GEWALT, GIER UND GNADE - Jakob Sass - E-Book

GEWALT, GIER UND GNADE E-Book

Jakob Saß

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Beschreibung

Dem erfolglosen Bäcker Adolf Haas bot die SS alles, was er wollte: Karriere, Macht, Wohlstand und Affären. Dafür war er zu allem bereit, auch zum Massenmord. Trotz geringer Bildung stieg Adolf Haas seit 1932 rasch in Himmlers erträumter "Elitetruppe" auf. Gewaltbereitschaft und Gehorsam ebneten ihm den Weg von der ländlichen SS im Westerwald bis zu den Terrorstätten des Nazi- Regimes. Als KZ-Kommandant von Niederhagen/Wewelsburg (1940-1943) und Bergen-Belsen (1943-1944) scherte er sich kaum um Hygiene oder die Versorgung der Häftlinge, umso mehr um seine eigenen Vorteile. Während er Tausende sterben ließ, verschonte er einige wenige, solange sie für ihn malten, Kunsthandwerk fertigten oder musizierten - ein Zeuge Jehovas und ein Jude wurden zu seinen Lieblingskünstlern. Was war Haas für ein Mensch? Ein ganz normaler Nazi? Die erste umfangreiche Biografie über Adolf Haas blickt hinter die Fassade des Massenmörders, der kurz vor Kriegsende spurlos verschwand und den bundesdeutsche Behörden jahrzehntelang nicht finden konnten - oder wollten. "Ein wichtiges Buch über einen vergessenen KZ-Kommandanten. Flüssig geschrieben und glänzend recherchiert, erzählt es die Geschichte der steilen Karriere von Adolf Haas, vom Bäcker zum ersten Kommandanten von Bergen-Belsen. Ein bedeutender Beitrag zur NS-Täterforschung." - Nikolaus Wachsmann, Autor von "KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager" Mit Vorworten von Kirsten John-Stucke, Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg, und Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen.

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Jakob Saß

GEWALT, GIER UND GNADE

Der KZ-Kommandant Adolf Haas und sein Weg nach Wewelsburg und Bergen-Belsen

Mit Vorworten von

Kirsten John-Stucke, Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg, und Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen

„Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten.

Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.“

Primo Levi (Überlebender des KZ Auschwitz)

„Gerechtigkeit ist nicht allein die Verhängung von Strafe, sondern auch die Verbreitung von Wahrheit.“

Efraim Zuroff (Historiker, Direktor des Simon Wiesenthal Centers in Jerusalem)

Den Opfern von Adolf Haas gewidmet.

In Gedenken an Heinrich Schönker, verstorben im Januar 2019.

Für Victoria und meine Eltern.

Titelbild: Adolf Haas im Rang eines SS-Obersturmführers, ca. 1940-1941;

Kreismuseum Wewelsburg (Fotoarchiv)

IMPRESSUM

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-246-7 (Print) / 978-3-86408-251-1 (E-Book)

Korrektorat: Achim Klede

Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2019

www.vergangenheitsverlag.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhalt

Karte des Deutschen Reiches mit Lebensstationen von Adolf Haas

Vorwort von Kirsten John-Stucke, Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg

Vorwort von Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen

Prolog: Der Vergessene – Warum noch ein „Nazi-Buch“?

Editorische Notiz

1. Der Bäcker und Soldat: Die ersten Lebensjahre ohne Parteibuch und SS-Uniform, 1893–1932

1.1 Der Geselle: Kindheit und Ausbildung, 1893–1913

1.2 Der Verteidiger: Der kurze Erste Weltkrieg in Tsingtau (China), 1913–1914

1.3 Der Gefangene: Hunger, Langeweile und deutsche Kultur in Osaka, Tokushima und Bandō (Japan), 1914–1920

1.4 Der Konjunkturritter: Hoffnungen und Krisen in den Weimarer Jahren, 1920–1932

2. Der Aufsteiger: Karriere in der nationalsozialistischen Bewegung und Allgemeinen SS, 1932–1940

2.1 Der Abgeordnete: Kurze politische Karriere in der Hachenburger NSDAP, 1932–1933

2.2 Der „Draufgänger“: Steile „Karriere“ in der Allgemeinen SS, 1933–1934

2.3 Der Erpresser: Habsucht und Haft,

2.4 Der hauptamtliche SS-Führer: Weg mit der Bäckerschürze, rein in die Uniform, 1934–1937

2.5 Der Überschätzte: Karrierestillstand und mangelhafte Leistungen in der „SS-Führerschule Dachau“,

2.6 Der Trommler: „Polizeiverstärkungen“ in der Sudetenkrise,

2.7 Der Zerstörer: Das Novemberpogrom im Westerwald,

3. Der Schutzhaftlagerführer: KZ-Dienst auf Probe in Sachsenhausen, 1940

3.1 Der Neuling: Durch die „Dachauer Schule“ zur Waffen-SS

3.2 Der Schützling: Korruption und Selbstbereicherung unter Hans Loritz

4. Der Mörder und Gönner: Gewalt, Tod und KZ-Kunst im KZ Niederhagen/Wewelsburg, 1940–1943

4.1 Der „Herrgott von Wewelsburg“: Ein neues KZ für Himmlers Privatprojekt, 1940–1941

4.2 Der Sklaventreiber: Zwangsarbeit und Prügel, 1941–1942

4.3 Der Massenmörder: Willkür und „Vernichtung durch Arbeit“, 1942–1943

4.4 Der Kunstliebhaber: Freizeit, Affären und KZ-Kunst

5. Der bequeme Kommandant: Willkür und Auftragsmalerei im Konzentrationslager Bergen-Belsen, 1943–1944

5.1 Der „Unqualifizierte“: Der Aufbau des „Aufenthaltslagers Bergen-Belsen“

5.2 Kein „Judenfresser“? Die Teillager des „Aufenthaltslagers“ und die Willkür des Kommandanten

5.3 Der „große Angeber“: Tanzvergnügen, Gaumenschmaus und Auftragsmalerei

5.4 Der Gemaßregelte: „Schmutzige Verleumdungen“ und der Bilderskandal

5.5 Der Gestresste: Als sich Bergen-Belsen in ein „typisches“ Konzentrationslager verwandelte

5.6 Der Abgeschobene: Kommandantenwechsel und Inferno

6. Der alte Soldat: Die letzten Kriegstage, 1944–1945

6.1 Der beurlaubte Panzergrenadier: Das SS-Panzer-Grenadier-Ersatz-Bataillon 18 als Sammelbecken der Lager-SS und Abschied in Hachenburg

6.2 Der Gerichtsbeisitzer: Schauprozess im KZ Neuengamme und das Ende des „Dritten Reiches“

7. Der Gesuchte: Die Nachkriegsjustiz und die erfolglose Fahndung nach dem verschwundenen KZ-Kommandanten, 1945–heute

Epilog: Der ganz „normale Nazi“ – Adolf Haas als Warnung

Danksagung

Abkürzungen

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Register

Dienstgrade in der SS und Laufbahn von Adolf Haas

Kurzer Lebenslauf von Adolf Haas

Bildnachweis

Karte des Deutschen Reiches mit Lebensstationen von Adolf Haas

1 Cuxhaven – Ausbildung zum Matrosenartilleristen in der „Stammabteilung der Marineartillerie-Abteilung Kiautschou“: ca. 10.1913–12.1.1914 (Kap. 1.1 und 1.2)

2 Hamburg-Langenhorn – Reservist beim SS-Panzergrenadier-Ersatz-Bataillon 18: ab ca. 16.3.1945 (Kap. 6.2)

3 Hamburg-Neuengamme – Gerichtsbeisitzer eines SS- und Polizeigerichtes im KZ Neuengamme: 14.4.1945 (Kap. 6.2)

4 Bergen-Belsen (bei Celle) – Kommandant von Bergen-Belsen: 7.5.1943–2.12.1944 (Kap. 5)

5 Oranienburg – Ausbildung zum Schutzhaftlagerführer im KZ Sachsenhausen: 1.3.1940–1.6.1940 (Kap. 3)

6 Berlin – Antrittskonferenz von Oswald Pohl mit 14 KZ-Kommandanten: 24.4.1942 (Kap. 4.3)

7 Niederhagen/Wewelsburg – Lagerführer und später Kommandant von Niederhagen/Wewelsburg: 17.6.1940–7.5.1943 (Kap. 4)

8 Wuppertal-Barmen – Arbeit als Konditor: ca. 1911–1913 (Kap. 1.1)

9 Siegen – Geburtsort: 14.11.1893 (Kap. 1.1)

10 Hachenburg – Kindheit und Schulzeit: ca. 1894–1908 (Kap. 1.1); Familiengründung, Tätigkeit als Bäcker und SS-Führer: 1920–1936, 1937–1940 (Kap. 1.4 und 2); Fronturlaub und Abschied von Familie: 15.3.1945 (Kap. 6.1)

11 Westerburg – Führer des III. Sturmbanns der 78. SS-Standarte: 1937 (Kap. 2.5)

12 Mogendorf – Beteiligung am Novemberpogrom: 10.11.1938 (Kap. 2.7)

13 Limburg (Lahn) – Führer des III. Sturmbanns der 78. SS-Standarte: 1935 (Kap. 2.4)

14 Wiesbaden – Ausbildung zum Konditor: ca. 1908–1911 (Kap. 1.1); SS-Führer des I. Sturmbannes der 78. SS-Standarte, auch kurzzeitiger Wohnsitz: 1936 (Kap. 2.4)

15 Mainz – Untersuchungshaft: 18–27.7.1934 (Kap. 2.3)

16 Bad Kreuznach – Arbeit als Konditor: ca. 1911–1913 (Kap. 1.1)

17 Mannheim – Arbeit als Konditor: ca. 1911–1913 (Kap. 1.1)

18 München-Dachau – Lehrgang in der SS-Führerschule Dachau: 10.10.–10.11.1937 (Kap. 2.5)

Vorwort von Kirsten John-Stucke, Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg

Mit der vorliegenden Biografie über Adolf Haas, den Lagerkommandanten des KZ Niederhagen/Wewelsburg und des KZ Bergen-Belsen, stellt Jakob Saß einen wichtigen Beitrag für die Forschungen zu nationalsozialistischen Konzentrationslagern und ihrer Führungsriege vor. Zu Adolf Haas, der in Sachsenhausen ausgebildet wurde, um dann zunächst in Wewelsburg und später in Bergen-Belsen KZ-Kommandant zu werden, gab es bisher keine eigenständige Studie, in der seine widersprüchliche Persönlichkeit untersucht worden ist, zu dünn und unübersichtlich erschien lange Zeit die Aktenlage. Es ist daher das Verdienst von Jakob Saß, die wenigen erhaltenen Dokumente zusammenzutragen, akribisch auszuwerten und zusammen mit den in den Gedenkstätten gesammelten Erinnerungsberichten der Überlebenden aus Wewelsburg und Bergen-Belsen sowie weiteren Zeitzeugenberichten zusammen zu bringen. Es gelingt ihm auf diese Weise, die Biografie von Adolf Haas aus unterschiedlichen Perspektiven heraus intensiv zu durchleuchten und zu bewerten.

