Gesundheit! Was die Medizin so alles kann (GEO eBook) -  - E-Book

Gesundheit! Was die Medizin so alles kann (GEO eBook) E-Book

4,8

Beschreibung

Wie funktioniert unser Körper? Was können wir tun, wen er es mal nicht tut? Und wie ergründen Forscher die Mechanismen von Krankheit und Gebrechen, um sie immer besser bekämpfen zu können? Das sind Themen, denen die Wissenschaftsjournalisten von GEO immer wieder nachgehen. In diesem eBook haben wir eine Auswahl der besten Reportagen zu Themen der Medizin zusammengestellt. Von neuen Therapie-Ansätzen gegen Allergie oder Schmerzen über ungewöhnliche Grundlagenforschung zur Alzheimer-Demenz - bis hin zu der Frage: Was können Heilkräuter für unsere Gesundheit leisten, und was nicht? Kapitel: Allergien: Neue Wege im Kampf gegen eine Volkskrankheit Schmerztherapie 1: Wege aus der Pein Schmerztherapie 2: Der durch die Hölle geht Alzheimer: Beginnt der Sieg über die Demenz in Kolumbien? Organspende: Tatort Klinik Madrid Medizin-Forschung: Die neue Heilkunst Muskeln: Die Motoren des Lebens Darmleiden: Ein neuer Bauch für Lenie Naturheilkunde: Die neue Kraft der Kräuter Traumaforschung: Der Terror in den Köpfen Krankenhäuser 1: Halbgötter in Not Krankenhäuser 2: Gute Ärzte Schlechte Ärzte

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 341

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (8 Bewertungen)
6
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gesundheit!

Zwölf GEO-Reportagen ausdem Reich der Medizin

Herausgeber:GEODie Welt mit anderen Augen sehenGruner + Jahr AG & Co KG, Druck- und Verlagshaus,Am Baumwall 11, 20459 Hamburgwww.geo.deTitelbild: Andreas Reeg

Liebe Leserin, lieber Leser,

es ist vielleicht das Privileg eines Monatsmagazins, sich bei Texten über neue Erkenntnisse der Wissenschaft nicht von der Atemlosigkeit der Aktualität treiben lassen zu müssen. Wir müssen nicht jeden Tag unsere Seiten mit Meldungen über diese oder jene Studie füllen, um dann wenig später von einer Untersuchung zu erzählen, die vielleicht das Gegenteil oder etwas ganz anderes hervorgebracht hat. Unsere Wissenschaftsreporter versuchen eher, einem Phänomen als Ganzes auf den Grund zu gehen, es von allen Seiten zu beleuchten, Neuigkeiten abzuwägen und einzuordnen. Dem Leser einen Überblick zu verschaffen.

So ist das auch bei Reportagen über den menschlichen Körper und dessen medizinische Erforschung. GEO-Redakteurin Hania Luczak etwa hatte die Zeit, sich über Monate hinweg immer wieder mit den Schicksalen von Menschen mit extremen Darmkrankheiten zu befassen, um dann eingebettet in diese zutiefst anrührende Geschichte jene unfassbaren medizinischen Fortschritte zu erklären, die den Kranken helfen sollen: darunter die erste Darmtransplantation, die an einem Kind in Deutschland vorgenommen wurde. Reporter Bernhard Albrecht konnte ein Team von Wissenschaftlern bis in die Berge Kolumbiens begleiten, wo sie einen höchst ungewöhnlichen Ansatz verfolgen, der Alzheimer-Demenz künftig beizukommen. Und unser Kollege Malte Henk konnte sich wochenlang vertiefen in die neuesten Forschungen zu den Muskeln – und zu den Erkenntnissen, wie diese Motoren des Lebens bei Laune zu halten sind.

Und natürlich werden Sie in den zwölf Geschichten dieses eBooks vielen Ärzten ganz persönlich begegnen – Vertretern jenes hochspezialisierten Berufsstandes, die im Zehnminuten-Takt qualifizierte Äußerungen abgeben müssen zu Hämoglobinwerten, Herzkathetern, Neurodermitis, Antibiotika, Innenohr-Schwerhörigkeit. Und die binnen Sekunden Leben mit Luftröhrenschnitten retten können, oder über Jahre mit einer Insulintherapie. Nicht verwunderlich, dass es in diesem eBook auch um Grenzerfahrungen geht. Für beide Seiten, für Patienten und Ärzte.

Herzlich Ihr

Peter-Matthias Gaede

Chefredakteur GEO

Inhalt

Allergien

Neue Wege im Kampf gegen eine Volkskrankheit

von Klaus Bachmann, Fred Langer und Susanne Krieg

Schmerz 1

Wege aus der Pein

von Klaus Bachmann

Schmerz 2

Der durch die Hölle geht

von Constanze Kindel

Alzheimer

Beginnt der Sieg über die Demenz in Kolumbien?

von Bernhard Albrecht

Organspende

Tatort Klinik Madrid

von Martina Keller

Medizin-Forschung

Die neue Heilkunst

von Petra Thorbrietz

Muskeln

Die Motoren des Lebens

von Malte Henk

Darmleiden

Ein neuer Bauch für Lenie

von Hania Luczak

Naturheilkunde

Die neue Kraft der Kräuter

von Claus Peter Simon

Krankenhäuser 1

Ärzte in Not

von Hania Luczak

Krankenhäuser 2

Gute Ärzte Schlechte Ärzte

von Volker Stollorz

Traumaforschung

Der Terror in den Köpfen

Von Ines Possemeyer

Allergien

Endlich aufatmen?

Allergien – schon jeder dritte Europäer leidet unter ihnen. Und sie breiten sich rasant weiter aus. Die Wissenschaft geht nun neue Wege und verspricht bessere Rezepte für Vorbeugung und Therapie. Ein dreiteiliger Report

von Klaus Bachmann, Fred Langer und Susanne Krieg

1. Das Leiden der Moderne

Es gab Zeiten, da fiel es Carola Sigrist schwer, die unsichtbaren Feinde in ihrem Leben richtig einzuschätzen. All jene Widersacher, die manchmal kaum zu umgehen sind und das körpereigene Abwehrsystem der 41-jährigen Biologin immer wieder dazu bringen, augenblicklich aufzurüsten. So massiv, dass es sich selbst außer Gefecht setzt. Die Folgen: schwellende Schleimhäute oder Kopfschmerz, manchmal Ausschlag, triefende Augen, explosionsartige Niesanfälle oder Juckreiz an unerreichbaren Stellen in Rachen und Ohr. Am schlimmsten aber ist das Gefühl, zu ersticken. Wenn sich die Bronchien bedrohlich zuschnüren und der Husten in ein unheimliches Pfeifen übergeht.

„Zum Glück bin ich noch nie sofort umgefallen.“ Sigrist sagt es mit einer Gelassenheit, die erstaunlich erscheint für einen Menschen, dem sein Körper seit Jahrzehnten feindselige Beziehungen zu vermeintlich harmlosen Substanzen aufzwingt. Doch inzwischen ist Carola Sigrist gewappnet. Sie hat gelernt, strategisch vorzugehen. Denn vor allem weiß sie nun, wer ihr Gegner ist, wann und wie er angreifen wird.

