Gewaltfreie Kommunikation bei Menschen mit Behinderung: GFK als Basis für bedürfnisorientierte Begleitung - Karen Nimrich - E-Book

Gewaltfreie Kommunikation bei Menschen mit Behinderung: GFK als Basis für bedürfnisorientierte Begleitung E-Book

Karen Nimrich

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Beschreibung

Die Gewaltfreie Kommunikation eröffnet für die Begleitung behinderter Menschen völlig neue Perspektiven. Maya möchte sich seit Tagen nicht waschen, Ahmed redet unentwegt beim Essen und Simone wirft beim Mittagessen in der Schule mit Geschirr: Alltag in vielen Wohngruppen mit geistig behinderten Menschen sowie in der heil- oder sonderpädagogischen Arbeit. Wie gehen wir mit solchen Verhaltensweisen um? Welche Reaktionen sind angemessen und sinnvoll? Was können wir tun, um Konflikte zu lösen und herausfordernde Situationen souverän zu meistern? Gewaltfreie Kommunikation (GFK) ist ein Lösungsweg, der in der Begleitung von Menschen mit Intelligenzminderung sehr hilfreich ist. Dieser Ratgeber verrät, welche Chancen die Gewaltfreie Kommunikation im Alltag mit behinderten Menschen bietet. Nach einem kompetenten Einblick in die GFK mit ihren klassischen vier Elementen - Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte - widmet sich die Autorin unter anderem den folgenden Themenbereichen: * Bedürfnisse bei Menschen mit Intelligenzminderung erkennen und erfüllen * Die sozio-emotionale Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter * Chancen bedürfnisorientierter Sprache: Bedürfnisse im Fokus der Arbeit * Empathie und das "Vier-Ohren-Modell": Schuldohren vs. Verständnisohren * Aspekte von Macht und Umgang mit dieser * Gewaltfreie Kommunikation im Team: Störungen ansprechen * Umgang mit Kritik und Vorwürfen Ein unverzichtbarer GFK Praxis-Ratgeber mit zahlreichen interaktiven Übungen + konkreten Anleitungen zur direkten Umsetzung im Arbeitsalltag. Verlag edition riedenburg Salzburg - alle unsere GFK-Titel im Überblick unter www.GFK-Buch.de

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Für alle Klient*innen, die ich bisher begleiten durfte oder aktuell begleiten darf.

Dieses Buch ist für Euch, weil ich Euch aus tiefstem Herzen nur noch wohlwollende und wertschätzende Begegnungen wünsche.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Was erwartet Sie in diesem Buch?

Gewaltfreie Kommunikation

Die vier Elemente

1. Beobachtung

Beobachtung und Bewertungen im Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung

Gedanken und Worte prägen meine Haltung

Moralische und lebensdienliche Bewertungen

2. Gefühle

„Gefühl“ im Unterschied zum „Gedanken“

Gefühle im Umgang mit Menschen mit Intelligenzminderung

3. Bedürfnisse

Bedürfnisse und Strategien

Bedürfnisse im Umgang mit Menschen mit Intelligenzminderung

4. Bitten

Unterscheidung zwischen Bitte und Forderung

Beziehungsbitte

Handlungsbitte

Verständnisbitte

Bedürfnisse bei Menschen mit Intelligenzminderung

Die sozio-emotionale Entwicklung

Primärer Zustand (0 – 4/6 Wochen)

Symbiotische Phase (4 Wochen – 4/5 Monate)

Differenzierungsphase (4/5 – 10/11 Monate)

Übungsphase (10/11 – 17/18 Monate)

Wiederannäherungsphase (17/18 – 24 Monate)

Befestigungsphase (2 – 3 Jahre)

Ödipale Phase (3 – 5 Jahre)

Latenzzeit (6 – 10 Jahre)

Pubertät, Adoleszenz und Erwachsenenalter (ab 11 Jahren)