Täterbiografien bilden mittlerweile in den meisten Gedenkstätten für NS-Opfer in Deutschland einen wichtigen Bestandteil der pädagogischen Vermittlungsarbeit. Biografische Zugänge, Werdegänge von SS-Männern, ihre Sozialisierungsprozesse und Ambitionen, helfen, das Selbstverständnis und den Aufbau dieser verbrecherischen Organisation zu verstehen und Einblicke in die ideologische Weltanschauung der Schutzstaffel (SS) zu geben, die sich selbst als Elite der „nordisch-arischen Rasse“ verstand. Eine rassistische und menschenverachtende Ideologie, deren radikale Umsetzung und Konsequenz zur Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich zur Ermordung von Millionen Menschen in Deutschland und Europa führte. Durch die biografischen Zugänge werden die Akteure und Akteurinnen greifbar und dadurch gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen und Strukturen im NS-Verfolgungsapparat leichter verständlich.

Jakob Saß lässt die biografische Studie nicht mit dem ungelösten Verschwinden des ehemaligen Lagerkommandanten im April 1945 enden, sondern beschreibt sehr ausführlich auch die Bemühungen der Nachkriegsjustiz, Adolf Haas aufgrund seiner verbrecherischen Taten während seines Kommandos in den Konzentrationslagern – mehr als 3000 Häftlinge starben in dieser Zeit – anzuklagen. Gerade die Darstellung des gesellschaftlichen und juristischen Umgangs mit den Verbrechen des NS-Täters und die Recherchen im familiären Umfeld zeigen die aktuelle Relevanz des Themas bis heute. Die meisten der SS-Täter konnten sich nach dem Krieg einer strafrechtlichen Verfolgung entziehen. Doch stellt sich die Frage, wie denn die Gesellschaft und die Familien der SS-Täter mit den Verbrechen der SS-Täter umgegangen sind.

Jakob Saß‘ Studie über Adolf Haas‘ Leben und die juristische und familiäre Aufarbeitung bietet viele aktuelle Ansatzpunkte zum Nachdenken und zum Diskutieren. Ich wünsche dem Buch daher viele aufmerksame Leserinnen und Leser.

Kirsten John-Stucke

Kreismuseum Wewelsburg, Januar 2019

Vorwort von Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen

Adolf Haas, der erste Kommandant des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, ist bisher kaum Gegenstand der Historiografie geworden. Weder die Forschungsliteratur zur Geschichte der Konzentrationslager Niederhagen/ Wewelsburg und Bergen-Belsen noch die einschlägigen Studien zu SS-Tätern gehen ausführlich auf seine Lebensgeschichte und insbesondere seine Bedeutung als KZ-Kommandant ein. Das mag auch darin begründet sein, dass seine SS-Karriere im Schatten seines Nachfolgers Josef Kramer steht, der seit 1933 im KZ-Dienst tätig war, 1944 als Kommandant von Auschwitz-Birkenau im Zentrum des Holocaust agiert hatte und 1945 im ersten KZ-Prozess auf deutschem Boden als prominentester Angeklagter in einem aufsehenerregenden Verfahren wegen seiner Massenverbrechen in Auschwitz und Bergen-Belsen zum Tode verurteilt und gehängt wurde.

Anders als Kramer hat Adolf Haas nie vor Gericht gestanden, sodass zu ihm und seinem Handeln in den Konzentrationslagern keine Prozessakten vorliegen. Auch hat er keine Diensttagebücher, Memoiren oder Reden hinterlassen. Wie in vielen ähnlichen Fällen waren und sind die Angehörigen nicht bereit, der Forschung Einblicke in die familiäre Überlieferung zu geben, wie Dokumente, Briefe und andere persönliche Aufzeichnungen, oder für Interviews zur Verfügung zu stehen.

Die Häftlingstagebücher aus den Konzentrationslagern wie auch die Erinnerungsberichte und Interviews der Überlebenden zeichnen ein widerspruchsvolles Bild von Adolf Haas, das nicht recht in die gängigen Schemata der NS-Täter passt. Haas war weder ein sadistischer Exzess-Täter noch ein kalter Schreibtischtäter. Er war ein SS-Karrierist aus der Provinz, aber er stand nicht am untersten Ende der Verbrechenshierarchie, sondern zählte als einer von insgesamt etwa 50 KZ-Kommandanten1 durchaus zum inneren Zirkel der Macht. Seine in manchen Berichten beschriebene Behäbigkeit und Bequemlichkeit konnte schnell in brutale Unberechenbarkeit umschlagen. Wenn in einigen Erinnerungsberichten ehemaliger Häftlinge des KZ Bergen-Belsen konstatiert wird, Haas sei „kein Judenfresser“ gewesen, so sagt dies vielleicht mehr über die Erwartungen jüdischer Häftlinge gegenüber dem Kommandanten eines NS-Konzentrationslagers aus als über seine tatsächliche politisch-ideologische Prägung. Auch Haas war zutiefst überzeugt von der Notwendigkeit und Berechtigung der rassistischen Verfolgungspraxis des Nationalsozialismus. Allein die enorme Todesrate unter den Häftlingen des KZ Niederhagen/Wewelsburg unter dem Kommando von Haas offenbart seine Fähigkeit und Bereitschaft, sich an dieser Verfolgungspraxis bis zum tödlichen Ende zu beteiligen. Seine gelegentlich auch im KZ Bergen-Belsen zur Schau getragene Jovialität unterschied ihn durchaus von manch anderen SS-Führern, aber sie sollte nicht als Ausdruck von Empathie missverstanden werden. In ihr offenbarte sich vielmehr eine selbstherrliche Willkür als Ausdruck absoluter Macht.

Es gehört zu den Vorzügen der biografischen Studie von Jakob Saß, dass er die Vielgestaltigkeit und auch Widersprüchlichkeit der Person und des Handelns von Adolf Haas nicht interpretatorisch einebnet. Er hat für die Darstellung des Agierens von Adolf Haas in den Konzentrationslagern vor allem die Erinnerungsberichte von Überlebenden in beeindruckender Weise ausgewertet. Jakob Saß bezieht durchaus auch andere Quellen wie etwa die SS-interne Überlieferung in seine biografische Untersuchung mit ein, um einen multiperspektivischen Blick auf das Leben von Adolf Haas werfen zu können. Seine dominierende Perspektive ist aber, soweit es um die Rolle von Haas in den Konzentrationslagern geht, die der Häftlinge bzw. Überlebenden und so macht er gewissermaßen aus einer Quellennot eine historiografische Tugend. Nicht zuletzt diese Betonung der Perspektive der Verfolgten auch im Kontext der Täterforschung macht seine Studie auch für die Bildungsarbeit in den Gedenkstätten ausgesprochen hilfreich.

Dr. Thomas Rahe

Gedenkstätte Bergen-Belsen, Dezember 2018

Prolog: Der Vergessene – Warum noch ein „Nazi-Buch“?

Das beliebte Online-Spiel ist makaber, die Regeln aber denkbar einfach: Jemand lädt ein Foto hoch und wer die Identität der Person darauf errät, darf das nächste Bilderrätsel stellen. Ein endloses Spiel, bei dem die Spieler aus aller Welt seit mehr als zehn Jahren nicht die Lust verlieren. Bei ihrem Quiz geht es ausschließlich um Männer, meist in Schwarz-Weiß und in Uniform. Und noch etwas haben alle gemeinsam. Jeder von ihnen war Teil derselben Organisation – der wohl verbrecherischsten der Geschichte.

Seit 1999 tauschen sich militärhistorisch Interessierte in der internationalen Online-Community „Axis History Forum“ über die Geschichte der Achsenmächte (Axis Powers) im Zweiten Weltkrieg aus. Über Schlachten, Waffen, Einheiten, neue Archivfunde, vermisste Großväter, „Frauen im Dritten Reich“ und Hunderte andere Themen. Wer mitdiskutieren will, muss sich an die Forumsregeln halten: Hakenkreuze sind als Profilbild nicht erlaubt, dafür aber Symbole wie der SS-Totenkopf. Der ist in Deutschland verboten, im „Axis History Forum“ aber äußerst populär. Man toleriere außerdem keine Beleidigungen, keinen Rassismus und keine Posts, die den Holocaust leugnen oder den Nationalsozialismus, Faschismus oder eine andere totalitäre Diktatur glorifizieren. Eigentlich.

„Ich bin natürlich ein großer Experte für SS-Personal und für Foto-Identifikation“, schrieb der Hobbyhistoriker Max Williams auf Englisch und ohne Bescheidenheit am 3. Juni 2007 in das Forum.2 Er schlug ein makabres Spiel vor, bei dem die Männer der „Schutzstaffel“ im Mittelpunkt standen, Adolf Hitlers größtem Machtinstrument für Terror und Mord im „Dritten Reich“. Er nannte es „SS ID Quiz“. Der „Rätselspaß“ ist den Usern bis heute nicht vergangen, vor allem Max Williams nicht, der sein Quiz konkurrenzlos dominiert. Die Fotos auf den mittlerweile über 450 Forumsseiten zeigen meist hochrangige Offiziere aus der Waffen-SS, insbesondere von den Kampfverbänden – manchmal aber auch von den Wachmannschaften der Konzentrationslager. Schwierig wurde es, wenn die Männer keine SS-Uniform trugen.

Mit dem Bild eines jungen Mannes, Anfang 20, in einer Matrosenuniform taten sich die User im Juni 2017 besonders schwer (siehe Bild auf Seite 26). Nach zwei Tagen gab „J. Duncan“ zwei Hinweise: „Er backte, was Hitler liebend gern aß“ und „Ignoriert von Tom Segev”. Da stieg sogar der selbst ernannte SS-Experte Max Williams nicht gleich dahinter: „Kuchen? Ein Lagerkommandant? Verdammt, selbst die Hinweise sind Rätsel! Komm schon, sei gnädig“3 Gesucht war also ein Konditor, der in der SS bis zum Kommandanten eines Konzentrationslagers aufgestiegen war.