Im Laufe ihres Lebens hat ihre Immunabwehr nicht nur überbordend auf Reizstoffe reagiert, die von Hausstaubmilben und Katzen stammen, sondern auch auf Süßgräser (darunter viele Getreidesorten), auf Birke und andere Frühblüher wie Haselnuss und Erle. Wenn deren Sporen in milden Wintern schon ab Februar in dichten Wolken in die Welt hinausgeschleudert werden, dringen sie über die Schleimhäute in den Körper ein und lösen bei manchen Betroffenen über einen Großteil des Jahres Heuschnupfen aus. Doch damit nicht genug: Die fliegenden Allergene aus der blühenden Landschaft bilden auch noch kriegerische Allianzen mit vielen Lebensmitteln. Weil die Allergie auslösenden Eiweiße mancher Pollen bestimmten Nahrungsmittelproteinen ähneln, kann Sigrists irregeleitete Körperabwehr auch beim Essen häufig nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden. Sogenannte Kreuzallergien haben dazu geführt, dass sie obendrein mit Soja, Sellerie, Fenchel, Avocados, Äpfeln, Birnen, Kirschen, Kiwis, Nektarinen, Pfirsichen, Pflaumen, Litschis, Mandeln, Thymian und Rosmarin auf Kriegsfuß steht.

„Essen ist Kopfsache geworden statt Genuss“, sagt Carola Sigrist. Besonders fatal für jemanden wie sie sei, dass in industriell hergestellten Lebensmitteln nur die wenigsten Allergie auslösenden Inhaltsstoffe gekennzeichnet werden müssen. Und auch auf den Speisekarten vieler Restaurants versucht sie vergeblich, ihre Widersacher rechtzeitig aufzuspüren. „Besonders Soßen sind wie russisches Roulette.“ Am Ende bleibe oftmals nur Verzicht.

Was ist das für eine Verirrung des Immunsystems, die immer mehr Menschen heimsucht und zu einem der großen chronischen Leiden der Moderne geworden ist? Laut der Weltallergieorganisation WAO breitet sich die Krankheit wie eine Seuche rund um den Erdball aus, schneller noch als Herzinfarkt oder Krebs. Und endet mitunter ähnlich verheerend: Schon die Spur einer Erdnuss oder der Stich einer Wespe genügt bei manchen Menschen, um einen anaphylaktischen Schock auszulösen, jenen allergischen Extremfall, bei dem innerhalb weniger Minuten Atmung und Herz-Kreislauf-System versagen.

Wie stark eine Allergie ausgeprägt ist, ob sie Lebensgefahr bedeutet oder nur ein lästiges Jucken, ob sie eine einmalige Erfahrung bleibt oder regelmäßig wiederkehrt, variiert von Mensch zu Mensch. Studien gehen davon aus, dass inzwischen bis zu 30 Prozent der Weltbevölkerung einen mehr oder minder schweren Amoklauf der Antikörper am eigenen Leib erfahren haben. Allein in Deutschland hat sich die Häufigkeit allergischer Reaktionen innerhalb nur einer Generation fast verdoppelt. Atemraubender Spitzenreiter unter den hierzulande etwa 30 Millionen Leidtragenden ist der Heuschnupfen, nicht selten die Vorstufe zu Asthma. Nimmt man Insektengift-, Nahrungsmittel-, Kontakt-, Licht-, Medikamenten- und alle weiteren Allergien hinzu, könnte bis 2015 schon jeder zweite Europäer betroffen sein.

Die zunehmende Macht der Allergene stellt Forscher und Ärzte vor Rätsel. Zwar sind die biochemischen Prozesse hinter jenem Fehlalarm des Körpers weitgehend entschlüsselt. Doch unklar bleibt, warum er immer mehr Menschen heimsucht und andere dennoch verschont.

Dass Erbanlagen eine Rolle bei der Entstehung von Allergien spielen, gilt als gesetzt. Doch sie allein können den extremen Anstieg der vergangenen Jahrzehnte nicht erklären. Und so versuchen Wissenschaftler auch weiterhin fieberhaft, begünstigende Faktoren und mögliche Schutzmechanismen zu verstehen (siehe Teil 2), um Diagnose und Therapie (siehe Teil 3) vorantreiben zu können.

„Nur einer von zehn Allergikern wird korrekt behandelt“, erklärt Torsten Zuberbier, Carola Sigrists Arzt und Direktor der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie an der Charité in Berlin. Einem Dermatologen, moniert Zuberbier, stünden für die Behandlung eines Allergikers pro Quartal nur 18 Euro zur Verfügung – oft nicht einmal genug, um die Substanzen für einen ganz normalen Allergietest bezahlen zu können. Viele Ärzte, beklagt die Deutsche Gesellschaft für Allergologie, hätten es daher aufgegeben, Allergien überhaupt zu behandeln. Und weil Medikamente wie bestimmte Antihistaminika oder Hautcremes bei Neurodermitis von gesetzlichen Krankenkassen immer seltener erstattet werden, haben inzwischen auch Millionen Patienten resigniert – und nehmen zusätzliche Kehrseiten ihres Leidens in Kauf: Untersuchungen in Großbritannien etwa ergaben, dass die Leistungsfähigkeit von Schülern mit einem unbehandelten Heuschnupfen um bis zu 30 Prozent sinkt. Ein schlecht oder gar nicht therapierter Allergiker läuft zudem große Gefahr, als Spätfolge Asthma zu entwickeln.

So produziert das System Langzeitkranke, deren Beschwerden die Volkswirtschaft enorm belasten: Allergien sind inzwischen der Grund für jede zehnte Krankschreibung in deutschen Firmen, allein Heuschnupfen für Fehlzeiten von über einer Million Arbeitstagen pro Jahr. Die Europäische Union schätzt, dass die Folgen der Allergien bereits jetzt jedes Jahr 100 Milliarden Euro an Wirtschaftskraft kosten – „Einbußen, die wir drosseln könnten, wenn Allergien nicht mehr unterschätzt würden“, so Zuberbier.

Carola Sigrist hat Glück. Ihr immunologischer Notstand wird ernst genommen. Bei Zuberbier ist sie in einem der renommiertesten Allergiezentren Europas in Behandlung. An der Universität steht Geld zur Verfügung. Über ein Jahr lang beobachteten die Ärzte Sigrist detektivisch genau, um jeden einzelnen Auslöser ihrer Qualen entlarven zu können. Verdächtige Stoffe wurden ihr auf die angeritzte Haut getropft (Pricktest) und anhand dann auftauchender Rötungen oder Quaddeln überführt. Die Mediziner untersuchten das Blut der Patientin auf bestimmte Antikörper, deren Werte bei Allergikern verräterisch hoch sind, maßen, wie viel Luft durch Sigrists Atemwege strömt, um eine mögliche Erkrankung an Asthma ausschließen zu können, und überprüften, ob ihre häufigen Hustenattacken in den Bronchien Entzündungen hinterlassen hatten.

Als das Urteil gefällt und die Widersacher dingfest gemacht worden waren, wurde Sigrist zu Ernährungsberatern geschickt, die sie über ihre komplexen Kreuzreaktionen aufklärten. Sie bekam ein Antihistaminikum verschrieben, bronchienerweiternde Mittel und Kortison zum Inhalieren, um die Symptome zu lindern. Und schließlich wurde das größte Übel, die Allergie gegen Frühblüher, an der Wurzel gepackt: mit einer Hyposensibilisierung, die das Abwehrsystem durch regelmäßig gespritzte Allergendosen in einigen Jahren, wenn alles gut geht, auf den richtigen Weg geführt haben wird.

