Gewalt unter der Maske - Dragan Petrovec - E-Book

Gewalt unter der Maske E-Book

Dragan Petrovec

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Beschreibung

Viele Menschen sind nicht "banal", sind nicht "ordinary people", sie sind Verbrecher. Viele latent, bis zur ersten Gelegenheit. Bleibt sie aus, werden diese Neigungen im Rahmen des Möglichen freigesetzt. Es sind psychopatische Vorgesetzte; wem auch immer - Arbeitern, Arbeiterinnen, Schülern, Studenten, Klienten, Patienten. Wäre diese Behauptung nicht wahr, hätten wir in den Kriegssituationen keine massenhaften Ausbrüche unvorstellbarer Grausamkeit, ausgeführt von Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts, Alters oder ihrer Bildung. In solchen Situationen fallen jegliche Hemmungen, an den Tag kommen die niedersten Triebe. Man muss sich nicht weit zurück in die Geschichte begeben. Leider. Der Balkan vor 20 Jahren ist der tragische Beweis. Mehr Böses als man glauben will.

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Seitenzahl: 174

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Viele Menschen sind nicht „banal“, sind nicht „ordinary people“, sie sind Verbrecher. Viele latent, bis zur ersten Gelegenheit. Bleibt sie aus, werden diese Neigungen im Rahmen des Möglichen freigesetzt. Es sind psychopatische Vorgesetzte; wem auch immer – Arbeitern, Arbeiterinnen, Schülern, Studenten, Klienten, Patienten. Wäre diese Behauptung nicht wahr, hätten wir in den Kriegssituationen keine massenhaften Ausbrüche unvorstellbarer Grausamkeit, ausgeführt von Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts, Alters oder ihrer Bildung. In solchen Situationen fallen jegliche Hemmungen, an den Tag kommen die niedersten Triebe. Man muss sich nicht weit zurück in die Geschichte begeben. Leider. Der Balkan vor 20 Jahren ist der tragische Beweis. Mehr Böses als man glauben will.

***

Dragan Petrovec (1952), Jurist, Professor, Autor von Büchern, Artikeln, Studien. In der slowenischen und internationalen Öffentlichkeit gilt er als einer der anerkanntesten Experten auf dem Gebiet des Strafvollzugs, besonders der Haftstrafe. Einst leitete er das Frauengefängnis in Ig und führte das europaweit einzigartige Experiment der Öffnung des bis 1975 streng überwachten Vollzugs, ungeachtet der Straftat oder des Strafmaßes der Verurteilten, erfolgreich durch.

Mit wissenschaftlicher und menschlicher Sensibilität beleuchtet er Bereiche der Philosophie, der Bestrafungspraxen, des Verurteilten-Traitements und der Kriminalitätspolitik.

Inhaltsverzeichnis

Einführungsgedanken

Hypokrates am Sterbebett

Hypokratische Initiation

Kurent und andere Bräuche

Überstürtzter Optimismus Hannah Arendt oder die Maske des alltäglichen Menschen

Safari Sarajewo

Die Armee und die Maske des Patriotismus

Missbrauch des Patriotismus

Pädophilie und die Maske des Gerechtigkeitsfanatismus

Sport

Das Kind dem Kinde ein Wolf oder die Maske der kindlichen Unschuld

EINFÜHRUNGSGEDANKEN

Beginnen wir mit der Betrachtung der Institutionsgewalt. Jede Institution stellt eine Macht dar, die die Summe der Mächte Einzelner erheblich übersteigt. Im Guten und im Schlechten. Auch die Institutionen mit noch so einer humanitären Mission können leicht zu Folterkammer mutieren. Es genügt die Berichte über das Handeln verschiedener Kirchen zu lesen, von den Neugeborenen-Entführungen in Spanien, Vernichtung der Kinder und Sterilisation der Urbevölkerung in Kanada bis zum Massenmissbrauch in Irland und noch vielerorts. Nicht besser ist es beim Militär und beim Umgang mit den Rekruten bestellt, egal wo auf der Welt. Es ist eine traurige Gesetzmäßigkeit, dass die Opfer sich nicht wehren können und der Mehrheit nur der Gedanke bleibt, dass man überleben und später denjenigen, die noch folgen, mit Zinsen heimzahlen muss.

