. Der Weber hat der Sau mit der umgekehrten Axt mehrmals auf den Schädel gehauen. Sie hat gequiekt, bei jedem Schlag weniger, bis sie schließlich platt auf dem Boden lag. Dann hat er ihr mit dem Messer den Hals aufgeschnitten und das Blut in einen Kübel laufen lassen. Unter pädagogischen Gesichtspunkten war das sicher nicht einwandfrei. Aber damals war man noch nicht so weit.

Die Milch brachte tagtäglich der Häckelsmüller, ein mürrischer, wortkarger Mann mit eckigem Gesicht. Auf seinem Leiterwagen zog er drei große Milchkannen aus Weißblech hinter sich her. Die Frauen kamen dann mit ihren Milchkrügen aus den Häusern, unserer war weiß mit blauen Punkten, und ließen sich die Milch mit einer Schöpfkelle in den Krug füllen.

Kartoffeln und Briketts wurden später von Dornier organisiert. Sie kamen in Waggons auf das Werksgelände, wurden dort in Säcke gefüllt, nach Hause gekarrt und im Keller eingelagert. Einmal waren die Kartoffeln miserabel. Viele grün, andere mit faulen Stellen. Als sich mein Vater, der im Betriebsrat war, beim Lieferanten beschwerte, meinte der nur: »Sie werns scho fressn.« Die Position der Verbraucher war damals noch schwach. Wenn der Winter besonders kalt war, erfroren die Kartoffeln und schmeckten dann unangenehm süß. Aber es half nichts, sie kamen auf den Tisch, und was auf den Tisch kam, wurde gegessen. Weggeworfen wurde nichts, vor allem kein Brot. Das geht mir heute noch nach. Wenn ich frisches Brot kaufe, habe ich ein Problem damit, das alte zu entsorgen. Ich esse es lieber auf und lasse das neue alt werden. Anderen Kriegskindern soll es ähnlich gehen.

Einmal in der Woche, am Sonntag, gab es jetzt Rindfleisch vom Metzger Lettmeier in Lindau-Reutin. Es brutzelte den ganzen Samstag in einem gusseisernen Topf vor sich hin. Sonntags nach der Kirche kam es zum obligatorischen Kartoffelsalat auf den Tisch. Der Kartoffelsalat meiner Mutter hat sich von allen anderen Sorten, die ich im Lauf meines Lebens noch essen sollte, unterschieden. Ganz dünn geschnittene Kartoffeln (»Heiß geschnitten ganz allein, kann der Salat geschmeidig sein«, sagte die Oma), Pfeffer, Salz, Zwiebeln, Essig, Öl und heißes Wasser. Sonst nichts. Keine Äpfel, kein Speck, keine Gürkchen, keine Mayonnaise. Mutters Kartoffelsalat ist bis heute das Einzige, was ich selber kochen kann. Er schmeckt prima, und ich habe schon viel Lob dafür geerntet. Es gab Leute, die mich nur deswegen besucht haben. Kati Witt zum Beispiel. Ich hatte ihr auf irgendeiner Medienparty von meiner einschlägigen Kochkunst erzählt. Sie besuchte mich dann mit ihrer Managerin und brachte als Gegenentwurf einen sächsischen Kartoffelsalat ihrer Mutter mit. Wir haben einen Geschmacksvergleich gemacht. Ihrer war auch nicht schlecht.

Am Sonntagmittag im Mühlweg bekam ich auch ein kleines Stück vom Rindfleisch. Montags gab es für den Vater den Rest vom Braten. Überhaupt war es damals selbstverständlich, dass der Vater etwas anderes zum Essen bekam als Frau und Kinder. Abends kriegte er meist ein Stück Käse und ein paar Scheiben Wurst, dazu die Flasche Bier aus der Kantine. Meine Mutter und ich, später auch mein Bruder, haben Griesbrei oder gekochte Kartoffeln gegessen.