Es scheint, als werde Carola Sigrists Körper Frieden finden. Rückblickend betrachtet, habe der Umzug ihrer Familie von Göttingen nach Berlin so durchaus sein Gutes gehabt, sagt sie. Doch noch vor drei Jahren hatte es eine Zeit gegeben, in der Sigrist dem Ortswechsel wenig hatte abgewinnen können. Als ihrem Mann eine Professur in Berlin angeboten worden war, als die Familie schließlich aus dem beschaulichen Göttingen in die Hauptstadt gekommen war, da standen Leben und Immunsystem gleichermaßen Kopf.

Die Söhne Paul, 12, und Philipp, 10, und Tochter Elisabeth, 5, verkrafteten den Umzug schlecht. Die Kinder vermissten ihre Freunde, waren angespannt, ständig krank. Kein Kitaplatz für die Jüngste, dazu eine endlos lange Suche nach neuen Schulen für die Jungs – eine seelische Last, die auf Carola Sigrist drückte und sie für den Angriff der Allergene empfindlicher werden ließ als je zuvor. Schließlich wurde auch Paul wie seine Mutter im Frühling von heftigen Niesattacken geschüttelt. Nun wird der Junge ebenfalls an der Charité mit Spritzen immunisiert, nun muss er sich jedes Mal die Pollen aus den Haaren waschen, wenn er vom Fußballspielen kommt.

Eigentlich hatten er und seine Geschwister sich eine Katze gewünscht. Doch weil schon ein einziges Tierhaar den Körper der Mutter lahmlegen kann, haben sie sich für zwei große Aquarien entschieden. Darin Guppys, Neons, Goldmollys, Garnelen, Kardinalfische und Antennenwelse. Zwischen Steinen versteckt: ein Krebs, Pauls großer Stolz. „Einmal dachten wir schon, er wäre tot“, erzählt er. Dabei hatte das Tier nur reglos dagelegen, um sich zu häuten. In einer Mon-Chéri-Dose verwahren die Geschwister nun die abgelegte Hülle wie einen Schatz.

Aus seiner Haut herauszukönnen wie ein Krustentier – eine Gabe, die sich womöglich Millionen Menschen schon einmal gewünscht haben, wenn sie von geschwollenen Schleimhäuten und brennenden Quaddeln heimgesucht wurden.

Aber ist das Schicksal eines Allergikers wirklich unausweichlich? Bei der Suche nach einem Schutzfaktor sind Wissenschaftler auf eine heiße Spur gestoßen. Und die führt aufs Land.

2. Verheissung aus dem Kuhstall

Die Fahnder rückten mit elektrostatisch geladenen Tüchern aus, mit Staubsaugern, Probenfläschchen, Fragebögen. Ihr Ziel: Tausende von Bauernhöfen in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz. Das Suchobjekt: winzig klein. Ein verborgenes Etwas, das Kindern ein Leben unbeschwert von Allergien schenken könnte. Ein Erreger vielleicht – einer allerdings unter vielen Millionen, die dort zu finden wären.

Die Wissenschaftler kratzten Dreck von den Stallwänden und nahmen Proben von der Frühstücksmilch. Vor allem auf die Kinderbetten hatten sie es abgesehen: 8000 Matratzen wurden nach genauen Vorgaben abgesaugt – je einen Quadratmeter, stets eine Minute lang. Laboranten und Programmierer werden noch Jahre mit der Auswertung der enormen Datenmengen zu tun haben.

Erika von Mutius ist Mit-Koordinatorin des Großprojekts, an dem sich 150 Forscher aus 15 Ländern beteiligen. „Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen, haben fünfmal seltener Asthma und Heuschnupfen als Stadtkinder“, so ihr Befund. Mehr als 30 Studien, von Finnland über Kanada bis Neuseeland, bestätigen diese „Bauernhof-Hypothese“ mittlerweile. „Was aber genau es ist, das die Kinder in traditioneller ländlicher Umgebung schützt, das wissen wir nicht“, sagt von Mutius. „Wenn wir das herausfänden, könnten wir so vielen allergiegeplagten Kindern das Leben erleichtern.“

Immer mehr Kinder vor allem in den wohlhabenden Regionen der Erde, und dort besonders in den Städten, erkranken an Allergien. Weltweit suchten die Immunologen nach Gründen für dieses Phänomen – und gewannen so in den vergangenen Jahrzehnten allmählich ein Bild vom Werden und Gedeihen dieser „Zivilisationskrankheit“.

In den USA etwa nahm das Leiden mit Micky Maus zu. „Vor 1955 sind die Kinder nach der Schule zum Spielen nach draußen gegangen“, erklärt Thomas Platts-Mills, Ex-Präsident der Amerikanischen Akademie für Allergie, Asthma und Immunologie. Dann eroberten die beliebten Comicfiguren den Fernsehbildschirm. Und aus kleinen Strolchen wurden Couch-Potatoes in zunehmend steriler Umwelt.

Und während das traute Heim zur Hygienezone geformt wurde, verdreckten zunächst noch zunehmend Luft und Wasser. Umweltverschmutzung – das war deshalb Erika von Mutius’ erstes Suchfeld, um sich den Allergienvormarsch zu erklären. „Als die Mauer fiel, sahen wir unsere Chance, im direkten Ost-West-Vergleich nachzuweisen, dass die verschmutzte Luft Allergien und Asthma auslöst“, sagt sie. In Bitterfeld, Merseburg, Leipzig und Halle an der damals giftig bunt schillernden Saale sammelte sie ihre Daten.

Das Ergebnis: ein spektakulärer Fehlschlag. In der stark mit Schwefeldioxid belasteten Leipziger Luft litten statistisch weniger Kinder an Asthma und Allergien als im vergleichsweise sauberen München. Nach der Wende wurde die Luft im Osten stetig besser – doch nun erkrankten dort immer mehr Kinder.

Was steckte hinter diesem Paradox?

In Ostdeutschland ging die Geburtenrate nach der Wende drastisch zurück. Das erinnert an David Strachans Beobachtungen über Familiengröße und Allergiehäufigkeit. Und es wurden nicht nur weniger Kinder geboren, sie verbrachten auch weniger Zeit in der Krippe. Kinder aber, die schon als Säuglinge eine Tagesstätte besuchen, zeigen eine geringere Neigung zu allergischen Reaktionen als solche, die später oder gar nicht in der Krippe waren.

Erika von Mutius reicht das als Erklärung für die Zunahme der kindlichen Allergien aber nicht aus. „Für mich ist das Ost-West-Phänomen nach wie vor unverstanden“, sagt sie. „Etwas in der Umwelt war neu – oder ist verloren gegangen.“

Also zurück zum Bauernhof. Welche bislang unbekannten Schutzfaktoren könnte es dort geben?

Das Biotop, in dem Kinder weitgehend unbehelligt von Allergien aufwachsen, kann Erika von Mutius mittlerweile detailreich beschreiben: „Kühe gehören auf jeden Fall dazu. Und am besten möglichst viele weitere Nutztierarten. Ein Stall, der mit Stroh eingedeckt ist. Heu in der Scheune. Eine Geschwisterschar. Und die täglich getrunkene Milch sollte direkt aus dem Kuhstall kommen.“

Bauernhof-Idylle – doch von Mutius warnt vor romantischen Trugschlüssen: Einfach wieder naturbelassene Milch zu trinken, sei für Städter keine Option. Denn Rohmilch kann mit potenziell lebensgefährlichen Keimen belastet sein; gefährlich für Städter – die Bauernhofkinder sind daran gewöhnt.