Militär, Polizei, Kirche, Gefängnisse, Brüderschaften, Internate – sie alle sind für Gewalt ein Gewächshaus. Wir hätten zwei Möglichkeiten, um sie zu verhindern. Aufgrund dieser Erfahrungen bestehen zahleiche formelle Körperschaften, um diese Phänomene zu unterbinden /verhindern. Aber auch auf diese kann man sich nicht verlassen, wenn bei den Opfern die Angst zu groß ist. Das ist in den Institutionen auch die Regel und nicht die Ausnahme. Der Einzelne, der in eine neue Umgebung kommt, ist praktisch machtlos. Selten verfügt jemand über den Mut und tritt der Macht, die ihn mehrfach überragt, entgegen.

Die zweite Möglichkeit ist, ein offenes Kommunikationssystem herzustellen, das bereits mit ihrer Konstituierung Gewalt verhindert, wenigstens die Mehrzahl eines solchen Verhaltens. Das könnte man Transparenz nennen – in konkreten Fällen auch das Wachen über allem, was passiert. Mit der Zeit dürften Verhältnisse entstehen, in denen Gewalt selbstverständlich inakzeptabel wird und niemandem einfällt, dies in die Hausregel aufzuschreiben.

Um die Mechanismen der Gewalt und besonders deren Förderer zu erkennen, muss man Žižeks (aus Slowenien stammender Philosoph und Kulturkritiker, Anm. d. Übers.) Gedanken1 zustimmen, entnommen einer Anekdote über Lenin, der sich vor der Ehefrau und der Geliebten irgendwohin in Sicherheit bringt, jede ist aber überzeugt, er befinde sich bei der anderen. Dort, in Sicherheit, am dritten Ort, wo er Ruhe vor beiden hat, studiert und studiert Lenin.

Genauso müssten wir handeln und uns in die Ursachen vertiefen, die die Gewalt verursachen. Wenn wir anekdotisch fortsetzen – erst wenn die Gewalt verhindert wird, kommt die Zeit für die Geliebten.

Gewalt ist nicht nur institutionell, sie ist auch folkloristisch, eingebunden in Volksbräuche, womit sie eine Art Heimatrecht erhält. Bei den primitiven Völkern bedeuteten Initiativzeremonien eine Überprüfung des Erwachsenseins, der Befähigung zum Überleben, der Kraft, um mit den Wildtieren oder mit dem Feind es aufnehmen zu können. Von all dem verblieben ist nur die Freude an Schwierigkeiten, die wir einem jungen Mitglied der auserwählten Gesellschaft bereiten können, womit wir unsere (Über)macht und keineswegs irgendeine Fähigkeit des jungen Menschen für das selbständige Leben beweisen.

Ist die Neigung zur Gewalt angeboren? Mit dieser Frage sticht man in den andauernden Streit zwischen den Verfechtern des überwiegenden Einflusses der Genetik und jenen, die dem Einfluss des Milieus eine größere Bedeutung zuschreiben. Zum Konflikt fügt man nur die Feststellung hinzu, dass die Kapazität für das gewalttätige Verhalten im größeren Maße in die Wiege gelegt wird. Von dem Milieu hängt aber ab, ob diese Fähigkeit gefördert wird oder aber ihr konsequent Grenzen gesetzt werden.

Für die Gewalttätigkeit benutzt man zu oft verschiedenste Rechtfertigungen und vergebende Erklärungen. Ein paar Schläge schadeten Kindern noch nie, ein Sportler muss einen entschlossenen Geist (und Körper) zeigen, als Soldat übte man die höchste Ehre und Pflicht aus – man verteidigte die Heimat, was mit dem Schonen des Gegners bzw. Feindes nicht zusammenpasst; als Politiker, vom Volk demokratisch gewählt, entscheidet man sich dafür, was dem Volk, zum größten Nutzen ist – man entfernte diejenigen, die einem geschadet haben und noch schaden könnten.