Übersicht emotionale Phasen und wesentliche Bedürfnisse

Die Chancen einer bedürfnisorientierten Sprache

Bedürfnisse im Fokus der pädagogischen Arbeit

Selbstempathie als Form der Selbstfürsorge

Emotionale Kompetenz

Bedürfnisse kennen als Verständnis-Brücke

Verhaltensweisen besser verstehen

Die Chancen der Empathie

Empathie und das Vier-Ohren-Modell

Schuldohren innen und außen

Verständnisohren innen und außen

Beschützende und bestrafende Macht

„Macht mit“ und „Macht über“

Gewaltfreie Kommunikation im Team

Begegnung auf Bedürfnis-Ebene

Sich aufrichtig mitteilen und Störungen ansprechen

Konkrete Bitten für eine klare Kommunikation

Eigenverantwortung als Beitrag zu entspannter Arbeitsatmosphäre

Vorwürfe und Kritik

Wertschätzung ausdrücken

Selbstfürsorge

Im Gespräch mit Angehörigen

Resümee

Haben sich dann ab jetzt alle lieb?

Die Herausforderung im Arbeitsalltag

Danksagung

Bedürfnisliste

Übungsblatt Wolfsohren – Giraffenohren

Literaturverzeichnis

VORWORT

Alle Menschen auf dieser Welt haben dieselben Bedürfnisse und sind bestrebt, diese Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Schon uns Erwachsenen, die sich gut artikulieren können, fällt es oft schwer, sich klar und verständlich auszudrücken. Dabei geht es darum, so gehört und angenommen zu werden, wie wir sind. Und darum, auch dann liebevoll begleitet zu werden, wenn unsere Bedürfnisse einmal nicht erfüllt werden und wir traurig und schmerzerfüllt sind.

Zwei Gruppen von Menschen brauchen besondere Fürsorge, um ihre Bedürfnisse darzulegen und mit dem Frust umzugehen, wenn diese nicht erfüllt werden: Kinder, die noch lernen, und Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Letztere sind zwar nicht immer dazu in der Lage, die vollständige Artikulation von Bedürfnissen erlernen zu können, sie sollen aber dennoch von ihrer Umgebung als „voll“ genommen werden.

Die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg bietet eine wundervolle Möglichkeit, auch mit jenen Menschen tief in Verbindung zu gehen, die eine geistige Beeinträchtigung haben. Sie zu hören, wahrzunehmen und ihnen zu sagen: Du mit deinen Gefühlen und Bedürfnissen, du bist voll und ganz in Ordnung. Und sie dabei zu unterstützen, gute Strategien zu finden, wie sie ein zufriedenes und erfülltes Leben führen können.

Karen Nimrich unterstützt mit ihrem Buch Familien, Betreuungspersonen und Betroffene selbst. Es geht darum, zu verstehen und verstanden zu werden und jenen, die nach wie vor am Rande der Gesellschaft sind, Worte und Unterstützung auf Augenhöhe zu bieten. Wir wollen sie darin begleiten, sich gut ausdrücken zu können und gemeinsam nach stimmigen Lösungswegen zu suchen.

Gerade das Leben in einer Wohngemeinschaft ist eine Herausforderung. Auf der einen Seite findet sich das Bedürfnis nach Ruhe und Rückzug, auf der anderen Abwechslung und Beschäftigung. Zugleich ist da der Spagat zwischen dem Respektieren der Privatsphäre und der Aufsichtspflicht durch die Betreuerinnen und Betreuer. Die speziellen Eigenarten einer jeden Klientin und eines jeden Klienten können Mitbewohner sowie Betreuungspersonen ordentlich herausfordern. Reflexion ist, wenn überhaupt, dann auf einer anderen Ebene möglich.

Der vorliegende Ratgeber ist ein Sprachrohr für jene, die keine Stimme in der Gesellschaft haben. Er gilt uns allen als Weckruf, damit wir ab sofort noch besser hinsehen, hinhören und hinfühlen.

Dieses Buch ist eine Einladung an all jene, die mit geistig beeinträchtigten Menschen leben oder ihnen im Arbeitskontext begegnen. Es hilft ihnen dabei, neue Wege zu beschreiten und genau diese Schönheit im Gegenüber immer wieder aufs Neue zu entdecken.

Mag. Hanna Grubhofer 7-fache Mutter, Autorin und Trainerin in Gewaltfreier Kommunikationwww.empathynow.at

EINLEITUNG

Leo schlägt in seiner Wohngruppe immer wieder andere Klientinnen.

Maya möchte sich seit Tagen nicht waschen.

Ahmed redet ohne Pause beim Essen und unterbricht andere, wenn sie etwas erzählen.