Starken Schutz vor Allergien genießen vor allem jene Kinder, deren Mütter während und nach der Schwangerschaft täglich im Stall und in der Scheune gearbeitet haben. Und regelmäßig Rohmilch tranken. Offensichtlich bildet sich die segensreiche Immunreaktivität in der frühesten Lebensphase am wirkungsvollsten aus.

Kinder von Vollzeitbauern sind besser geschützt als die von Teilerwerbslandwirten. Und wer nur auf dem Land wohnt, aber kein Bauer ist, dessen Kinder sind genauso gefährdet wie jene in der Stadt. Deshalb mag Urlaub auf dem Bauernhof zwar schön sein, hilft jedoch nicht gegen Allergien. Offenbar muss man mitten in die mikrobielle Artenvielfalt traditioneller Bauernhöfe hineingeboren werden, damit der Schutzschild sich entfalten kann.

Eine neue Studie stützt diesen Befund: Die Wissenschaftler wiederholten ihre Untersuchungen, die sie zuvor auf Schweizer Höfen vorgenommen hatten, in der extrem rückwärtsgewandten Bauernwelt der Amischen in den USA. Ergebnis: Die Kinder jener christlichen Glaubensgemeinschaft, die sich dem technischen Fortschritt weithin verweigert, in vielköpfigen Großfamilien lebt und ein ländliches Dasein wie vor 200 Jahren führt, sind nochmals sehr viel besser gegen Asthma und Allergien geschützt als „moderne“ Schweizer Bauernkinder.

Das Immunsystem vieler Stadtkinder hat in der mikrobiell verarmten Stadtluft wahrscheinlich verlernt, Freund und Feind unter den Keimen zu erkennen. Es ist, als fehle es ihm an Trainingsmöglichkeiten. Denn in entwicklungsgeschichtlichen Zeitdimensionen betrachtet, haben wir Menschen unser Zuhause quasi von heute auf morgen verlassen. Wir sind abrupt ausgebrochen aus jenem vertrauten Landwirtschaftsmilieu, das uns seit 10 000 Jahren umgibt – seit wir sesshaft geworden sind, seit aus Jägern Viehzüchter und aus Sammlern Bauern wurden. Dagegen ist unser Organismus offenbar immer noch auf die Gesellschaft der alten Hausgenossen eingestimmt, findet seine Orientierung zwischen Kühen und Ziegen, Pollen und Bakterien, Geschwistern und Darmparasiten.

Und da wir nicht zurückkönnen oder wollen in diese verlorene Welt, die uns doch immer noch auf den Leib geschneidert ist: Ließe sich nicht ein Substrat entwickeln, das dem überschießenden Immunsystem ein beruhigendes Gefühl von Heimat vorgaukelt? Und müsste dieses Wundermittel nicht irgendwo im Biotop aufzustöbern sein?

„Es ist uns in der Tat gelungen, zwei vielversprechende Bakterien aus der Stall-Luft zu isolieren“, erklärt Erika von Mutius. Mäusen wurde dieses Elixier als Nasenspray verabreicht. Und bei den Nagern konnte es den Ausbruch von allergischem Asthma zuverlässig verhindern.

Dennoch klingt die Wissenschaftlerin nicht gerade euphorisch, als sie von ihrem Erfolg berichtet. „Mit einzelnen Erregern werden wir beim Menschen nicht weit kommen“, ahnt von Mutius. Wahrscheinlich müsste man einen Cocktail aus vielen Zutaten mixen. Und jeder einzelne Bestandteil dieses Zaubertranks gegen Allergien hätte ein aufwendiges – und in der Summe dann sehr teures – Zulassungsverfahren zu durchlaufen. Zumal das Mittel ja für Schwangere und Kleinkinder gedacht wäre.

„Wir müssen in neuen Dimensionen denken“, sagt von Mutius. Denn seit Louis Pasteur im 19. Jahrhundert die Mikrobiologie begründete, hat die Wissenschaft stets nur einzelne Mikrobenarten im Visier: einige wenige Krankmacher, die es auszuschalten galt. Aber da ist unendlich viel mehr. Jeder Erwachsene beherbergt etwa 100 Billionen Bakterienzellen – das sind bis zu zehnmal so viele, wie unser eigener Körper Zellen hat. Sie leben in Kolonien, die miteinander interagieren, im Verdauungstrakt und in der Lunge, auf der Haut, im Mund. Es ist eine sensible Gemeinschaft, mit der wir unsere gesamte Evolutionsgeschichte teilen.

Das Mikrobiom – die Gesamtheit aller in und mit uns lebenden Mikroorganismen – beeinflusst grundlegend die Funktionen unseres Körpers. Die meisten Bakterien übernehmen wir von der Mutter und anderen Familienangehörigen in den ersten Lebensjahren; der andere Teil unserer Mitbewohner wird durch den Lebensstil geprägt.

Wenn wir unser Mikrobiom verstehen, seine verschachtelten Dimensionen, seine vielschichtigen Verknüpfungen, dann erst werden wir auch das Rätsel der Allergien vollständig lösen können. Bis dahin gilt:

Es ist mit Überraschungen zu rechnen – auch mit positiven.

In der Münchner Universitätsklinik, im Dr. von Haunerschen Kinderspital, leitet Erika von Mutius die Asthma- und Allergieambulanz, wo sie sich geerdet fühlt und daran erinnert, „dass ich Wissenschaft nicht als Selbstzweck betreibe“.

Fast beiläufig berichtet sie von einer neuen, verblüffenden Entdeckung. Einer, mit der sie „sehr viel Hoffnung“ verbindet:

Es geht immer noch um die Bauernhof-Studie. Bei dieser wurden auch 800 Milchproben gesammelt, manche aus der Tüte, andere aus dem Euter der hofeigenen Kuh. Pasteurisiert und homogenisiert, das war klar, büßt Milch ihren antiallergischen Effekt ein, wie bereits frühere Auswertungen ergeben hatten. Nur dachten die Wissenschaftler, Rohmilch entfalte ihre schützende Funktion über die in ihr enthaltenen Mikroben; ausgerechnet über jene pathogenen Keime also, die abgetötet werden müssen, damit die Milch ohne Bedenken verzehrt werden kann.

Neue Analysen aber zeigen nun: Es sind gar nicht die Mikroben, die den Schutzmechanismus in Gang setzen. Die Molkenproteine sind es.

Wenn Kinder Milch trinken, die diese kleine, aber wichtige Eiweißfraktion enthält, so von Mutius, dann sinke deren Asthmarisiko um 40 bis 50 Prozent. „Wir müssten die Milch nur anders verarbeiten“, sagt sie. „Es wären nicht einmal Zulassungsprozeduren notwendig und auch keine klinischen Tests.“

Ein Verfahren, das die Keime abtötet, aber diese Proteine erhält? Oder fügt man sie nach dem Erhitzen wieder hinzu?

Details verrät von Mutius nicht. Sie will diesen letzten Schritt selber gehen, auch wenn es noch Jahre dauern sollte.