Der zweite Hinweis war etwas schwieriger zu entschlüsseln, musste man dafür das Buch des israelischen Historikers und Journalisten Tom Segev „Soldiers of Evil“ (1987, dt. 1988: „Die Soldaten des Bösen“) sehr aufmerksam gelesen haben – oder zumindest das Namensregister. Segev erzählt die Geschichte der Konzentrationslager mit den Geschichten der Männer, ohne die weder die Terrorherrschaft noch die Massenmorde möglich gewesen wären. Lange bevor sich in Deutschland eine eigene ernst zu nehmende Täterforschung etablierte, rekonstruierte Segev als junger Promotionsstudent mit bemerkenswerter Akribie, Geduld und Hartnäckigkeit in den 1970er-Jahren die Biografien von 36 KZ-Kommandanten mit Unterlagen des Berlin Document Centers (BDC), heute Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. „Die Personalakten liefern allerdings keine wohlfeile Antwort auf die Kardinalfrage der Geschichtsschreibung: ‚Wie konnte das alles passieren?‘“1, schreibt Segev im Vorwort. „Viele dieser Akten sagen uns jedoch, wie gewisse Leute, Nazis, SS-Männer, sich einverstanden erklärten, den Terror zu ihrem Beruf zu machen und wie es ihnen möglich war, den Mord an Millionen von Menschen als Teil ihrer täglichen Routine zu erledigen“.4 Er, der Sohn eines Juden, der 1933 mit seiner Frau aus Deutschland fliehen musste, befragte nicht nur Tausende von Akten nach den Motiven der Täter, sondern auch drei noch lebende Kommandanten und Angehörige der bereits verstorbenen. Zehn von insgesamt etwa 50 Lagerkommandanten5 kommen allerdings in Segevs Buch tatsächlich nicht vor, darunter der 2017 im „SS ID Quiz“ gesuchte Konditor und frühere Matrose. Dabei hatte sich der junge Historiker damals auch dessen Personalakte angeschaut und sie in seiner Dissertation auf fünf Seiten zusammengefasst – die hatte „J. Duncan“ offenbar aber nicht gelesen, als er seine beiden Hinweise postete.6

Erst nach drei Tagen löste der Slowake Machal alias „goofy“ das knifflige Rätsel im „Axis History Forum“. „Ich glaube, das ist Adolf Haas“, schrieb er und bekam einen lachenden Smiley als Antwort.

Schon zehn Jahre zuvor hatten andere Forums-Mitglieder Material zum KZ-Kommandanten Adolf Haas zusammengetragen.7 An seiner Biografie schien zunächst nichts besonders: Adolf Haas wurde am 14. November 1893 in Siegen geboren und wuchs in Hachenburg im Westerwald auf. Er machte die Ausbildung zum Konditor, ging in seiner Wehrdienstzeit zur Marine und geriet im Ersten Weltkrieg in Gefangenschaft. Nach seiner Rückkehr gründete er eine Familie und machte sich als Bäcker selbstständig. 1931 trat Haas in die NSDAP ein und 1932 oder 1933 – ganz sicher waren sich die User nicht – in die SS. Vor allem die Stationen seiner schnellen „Karriere“ in Heinrich Himmlers „Schwarzen Orden“ diskutierten sie ausgiebig, einschließlich der exakten Daten seiner Beförderungen: Bald war Adolf Haas seine Tätigkeit als SS-Führer wichtiger als seine Bäckerei. 1940 bewährte er sich als Zweiter Schutzhaftlagerführer im KZ Sachsenhausen und bekam kurz darauf das Kommando über sein erstes eigenes Lager in Niederhagen, am Fuß der Wewelsburg bei Paderborn. 1943 baute er sein zweites Konzentrationslager auf: Bergen-Belsen.

Warum sich Adolf Haas der NS-Bewegung angeschlossen hatte, wieso er sich für die SS entschieden hatte, an welchen Verbrechen er sich beteiligte, wie viele Menschen in seinen Lagern starben, was für ein Mensch er selbst war – all diese Fragen, die Tom Segev in seinem Buch gestellt hatte, spielten in der Diskussionsgruppe keine Rolle. Dort interessierte nicht der Mensch, sondern nur der „politische Soldat“ Adolf Haas. Nur die harten „Fakten“ zählten, von denen einige nicht stimmten: „Am 20. Dezember 1944 übernahm er die Führung des SS-Panzergrenadierbataillons 18. Haas gilt seit dem 1. Mai 1945 als vermißt.“8 Tatsächlich übernahm er nicht die „Führung“ des Bataillons und wurde auch nicht seit dem 1. Mai vermisst, sondern offiziell bereits seit Mitte März 1945. In einem anderen Kommentar hieß es, Haas wäre nach dem Krieg „von den Russen zum Tode verurteilt und exekutiert“ worden. Einen Beleg gab es nicht.9

Die User im „Axis History Forum“ waren natürlich nicht die Ersten, die sich für Adolf Haas interessierten. Das Wesentlichste samt einigen fehlerhaften Informationen hatten sie damals wortwörtlich aus einem im Internet veröffentlichten Erneuerungskonzept des Kreismuseums Wewelsburg für die Ausstellung „Wewelsburg 1933-1945. Kult- und Terrorstätte der SS“ kopiert – allerdings ohne den spannenden Abschnitt über Haas‘ schlechte Beurteilungen, seine Schwächen, Arroganz, Affären und verhängnisvolle, laienhafte Kunstliebe.

Mehrere Historikerinnen und Historiker haben sich seit den 1960er-Jahren immer wieder seiner Biografie gewidmet. Meist aber nur mit wenigen Seiten in ihren ansonsten sehr lesenswerten Büchern zur NS-Zeit im Westerwald, den Konzentrationslagern Wewelsburg und Bergen-Belsen oder allgemein zur Lager-SS.10 Darin kamen sie zum Teil zu sehr unterschiedlichen Urteilen über seinen Charakter, seine Motive und Lagerführung: Karl Hüser schreibt in der ersten Monografie zum KZ Niederhagen/Wewelsburg, „Adolf Haas und seine Helfer“ hätten „neben der großen Zahl“ gezielter „Mordaktionen“ auch „einen erheblichen Teil der Häftlinge durch Hunger, Krankheiten und Arbeitsschinderei umkommen“ lassen.11 Einige Häftlinge bevorzugte er aber offenbar: „Der Lagerkommandant Haas schätzte die handwerklichen und oftmals künstlerischen Fähigkeiten der Häftlinge und nutzte sie für seine eigenen Zwecke“, erläutert Kirsten John-Stucke, die heutige Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg.12 Eberhard Kolb, der Nestor der Bergen-Belsen-Forschung, sieht in ihm einen „ebenso primitiven wie zur Leitung eines ‚Austauschlagers‘ völlig unqualifizierten SS-Führer“.13 Er war allerdings „weder ein ‚scharfer‘ Lagerkommandant noch ein ausgesprochener Judenhasser oder Sadist“, aber mitverantwortlich für das schreckliche „Inferno“ 1945, meint Alexandra-Eileen Wenck im neueren Standardwerk zum KZ Bergen-Belsen.14 Die Überlebenden hätten ihn vielmehr als einen „behäbigen an der eigenen Bequemlichkeit mehr als an seiner Aufgabe interessierten SS-Führer“ charakterisiert, schreibt Karin Orth in ihrer Studie zur Konzentrationslager-SS.15

Doch wie konnte ein vermeintlich „primitiver“, „unqualifizierter“ und „bequemer“ Mann in der SS so weit aufsteigen, die sich unter Reichsführer-SS Heinrich Himmler als „Elite“ zelebrierte ? Was half ihm dabei und wer?

Wenn Haas kein „Judenhasser“ und „Sadist“ gewesen sein sollte, was trieb ihn dann zur SS ? Mit welcher Überzeugung beteiligte er sich an Verbrechen?

Wie vereinbarte er es mit seinem Gewissen, dass in seinen Lagern nachweislich mindestens 3026 Menschen umkamen?16 Beschützte er dagegen tatsächlich Künstler und Handwerker, auch jüdische ?

Dieses Buch fügt die verschiedenen, teils unvereinbar wirkenden biografischen Puzzle-Teile erstmals zusammen. Es kann allerdings nicht das Rätsel lösen, das nach 1945 nicht nur die Bewohner seiner Heimatstadt noch viele Jahre beschäftigte: das Verschwinden von Adolf Haas kurz vor Kriegsende. Während seine Frau ihn für tot erklären ließ, kursierten in Hachenburg mehrere Gerüchte. Die einen sagten, er sei untergetaucht und habe immer wieder heimlich seine Familie besucht.17 Andere meinten, er lebe weit weg von zu Hause. „Es wurde gemunkelt, er sei in Spanien“, erinnerte sich der Hachenburger Gerhard Latsch, der als Kind mit Adolf Haas‘ Sohn befreundet gewesen war.18 Über Spanien seien ja viele Nazis „mit päpstlichen Pässen nach Argentinien gekommen. Eine ganze Menge Nazis sind so geflüchtet, nicht die ganz Großen, aber die Mittelgroßen.“

Dass sich der KZ-Kommandant Adolf Haas nach Lateinamerika abgesetzt haben könnte, war auch meine erste Spur: Sven Felix Kellerhoff, Leitender Redakteur für Geschichte bei der WELT, und ich folgten im Sommer 2013 einem Hinweis, dass sich Haas in Brasilien ein neues Leben aufgebaut haben sollte, sogar mit einer neuen Frau. Wie die Historikerinnen und Historiker zuvor arbeiteten auch wir uns zunächst durch die 150-seitige SS-Personalakte im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, entdeckten damals aber ebenfalls keine Anhaltspunkte zu seinem Verschwinden. Die Spur endete in einer Sackgasse – so wie für alle, die nach dem verschollenen KZ-Kommandanten suchten: erst die Alliierten, dann die österreichischen und deutschen Behörden und in den 1990er-Jahren sogar einer seiner Enkel. Bis heute konnte keiner herausfinden, was mit Adolf Haas 1945 geschah. Auch ich nicht, trotz jahrelanger Recherchen.

Warum also noch ein Nazi-Buch? Diese Frage hörte ich oft. Literatur zum Nationalsozialismus ist seit 30 Jahren keine Mangelware mehr in den Buchläden. Die Bücher füllen ganze Bibliotheken. Warum braucht also der verschollene KZ-Kommandant Adolf Haas ein eigenes Buch? Zumal es nicht mit Enthüllungen zu einer spektakulären Flucht bei Kriegsende und einem geheimen Leben in Brasilien aufwarten kann.