Die Kinder im Mühlweg waren trotzdem – vielleicht nicht glücklich, aber zufrieden. Ich hatte Eltern, ein eigenes Zimmer, eine Oma und sogar Spielzeug. Der Schreiner Schmid, der mit seiner Frau und vier Töchtern unter uns wohnte, hat mir einmal ein Lastauto aus Holz gezimmert. Und dann gab es noch einen unförmigen schwarzen Teddybär, den ich immer mit ins Bett nahm. Im Sommer haben wir im Wald »Räuber und Gendarm« gespielt, Fuchslöcher untersucht, Feuerchen gemacht, Baumbuden gebaut und im Rickenbach mit der Hand Forellen und Krebse gefangen. Doktorspiele gab es natürlich auch. Die Kinder auf dem Dorf mögen in der Sexualtheorie den Stadtkindern ja nachhinken. Was die praktische Aufklärung betrifft, sind sie meist weiter. Da sieht man einiges bei den Kühen und bei den Hühnern. Und da gab es die Schmid Irmtraud, die Wannagat Gisela, die Dossenberger Martha und die Nagengast Wonni. Die Angst, bei unseren Treffen unter der Treppe oder auf dem Dachboden von Erwachsenen erwischt zu werden, war groß. Das heutige Verständnis für kindliche sexuelle Neugier war damals unvorstellbar. Es hätte härteste Strafen gesetzt. Wahrscheinlich hat der Reiz des strikt Verbotenen die Sache noch interessanter gemacht. Vor allem die Schmid Irmtraud, die direkt unter uns wohnte, war fast so etwas wie meine feste Freundin. Dreißig Jahre später – wir hatten uns längst aus den Augen verloren – habe ich gehört, dass sie ihren Sohn Udo getauft hat. Das fand ich rührend. Offenbar hat sie ihre Kindheit im Mühlweg auch nicht vergessen.

Gotteskind

Damals hatte ich allerdings ein spezielles Problem, das mir in den kommenden Jahren noch sehr zu schaffen machen sollte. Es war, wenn man so will, ein theologisches Problem. Mein Vater war überaus fromm. Ein redlicher Mann, rechtschaffen, fleißig, angesehen – aber mit einem schweren Schlag ins Pietistisch-Sektiererische. Ein Homo religiosus. Schon als junger Mann war er in die Neuapostolische Kirche eingetreten, eine protestantische Erweckungsbewegung, die um 1830 in England entstanden war und deren Apostel ihre Anhänger auf das zweite Kommen Jesu vorbereiten wollten. Mein Vater nahm das sehr ernst. Er war Gemeindeevangelist und hat regelmäßig gepredigt. Unter anderem hat er die Botschaft eines sogenannten Stammapostels verkündigt, der fest davon überzeugt war, dass der Herr Jesus zu seinen Lebzeiten wiederkommen und seine Gemeinde direkt in den Himmel heimholen würde. Dreimal pro Woche gingen wir in die Kirche, zweimal am Sonntag, vormittags und nachmittags, einmal am Mittwoch, abends. Jahr für Jahr. Am Sonntag liefen wir zu Fuß von Rickenbach nach Aeschach, wo die Kirche stand, zweimal hin, zweimal zurück, insgesamt etwa fünfunddreißig Kilometer. Am Mittwoch traf man sich im Wohnzimmer bei Rehkuglers in Oberhochsteg, das waren dann nur fünf Kilometer. Das mit dem unmittelbar bevorstehenden Kommen Jesu klingt für Außenstehende vielleicht etwas unwahrscheinlich, aber wir haben diesen Glauben von klein auf eingetrichtert bekommen, und ich war bis in die Pubertät hinein fest von meiner bevorstehenden Himmelfahrt überzeugt. Meinem Freund Jürgen Müller wollte ich noch mit vierzehn Jahren im Gymnasium klarmachen, dass nach der Offenbarung des Johannes einhundertvierundvierzigtausend Auserwählte demnächst direkt in den Himmel entrückt würden und dass er doch unbedingt die Chance ergreifen solle, bei diesem Ereignis dabei zu sein. Er sah mich damals sehr merkwürdig an. Aber ich greife vor.