Simone wirft regelmäßig beim Mittagessen in der Schule mit Geschirr.

Alltag in einer Wohngruppe und in der Schule. Und wir als Mitarbeiterinnen schreiten selbstverständlich ein. Aber wie schreiten wir ein? Wie gehen wir mit solchen Verhaltensweisen um? Weisen wir Leo, Ahmed und Simone zurecht? Sind wir so autoritär, dass Maya trotzdem duscht, oder lassen wir sie ungeduscht? Schimpfen wir?

Gewaltfreie Kommunikation (GFK) ist hier ein Weg, der sehr hilfreich und bereichernd sein kann. GFK ist aber nicht nur förderlich beim Umgang mit solchen Verhaltensweisen, sondern sie bietet uns in vielen anderen Bereichen unserer Arbeit, zum Beispiel in der Dokumentation, in Arbeitsaufträgen, aber auch im Umgang mit unseren Teamkolleginnen, viele Chancen. Einige dieser Chancen werden Sie in diesem Buch kennenlernen.

Gewaltfreie Kommunikation mit (geistig) behinderten Menschen?

Kann das gehen und wenn ja, wie?

Hat die Gewaltfreie Kommunikation Grenzen?

Wie sieht es aus, wenn Verhaltensweisen physiologische oder psychiatrische Ursachen haben oder liegt auch in diesem Fall immer ein Bedürfnis zugrunde?

Beziehungsweise: Kann und sollte dieses Bedürfnis erfüllt werden?

Hinter den Verhaltensweisen einer Zwangsstörung können zum Beispiel Bedürfnisse wie Sicherheit oder Ordnung stecken. Gibt es aber überhaupt bei einer Zwangsstörung eine Möglichkeit, die Bedürfnisse auf andere Art und Weise zu erfüllen, sodass es Zwänge nicht braucht?

Wie ist es beispielsweise bei einem Menschen mit Pica-Syndrom, der vieles isst, was allgemein als ungenießbar gilt? Sicher können hinter dem Verzehr von Erde, Plastikdeckeln oder Kot möglicherweise Bedürfnisse wie Ordnung und Struktur stecken. Aber werden wir jemals vergleichbare Strategien für diesen Menschen finden, sodass er nicht mehr auf ein Verhalten angewiesen ist, mit dem er sich gegebenenfalls auch in Gefahr bringt? Oder ist es meine Aufgabe als Heilerziehungspflegerin, den Aufenthaltsort so zu gestalten, dass die Klientin keine Möglichkeit mehr hat, solche Dinge zu essen? Nehmen wir ihr aber damit nicht ihr Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie? Wäre sie eventuell sogar froh, wenn sie mit dieser Strategie, solche Dinge zu essen, aufhören könnte? Oder ist es meine Aufgabe, einfach zu akzeptieren, dass es ihre Strategie ist, auch wenn diese für sie gefährlich sein kann?

Und dann ergibt sich die Frage: Ist Gewaltfreie Kommunikation für Menschen mit einer kognitiven Behinderung nicht zu komplex?

Ja, wenn Gewaltfreie Kommunikation als Methode angewendet wird, ist dies vermutlich für viele Menschen mit Lernschwierigkeiten zu komplex. Gewaltfreie Kommunikation ist jedoch eine Grundhaltung: Es ist eine Art, wie ich andere Menschen, mich selbst und meine Umwelt sehe. Und in dieser Haltung, in dem ständigen Versuch, mit mir und meinem Gegenüber in Verbindung und im stetigen Kontakt mit meinen Gefühlen und Bedürfnissen zu sein, geht es nicht um Komplexität und ob Menschen mit geistiger Behinderung dies kognitiv verstehen. Sie bekommen davon vielleicht zunächst gar nichts mit.

Es ist daher vielmehr eine Arbeit an uns, an mir, an Ihnen. Eine innere Arbeit, die Ihnen hilft, mit sich selbst in Kontakt zu sein, Empathie und Verständnis zu entwickeln und mit den Menschen um Sie herum, seien es Klientinnen, Kolleginnen oder Angehörige, in Verbindung zu sein.

Entstanden ist das vorliegende Buch aus der Facharbeit meiner Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin und viele der Beispiele kommen aus dem Wohngruppen-Alltag. Es ist jedoch für alle Menschen gedacht, die Menschen mit Behinderung begleiten – seien es Lehrkräfte, Heilerziehungspflegerinnen, Erzieherinnen, Werkstattmitarbeiterinnen, gesetzliche Betreuungen, Assistenzen oder Angehörige.