Alles Gesagte und noch Einiges dazu sind Masken, die, wenn wir sie aufsetzten, das gewalttätige Verhalten rechtfertigen. Diese Masken sind leider allgemein anerkannt und akzeptiert worden. Wer versuchte, sie den Akteuren abzunehmen und ihre wahren Gesichter zu zeigen, der riskiert Einiges. Zuerst die Negierung, dann die Kritik, den Rufmord, zuletzt die Verurteilung und den Ausschluss. Das berichten einige, die es gewagt haben. Aber jede Maske weniger bedeutet einen Schritt weiter zur toleranten und weniger konfliktbereiten Gesellschaft, einen Schritt zur Zivilisation, der uns besonders in heutiger Zeit gelegen käme. Deswegen sollten wir es wagen, alle zusammen, jeder nach seinen Kräften.

1 Žižek, S.:Gewalt, Ljubljana:Analecta, 2007, S. 13. Während Žižek die globale Gewalt erörtert, stellt die gegenwärtige Essaysammlung die Gewaltansätze in besonderen Beziehungen und Situationen. Im Vergleich zu Bildern Žižeks, kann man die meiste dieser Gewalt als weniger bedrohend einschätzen. Trotzdem ist es schwer, der Schlussfolgerung auszuweichen, dass das Zulassen der weniger bedrohlichen Gewalt früher oder später zur globalen Gewalt kommt. Genau so kann man glauben, dass man wahrscheinlich viele Arten der ernsten Gewalt verhinderte, wenn man sorgfältig auf kleine Gewalt reagierte.

HYPOKRATES AM STERBEBETT

…Welche Häuser ich betreten werde, ich will zu Nutz und Frommen der Kranken eintreten, mich enthalten jedes willkürlichen Unrechtes2

So Steht seit Jahrhunderten der Eid des Hippokrates, in Einzelheiten einer Aktualisierung bedürftig, im Wesentlichen immer noch gültig. Aber die Versuchung des Bösen ist häufig stärker.

Frankfurtsche Tragödie

Im Herbst 2002 begann und endete das Drama innerhalb paar Tage. In Frankfurt am Main entführte Magnus Gaefgen, ein Jurastudent, den 11-jährigen Jakob, den Sohn des vermögenden Industriellen von Metzler. Er verlangte eine Million Lösegeld. Beim Verbrechen ging er mehr als dilettantisch vor. Die Polizei hat lediglich observiert, wie er kam, um das vereinbarte Geld abzuholen und nahm ihn kurzerhand fest. Die Geschichte endete aber nicht glücklich. Es bestand Hoffnung, dass das Kind lebt, es müsste nur in einer vernünftigen Zeit herausgefunden werden, wo der Entführer es versteckt hält.

Wolfgang Daschner, Polizist aus Frankfurt, der die Untersuchung leitete, sucht Hilfe in der Androhung. Er sagte zu Gaefgen, er würde Schmerzen erfahren, von denen er nicht zu träumen vermag. Dabei wird ein Arzt mitwirken, damit es keine sichtlichen Verletzungen geben wird. Der Entführer ist schon bei diesen Worten bald zusammengebrochen, aber das Kind war tot, denn er hat es bereits davor getötet.

Die Drohung des Polizisten begleitete noch eine andere Tatsache. Es handelte sich nicht nur um leere Worte. Ein Hubschraubertransport wurde vorbereitet für einen Polizisten, der sich zwar im Urlaub befand, aber als Spezialist für solche Fälle in die Ausführung der Folter einwilligte. Und schließlich wurde auf die Polizeiwache auch ein Arzt bestellt, der gefragt wurde, ob er bereit wäre zu kooperieren.3

Aus dem Urteil, (nicht nur für den Entführer, den es lebenslänglich traf, sondern auch für den Polizeichef, der die Folter anordnete, obwohl es dazu nicht kam) das später gefällt wurde, ist Folgendes offensichtlich: Für die Folter wurden konkrete Vorkehrungen getroffen.4

Der tragische Fall löste somit zwei Prozesse und zwei Urteile aus. Schon vor dem zweiten Urteil, mit dem das Gericht auch den Polizisten Deschner für schuldig befand, trat ein bedeutender Teil der öffentlichen Meinung für ihn ein und damit für die Folter unter – nach ihrer Überzeugung – für sie rechtfertigenden Umständen. Unter den Befürwortern dieser Art der Gefahrabwehr war eine Reihe bekannter Politiker, die den Polizisten verteidigten. Deswegen überrascht es nicht, dass die Frage des Arztes, der zur Polizeiwache gerufen wurde und der zwar nicht tätig wurde, größtenteils übersehen wurde (insofern dies in verfügbaren Quellen zu finden war). Es ist nicht zu erkennen, dass gegen die geplante Kooperation des Arztes bei der Folter irgendjemand wenigstens ethische Bedenken geäußert hätte.