Zum einen ist die erste Biografie von Adolf Haas ein Beitrag zur Täterforschung. Warum verüben Menschen Verbrechen, warum begehen sie Mord? Diese banale, aber höchst relevante und tagesaktuelle Frage beschäftigt nach wie vor ebenso Kriminologen wie Holocaust-Forscher. Die neuere Täterforschung innerhalb der Geschichtswissenschaft habe zwar, so der Historiker Frank Bajohr, „in den letzten zwanzig Jahren zu einer bis dahin unbekannten empirischen Rekonstruktion des Holocaust aus der Nahperspektive geführt und dabei frühere Grundannahmen“ korrigiert – am Ende ist sie aber noch lange nicht.19 Dass die „Vernichtungsmaschinerie“ stets „einen bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung“ darstellte, bemerkte der Politikwissenschaftler Raul Hilberg bereits 1961 in seiner bahnbrechenden Grundlagenstudie „The Destruction of the European Jews“ („Die Vernichtung der europäischen Juden“).20 Im Oktober 2017 wurde auf einer prominent besetzten internationalen Konferenz anlässlich Hilbergs 10. Todestages in Berlin dazu aufgerufen, sich im Sinne des Begründers der Holocaust-Forschung wieder mehr mit den kleinen Rädchen in der „Vernichtungsmaschinerie“, den „normalen“ Tätern, zu beschäftigen.21 Nicht zuletzt hatten die beiden Historiker Daniel Goldhagen und Christopher Browning Anfang und Mitte der 1990er-Jahre mit ihren Studien eine hitzige öffentliche Diskussion angeregt, ob die NS-Täter ein besonders gewaltbereites, fanatisiertes Kollektiv oder eben doch „ganz gewöhnliche Deutsche“ bzw. „ganz normale Männer“ (ordinary men) waren – eine bis heute offene Frage.22

Der Bäcker Adolf Haas war ohne Zweifel ein ganz normaler Mann, aber auch einer der „normalen“ Täter – sowohl im Sinne seiner Sozialisation als auch seiner „Karriere“: Weder hatte er eine „kriminelle Neigung“ noch psychische Störungen. Weder war er besonders gebildet noch ein radikaler NS-Ideologe. Weder war er ein mächtiger noch ein berüchtigter SS-Funktionär. Er war schlichtweg Durchschnitt – so sahen es auch seine Vorgesetzten in den wenigen nicht beschönigten Beurteilungen.23 Die Biografien der Kommandanten kleinerer bzw. hierarchisch niedrigerer Lager, zu denen Niederhagen/Wewelsburg und anfangs auch Bergen-Belsen zählten, wurden bisher kaum abseits der Übersichtsliteratur erforscht. Dagegen standen vor allem die bekannteren Kommandanten der großen Lager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald sowie der Vernichtungslager im Osten im Vordergrund, aber auch Männer wie Karl Otto Koch und Amon Göth, die durch ihren Sadismus bekannt geworden sind, Letzterer nicht zuletzt durch Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“.24 Dass es allgemein nur zu einem Fünftel aller knapp 50 Kommandanten eigenständige Biografien gibt, liegt allerdings wohl weniger am Interesse als vielmehr an der dürftigen Quellenlage.

Die meisten Lagerkommandanten „hinterließen keine oder kaum subjektive Quellen, aus denen man auf ihre Handlungskonzepte oder auf ihre Motivation schließen könnte“, schreibt die Historikerin Karin Orth.25 Viele waren „weder intellektuell in der Lage, noch sahen sie überhaupt jemals die Notwendigkeit, über ihre Beweggründe zu reflektieren oder ein Handlungskonzept aufzuschreiben“. Das gilt auch für Adolf Haas. Wie in den meisten anderen KZ sorgte die SS in Niederhagen/Wewelsburg und Bergen-Belsen bei Kriegsende außerdem dafür, dass die Akten der Lagerregistratur nicht in die Hände der Alliierten gelangten.26 „Eine Biographie, die den Standards der Biographieforschung entspricht“, ließe sich „auf der Grundlage des überlieferten Quellenmaterials“ eigentlich nicht schreiben, resümiert Karin Orth für die Lager-SS.27 „Ihre Handlungsmaximen ließen sich meist nur aus der Rückschau gewinnen“. Genau das ist bei Adolf Haas erstaunlich ergiebig – trotz weniger subjektiver Quellen.

Einerseits ist seine SS-Personalakte ungewöhnlich umfangreich. Sie enthält zahlreiche auf Schreibmaschine getippte Beurteilungen und Beförderungsvorschläge seiner SS-Vorgesetzten, einige selbst verfasste Lebensläufe und Aufsätze sowie Korrespondenz und ein Gesprächsprotokoll anlässlich seiner Affären und eines Skandals in Bergen-Belsen, aber auch eine „SS-Ahnentafel“, auf der er bis ins 18. Jahrhundert seine „arische“ Abstammung nachweisen musste.28 Die pedantisch organisierte NS-Bürokratie hielt und hält allerdings weit mehr zu Adolf Haas bereit – nur eben weit verstreut in der Archivlandschaft. Mit dem zum großen Teil erstmals ausgewerteten Aktenmaterial aus 16 Archiven in Deutschland, Luxemburg und Großbritannien lassen sich seine Biografie, sein Karriereweg und seine Verbrechen rekonstruieren. Die Erkenntnisse der NS-, Holocaust- und Täterforschung spielen dabei eine wichtige Rolle. Da das Buch sich nicht nur an ein Fach-, sondern ein allgemein historisch orientiertes Publikum richtet, finden die verschiedenen Konzepte und Literaturhinweise allerdings meist in den Endnoten ihren Platz.

Einen emotionalen Zugang ermöglichen dagegen die zahlreichen Zeitzeugenaussagen. Dass die verschiedenen Stimmen der Überlebenden gehört werden, ist mir ein wichtiges Anliegen. Sie zeugen stellvertretend vom Leid von Millionen, machen aber auch – trotz oder gerade wegen ihrer Widersprüche – aus dem abstrakten „Täter“ Adolf Haas einen Menschen, dessen Motive nachvollziehbar werden. Ich folge hier dem Ansatz einer „integrierten Geschichte“, in der „die Praktiken der Täter, die Einstellungen der umgebenden Gesellschaft und die Welt der Opfer“ verknüpft werden, wie es der Historiker Saul Friedländer vorgeschlagen hat.29

Das Buch füllt keineswegs nur eine biografische Lücke in der Täterforschung. Haas‘ Weg von Sachsenhausen bis nach Bergen-Belsen zeichnet im wahrsten Sinn ein erschreckendes Bild von einem wichtigen Teil des Lageralltags, der bislang kaum zusammenhängend erforscht ist: KZ-Kunst. Wie Hunderte andere SS-Führer missbrauchte Adolf Haas die Fähigkeiten handwerklich oder künstlerisch begabter Häftlinge für seine privaten Wünsche. „Du bist mir zu schade zum Verrecken“, sagte er zu einem Häftling in Wewelsburg. Was ließ sich Adolf Haas anfertigen? Inwieweit bevorzugte oder schützte er sogar seine Auftragskünstler ? Wie kam es zu dem Bilderskandal in Bergen-Belsen, den einige Historikerinnen und Historiker für seine Versetzung an die Front Ende 1944 ausschlaggebend halten?

Andererseits endet die Geschichte von Adolf Haas nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, obwohl er seitdem nicht mehr aufgetaucht ist – weder auf einem Soldatenfriedhof noch mit einer neuen Identität.30 Heute ist der 1893 geborene Adolf Haas garantiert tot, egal ob er nun in den letzten Kriegstagen an der Front fiel, sich das Leben nahm oder ob er tatsächlich untertauchte. In der Nachkriegszeit war man sich allerdings nicht sicher trotz der amtlichen Todeserklärung von 1950, die das Todesdatum auf den 31. März 1945 festgelegt hatte. Tatsächlich belegen Akten der Staatsanwaltschaft Hamburg eindeutig, dass Adolf Haas mindestens noch am 14. April 1945 am Leben und höchstwahrscheinlich am Tod eines weiteren Menschen beteiligt gewesen war. In den folgenden Tagen bis zur Kapitulation gelang einigen aus seinem Umfeld die Flucht. Dass auch er es schaffte, hielten einige nach 1945 durchaus für möglich. Andere sahen keinen Grund, weiter nach dem verschollenen und schließlich für tot erklärten Kommandanten zu fahnden. Der Fall „Adolf Haas“ gibt einen ernüchternden Einblick in die Praxis der NS-Strafverfolgung der Alliierten und der Bundesrepublik. Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um ihn zu finden? Welche Chancen verpassten die Behörden absichtlich oder unabsichtlich? Und warum interessierten sich der berühmte Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und seine Mitarbeiter für dessen Akte ?

Nicht zuletzt stellt sich aktueller denn je die Frage, warum der Nationalsozialismus und insbesondere der SS-Eliten-Mythos bis heute eine ungebrochene Anziehungskraft auf Militärfanatiker wie im „Axis History Forum“ und – schlimmer noch – auf Rechtsextreme weltweit haben. Zwischen ihnen zu trennen, ist oft nicht leicht: Wer Kriegsverbrecher wie Adolf Haas zum Teil eines „Rätselspaßes“ macht, verharmlost die Verbrechen der Waffen-SS und verhöhnt die Opfer des Nationalsozialismus’. Am 15. Juni 2018 postete der User „J. Duncan“ im „SS ID Quiz“ erneut ein Foto von Adolf Haas, dieses Mal in SS-Uniform (siehe Bild auf Seite 134). „Das mag einfach sein, aber es ist das einzige Bild, das ich kenne, auf dem dieser Mann lächelt“, kommentierte er.31 Woher stammt also die Legende von der SS-Elite? Woher die von der tadellosen Waffen-SS? Inwieweit fördert die Verherrlichung von SS-Leitwerten – Kameradschaft, Härte, Männlichkeit – heute Macht- und Gewaltfantasien? Warum findet gerade in Deutschland die Behauptung von Alexander Gauland Beifall, „Hitler und die Nazis“ seien „nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ gewesen?32 Für welche Zwecke werden solche revisionistischen Ansichten instrumentalisiert? Welche Rollen spielen Sprache, Hass und Existenzängste bei der Diskriminierung von Minderheiten?

Biografien wie die von Adolf Haas können verstehen helfen, warum „ganz normale“ Menschen sich einer radikalen Bewegung anschließen und in der Vergangenheit sogar bereit waren, ihre Mitmenschen nicht nur zu diskriminieren, sondern auch auszurauben, zusammenzuschlagen, einzusperren, zu foltern und schließlich millionenfach zu ermorden.

Editorische Notiz: Die Zitate in diesem Buch wurden in der Regel in ihrem jeweiligen Wortlaut belassen, das heißt nicht verbessert oder der neuen Rechtschreibung angepasst. Wenn Zitate in seltenen Fällen zugunsten der Verständlichkeit verändert wurden, wurde es bei der Quellenangabe vermerkt. Viele Namen wurden aus Datenschutzgründen anonymisiert.