Die anderen Kinder im Mühlweg waren evangelisch. Ich habe mich als kleiner Junge in meiner religiösen Sonderrolle unwohl gefühlt. Einmal sagte ich zu den anderen Kindern, was mein Vater mir beigebracht hatte: »Ich bin ein Gotteskind.« Darauf sagte die Schmid Rosmarie: »Ja, meinst du denn, wir sind Elefantenkinder?« Das hat mich sehr irritiert. Als ich noch nicht zur Schule ging, haben mich meine Eltern, wenn sie am Mittwoch Abend in die Kirche gegangen sind, immer ins Bett gebracht und allein gelassen. Einmal bin ich wach geworden und habe vor Angst aus dem Fenster gebrüllt. Ich dachte, jetzt sind sie in den Himmel gekommen und haben mich nicht mitgenommen. Unten kamen Schmids aus dem Haus gelaufen und riefen nach oben: »Die kommen doch wieder!« Da war ich still.

Auch zu Hause wurde viel gebetet, nach dem Aufstehen, vor dem Schlafengehen, vor dem Essen. Am Samstagabend saß man in der Küche, und der Vater las vor – aus der Bibel oder aus der »Wächterstimme«, einem neuapostolischen Kirchenblättchen, das früher einmal »Wächterstimme Zions« geheißen hatte, aber in der NS-Zeit titelbereinigt wurde. Noch heute höre ich seine Stimme, und bis heute kann ich schwer ertragen, wenn mir jemand etwas vorliest. Vaters Frömmigkeit war verbunden mit einer militanten Lustfeindlichkeit. Ich durfte zum Beispiel nicht auf den Jahrmarkt und nicht ins Kino. Das hielt er für Teufelswerk. Einmal war in Reutin ein Radrennen. Da wollte ich hin zuschauen. Mein Vater rief mich in die Küche, schaute mich ernst an und fragte, ob ich nicht wüsste, wo der zwölfjährige Jesus hingegangen sei: »In den Tempel, nicht zum Radrennen.« Ich bin trotzdem hingegangen, aber mit sehr schlechtem Gewissen.

Meine Mutter war weniger fromm, aber sie hat dem religiösen Wahn ihres Mannes keinen Widerstand geleistet. So etwas war damals nicht vorstellbar. Sie war Hausfrau. Sie kümmerte sich darum, dass das Essen mittags und abends pünktlich auf dem Tisch stand, immer zehn Minuten nach dem Sirenensignal, das bei Dornier die Mittagspause oder den Feierabend ankündigte. Sie sorgte für eine saubere Wohnung, saubere Wäsche und saubere Kinder. Und dass es dem Mann gut ging. Ein übliches deutsches Frauenleben im Kleinbürgermilieu der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Ins Leere laufen ließ sie ihn manchmal trotzdem. Und behutsam korrigiert hat sie ihn auch. Das war möglich. In der Neuapostolischen Kirche war es zum Beispiel Pflicht, zehn Prozent des Einkommens in den Opferkasten zu legen, also der Kirche zu spenden. »Den Zehnten«, wie es im Alten Testament hieß. Verwaltet hat das gesamte Geld bei uns meine Mutter, sie war also auch für das »Opfer« zuständig. Ich bin ziemlich sicher, dass sie diesen Zehnten nur offiziell in den Opferstock legte und in Wirklichkeit regelmäßig ein paar Mark für die Familie abzweigte. Als ich sie viele Jahre später einmal danach gefragt habe, ist sie rot geworden.