Es wäre zu schön, durch einen Eiweiß-Drink dem Immunsystem zu helfen, die Balance zu halten. Doch eine Reduzierung des Asthmarisikos um 40 bis 50 Prozent lässt immer noch 50 bis 60 Prozent des Problems ungelöst. Prävention kann also nur ein Pfeiler in der Allergiebekämpfung sein. Denn auch die, die es trotzdem erwischt, brauchen eine Option auf Besserung. Für sie erforschen Wissenschaftler neue Strategien, das Immunsystem zu befrieden, wenn es schon längst auf Angriff gepolt ist. Sie sind weit gekommen. Allerdings: Die Pharmaindustrie spielt nicht mit wie erhofft.

3. Eine perfekte Impfung?

Was für ein Aufwand. Drei, wenn nicht gar fünf Jahre lang anfangs im Wochen-, später mindestens im Monatsrhythmus müssen Allergiepatienten den Arzt aufsuchen; sich in den Oberarm piksen lassen, der hinterher oft anschwillt; nach der Injektion eine halbe Stunde in der Praxis warten, ob die Allergendosis das Immunsystem nicht allzu sehr provoziert. Es bedarf schon eines gewissen Leidensdrucks, diese Behandlung durchzuhalten. Aber die Hyposensibilisierung ist – auch nach 100 Jahren Forschung – die bislang einzige Therapie, die an den Ursachen einer Allergie ansetzt. Alles andere, etwa Kortison, lindert lediglich die Symptome.

Dabei erscheint die Strategie paradox: Der Organismus wird ausgerechnet mit dem Auslöser des Übels traktiert, in möglichst großer Menge. Aber der stetige, wohldosierte Ansturm der Plagegeister bringt das Abwehrsystem mit der Zeit dazu, seine überschießende Reaktion einzustellen und die Eindringlinge zu tolerieren. 1911 behandelte Leonard Noon am Londoner St. Mary’s Hospital erstmals Heuschnupfenpatienten mit Extrakten aus Gräserpollen. Einiges hat sich an der Therapie seither verbessert. Statt sich die Allergene spritzen zu lassen, können Betroffene sie inzwischen auch als Tablette unter der Zunge zergehen lassen, täglich.

Nur: Ein Durchbruch, eine fundamentale Verbesserung der Behandlung ist bislang ausgeblieben. Und nun, glauben Forscher, könnte die Zeit reif dafür sein.

Denn Mediziner, Immunologen und Biochemiker haben inzwischen eine Fülle von Wissen zusammengetragen: über den Charakter von Allergenen; über das Zusammenspiel der Immunzellen bei deren Amoklauf gegen eigentlich ungefährliche Moleküle; über die Mechanismen, wie die fehlgeleitete Antwort des Immunsystems zu korrigieren ist. Auf dieser Basis haben sie Strategien entwickelt, die eine Behandlung komfortabler, effizienter und sicherer machen können. Einige Konzepte für neue Impfstoffe sind weit gediehen. Was fehlt, ist der letzte Schritt: der zu den Patienten.

Einer der kräftig mitmischt auf diesem Feld, ist Rudolf Valenta vom Institut für Pathophysiologie und Allergieforschung der Medizinischen Universität Wien. Im Moment ist es etwas schwierig, sein schmales Büro im Forschungsbau des gewaltigen Klinikums zu betreten. Er hat Regale leer geräumt, um Platz zu schaffen für ein Besuchersofa.

Ein Rollwagen mit Aktenordnern steht nun im Weg, und Valenta findet keine Zeit, sie wegzusortieren. So viele Leute suchen seinen Rat, so viel gibt es zu organisieren, so viele Ideen zu verfolgen.

Valenta arbeitete als junger Forscher in einem Team, das 1988 erstmals den genetischen Bauplan für ein Allergen entschlüsseln konnte, und zwar für eines aus Birkenpollen. Von immer mehr solcher „Reizstoffe“ – nahezu alle sind Proteine – haben Forscher seither den Erbcode entziffert und daraus die molekulare Architektur abgeleitet, vom Apfel- über die Milben- bis zu den Schimmelpilzallergenen.

Die Arbeiten gelten als Meilenstein, weil es durch sie möglich geworden ist, diese Erbgutinformationen in Bakterien einzuschleusen und die Allergene für eine Hyposensibilisierungstherapie dann von Mikroben in Reinform produzieren zu lassen. Denn von „Reinform“ sind die bisherigen Wirkstoffe weit entfernt.

„Wir haben einige der heute in den Arztpraxen benutzten Naturextrakte analysiert“, berichtet Valenta. „Und das war eine traurige Geschichte.“ Er öffnet auf seinem Computermonitor ein Dokument und weist auf ein Schaubild: „Da haben wir zum Beispiel einen Graspollenextrakt, bei dem das Hauptallergen, auf das 95 Prozent der Patienten reagieren, schlicht fehlt.“ In anderen Zubereitungen ist mal mehr, mal weniger davon vorhanden, auch der Gehalt weiterer Reizmoleküle schwankt beträchtlich. Ein Risiko für die Therapie: Ein Zuwenig an Allergen lässt den Erfolg ausbleiben, ein Zuviel allerdings kann schwere Nebenwirkungen auslösen.

„Das Problem wird man bei den traditionell hergestellten Vakzinen nie in den Griff bekommen“, sagt Valenta, „da es sich um Naturprodukte handelt. Je nach Zeitpunkt der Pollenernte und Art der Verarbeitung ist die Zusammensetzung eben verschieden.“

Vakzine aus der Retorte sind für Valenta daher der erste Schritt zu einer besseren Therapie: „Damit wird man unabhängig von natürlichen Schwankungen.“ Und man wisse genauer, was drin sei in Spritzen und Tabletten, in denen sich die Allergene präziser und verlässlicher dosieren ließen. Aber optimal seien auch die synthetischen Mischungen noch nicht, schränkt Valenta ein. Sie zeigten noch die gleichen Nebenwirkungen wie jene Naturprodukte, die eine höhere Dosierung unmöglich machen.

Der Wiener Forscher hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, den Allergenen jene Eigenschaften wegzuzüchten, die für die unerwünschten Effekte verantwortlich sind. Sein Traum: ein Impfstoff, nebenwirkungsfrei, der bereits mit wenigen Injektionen das Abwehrsystem höchst wirksam umsteuert.

Wer solche Impfstoffe maßschneidern will, muss die Mechanismen kennen, nach denen eine allergische Reaktion im Körper abläuft, muss wissen, wie das Spritzen zunehmender Allergenmengen auf die verschiedenen „Spieler“ des Immunsystems wirkt. Mittlerweile sind Wissenschaftler tief in das dichte Geflecht von Zellen, Botenstoffen und Antikörpern eingedrungen, die das allergene Geschehen bestimmen.

Als Hauptakteure haben sich die „Immunglobuline“ der Klasse E (IgE-Antikörper) herausgestellt, y-förmige Riesenmoleküle, die körperfremde Stoffe genau erkennen; die zu ihnen passen wie der Schlüssel ins Schloss. Massenhaft zum jeweiligen Reizstoff gehörendes IgE zu bilden – das ist der entscheidende Irrtum, die Überreaktion des Organismus bei der Allergie. Denn eigentlich dient dieser Typ von Antikörper der Abwehr von Parasiten. Und nicht der Bekämpfung von Apfelstücken und Katzenhaaren.