1. Der Bäcker und Soldat

Die ersten Lebensjahre ohne Parteibuch und SS-Uniform

1893–1932Deutsches Reich, China, Japan

1.1 Der Geselle: Kindheit und Ausbildung, 1893–1913

Vom Hagenberg aus hatte man schon immer einen weiten Blick über die Höhen des Westerwaldes und des Siegerlandes bis hin ins Siebengebirge. Am Bergkegel vorbei führten seit dem Mittelalter die bedeutenden Handelswege Köln–Leipzig und Köln–Frankfurt. Grund genug für den Grafen Heinrich III. von Sayn, um das Jahr 1200 an dieser Stelle eine Burg zu errichten. Der Berg gab der „Hachenburg“ ihren Namen und später der dazugehörigen Stadt. Auch um die Wende zum 20. Jahrhundert herum war die zum Barockschloss erweiterte Burg noch der höchste Punkt der „Löwenstadt“.

Nicht weit entfernt, etwa 35 Kilometer nördlich von Hachenburg, liegt das westfälische Siegen. Hier bekamen die Eheleute Helene Haas (geb. Montanus) und Adolf Haas am 14. November 1893 einen Sohn. Sie nannten ihn Emil Gustav Ludwig Tillmann Hermann Adolf, riefen ihn aber nur Adolf.33 Etwa anderthalb Jahre nach der Geburt ihres Sohnes zog die Familie nach Hachenburg. Der Vater verkaufte seine Siegener Zigarren- und Tabakhandlung und wurde in der neuen Heimat Inhaber des Hotelrestaurants „Westend“, heute eine beliebte Pizzeria. Bekannt war das „Westend“ vor allem wegen der alten „Westendhalle“, in der zahlreiche kleinere und größere Feste gefeiert wurden.34 Hierher lud der nationalpatriotische Adolf Haas senior auch seine Kameraden vom „Kriegerverein Hachenburg-Altstadt“ ein. So auch am 14. November 1897 – genau am 4. Geburtstag seines Sohnes –, als der königliche Landrat im Namen von Kaiser Wilhelm II. dem Verein feierlich eine neue Fahnenschleife übergab. Von 1909 ist eine Ansichtskarte des Hotels überliefert, auf dem vermutlich die Familie, einschließlich des 15-jährigen Adolf Haas junior mit Schirmmütze, zu sehen ist.35

Ausschnitt einer 1909 versandten Ansichtskarte vom Hotelrestaurant „Westend“ in Hachenburg, auf der vermutlich die Familie Haas und Hotelangestellte zu sehen sind.

Zum Zeitpunkt der Aufnahme hatte der junge Adolf Haas seine Schulbildung nach acht Jahren Volks- und Realschule bereits beendet. In den folgenden drei Jahren erlernte er in Wiesbaden das Handwerk des Konditors und arbeitete danach in Barmen, Bad Kreuznach und Mannheim. 1913 stand sein 20. Geburtstag an und damit der Militärdienst.36 Im Oktober meldete er sich zur Kaiserlichen Marine in Cuxhaven, wohl in der Sehnsucht nach Abenteuern in der Ferne. Anregungen hatte er durch Bekanntschaften seiner Eltern mit Offizieren bekommen, die in Ostasien dienten. So lud Adolf Haas senior am 28. März 1914 in seinem Gasthaus beispielsweise zu einem Lichtbildvortrag über „China, Land und Leute“ ein.37 Sein Sohn war zu diesem Zeitpunkt bereits am anderen Ende der Welt.

1.2 Der Verteidiger: Der kurze Erste Weltkrieg in Tsingtau (China), 1913–1914

Die Beute stand schon lange fest, man suchte nur noch nach einem Vorwand, um loszuschlagen: Ende des 19. Jahrhunderts versuchte das wirtschaftlich und militärisch aufstrebende neue Deutsche Reich den Rückstand beim kolonialen Wettlauf der europäischen Industriestaaten aufzuholen und errichtete seit 1884 mehrere „Schutzgebiete“ in Afrika und in der Südsee. Von den wenigen Überseegebieten, die noch übrig waren, hatte derweil vor allem ein großes Land die Aufmerksamkeit von Kaiser Wilhelm II. und seinen Beratern erregt: China. Schon seit Jahren wollte man einen Hafen im „Reich der Mitte“ bauen, um es zu „durchdringen“, genauer gesagt, auszuplündern. Da kam der Mord an zwei deutschen Missionaren im November 1897 durch chinesische Banden gerade recht. Wilhelm II. ließ die chinesische Bucht von Kiautschou (Jiāozhōu) im Süden der Shandong-Halbinsel am Gelben Meer besetzen und erpresste von der Regierung Chinas einen Pachtvertrag für das „Schutzgebiet Kiautschou“. Eine beispielhafte Demonstration skrupelloser „Kanonenbootdiplomatie“. Die Hafenstadt Tsingtau (Qingdao) wurde zum bedeutenden Stützpunkt für das ostasiatische Kreuzergeschwader, zur Hauptstadt und zum florierenden, internationalen Wirtschaftszentrum der neuen „Musterkolonie“, in die man rund 200 Millionen Mark investierte.38 Die Verteidigung der Kolonie oblag einer „Schutztruppe“, die bis 1914 auf 2600 Mann angewachsen war. Darunter auch ein Matrosenartillerist aus Hachenburg.

Adolf Haas hatte während seiner Ausbildung in der „Stammabteilung der Marineartillerie-Abteilung Kiautschou“ in Cuxhaven von Oktober 1913 bis zum 12. Januar 1914 unter anderem gelernt, 15- und 30,5-Zentimeter-Artilleriegeschütze zu bedienen, Minen aufzuspüren und den Flaggendienst korrekt auszuführen.39 Noch zwanzig Jahre später sagten seine Vorgesetzten bei der SS, seine Haltung sei durch und durch „soldatisch“ gewesen, er hätte besonders die Kommandosprache und den Exerzierdienst beherrscht.40 Mit dem Dampfer „Patricia“ war Haas nach mehrwöchiger Fahrt über Singapur und Hongkong am 22. Februar 1914 in Tsingtau eingetroffen und wurde in den Iltis-Kasernen einquartiert.41 Allzu verloren dürfte er sich nicht gefühlt haben. Immerhin glich das Straßenbild mit Villen, Kirchen und Häusern nach europäischem Baustil eher einer deutschen als chinesischen Kleinstadt und die einheimische Bevölkerung wohnte ohnehin in strikt getrennten Vierteln. Als Teil der deutschen Kolonialherrschaft erlebte Adolf Haas zum ersten Mal, wie systematisch Bevölkerungsgruppen diskriminiert und ausgebeutet wurden.42 Ob und wie er sich daran beteiligte, wissen wir nicht.

Am „4. Januar geht es nach China", schrieb Adolf Haas Mitte Dezember 1913 an einen Freund. Auf der Vorderseite der Postkarte posiert er mit seinen Kameraden aus der „Stammabteilung der Marineartillerie-Abteilung Kiautschou" in Cuxhaven (hintere Reihe, dritter von rechts).

Bereits kurz nach der Gründung der deutschen „Musterkolonie in Kiautschou hatten Großbritannien, Russland und Japan ebenfalls „Siedlungsprojekte“ in Nord-Ost-China gestartet und mit der Jahrhundertwende untereinander Bündnisse geschlossen.43 Eine Eskalation des Interessenskonflikts in China und im ostasiatischen Raum schwebte seitdem jahrelang bedrohlich über der Region – bis zum Sommer 1914, als sich die Staaten Europas in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ stürzten. „Doch nicht nur in Europa sollte ein wildes Ringen und Kämpfen stattfinden, nein auch zu uns in das ferne Ost-Asien sollten die Kampfarme schlagen“, schrieb der junge Matrosenartillerist Adolf Haas rückblickend über den Beginn des Weltkrieges.44

Am 8. August 1914 schloss sich Japan der Entente an und erklärte dem Deutschen Reich später den Krieg. Doch das eigentliche Ziel war China. Japan begehrte die Kohlevorräte auf der Halbinsel Shandong – dazwischen stand die deutsche Kolonie mit der Garnisonsstadt und dem Stützpunkt Tsingtau im Weg. So begannen japanische und britische Kriegsschiffe am 27. August gemeinsam, den Hafen zu blockieren. Seit den ersten Septembertagen landeten insgesamt etwa 58.000 japanische Soldaten an der chinesischen Küste.45 Wenige Wochen, nachdem der Gastwirt Adolf Haas im Hachenburger „Westend“ zu einem Lichtbildvortrag über „China, Land und Leute“ eingeladen hatte, erreichte der Weltkrieg genau dort seinen Sohn. Obwohl Tsingtau kaum gegen einen Angriff von Land geschützt, bald vom Nachschub abgeschnitten war und ohnehin nur über knapp 5000 Soldaten verfügte, gaben die Befehlshaber den Stützpunkt nicht auf – immerhin hatte ihr Kaiser die Verteidigung seiner „Musterkolonie“ zur obersten Priorität erklärt. In den Wochen nach der Mobilmachung schickte man den Matrosenartilleristen Adolf Haas junior von einer Artilleriestellung zur nächsten. „Gut ausgebildet u. vorbereitet können wir den Gegner mit Ruhe erwarten“, schrieb Adolf Haas später in sein Tagebuch.46

Ende September 1914 schlossen japanische und britische Truppen den Belagerungsring und Tsingtau geriet unter ein Dauerbombardement von Land, Meer und aus der Luft.47 Nach einem Monat war auch Adolf Haas mit den Nerven am Ende: „Wann und wie wird das Drama enden?“, notierte er im Rückblick an den 3. November.48 „Unser Werk ist ein Schutthaufen.“ Vor seinen Augen zerriss eine Granate seinen besten Freund. „Warum soll ich es verschweigen ich habe geweint wie ein kleines Kind. Ich habe die Stücke von ihm zusammen gefügt und habe ihn mit genommen.“ Sie hatten kaum noch genug Munition, um gegen das „gelbe Gesindel“ zurückzuschießen, riskierten aber weiter ihr Leben für einen aussichtslosen Kampf.

Kriegsmüde wurde Adolf Haas erst drei Tage später im Schützengraben. Sie hatten sich seit zwei Wochen nicht waschen können, „gestern u. heute nichts zu essen bekommen u. ein paar Tage nicht geschlafen“, notierte er. „Da ist man besser aufgehoben wenn man erschossen wird. mir ist es egal.“ Um zwei Uhr nachts erwischte es ihn, als japanische Soldaten die letzte Verteidigungslinie durchbrachen. „Ich wurde verwundet an der rechten Schultern durch Schrappnelschuß leicht.“ Wenige Stunden später, am Morgen des 7. November 1914, als die letzte Artilleriemunition verschossen war, zerstörten die Deutschen die Verteidigungsanlagen, versenkten die verbliebenen Schiffe im Hafen und hissten die weiße Fahne auf dem Signalberg, der letzten übrig gebliebenen Festung. „Wir haben geweind wie die Kinder aber was half es, es mußte so sein“, schrieb Haas.