Der Tod und das Mädchen

Begeben wir uns für einen Augenblick woandershin. Aus der grausamen Realität in die Welt der Kunst. Dort scheint es manchmal, dass man aussteigen kann, wenn es zu düster wird und wenn die Taten unsere Vorstellungskraft übersteigen. Doch beschreibt das Kunstwerk lediglich das, was in Wahrheit passiert. Ist das Werk ursprünglich, erhält es bald das Spiegelbild in der wahren Welt.

Das Drama des argentinischen Schriftstellers Ariel Dorfman5Der Tod und das Mädchen wurde unter gleichem Namen vom Regisseur Roman Polanski verfilmt.

„Während eines Gewitters sucht ein Arzt die Zuflucht im Haus eines Ehepaares. Die Ehefrau, die das Opfer der Gewalt der südamerikanischen Junta (eines nicht genannten Staates) war, ist immer mehr der Überzeugung, dass gerade dieser Arzt sie im Gefängnis folterte und mehrmals vergewaltigte. Dafür hat sie keinen handfesten Beweis, weil sie während der Folter stets verbundene Augen hatte, der Peiniger aber sprach nie. Nach dramatischen Verwicklungen gesteht der Arzt alles, was er getan hat und was ihm die Frau vorwirft.“

Für das Verständnis „der Gewalt unter der Maske“ sind seine Worte am aufschlussreichsten:

„Es begann so, dass die Polizei Ärzte brauchte, die aufpassten, dass die Menschen, die gefoltert wurden, trotzdem überlebten. Der Bruder arbeitete bei der Geheimpolizei und so kam ich dazu. Tief in mir spürte ich, dass es anfängt, mir zu gefallen. Um mich herum waren Menschen ohne Macht und standen zur Verfügung. Ich brauchte nicht freundlich zu sein. Die Frauen musste ich nicht verführen. Ich stellte fest, dass ich mich um die Menschen nicht mal kümmern muss. Ich besaß absolute Macht über sie. Ich konnte sie zwingen, dass sie, was auch immer, taten oder sagten. Ich wurde neugierig, wieviel diese Frau vor mir ertragen kann.“

Der Arzt enthüllt durch das Gestehen seiner Gefühle die psychische Welt vieler Menschen. Kein besonderer Unterschied ist zwischen den geweihten und gewöhnlicheren Berufen feststellbar, genauso ist nicht erkennbar, dass die Menschen aus der akademischen Welt für die Versuchungen weniger empfänglich wären. Einer der bedeutenden Unterschiede besteht wahrscheinlich im gesellschaftlichen Milieu. Der höheren Gesellschaftsschicht, den Intellektuellen, in der Öffentlichkeit erkenntlichen Personen, allen solchen ist die Welt der Gewalt entfernter als zum Beispiel dem gesellschaftlichen Rand, dessen Angehörige die Gewalt jede Woche erleben können, wenigstens bei den Spielen unter den Fußballfans. Es kann sein, dass die Intellektuellen einen Teil dieses Mankos durch die Gewalt im familiären Milieu ersetzen. Und auch hier muss man aufpassen, dass die Ereignisse nicht an den Tag kommen.

Wenn die gesellschaftliche Aufsicht nachlässt, zeigt sich die Natur des Menschen. Niedrige Instinkte wählen weder die Angehörigkeit, noch Ausbildung, Beruf, Rasse, Religion oder ähnliche Eigenschaften.

Wo ist die Grenze zwischen dem Experiment, beziehungsweise der Erforschung und der Folter?