Die Immunglobuline E setzen sich dann zu Tausenden auf die Oberfläche von Mastzellen in der Haut, in der Nase, im Darm. Der Organismus ist nun „sensibilisiert“. Kommt er erneut in Kontakt mit dem Allergen, heften sich dessen Reiz-Proteine an die zu ihnen passenden IgE-Antikörper und setzen eine verheerende Kaskade in der Mastzelle in Gang. Die schüttet eine Fülle entzündungsfördernder Substanzen aus, um den vermeintlichen Gegner zu attackieren. Sekundenschnell schwellen Schleimhäute, wird dem Asthmatiker die Brust eng.

Wie schafft es eine Allergie-Impfung, das Immunsystem wieder zurück auf einen gesunden Pfad zu führen? Die Dosis ist entscheidend. Große Allergenmengen veranlassen die Körperabwehr, anstelle der Immunglobuline E jene der Klasse G zu bilden. Und die setzen sich nicht auf den Mastzellen fest, sondern „die Flut von IgG-Antikörpern blockiert die Bindungsstellen des Allergens“, erklärt Valenta. Somit steht kein freies Allergen mehr zur Verfügung, das an die IgE-Moleküle auf den explosiven Mastzellen andocken könnte. Die allergische Reaktion bleibt aus. Dem Eindringling wird quasi der Schlüsselbart verbogen, sodass er die Mastzellen nicht mehr „aufschließen“ kann.

Darüber, nach welchem Mechanismus das Abwehrsystem dabei umsteuert, gibt es mehrere Hypothesen. Eine Theorie betont die Funktion der sogenannten T-Helfer-Zellen (TH-Zellen). Sie existieren in mehreren Varianten: Typ 2 initiiert die Herstellung des „bösen“ IgE, Typ 1 dagegen forciert die Produktion von IgG. Bei Allergikern dominiert Typ 2, durch die Hyposensibilisierung verschiebt sich das Gleichgewicht wieder in Richtung Gesundheit, hin zu den TH-Zellen Typ 1.

Eine zweite Theorie geht davon aus, dass die Impfung nicht die Balance zwischen TH1- und TH2-Zellen beeinflusst, sondern eine komplett neue Immunantwort provoziert, die den Fehlalarm „übertönt“. Darüber, welche Hypothese am ehesten zutrifft, herrscht noch Uneinigkeit.

In jedem Fall aber können Forscher anhand all der neuen Kenntnisse Strategien für das Design von Impfstoffen schmieden. Eine davon lautet: Man müsste Allergene gentechnisch so verändern, dass sie sich erst gar nicht an die IgE-Moleküle auf den Mastzellen heften können – und somit selber keine allergische Reaktion auslösen –, dass sie aber trotzdem die (sinnvolle) Massenproduktion der blockierenden IgG-Moleküle anregen.

Valenta und sein Team haben dieses Konzept – nach den biotechnisch erzeugten, reinen Allergenen sozusagen die zweite Stufe der Impfstoff-Fortentwicklung – für den Haupt- „Reizstoff“ der Birke umgesetzt. Sie haben das Molekül so verändert, dass es sich nicht mehr perfekt falten kann. Und damit „blind“ ist für die Andockstellen der Immunglobuline E, die Mastzellen also gar nicht aktivieren kann. Gemeinsam mit einer deutschen Firma haben die Österreicher die klinischen Tests dieser „Hypoallergene“ so weit vorangetrieben, dass der neuartige Impfstoff reif ist für die Markteinführung.

„Mit den Hypoallergenen ist man schon supergut“, lobt Valenta seine eigene Erfindung. „Bei der Therapie droht kein anaphylaktischer Schock mehr, der Arzt kann die Dosis des Allergens schneller steigern“ – und so das Immunsystem effizienter umstimmen.

Es geht aber noch besser. Die Wiener Forscher sind angetreten, in einer dritten Stufe den wirklich optimalen Impfstoff zu bauen. Ihr Rezept sieht so aus: Man identifiziere in einem Allergenmolekül die Erkennungsstellen für das Immunglobulin E. Wie sich herausgestellt hat, haben diese eine Eigenart: Sie bestehen aus zwei Teilen, die an verschiedenen Positionen auf der Eiweißkette liegen und erst zueinanderkommen, wenn die Eiweißkette sich faltet, und so das funktionstüchtige Andockmuster formen. Glücklicherweise genügt aber schon einer der beiden Teile, um die erwünschte IgG-Flut auszulösen.

Die Forscher wollen nun im Labor allein eine Hälfte der IgE-Bindungsstelle in Massen herstellen und sie an ein harmloses Trägermolekül knüpfen. Das Konstrukt ist „blind“ für das IgE auf den Mastzellen, kann an diese nicht andocken, stimuliert aber doch die Bildung der

„guten“ Immunglobuline G. Statt mit dem gesamten Allergen würden Patienten nur noch mit den „gezähmten“ Fragmenten immunisiert.

Valenta glaubt, auf diese Weise Impfungen „einer nicht dagewesenen Güte herstellen zu können“. Nahezu nebenwirkungsfrei, von höchster Effizienz, weil gefahrlos in hoher Dosierung zu verabreichen.

Seinen Optimismus stützt er auf erste Tests an Patienten: Trotz hoher Dosen zeigte sich keine allergische Reaktion, die Provokation mit klassischen Extrakten dagegen rief dicke Quaddeln hervor. Valentas Vision: Vier Injektionen pro Jahr, drei Jahre lang – dann sollte der Irrlauf des Immunsystems weitgehend beendet sein. Und nicht erst nach mehr als 60 Spritzen in fünf Jahren.

Ein weiterer Vorteil wäre: Wegen der geringen Nebenwirkungen könnte jeder Arzt mit einem solchen Vakzin der dritten Generation impfen. Die Krankheit der Massen könnte endlich massenhaft behandelt werden.

Wann werden Patienten davon profitieren? Bis 2015, schätzt Valenta, werden die klinischen Studien noch dauern, die für die Zulassung der Impfstoffe nötig sind. Diesen Flaschenhals müssen alle neuen Wirkstoffe passieren, und hier klemmt es. Medikamententests sind teuer, und die großen Pharmaunternehmen, die über das Know-how und die nötigen Mittel verfügen, zeigen, so klagt der Forscher frustriert, kein Interesse an diesem Markt.

Eine Erfahrung, die auch andere Vakzin-Designer machen. Etwa Reto Crameri, der am Schweizer Institut für Allergie- und Asthmaforschung in Davos neue Therapieansätze erforscht. Er hat zum Beispiel das wichtigste Katzenhaarallergen mit biochemischen Anhängseln versehen, die besonders wirkungsvoll dafür sorgen, dass sich das Verhältnis der T-Helfer-Zellen Typ 1 und Typ 2 zugunsten des erwünschten Typs 1 verschiebt – und der Organismus auf IgG-Produktion umschaltet. „Mit drei Injektionen im Abstand von vier Wochen ist der Patient mit der Therapie durch“, sagt Crameri.

All diese Strategien liegen allerdings derzeit auf Eis – mangels Geld. Crameris Erklärung: Der Enthusiasmus der Pharmaindustrie halte sich in Grenzen, da sie gut an jenen Kortisonpräparaten verdiene, die Ärzte zur Linderung der Allergiesymptome verschreiben. Jedenfalls mehr als an Impfstoffen.

Aber Rudolf Valenta mag nicht aufgeben, der passionierte Marathonläufer hat noch Puste. Er und seine Mitstreiter wollen die benötigten Studien gemeinsam mit einer kleinen Wiener Biotechnologiefirma erarbeiten. Notfalls, kündigt er an, hole er sich für die Finanzierung eben Risikokapital.