So verschwand Tsingtau, wie es die chinesische Historikerin Yixu Lü ausdrückte, „auf wenig ruhmreiche Art aus der Geschichte“.49 Nicht einmal zu einer „heldenhaften“ Seeschlacht sei es gekommen. Als der Krieg ausgebrochen war, hatte sich das Ostasiengeschwader auf einer Inspektionstour der Kolonien in den Karolinen und Marianen befunden. Nur der Kleine Kreuzer „SMS Emden“ hatte noch in Tsingtau vor Anker gelegen, war aber entkommen und erlangte mit seinen Raubzügen im Indischen Ozean internationale Berühmtheit, bis er am 9. November 1914 zu einem Wrack zusammengeschossen wurde. Am selben Tag verbreitete sich die Nachricht von der Kapitulation Tsingtaus durch das „Hachenburger Tageblatt“ in Adolf Haas‘ Heimatstadt: „Der Tag wird kommen, an dem die deutsche Kultur im fernen Osten von neuem den Platz einnehmen wird, der ihr gebührt, und die Helden von Tsingtau werden nicht vergeblich ihr Blut vergossen und ihr Leben geopfert haben.“50 Die Hachenburger empfanden sicherlich Stolz, dass einer von ihnen zu den „Helden von Tsingtau“ gehörte, wie man sie schnell in Ansichtskarten und Romanen glorifizierte. Ein wichtiger Trost für Adolf Haas und die rund 5000 Soldaten und Zivilisten, die mit der Kapitulation von Tsingtau in japanische Kriegsgefangenschaft gerieten. Sie wurde für ihn eine bittere Erfahrung, prägte ihn aber auch kulturell für sein ganzes Leben.

1.3. Der Gefangene: Hunger, Langeweile und deutsche Kultur in Osaka, Tokushima und Bandō (Japan), 1914–1920

Die deutschen Kolonialträume waren ausgeträumt, nun folgte die harte Realität der Kriegsgefangenschaft. Gemäß ihrem eigenen Ehrenkodex hatten die Japaner erwartet, dass ihre deutschen Feinde eher den Tod suchen, als sich ergeben würden. Auf eine so große Zahl von Gefangenen waren sie nach der Kapitulation von Tsingtau daher nicht vorbereitet.51 Sie gestatteten ihnen aber, ihre Toten mit allen Ehren zu beerdigen, gaben ihnen „Reis und Rindfleisch“ und „behandelten uns sonst einigermaßen gut“, schrieb Adolf Haas.52 Per Schiff kamen er und 466 weitere Gefangene Ende November 1914 in ein notdürftig eingerichtetes Militärlager nahe der Hafenstadt Osaka.53 „Das Leben dort war miserabel“, beschwerte sich der junge Marineartillerist, während es den feindlichen Gefangenen in Deutschland weit schlechter erging. „In den erdegestrichenen Bretterhütten war es sehr kalt u. auch das essen war nichts wert u. stets zu wenig. Japaner kochten. Es gab meistens Reis mit Zwiebeln u. ein Stück Fisch mit 3 Kartoffeln. Die Zeit vertrieben wir uns mit Flicken, Kartenspielen u. Schreiben“.54 Um sich als neue Weltmacht zu profilieren, bemühte sich Japan, die internationalen Abkommen zur Kriegsgefangenschaft einzuhalten und die schlechten, provisorischen Verhältnisse der ersten Unterbringungen zu verbessern.55 „Die Kost war bedeutent besser wie in Osaka“, schrieb Haas über das Kriegsgefangenenlager in Tokushima, in das er Mitte Dezember wechselte. „Wir hatten also keinen schlechten Tausch gemacht. Auch Weihnachten verlebten wir hier ganz gemütlich.“56

Zum Zeitvertreib begann Adolf Haas Tagebuch zu schreiben. Zumindest ein Heft mit 140 Seiten aus der Zeit 1915 bis 1916 ist als eines der wenigen selbst verfassten Dokumente erhalten geblieben. Leider liegt dieses wichtige Schriftstück heute nicht öffentlich zugänglich in einem Archiv, sondern befindet sich im Besitz von seinen Nachfahren. Eine Kopie gelangte glücklicherweise in die Hände von Hans-Joachim Schmidt, einem der besten Kenner der Geschichte von Tsingtau und der deutschen Kriegsgefangenen in Japan. Seit 2002 veröffentlicht er die Ergebnisse seiner bemerkenswerten selbst finanzierten Recherchen auf seiner Homepage „Die Verteidiger von Tsingtau und ihre Gefangenschaft in Japan (1914–1920)“.57 Adolf Haas gehört zu den prominenteren Personen in seiner umfangreichen Datenbank. In dem erhalten gebliebenen, kleinformatigen Tagebuchheft widmete er sich meist nur mit kurzen Einträgen dem Lagerleben. Es ging um Ausbruchsversuche, Gottesdienste, Kaisers Geburtstag und den Monatslohn, mit dem sich die Gefangenen das Nötigste kaufen konnten. „Nichts Besonderes, die Behandlung geht noch“, notierte er knapp Anfang März 1915. Ausführlicher verarbeitete er seine Erinnerungen an die Kämpfe in Tsingtau. Er notierte alle Parolen von August 1914 bis zur Kapitulation, zählte die einzelnen Befestigungen auf, schrieb heroische Gedichte von anderen ab, versuchte sich aber auch an eigenen Reimen und Prosa – selbst die „Erinnerung einer freiw. Krankenschwester“ scheint aus seiner Feder zu stammen.

Die verschiedenen Einträge zeigen, dass die Erfahrungen an der Front und in Gefangenschaft Adolf Haas keineswegs den späteren Weg zum Nationalsozialismus geebnet haben. Für ihn gilt, was der Historiker Thomas Weber für den Meldegänger Adolf Hitler und die meisten Frontsoldaten feststellte: „Die Mehrheit dieser Männer wurde durch den Krieg weder brutalisiert noch radikalisiert oder politisiert, sondern kehrte mit einem mehr oder weniger intakten, vor dem Weltkrieg erworbenen Weltbild in ihre Heimatstädte, Dörfer und Weiler zurück.“58 Adolf Haas äußerte sich in seinem Tagebuch nur zweimal rassistisch über die Japaner. Einmal beschreibt er, wie sie das „gelbe Gesindel“ in Tsingtau mit MG-Feuer „weg geputzt“ hätten. Und als die japanischen Bewacher in Tokushima ihren Gefangenen nautische Instrumente abnahmen, erregte er sich: „Die gelben Hunde aber wir werden uns schon rächen u. wenn wir ihnen die ganzen Palmen hier, mit Eßigsäure tränken müßten die Schufte.“59 Seine rebellischen Gedanken setzte er wohl nie in die Tat um. Dass der Erste Weltkrieg und die jahrelange Gefangenschaft nicht die maßgebliche „‚Urkatastrophe‘ in der Biografie des späteren SS-Schergen Adolf Haas“ waren, meint auch Markus Müller. Der Lehrer für Deutsch und Geschichte aus Nister, ganz in der Nähe von Haas‘ Heimatstadt Hachenburg, hat sich als Erster intensiv mit dessen Tagebuch beschäftigt. Die beiden rassistischen Äußerungen müsse man, so Müller, „wohl noch im chauvinistischen Grundtenor des späteren Kaiserreiches lesen“.60 Seine Zeit als Soldat und Gefangener habe aber „sicherlich ihren Beitrag dazu geleistet, jede Form menschlicher Regung bei Bedarf zu unterdrücken“.

Markus Müller recherchierte auch für die Zeit nach den letzten Tagebucheinträgen. Als das Lager Tokushima Anfang April 1917 aufgelöst wurde, gehörte Adolf Haas mit 205 Gefangenen zu den Ersten, die in das nahe gelegene neue Musterlager im kleinen Ort Bandō (heute Naruto) kamen. Dass Bandō zum bekanntesten damaligen Kriegsgefangenlager in Japan wurde, lag vor allem an seinem äußerst verständnisvollen Lagerkommandanten Matsue Toyohisa. Er entstammte einer alten Samurai-Familie und hatte großen Respekt vor dem deutschen Militär. Im Gegensatz zu einigen anderen japanischen und den meisten deutschen Lagern, geschweige denn von Adolf Haas‘ späteren Wirkungsstätten, waren in Bandō die Bedingungen äußerst human. Es gab keine Zwangsarbeit, keinen überflüssigen Drill, dafür Selbstverwaltung und viele Freiheiten für die knapp tausend Gefangenen. Unter Matsue Toyohisa ähnelte das Lager bald einer deutschen Kleinstadt mit einem bunten kulturellen Angebot: Es gab mehrere Lokale, eine Bibliothek, Lagerdruckerei, Bäckerei und Konditorei, zwei Teiche zum Baden sowie Sportplätze für Fußball, Schlagball, Tennis und Turnen, außerdem Pachtland für Gartenbau und Viehzucht, Werkstätten für Handwerk und Kunst, Vortragsabende und sogar ein Orchester sowie Theater-, Puppenspiel- und Gesangsgruppen. Der gelernte Konditor Adolf Haas arbeitete in den Jahren 1917/18 nicht etwa in der prestigeträchtigen Konditorei „GEBA“, auf deren Backtradition sich noch heute japanische Bäckereien und Konditoreien wie „Doitsuken“ („Deutsches Haus“) berufen.61 Haas half dagegen in der Lagerbäckerei, ganz gewöhnliche Brötchen und Brote für die täglichen Rationen zu backen.62

Blumen auf dem Tisch, Fotos, Bilder und Zeitungsausschnitte an der Wand, Insassen mit Pfeife und Musikinstrument – so sieht kein gewöhnliches Kriegsgefangenlager aus. Das Foto stammt höchstwahrscheinlich aus dem japanischen Lager Bandō (ca. 1917–1921) und zeigt Adolf Haas (vorne rechts, sitzend in weißer Uniform) mit einem Brot und einem großen Schneidemesser.