»Benimm dich, sonst kommt der Schlauch«

Auch in der Kindererziehung waren sich meine Eltern nicht immer einig. Dass damals streng erzogen wurde, auch mit Schlägen, war selbstverständlich. Das galt in der Familie ebenso wie später in der Schule. Aber was die Intensität der Strafaktionen betraf, war meine Mutter deutlich zurückhaltender und fiel dem Vater gelegentlich in den Arm, und zwar buchstäblich. Wenn ich etwas angestellt hatte, hat mein Vater vom Küchenschrank ein Stück Gartenschlauch genommen, das eigens zu diesem Zweck dort aufbewahrt wurde, und mich damit durchgehauen. »Benimm dich, sonst kommt der Schlauch«, war eine feste Redewendung bei uns. Auch wenn man die Wirkung von Abschreckung in der modernen Strafrechtsdiskussion bestreitet, glaube ich schon, dass die Schlauchandrohung manche Untat präventiv verhindert hat. Wir waren jedenfalls ziemlich brave Kinder. Wenn es zu einer Bestrafung kam, hat mein Vater mich meist übers Knie gelegt und auf den Hintern geschlagen. Zu seiner Ehrenrettung muss ich aber sagen, dass es immer einen Grund dafür gab. Entweder ich war frech, oder ich hatte mutwillig etwas kaputt gemacht. Einfach drauflosprügeln, wie es in anderen Familien vorkam, vor allem wenn die Väter betrunken waren, das wäre mit seinem protestantischen Ethos nicht vereinbar gewesen. Einmal, das war der schwerste Fall, hat er mich am Arm gepackt und mit dem Schlauch auf meine Rückseite eingeschlagen. Ich habe gebrüllt und bin an seiner Hand im Kreis herumgelaufen. Er schlug weiter, immer noch eine Runde, bis ich so grün und blau war, dass ich danach eine Woche lang nicht zum Schwimmen gehen konnte. Das ging sicher ein bisschen weit, aber meine »Tat« war auch nicht ohne: Es war Sonntag Vormittag, man war wie üblich in der Kirche, aber aus irgendeinem Grund, vielleicht waren zu wenig Plätze da, musste ich diesmal draußen bleiben und die eineinhalb Stunden warten, bis der Gottesdienst vorbei war und die Eltern wieder herauskamen. Mir war langweilig, und ich begann aus den zahlreichen Fahrrädern, die die Glaubensbrüder vor der Kirche abgestellt hatten, die Luft abzulassen. Das hat so schön gepfiffen. Aber dann war mir immer noch langweilig, und ich habe – der Teufel muss mich geritten haben – die Ventile aus den Fahrradreifen herausgedreht und sie im hohen Bogen weggeworfen. Als die Gläubigen schließlich aus der Kirche herauskamen und nach Hause radeln wollten … Ich muss nicht weiter erzählen.

Auch sonst hat mein Vater mitunter ungewöhnliche Erziehungsmethoden angewandt. Einmal – an das Delikt kann ich mich nicht mehr erinnern – sollte ich des Hauses verwiesen werden. Das war natürlich nicht ernst gemeint, aber mit meinen vier oder fünf Jahren habe ich es geglaubt. Weil mein Vater auf die Schnelle die Hosenträger nicht gefunden hat, hat er mir die Hose mit einem Strick zugebunden und mich los geschickt. Ich kann mich noch heute erinnern, was er dabei sagte: »Geh fort. Dann bist du ein armes Waisenbüble, hast keine Mama und keinen Papa mehr, alle schubsen dich weg, keiner will dich.« Mir sind die Tränen die Wangen runtergelaufen, bis schließlich meine Mutter eingegriffen und mit einem energischen »Schluss jetzt!« dem Ganzen ein Ende gesetzt hat.