Und so schwanken die Forscher zwischen Begeisterung und Frustration. Begeisterung, weil sie so viel über die komplexen Regelvorgänge des Immunsystems gelernt haben; Frustration, weil das Geld fehlt, ihre Errungenschaften an die Patienten zu bringen. Vermutlich wird sich das erst ändern, wenn eintritt, was Torsten Zuberbier von der Berliner Charité vehement fordert: dass Schluss ist damit, „Allergikern mit Unverständnis zu begegnen und ihre Beschwerden zu bagatellisieren“. Dafür bedürfe es jedoch einer breiten Aufklärungskampagne. Wie etwa gegen den Herzinfarkt in den 1970er Jahren. Für dieses Leiden sei es durch einen Informationsfeldzug gelungen, die Sterblichkeit zu senken. Nun seien die Allergien an der Reihe, ernst genommen zu werden.

aus GEO 05/2012

Was sich zu wissen lohnt

Antworten auf Fragen, die Allergiker sich häufig stellen. Von der Erblichkeit bis zum Einfluss der Umwelt

1. Welche Allergietypen gibt es?

Ärzte unterscheiden vier Typen von Allergien. Grundlage für die Klassifizierung sind die immunologischen Mechanismen.

Typ I umfasst die „klassischen“ Allergien wie Heuschnupfen, allergisches Asthma und Nesselsucht. Charakteristisch ist die Beteiligung von Immunglobulinen der Klasse E (IgE). Der Organismus reagiert dabei binnen Sekunden bis Minuten auf den Reizstoff, weshalb Ärzte auch vom Sofort-Typ sprechen.

Bei Typ II greift die Immunabwehr körpereigene Zellen an. Meist wirken dabei Medikamente – Schmerzmittel oder Antibiotika – als Allergen. Die Stoffe docken an rote Blutkörperchen oder für die Gerinnung zuständige Blutplättchen an. An den Zusammenschluss heften sich wiederum Antikörper und geben die Zellen so zur Zerstörung frei. Folge ist unter anderem eine Blutarmut.

Den Typ III kennzeichnen sogenannte Immunkomplexe, die sich aus Allergen und Antikörper bilden. Diese heften sich etwa an die Innenwand von Blutgefäßen und verursachen Entzündungen. In diese Kategorie gehört die Farmerlunge, bei der sich aufgrund von Schimmelpilzsporen die Lungenbläschen entzünden.

Typ IV-Allergien werden ausgelöst durch sensibilisierte T-Zellen. Nickel, Chrom oder Substanzen aus Kunststoffen dringen in die Haut ein und binden sich an körpereigene Stoffe und Zellen. Die T-Zellen erkennen und bekämpfen diese Agglomerate, indem sie Botenstoffe absondern und Fresszellen anlocken. Bekannteste Reaktion dieses Typs ist das Kontaktekzem, ein stark juckender Hautausschlag.

2. Sind Allergien vererbbar?

Das Risiko, eine Allergie zu entwickeln, wird in hohem Maß von den Erbanlagen bestimmt. Reagiert das Immunsystem eines Elternteils überempfindlich auf einen Stoff, erkrankt der Nachwuchs bis zum 13. Lebensjahr mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 bis 30 Prozent ebenfalls. Sind Vater und Mutter betroffen, steigt das Risiko für die Kinder auf bis zu 80 Prozent. Wissenschaftler haben eine Reihe von Genen identifiziert, die mit Asthma und Neurodermitis assoziiert sind. Dabei zeigt sich: Es gibt nicht das „Allergie-Gen“. Eine Überempfindlichkeit bildet sich aus durch das komplexe Zusammenwirken einer Vielzahl von Erbanlagen. Und immer sind auch Umweltfaktoren beteiligt.

3. Welche Rolle spielen Umweltschadstoffe bei der Entstehung von Allergien?

Mit mehr als 70 000 Chemikalien können wir im Alltag in Kontakt kommen – in Kunststoffen, Kosmetika oder Lebensmitteln. Inwieweit diese Fremdstoffe das Entstehen von Allergien forcieren, wird intensiv erforscht. Bereits bekannt ist, dass Luftschadstoffe wie Ozon, flüchtige organische Stoffe, Stickoxide und feine Partikel, allesamt Substanzen, die vor allem aus dem Autoverkehr resultieren, die überzogene Reaktionen des Immunsystems fördern. Grobe Stäube und Schwefeldioxid, wie sie in der DDR die Luft belasteten, haben dagegen keinen Einfluss. Tabakrauch indes erhöht das Allergierisiko enorm.

4. Was ist eine Kreuzallergie?

Manche Allergene von Pollen ähneln denen in Nahrungsmitteln oder sind sogar identisch. Deshalb schlägt das Immunsystem bei beiden Alarm. Wer an einer Birkenpollenallergie leidet, reagiert häufig zudem auf Apfel, Karotte und Sellerie. Eine Kreuzreaktivität verbindet auch Latex mit Kiwi, Avocado, Litschi und Buchweizen.

5. Was ist der Unterschied zwischen einer Nahrungsmittelallergie und einer Nahrungsmittelunverträglichkeit?

Die Symptome gleichen sich häufig. In beiden Fällen plagen Bauchschmerzen und Durchfall die Betroffenen, oder ein Hautausschlag tritt auf. Der Unterschied liegt im Mechanismus der Körperreaktion. Bei der „echten“ Nahrungsmittelallergie ist stets das Immunsystem involviert. Unverträglichkeiten dagegen können auf einem Enzymdefekt beruhen wie bei der Laktose-Intoleranz – die Betroffenen können keinen Milchzucker verdauen. Bei anderen Substanzen, etwa Farb- oder Zusatzstoffen wie Karotin und Tartrazin, Sorbinsäure und Glutamat, brechen die Krankheitszeichen aus noch ungeklärter Ursache aus. Ein weiterer Unterschied: Bei einer „echten“ Nahrungsmittelallergie reichen kleinste Mengen des Allergens aus, um Beschwerden auszulösen. Menschen mit einer Nahrungsmittel-Intoleranz spüren die Symptome dagegen oft erst nach dem Verzehr einer bestimmten Menge des Lebensmittels.

6. „Verwachsen“ sich Allergien?

Fest steht: Allergien können in jedem Alter erstmals auftreten. Die gute Nachricht ist, dass die lästigen Symptome im Laufe der Zeit oft von allein wieder verschwinden. Bei 40 bis 60 Prozent der Menschen, die in der Kindheit an Asthma leiden, verlieren sich die Beschwerden im zweiten Lebensjahrzehnt. Auch Neurodermitis heilt häufig mit zunehmendem Alter ab.

aus GEO 05/2012

Wo guter Rat zu finden ist

Verlässliche Informationen helfen, die Zumutungen einer Allergie zu bewältigen

1. Wie kann man Allergien vorbeugen?

Die Prävention beginnt bereits während der Schwangerschaft. Frauen, die das Allergierisiko ihres Kindes senken wollen, sollten in jedem Fall auf das Rauchen verzichten. Während früher empfohlen wurde, potente Nahrungsmittelallergene zu meiden, empfehlen Ärzte heute während Schwangerschaft und Stillzeit eine uneingeschränkte, ausgewogene Ernährung. Hinweise sprechen dafür, dass dabei der Verzehr von Fisch den Nachwuchs vor Überempfindlichkeiten schützt.