Dem Adressbuch des Lagers von 1917/18 zufolge engagierte sich Haas offiziell in keiner der „vielen kulturellen oder sportlichen Einrichtungen des Gefangenenlagers“, schreibt Markus Müller.63 Es ist jedoch äußerst unwahrscheinlich, dass sich der Mittzwanziger über Jahre den kulturellen und sportlichen Angeboten komplett entzog: Immerhin hatte er in seinem Tagebuch eifrig eigene und fremde Lyrik gesammelt. In Osaka hatte er begeistert berichtet, dass „schöne Gedichte vorgetragen wurden“ und dass es bald „Turngeriste“ geben werde. „Es ist ja dies auch ein sehr schöner Sport.“64 Vor allem seine spätere laienhafte Kunstliebe spricht dafür, dass ihn das Lagerleben in Bandō nachhaltig prägte. Vom 8. bis 19. März 1918 konnten beispielsweise Gefangene und japanische Besucher in der „Ausstellung für Bildkunst und Handfertigkeit“ 450 im Lager angefertigte Gegenstände wie Spielsachen, Holzarbeiten, Theaterkostüme, Kunstwerke und Lebensmittel bestaunen. Auch die groß angekündigte Aufführung von Beethovens Neunter Sinfonie am 1. Juni 1918 durch das Lagerorchester mit einem Chor aus 80 Männern ließen sich wohl die wenigsten Gefangenen entgehen.65 Das Konzert ist der Höhepunkt des deutsch-japanischen TV-Dramas „Ode an die Freude“ („Baruto no gakuen“, 2006), das anschaulich die Geschichte des Lagers erzählt, wenn auch ein wenig romantisiert.66 Eine wichtige Rolle spielt zufälligerweise ein junger Bäcker. Heute zählt die Neunte Sinfonie zu den beliebtesten Stücken in Japan. Seit 1982 wird sie jedes Jahr an verschiedenen Orten erneut aufgeführt, in Osaka sogar mit 10.000 japanischen Laiensängern.

Trotz der vielseitigen Ablenkung und Freiheiten litten die Gefangenen nicht selten unter Langeweile, dem Mangel an Privatsphäre sowie der jahrelangen Ungewissheit über den Kriegsverlauf und ihre Heimkehr. Am schlimmsten erlebten sie die „Stacheldrahtkrankheit“ im letzten Jahr in Bandō. Die Nachricht von der Niederlage Deutschlands hatte sie Ende 1918 bitter überrascht. Mit dem Ersten Weltkrieg endete jedoch nicht sofort ihre Gefangenschaft. Das besiegte Deutschland konnte weder Schiffe schicken noch eine Rückreise finanzieren und Japan kooperierte erst nach der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages im Juni 1919.67 Mehrfach hatte Adolf Haas über die Jahre mit einem „Fräulein Gertrude Stahl“ aus Hachenburg geschrieben. Im Juli 1919 kritzelte er auf einer Postkarte aus der Lagerdruckerei, die für Spenden für die „notleidenden Kameraden in Ost-Sibirien“ warb: „Gertr. ich glaube, man ist hier in Gefangenschaft ein andrer Mensch geworden. man ist irre geworden an der Menschheit.“68 Auf ihre Frage, wann er nach Hause kommen werde, antwortete Haas: Wohl 1920, sollte dem nicht Matthias Erzberger im Wege stehen, der Chef der Waffenstillstandskommission, der als Befürworter des Versailler Vertrages von nationalen Rechten gehasst wurde und 1921 ermordet werden sollte.

Seinen 26. Geburtstag musste Adolf Haas am 14. November 1919 noch in Gefangenschaft feiern. Einen Monat später war er nach fünf Jahren endlich wieder ein freier Mensch. Rund ein Viertel der Bandōer entschied sich wegen der unsicheren Lage in der Heimat, nach Tsingtau oder China zurückzukehren, in Niederländisch-Indien meist als Polizist zu arbeiten oder in Japan zu bleiben. Dort trugen sie dazu bei, dass sich die deutsch-japanischen Beziehungen in den 1920er-Jahren schnell normalisierten.69 Adolf Haas zog es nach Hause. Die zweimonatige Reise mit dem Schiff „Hōfuku Maru“, zusammengedrängt mit mehr als 940 Personen, wurde seine letzte Seefahrt. An seine Zeit als Matrose erinnerte nur noch ein tätowierter Anker auf der rechten Hand.70

1.4 Der Konjunkturritter: Hoffnungen und Krisen in den Weimarer Jahren, Hachenburg 1920–1932

Er war ausgezogen, um für sein Kaiserreich zu kämpfen. Zurück kehrte er in eine Republik. Dass es ihnen in der japanischen Kriegsgefangenschaft sehr gut ergangen war, bemerkten Adolf Haas und die anderen Heimkehrer sofort, als sie am 25. Februar 1920 in Wilhelmshaven ankamen, dort wo 1918 die Novemberrevolution mit einem Matrosenaufstand begonnen hatte. Eine jubelnde Menschenmenge begrüßte sie, aber auch viele unterernährte Kinder, die um Brot bettelten.71 Der junge demokratische Staat kämpfte noch mit den Folgen des Weltkrieges und der Niederlage. Die Krisenjahre nach 1918 und die Inflation hatten auch Haas‘ Heimatstadt „mit voller Wucht getroffen“, schreibt der Stadtchronist Stefan Grathoff.72 „Wer nur über Bargeld verfügte, war arm dran, wer Waren und Gegenstände von Wert besaß, konnte mit ihnen Tauschhandel betreiben.“ Der heimgekehrte Adolf Haas hatte weder das eine noch das andere.

Den Kriegsgefangenen machte es die deutsche Gesellschaft nicht leicht, im neuen, wirtschaftlich geschwächten Deutschland ihren Platz zu finden. Rechtlich waren sie den Frontsoldaten bei Versorgungsansprüchen und Entschädigungen nicht gleichgestellt. Zudem mussten sie sich gegen zahlreiche Ressentiments wehren, keine „Drückeberger“ und „Überläufer“ zu sein.73 In seinen späteren Lebensläufen erwähnte Adolf Haas zwar das 1925 verliehene „Frontkämpferabzeichen“ (Ehrenkreuz für Frontkämpfer) und einen „Kolonialorden“ (Kolonialabzeichen), aber nur knapp die Belagerung von Tsingtau und die Gefangenschaft in Japan.74 Als einer der „Helden von Tsingtau“ inszenierte er sich nie, obwohl er selten eine Gelegenheit ausließ, um sich in einem besseren Licht darzustellen.

„Nach meiner Entlassung am 26.2.1920 in W.hafen habe ich sämtliche Arbeiten angenommen die ich bekommen konnte, da mein Beruf darniederlag“, schrieb der gelernte Konditor später.75 Da seine Eltern mittlerweile über 70 waren, übernahm er ohne jegliche betriebswirtschaftliche Erfahrungen zunächst die Leitung der Gastwirtschaft „Westend“.76 Zu seinen Gästen zählte wahrscheinlich auch die fünf Jahre jüngere Lina Emma Müller, eine gebürtige Hachenburgerin. Am 11. März 1922 heiratete das Paar, zwei Jahre später bekamen sie ihr erstes Kind. Im selben Jahr starb sein Vater.77 Entweder wegen der Wirtschaftskrise, eigener Misswirtschaft oder weil die Familie akut Geld benötigte, verkaufte Adolf Haas Mitte der 1920er-Jahre die Gastwirtschaft.78 Als ihr erstgeborener Sohn im Mai 1926 starb, war Lina Haas zum zweiten Mal schwanger.

Haas‘ zweites Kind, eine Tochter, kam ein halbes Jahr später an Heiligabend 1926 zur Welt. Die vierköpfige Familie, einschließlich der verwitweten Mutter, versorgte er in den nächsten Jahren zunächst als Lederarbeiter.79 Seit 1924 erholte sich die wirtschaftliche Lage in der Weimarer Republik, durch US-amerikanische Kredite, eine Währungsreform und vor allem durch das Wirken von Reichsaußenminister Gustav Stresemann. Wie die meisten Deutschen schenkte wahrscheinlich auch Adolf Haas der nationalsozialistischen Bewegung und Adolf Hitler noch wenig Aufmerksamkeit.80 1928 gewann die Nationalsozialistische Arbeiterpartei (NSDAP) bei den Reichstagswahlen gerade einmal 2,6 Prozent der Stimmen. Ermutigt durch die Konjunktur nahm Adolf Haas im April 1929 seinen Beruf wieder auf. In der Perlengasse 2 – die Familie selbst wohnte in der Nummer 60 – pachtete er im Keller des „historischen Rathauses“ eine Backstube.81 Wie schon in japanischer Kriegsgefangenschaft produzierte der gelernte Konditor jedoch keine Torten, sondern normale Backwaren. Der alte Backofen ist erhalten geblieben. Es ist ein ironischer Zufall, dass heute über der Backstube das Stadtarchiv Hachenburg seinen Sitz hat, das sich unter Jens Friedhoff so engagiert um die Aufarbeitung der Stadtgeschichte und dabei auch der NS-Vergangenheit bemüht. Adolf Haas‘ Traum von einer wirtschaftlich sicheren Tätigkeit als Bäcker währte jedoch nur wenige Monate.

Der alte Backofen im Keller der Perlengasse 2 in Hachenburg ist erhalten geblieben. Hier arbeitete Adolf Haas, bis er seine Bäckerei Mitte 1935 für eine hauptamtliche Tätigkeit bei der SS aufgab.

Seit dem Winter 1928/29 hatten sich wirtschaftliche und politische Probleme in der jungen Republik bereits abgezeichnet. Der New Yorker Börsencrash am 24. Oktober 1929 stürzte das kreditabhängige Deutschland vollends in eine Krise, von der vor allem die Parteien am linken und rechten Rand profitierten. Nach der Reichstagswahl am 14. September 1930 war Hitlers Partei mit 18,3 Prozent plötzlich die zweitstärkste hinter der SPD. Innerhalb kurzer Zeit verdoppelten sich die Mitgliedszahlen der NSDAP, Ende 1931 waren es über 800.000. Zu den „Braunen“ gehörte seit dem 1. Dezember 1931 auch Adolf Haas, NSDAP-Mitgliedsnummer 760.610. Ihren Sitz hatte die Hachenburger Ortsgruppe im „Braunen Haus“ am oberen Ende der Friedrichstraße, heute eine der schönsten Gassen der Stadt.82

Nach eigenen Aussagen hatte Adolf Haas „vor 1929 keiner politischen Partei angehört“.83 Einige seiner Hachenburger Nachbarn erzählten nach dem Krieg, dass er durchaus schon vor seinem Eintritt in die NSDAP politisch aktiv gewesen sei. Allerdings nicht auf der rechten, sondern auf der linken Seite: Er sei früher ein „fanatischer Kommunist“ gewesen, bevor er etwa 1930 eine „radikale Schwenkung zum Nationalsozialismus“ vollzogen habe – also genau in dem Jahr des ersten großen Wahlerfolgs der NSDAP in den Reichstagswahlen.84 Danach habe er „seine ehemaligen Gesinnungsgenossen in brutalster Weise bekämpft“. Dieser Gesinnungswandel mag radikal erscheinen, war aber kein Einzelfall. Hitler selbst diente nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, im Frühjahr 1919, als Soldat der sozialistischen Regierung der Münchener Räterepublik und wurde sogar in einen Soldatenrat gewählt. Nach der blutigen Niederschlagung der Räterepublik durch Reichswehr und Freikorps bemühte sich Hitler, alle Spuren seines sozialistischen Abenteuers zu beseitigen. Dafür trennte er sich nicht nur von linken Ideen, sondern bot sich auch der Reichswehr als V-Mann an und lieferte ehemalige Genossen ans Messer.85 Auf die Farce seines „nationalen Sozialismus“ fielen später schließlich auch Kommunisten rein.