„Wenn das Verursachen von Schmerzen einem Einzelnen der Mehrheit der Menschen von Nutzen ist, dann ist es absolut ethisch.“

Militärpsychologe 6

Milčinski (Janez Milčinski, slowenischer Jurist und Arzt, 1913-1993) schreibt im Jahr 1982 erschienenem Buch „Medizinische Ethik und Deontologie“7 Folgendes:

„/Bezüglich der medizinischen Experimente/ sind zwei Dinge beunruhigend: Die Feststellung, dass sowohl medizinische als auch Kultur- und Kirchenkreise unberührt und ohne den öffentlichen Protest diese Experimente akzeptierten und begleiteten / verfolgten, obwohl darüber die breiteste Öffentlichkeit informiert wurde; die Tatsache, dass derart Experimente auch nach dem Nürnberger Urteil nicht aufhörten … Sie laufen noch heute, und es werden in weiterem Umfang neue gestartet.“8

Wie sollte man den Forschungseifer werten, bezüglich der Angabe, dass in den 60-er Jahren des vorherigen Jahrhunderts in den USA die Experimente an mehr als 20.000 Verurteilten durchgeführt wurden, in denen ihnen u.a. Krebszellen injiziert wurden, dass Experimente an gesunden Schwangeren durchgeführt wurden, an geistig behinderten Kindern, dass den Säuglingen auch ohne medizinische Indikation Herzkatheter implantiert wurde?9

Milčinski bietet auf diese Frage eine unverlässliche, mindestens aber eine unvollkommene Antwort. Die Taten schreibt er „dem Feuer des Wissenschaftseifers, in dem der Forscher den Prinzip der Unantastbarkeit und des Respekts vor dem menschlichem Leben und der Gesundheit vergessen kann.“10

Wenn der Arzt die Maske in der Form des weißen Kittels aufsetzt, ist ihm der Weg in den menschlichen Körper und Seele geöffnet. Dieser Weg ist zu verlockend, um auf ihn, steht er im Widerspruch zur Ethik, zu verzichten. Passierte das nur in Ausnahmefällen – laut Milčinski im Forschungseifer – hätten wir keine Zeugenaussagen über die Verstrickung der Ärzte in Folter bis zu heutigen Tagen.

The New England Journal of Medicine berichtete im Jahr 2004 über immer mehr Beweise darüber, dass amerikanische Ärzte an Folter der im Irak, in Afghanistan und in Guantanamo Inhaftierten beteiligt sind.11

Nach vier Jahren Untersuchungen durch die Psychologin Martha Davis entstand der Dokumentarfilm „Doctors oft he Dark Side“ – Ärzte auf der dunklen Seite. Es handelt von der bewiesenen Folter in den Gefängnissen von Guantanamo und Abu Ghraib. Der Film zeugt davon, dass derartige Folter ohne die unmittelbar beteiligten Ärzte hätte nicht ausgeübt werden können. Diese haben Foltermethoden entwickelt und beaufsichtigt, gleichzeitig erhielten sie am Leben diejenigen, die als wichtig erschienen (als vermeintliche Informationsquelle)

Ärzte in Spanien

Das Jahr 2012 war für Spanien erschütternd. Immer überzeugender haben sich die Vorahnungen über entführte Säuglinge bestätigt. Seit Anbeginn der Diktatur Francos, also seit dem zweiten Weltkrieg, bestand die Verschwörung, geschmiedet zwischen der Kirche und dem medizinischen Personal der Entbindungskliniken. Vielen Müttern, zuerst vor allem jenen, die aus dem „linken“ Milieu stammten, wurde mitgeteilt, dass das neugeborene Kind verstorben sei. In Wahrheit wurden die lebendigen und gesunden Säuglinge in Absprache mit den Ärzten und anderem medizinischen Personal von den Nonnen wortwörtlich entführt und dann für hohe Summen an die vermögende kinderlose Familien verkauft.12

„Dafür, dass man einen (gestohlenen) Säugling bekam, bedurfte es nur eines Arztes, der bereit war dies zu tun, und einer Nonne.“13

Die Zeitung Daily Mail berichtete über die Entdeckungen der Journalistin Katya Adler, die einen beinahe ein halbes Jahrhundert andauernden Raub und Verkauf der Säuglinge untersuchte.14

Davon, wie stark diese verbrecherische Seilschaft war, zeugt auch die Tatsache, dass die Entführungen bis zum Ende der 80-er Jahre geschahen, also einige Jahre nach Francos Tod. Diese traurige Tatsache könnte man auch dem außerordentlichen Einfluss der katholischen Kirche auf das öffentliche Leben in Spanien zuschreiben. Bis zum Jahr 1950 sollten an die 30.000 Säuglinge entführt worden sein, bis zum Ende 1980 um die 300.000. Die Adoptionen wurden bis zum Jahr 1987 von den Krankenhäusern geregelt, erst danach gingen sie in die Zuständigkeiten der Regierung über.