Eine wichtige Säule der Vorbeugung ist das Stillen des Säuglings, möglichst über vier Monate. Danach kann Beikost zugefüttert werden, wobei es aus allergologischer Sicht nicht zu empfehlen ist, auf bestimmte Lebensmittel zu verzichten. Außerdem sollten Eltern darauf achten, die Wohnung regelmäßig zu lüften, um die Ansiedlung von Schimmelpilzen zu verhindern und die Belastung der Räume mit Schadstoffen aus Farben und Möbeln gering zu halten.

2. Wie finden Betroffene allergikerfreundliche Produkte?

Das European Centre for Allergy Research Foundation (ECARF), angegliedert an die Berliner Charité, vergibt Qualitätssiegel für allergikerfreundliche Produkte und Dienstleistungen. Nach strengen Kriterien zeichnet die Stiftung Kosmetika und Reinigungsmittel, Luftreinigungsgeräte und Bettwäsche, Hotels und sogar komplette Urlaubsorte aus. Eine Übersicht finden Sie unter www.ecarf.org/de/ecarf_qualitaetssiegel.

3. Welche alternativen Therapiemethoden sind empfehlenswert?

Wie bei vielen chronischen Krankheiten ist auch bei Allergien die Nachfrage nach Behandlungsformen jenseits der Medizin groß. Deren Bewertung ist aber aufgrund mangelnder Wirksamkeitsstudien oft schwierig. Einige Alternativverfahren halten Ärzte aber durchaus für sinnvoll.

Nachgewiesen ist, dass Asthmatiker von Entspannungstechniken und Yoga profitieren. Vor allem Kundalini- und Hatha-Yoga trainieren die Atemmuskeln und die Atmungskoordination. Für Neurodermitis-Erkrankte bietet sich eine Klimatherapie an. Im Rahmen einer Studie regenerierte sich nach vier- bis sechswöchiger Behandlung in Davos oder am Toten Meer die lädierte Haut von 90 Prozent der Patienten völlig.

Bei Heuschnupfen hat sich Akupunktur als effektiv erwiesen. Durch die Nadeln besserten sich in einer klinischen Untersuchung die Symptome bei 80 Prozent der Betroffenen. Die Wirkung hielt in der Folge noch jahrelang an. Vielfach helfen auch Kneipp’sche Verfahren und Badetherapie, mit einer Allergie besser zu leben.

Dagegen raten Mediziner dringend von Methoden wie Bioresonanz, dem Auspendeln, Eigenblutbehandlungen und Kinesiologie ab – mangels Wirksamkeitsnachweis.

4. Wo sind im Internet verlässliche Informationen zu finden?

Im Netz gibt es eine Fülle von Adressen zum Thema Allergie. Die folgenden Websites unterstützen Sie auf der Suche nach seriösen Informationen:

www.aeda.de – Ärzteverband Deutscher Allergologen; bietet eine Arztsuche.

www.aktionsplan-allergien.de – Hilfreiches Wissen rund ums Thema Allergie vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit.

www.allum.de – Angebot der Kinder- und Jugendärzte. Liefert zum Beispiel detaillierte Angaben zu allergenen Stoffen.

www.daab.de – Informationen des Deutschen Allergie- und Asthmabunds.

www.urtikaria.net – Info-Portal für Nesselsucht-Betroffene.

www.pina-infoline.de – Widmet sich vor allem der Vorbeugung und richtet sich bevorzugt an junge Familien. Bietet ein Online-Buch und ein Beratungstelefon.

5. Welche Bücher sind besonders empfehlenswert?

Ines Landschek: Allergien im Griff, Stiftung Warentest, Berlin 2010. Die Medizinjournalistin Ines Landschek erklärt umfassend und anschaulich, was es mit Allergien auf sich hat. Gespickt mit hilfreichen Hinweisen und Tipps.

Imke Reese, Christiane Schäfer: Allergien vorbeugen. Schwangerschaft und Säuglingsalter sind entscheidend!, systemed Verlag, Lünen, 2. Auflage 2011. In diesem Ratgeber finden werdende Eltern Informationen über die bestmögliche Allergieprävention für Kinder.

Tibor Schmoller, Andreas Meyer: Asthma. Mehr wissen – besser verstehen, TRIAS Verlag in MVS, Stuttgart 2007. Die Lungenexperten Schmoller und Meyer erläutern gut verständlich Symptome, Diagnose, Ursachen und Therapie des Asthmas.

Rüdiger Szczepanski, Maria Schon, Thomas Lob-Corzilius: Neurodermitis – das juckt uns nicht!, Pabst Science Publishers, Lengerich 2009. Das zweigeteilte Buch richtet sich in der ersten Hälfte an Kinder, in der zweiten an die Eltern.

Johannes Ring: Angewandte Allergologie, Urban & Vogel, München 2004. Für alle, die es genau wissen wollen und keine Scheu vor der medizinischen Fachsprache haben.

aus GEO 05/2012

Schmerz 1

Wege aus der Pein

Schmerzerfahrung schützt vor zu viel Waghalsigkeit. Und macht krank, wenn sie sich verselbstständigt. Wenn der Schmerz nicht mehr loslässt. Wenn er das Leben beherrscht, wie etwa der heimtückische Cluster-Kopfschmerz. Vielen Patienten könnten Mediziner inzwischen besser helfen denn je, dank neuer Erkenntnisse über das Monstrum Schmerz. Nur kommen die Einsichten zu zögerlich in den Behandlungszimmern an, auch eine Sechs-Punkte-Strategie gegen den Schmerz.

von Klaus Bachmann

Welch grossartige Vision ist das:

Den Schmerz einfach wegdenken, ihn allein mit der Macht der Gedanken bändigen!

Nichts weniger ist es, was der Neurowissenschaftler Christopher deCharms in Kalifornien seinen Patienten beibringen möchte. Er schiebt sie in die enge Röhre eines Magnetresonanztomografen. Auf einem kleinen Bildschirm sehen sie ein Feuer brennen: Sie schauen ihrem Gehirn „live“ bei der Arbeit zu. Modernste Technik setzt die Aktivität des Denkorgans in Sekundenbruchteilen in ein Bild lodernder Flammen um. Schlagen diese hoch, arbeiten die Nervenzellen auf Hochtouren. Züngeln sie nur schwach, „dösen“ die Neuronen.

Das Areal, dessen Treiben die Patienten beobachten können, liegt tief in der grauen Masse und bestimmt mit, wie stark sie einen Schmerzreiz empfinden. Den anterioren cingulären Kortex (ACC) nennen Hirnforscher die betreffende Region.

Mit ein wenig Übung, so zeigt es sich, schaffen Menschen es, den ACC zu beeinflussen. Jeder muss dabei seine persönliche Strategie finden. Manche konzentrieren sich auf einen Körperteil, der nicht wehtut; andere reden sich ein, der Schmerz sei harmlos und höre gleich auf; wieder andere beschwören angenehme Bilder aus dem jüngsten Urlaub herauf. Die Methode gleicht dem klassischen Biofeedback, nur dass das Gehirn hier mit sich selbst rückgekoppelt ist, sich selbst manipuliert.

Ein verrücktes Phänomen: Gedanken regieren die Nervenzellen, also die Materie. Ein Phänomen, das mitten hinein führt in die jahrhundertealte Diskussion über die Beziehung von Leib und Seele, Körper und Geist.