Heinrich Schönker, der als Kind das „Aufenthaltslager Bergen-Belsen“ überlebt und den Kommandanten kennengelernt hat, schrieb in einem Brief: „Wenn damals die Kommunisten an die Macht gelangt wären, hätte Haas versucht, als Kommunist Karriere zu machen. Er war ein Mann ohne Rückgrat.“86 Da Adolf Haas erst ein Jahr nach dem Wahlerfolg der NSDAP in die Partei eintrat, gehörte er wohl tatsächlich zu den vielen „Konjunkturrittern“.87 Ihn trieb weniger eine politische Überzeugung als vielmehr das Bedürfnis, auf der Gewinnerseite zu stehen. Nicht zuletzt signalisierten die Nationalsozialisten, dass sie die ehemaligen, lang diffamierten und vernachlässigten Kriegsgefangenen als Frontsoldaten anerkannten. 1933 lud Hitler sie als Teil des „Frontsoldatentums“ zur „Mitarbeit am neuen Deutschland ein.“88 Der erfolglose Bäcker Adolf Haas wollte jedoch schon bald mehr sein als bloßer „Parteigenosse“. Ihn trieb es zu einem Arm der Partei, der wortwörtlich lieber zum Schlag ausholte als debattierte.

Hitlers Partei stützte sich seit Beginn ihres Aufstiegs auf zwei paramilitärische Organisationen: zum einen auf die „Sturmabteilung“, die SA. Die Schlägertruppe unterstand dem Reichswehr-Veteran Ernst Röhm, einem der ersten NSDAP-Mitglieder. Hitlers persönliche, loyale „Leib- und Prügelgarde“ wurden 1925 die „Schutzstaffeln, die SS. Die kleine Truppe blieb zunächst der Obersten SA-Führung unterstellt und im Schatten der weitaus größeren SA-Verbände, meint der Historiker Bastian Hein. Das habe sich erst geändert, als große Teile der nordostdeutschen SA 1930 und 1931 gegen Hitler und die aus ihrer Sicht „verbonzte“ Parteiführung aufmuckten. Hier konnte sich die SS erstmals als treue „Garde des Führers“ profilieren – und mit ihr Heinrich Himmler, seit 1929 Reichsführer-SS. Himmler sorgte seit Ende 1930 dafür, dass sich die Zahlen der SS-Männer von 3000 bis Anfang 1931 mehr als verdoppelten. Dabei setzte er nicht auf offene Werbekampagnen wie seine Vorgänger, sondern auf Image-Pflege. Durch zahlreiche Reden und Artikel baute er das Bild einer Truppe auf, die nur die gehorsamsten, die körperlich und geistig besten, die „rassisch“ überlegensten, und aufgrund ihrer Gewaltbereitschaft „männlichsten“ Deutschen aufnehme – der Beginn des Eliten-Mythos der SS.89

Obwohl Adolf Haas selbst kaum dem Ideal von Himmlers erträumter „Elitetruppe“ entsprach, zog ihn wohl genau dieses Image an. Kameradschaft hätte er auch in der weitaus größeren SA finden können. Bei den Aufgaben in der SS gab es keine großen Unterschiede zur SA, weder in der „Kampfzeit“ noch danach in der Phase der Machteroberung: Man prügelte sich mit den Gegnern der Partei, half bei der politischen Arbeit und betrieb Wehrsport.90 Auch eine bezahlte Stelle konnte die SS erst nach 1933 anbieten. Obwohl Adolf Haas in seinen Lebensläufen nie angab, warum er sich nicht für die bereits etablierte SA, sondern für die kleine SS entschieden hatte, lockte ihn wie Tausende andere sicherlich ihr elitärer Ruf.

Ab 1931 begann die SS auch in ländlichen Gebieten, nach dem Vorbild der SA komplexere Hierarchien aufzubauen: Die kleinste Einheit von mehreren Dutzend Mann war ein Sturm. Meist bildeten vier Stürme einen Sturmbann, je drei Sturmbanne eine Standarte, die wiederum in Abschnitte und Oberabschnitte zusammengefasst wurden. Der Westerwald zählte zum Gebiet des SS-Oberabschnitts „Rhein“ (später „Rhein-Westmark“), der seinen Sitz in Wiesbaden hatte. Noch vor der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten bewarb sich Adolf Haas am 1. April 1932 bei der Hachenburger SS. Nach einer Anordnung Himmlers mussten in der Regel alle Bewerber ab Januar 1932 eine Musterung bestehen, bei der ein SS-Arzt über 50 Kriterien bewertete, darunter Größe, Gewicht, Zustand der Muskulatur, Intelligenz, Temperament oder Geltungsbedürfnis. Die „Anwärter“ schafften sich danach eine Uniform an und begannen ihren Dienst auf Probe, bis der Bescheid kam.91 Haas musste gerade einmal eine Woche warten: Ab dem 8. April 1932 war er offiziell ein SS-Mann mit der Nummer 28.943. Mit 38 Jahren zählte er nun im wahrsten Sinne zu den „Alten Kämpfern“ der Partei.92

Mit dem Bedürfnis, der „leistungsfähigsten und opferwilligsten Propagandaorganisation“ anzugehören, verpflichteten er und andere sich bewusst und bereitwillig, die Ziele ihres „Führers“ radikal und ohne Widerspruch zu unterstützen – bis in den Tod. „SS-Mann, Deine Ehre heißt Treue“, lautete ihr Eid. „Die so konzipierte ‚Sippengemeinschaft‘ machte die Schutzstaffel zur radikalsten rassistischen Tat- und Täterorganisation des Nationalsozialismus“, schreibt Bastian Hein.93 Die SS übernahm nicht nur bei der „Verteidigung“ der nationalsozialistischen Bewegung gegen politische Gegner eine Schlüsselrolle, sondern vor allem bei den „volkszüchterischen“ Aufgaben der „Ausmerze“: bei der Verfolgung und Ermordung von Homosexuellen, „Erbkranken“, „Asozialen“, Zeugen Jehovas, von Sinti und Roma – oder beim Holocaust.

2. Der Aufsteiger

Karriere in der nationalsozialistischen Bewegung und Allgemeinen SS

1932–1940Westerwald, Mainz, Wiesbaden

2.1 Der Abgeordnete: Kurze politische Karriere in der Hachenburger NSDAP, 1932–1933

Wo er sein Kreuz setzte, war klar. Im Frühjahr 1932, als Adolf Haas in die SS eintrat, durften die Deutschen zum letzten Mal in ihrer Geschichte direkt ihr Staatsoberhaupt wählen. Bereits bei dieser Reichspräsidentenwahl gaben in Hachenburg 42,8 Prozent, darunter sicher auch Haas, ihre Stimme dem NSDAP-Vorsitzenden Adolf Hitler. Das waren sechs Prozent mehr als im Reichsdurchschnitt. Durch die Unterstützung von SPD, Linksliberalen und der Zentrumspartei ging zwar der alte Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als Sieger hervor. Es deutete sich aber schon an, was Konrad Adenauer später über Hachenburg und den Westerwald bemerkte: „Die ganze Gegend war durch und durch nationalsozialistisch.“94 Die Wahlergebnisse der NSDAP in den frühen 1930er-Jahren zeigten, dass bald „über die Hälfte der wahlberechtigten Personen in Hachenburg entweder Sympathien für die neuen Machthaber hegte oder zumindest irgendwie ‚Hoffnungen‘ auf die Nationalsozialisten setzte, die damals schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu ändern“, schreibt der Stadtchronist Stefan Grathoff.95

Nach einigen gescheiterten Kabinetten infolge der Reichstagswahl im November 1932 ernannte Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler – der Beginn einer zwölfjährigen Diktatur, die Deutschland und die Welt für immer veränderte. Trotz seines legalen Wegs zur Macht, hatte Hitler immer offen über seine radikalen Pläne gesprochen und geschrieben: Den Marxismus und die Juden, die er zu einem „jüdisch-bolschewistischen“ Feindbild verknüpft hatte, werde er „beseitigen“, Deutschland wieder aufrüsten, die Schmach des Versailler Friedensvertrages revidieren und „mit dem Schwert“ den vermeintlich nötigen „Lebensraum im Osten“ erobern.96 Wenige nahmen ihn ernst und viele – von konservativ bis links – unterschätzten ihn, seinen Rassenwahn, seine Machtgier und den sozialen Unmut, der Hitlers „Bewegung“ trug. Innerhalb kürzester Zeit und ohne große Gegenwehr verhängten die Nationalsozialisten einen permanenten Ausnahmezustand, hoben die Grundrechte auf, schalteten ihre Gegner mit scheinlegalen Maßnahmen und Gewalt aus und übernahmen schrittweise die staatlichen Machtinstrumente. Und Adolf Haas half tatkräftig mit.

1. Mai 1933: Hunderte Hachenburger heben am Tag der nationalen Arbeit auf einer Kundgebung der Nationalsozialisten auf dem Alten Markt den rechten Arm zum „Deutschen Gruß". Der national umgedeutete Feiertag ging im ganzen Reich mit der Zerschlagung der freien Gewerkschaften einher.

Eine Woche nach der folgenden Reichstagswahl am 5. März 1933 – der letzten, bei der noch mehr Parteien als die NSDAP auf dem Wahlzettel standen – gab es in Hachenburg Kommunalwahlen. Für die „Bürgerliste/Einheitsliste“ unter der Führung der nationalsozialistischen Partei kandidierte zum ersten Mal auch der Bäcker Adolf Haas. Seine SS-Männer schickte er los, um Flugblätter in ausgewählte Briefkästen zu werfen: „An alle jüdischen Wähler! Es wird dringend geraten, den Kommunalwahlen am Sonntag fernzubleiben.“97Mit Erfolg: Kurz darauf stimmten am 12. März 54 Prozent der Hachenburger Wähler für die NSDAP.98