Das Treiben der Ärzte kam an den Tag, als zwei Spanier feststellten, dass sie als Säuglinge entführt wurden. Der Vater des einen gestand an seinem Sterbebett, dass er ihn von einem Geistlichen in Zaragoza gekauft hatte. Auf dem Weg hin wurde er von einem Freund begleitet, der bereits vorher einen Säugling kaufte. Für den Säugling zahlte er so viel, wie damals eine kleinere Wohnung gekostet hatte. Nachdem die zwei Spanier über diese Erfahrung sprachen, fingen an, sich in ganz Spanien Mütter zu organisieren, deren Säuglinge nach Beteuerungen der Ärzte oder Nonnen, die in den Entbindungskliniken arbeiteten, bei der Geburt gestorben seien. Beim Öffnen der Gräber angeblich gestorbener Säuglinge hat sich gezeigt, dass sie entweder leer, oder mit Knochen von Erwachsenen oder Tieren gefüllt waren.15

Heute laufen in Spanien 900 Gerichtsprozesse im Zusammenhang mit den entführten Säuglingen. Es wird vermutet, dass viele die Überprüfung der Echtheit ihrer Väter und Mütter nicht wollen, weil sie Angst haben, dass ihre Eltern bei ausschließenden Feststellungen als Kriminelle gälten.16

Wie dieser tragische Teil der jüngeren spanischen Vergangenheit immer mehr Beachtung findet und immer weniger zugedeckt wird, beweisen auch Kunstwerke. Die österreichische Dramaturgin Angelika Messner schrieb das Libretto für die Oper El Juez (Los ninos perdidos) – Der Richter (Die verlorenen Kinder), die Musik stammt auch aus der Feder eines österreichischen Komponisten, Christian Kolonowits. Die Uraufführung mit phänomenalem Erfolg fand in Spanien, in Bilbao, im April 2014 statt. In der Rolle des Richters trat der berühmte Tenor, Spanier (was eine wichtige Botschaft ist), Jose Carreras auf. Es handelt sich um ein kritisches Werk über den Regime Francos, der den Samen des Übels noch Jahrzehnte nach dem Tod des Diktators hinterließ.17

Zwangsbehandlung der Homosexualität

Im Herbst 2010 wurde die Anklageeingereicht, im Juni 2013 wurde der Prozess mit der Hauptverhandlung fortgesetzt, in dem die Psychiaterin Mirjana Vulin, die ehemalige Direktorin des kroatischen psychiatrischen Krankenhauses Lopača, angeklagt wurde.18

Im Jahr 2003 wurde die 16-jährige Ana Dragičević ins Krankenhaus gebracht. Sie wurde von den Eltern gebracht, die behaupteten, sie sei drogenabhängig. Der Grund war aber ein ganz anderer. Ana hatte eine intime Freundin, die Eltern waren aber nicht bereit, ihre gleichgeschlechtliche Orientierung weder anzunehmen noch zu tolerieren. Sie wurde gegen ihren Willen hospitalisiert und weil sie noch nicht volljährig war, reichte die elterliche Zustimmung für die Behandlung in der Psychiatrie, wo sie einbehalten wurde, aus.

Kurz vor ihrer Volljährigkeit, nach der 2-jährigen Behandlung, wurde sie entlassen, aber die Eltern brachten sie kurz darauf wieder ins Krankenhaus. Sie behaupteten, sie habe Verhaltensstörungen und läuft von Zuhause weg. Im psychiatrischen Krankenhaus verbrachte sie gegen ihren Willen und bereits volljährig weitere drei Jahre.

Nachdem dieser Fall bekannt wurde, kam es zum Druck der Öffentlichkeit und Direktorin Vulin wurde ausgetauscht, behielt aber weiterhin die Arbeitsstelle im Krankenhaus. Der neue Direktor schrieb einen Tag nach der Übernahme der Krankenhausleitung den Entlassungsschein für Ana Dragičević.