Ich weiß, dass man solche pädagogischen Bemühungen heute eher skeptisch beurteilt und dass es vor allem gegen körperliche Züchtigung ernsthafte Einwände gibt. Ich habe meine eigene Tochter auch anders erzogen (wenn überhaupt). Es ist leicht, sich heute vom hohen Ross des aufgeklärten Intellektuellen über die früheren Methoden zu entrüsten, und ich will sie auch nicht verteidigen, aber manchmal frage ich mich schon, wenn ich die Ergebnisse unserer liberalen Erziehung sehe, ob der heutige pädagogische Hochmut wirklich so berechtigt ist. Wir wussten als Kinder immerhin, was gut und was schlecht war, was man tun durfte und was nicht. Und dass es Konsequenzen hat, wenn man die Grenzen des Erlaubten überschreitet. Zumal, das darf man nicht übersehen, die Härte ja nur eine Seite dieser Erziehung war. Die andere Seite war Fürsorge, Zuständigkeit und Verlässlichkeit. Wir wussten, wo wir hingehörten und dass man im Ernstfall für uns da war. Dass dabei etwas mehr Zärtlichkeit und offen gezeigte Zuneigung nicht geschadet hätte, will ich gern einräumen. Ich kann mich beispielsweise nicht erinnern, dass meine Mutter mich je geküsst oder auch nur in den Arm genommen hätte. Auch dass meine Eltern sich einmal umarmt hätten, habe ich nie gesehen. Das galt im pietistischen Arbeitermilieu dieser Zeit als unangemessene Frivolität.

Dennoch hatte auch die strenge Religiosität meines Vaters, die in ihrer Engherzigkeit und Verbohrtheit weiß Gott abschreckend war, ihre positiven Seiten. Ich bin zum Beispiel ziemlich bibelfest, und diese Bibel ist ein wunderbares Buch, das, von jeder Religiosität abgesehen, zu Recht zum kulturellen Erbe der Menschheit gehört. Die Begegnung mit diesem Kulturerbe verdanke ich der bornierten religiösen Zwangsausübung meines frommen Vaters – den vielen Samstagabend-Lesungen am Küchentisch und den endlosen Predigten in seiner Kirche. Noch heute wundern sich Leute, die das nie bei mir erwarten würden, über meine guten Bibelkenntnisse. (Zum Glück in der alten Luther-Übersetzung!) Aber auch darüber hinaus: Ich kann nicht finden, dass mir das enge religiös-moralische Korsett, in dem ich aufgewachsen bin, geschadet hat. Allein die Möglichkeit, als Jugendlicher diese Fesseln zu sprengen, als Gymnasiast Nietzsche zu entdecken und das Christentum in gymnasialem Überschwang als Sklavenreligion zu enttarnen, war die Mühe der religiösen Erziehung wert. Ich bin meinem Vater jedenfalls im Nachhinein eher dankbar für das, was er an mir getan hat. Und manchmal frage ich mich, ob ich mein späteres Schicksal ohne diese drakonische Erziehung genau so bewältigt hätte.

Der Bruder vom Reiter

Zurück in den Mühlweg. Weihnachten 1949. Irgendetwas kündigte sich an. Als ich am Weihnachtsmorgen wach wurde, war nur mein Vater da. Der geschmückte Baum stand im Wohnzimmer. Wo ist denn die Mama? »Wir fahren in die Stadt«, war seine Antwort. Ich wusste nicht, was das sollte, und war vollkommen verwirrt. Zwar hatte man mir seit einiger Zeit ein merkwürdiges Gebet beigebracht: »Lieber Gott, schenk mir doch ein Brüderchen«, aber dass das so konkret würde und noch dazu an Weihnachten, wer sollte das voraussehen. Langsam bekam ich mit, was passiert war: Das Gebet war erhört worden. Im Elisabethenheim auf der Insel kam am 25. Dezember mein Bruder auf die Welt. Roland sollte er heißen. Äußerst problematisch wurde es, als er ein paar Tage später nach Hause in den Mühlweg geholt wurde. Alle waren da, Vater, Mutter, Oma, Opa, und standen um den Neuankömmling herum. Ich hockte unterm Küchentisch und dachte: »Das wars, jetzt ist es vorbei. Jetzt kümmern sie sich bloß noch um den.« Das war die erste Erfahrung von Verlassensein in meinem jungen Leben. Es kam dann aber doch nicht ganz so schlimm. Ich habe zu meinem Bruder, der heute ein angesehener Orthopäde in Österreich ist, ein sehr herzliches Verhältnis und bin froh, dass er da ist. Seine Tochter Veronika ist mein Patenkind.

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