Der Arzt, der sie kurz vor ihrer Entlassung behandelte, äußerte, zu der Zeit bestand kein Grund für ihre Hospitalisierung. Die Therapie, die noch heute nötig ist, wird ausschließlich für das Lösen von Problemen durchgeführt, die aufgrund des Aufenthaltes in dem psychiatrischen Krankenhaus entstanden.

Ana Dragičević beschreibt therapeutische Verfahren, unter denen Fixierung ans Bett und Zwangsjacke üblich waren. Weil sie als minderjährige nicht von den älteren Patienten getrennt wurde, wurde sie somit auch deren Gewalt ausgesetzt.

Zur Zeit der Entstehung dieses Buches (2014) laufen ein Strafverfahren gegen die Direktorin und Ärztin Mirjana Vulin und ein Entschädigungsantrag wegen der unrechtmäßigen Verwahrung im psychiatrischen Krankenhaus. Ungeachtet dessen, dass die Weltgesundheitsorganisation die Homosexualität bereits vor fast einem Viertel Jahrhundert (1990) von der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen hat, sind die Vorurteile mancherorts so stark, dass sie das Fachgebiet übertönen. Wenn die Institution, hierarchisch in ihrer Struktur, wie das Krankenhaus im Allgemeinen ist, besonders noch das psychiatrische, die Vorurteile und Aggressivität gegen „Andersgeartete“ fördert, dann kann nur die starke Überwachung der allgemeinen und der fachlichen Öffentlichkeit in konkreten Fällen die Gewalt eingrenzen.

Ist Einer flog über das Kuckucksnest ganz in unserer Nähe noch heute aktuell?19

Zwangsbehandlung von Gustl Mollath

Die Zwangsbehandlung ist kein „Balkan“ - Einzelfall. Im Jahr 2006 verurteilte das Kreisgericht Nürnberg den damals 50-jährigen Gustl Mollath wegen der Gewalt an Ehefrau. Dabei wurde festgestellt, dass es sich bei ihm um eine paranoide Persönlichkeit handle, aufgrund der er in das psychiatrische Krankenhaus eingewiesen wurde. Mollath stritt die Gewalttätigkeit ab, wies aber durchgehend auf die Straftaten in der HypoVereinsbank hin, wo auch seine Frau arbeitete, die bei der Geldwäsche geholfen haben sollte. Dabei wies er auf ein kompliziertes Netz hin, das von der Bank erschaffen wurde, um ihre illegalen Tätigkeiten zu verschleiern. Dieses Bild zeugte nach der Meinung des Gerichts überzeugend von Mollaths Paranoia.

Wie in einigen ähnlichen Fällen, spielten auch in diesem die Medien entscheidende Rolle. Die Umstände der Verurteilung Mollaths und seine Angaben wurden untersucht. Es zeigte sich, dass alles, was er über die Bankgeschäfte sagte, wahr war. Die Bank versteckte den Revisionsbericht. Zusätzlich wurden ernste Rechtsbeugungen festgestellt. Die Ärztin, die das Gutachten über die Verletzungen von Mollaths Ehefrau ausstellte, hat sie nie untersucht. Der Richter hat unter anderem verhindert, dass die Steuerbehörde Mollaths Angaben in Nürnberg überprüft.

Als die Geschichte Ende 2012 in den slowenischen Medien20 veröffentlicht wurde, war Mollath immer noch in der Psychiatrie eingesperrt. Im Februar folgenden Jahres wurde der Strafverfahren von dem Oberlandesgericht Nürnberg wieder aufgenommen und im August 2013 die sofortige Entlassung des Verurteilten angeordnet.21 Dabei kamen Einzelheiten an den Tag, weswegen auch die Stellung der bayrischen Justizministerin fraglich wurde. Der vorsitzende Richter musste gestehen, dass er dem verurteilten Mollath keine entsprechende Verteidigung erlaubte. Auch sein Einfluss auf die Verhinderung der Aufdeckung der Bank- und Steuerungereimtheiten wurde untersucht.

Im Herbst 2014 wurde ein neuer Prozess vor dem Gericht in Regensburg angefangen, in dem das Gericht feststellen sollte, was alles im ersten Gerichtsprozess falsch entschieden wurde und wie es passieren konnte, dass der Verurteilte sieben Jahre in der Psychiatrie verbrachte.