In diesem Buch werden die Begriffe Intelligenzminderung, geistige und kognitive Behinderung sowie Lernschwierigkeiten synonym verwendet. Der allgemein gehaltene Titel „Gewaltfreie Kommunikation (GFK) bei Menschen mit Behinderung“ kommt daher, dass ich während des Schreibens auch an autistische Menschen und Menschen mit psychischen oder seelischen Behinderungen gedacht habe.

Wenn man sich mit Gewaltfreier Kommunikation beschäftigt, tun sich viele Themen auf. Sie können hier jedoch nicht alle angesprochen werden, da das sonst den Rahmen eines Buches sprengen würde. Auch das Thema Inklusion kommt in diesem Buch nicht vor, was ich sehr bedauere. Es könnte jedoch ein eigenes Buch füllen.

Mir ist wichtig, dass dieses Buch überschaubar bleibt. Es soll einen Einblick in dieses Thema geben und einem ersten Innehalten dienen. So bietet es eine Auswahl an Aspekten, die ich momentan für besonders zentral halte.

Ich hoffe, Sie haben viel Freude beim Lesen und Ausprobieren, und wünsche Ihnen viele Begegnungen voller Wohlwollen, Wertschätzung und Verbindung – mit Ihnen selbst, Ihren Klientinnen und Kolleginnen, sowie mit allen anderen Menschen, die Ihre Wege kreuzen.

Karen Nimrich

WAS ERWARTET SIE IN DIESEM BUCH?

Dieses Buch ist keine Gebrauchsanweisung und kann nicht alle Fragen beantworten. Vielleicht haben Sie nach dem Lesen sogar mehr Fragen als vorher. Dann lade ich Sie ein, sich auf den Weg zu machen und Antworten zu finden, sei es in Gesprächen mit anderen, in Trainings oder beim Erleben von eigenen Erfahrungen.

Dieses Buch soll mit fiktiven Beispielen und selbst Erlebtem Anregungen geben. Ich hoffe, mit den Beispielen zeigen zu können, wie Sie die Theorie in die Praxis umsetzen können. Alle Namen und Geschlechter sowie die Beispiele im Buch sind frei erfunden oder stark abgewandelt.

Sie bekommen einerseits einen Einblick in die Gewaltfreie Kommunikation in ihren klassischen vier Schritten und weiteren Schwerpunkten, die mir im Alltag wesentlich erscheinen. Dazu gehören die Aspekte Empathie, das 4-Ohren-Modell der GFK und der Umgang mit Macht. Dabei geht es nicht nur um den Umgang mit Menschen mit kognitiver Behinderung, sondern auch um Teamarbeit und die Arbeit mit Angehörigen.

Ein Schwerpunkt des Buches sind die Bedürfnisse. Diese werden unter dem Aspekt der sozio-emotionalen Entwicklung nach Margaret Mahler beleuchtet, um deutlich zu machen, wie unterschiedlich stark die Bedürfnisse in den verschiedenen Entwicklungsphasen von Menschen ausgeprägt sein können und wie wertvoll es ist, dass wir darauf in unserer pädagogischen Arbeit Rücksicht nehmen.

In diesem Buch erfahren Sie etwas von den großen Chancen, die ich sehe, wenn wir die Gewaltfreie Kommunikation als Konzept und vor allem als Haltung in unserem Umgang mit Menschen mit Behinderung kennen und leben.

Es geht in diesem Buch nicht darum, wie Menschen mit Behinderung die Gewaltfreie Kommunikation aktiv lernen können, sondern darum, welche Vorteile sie Ihnen als Begleitende bringt und wie Menschen mit Behinderung dadurch indirekt davon profitieren.

Ich lade Sie ein, die Übungen im Buch auszuprobieren und somit dieses Buch und die darin enthaltenen Ideen mit Ihren eigenen Themen zu verknüpfen.

GEWALTFREIE KOMMUNIKATION

Diese zwei Fragen standen für den Entwickler der GFK, Marshall B. Rosenberg (1934–2015), im Mittelpunkt der Gewaltfreien Kommunikation. Sie machen die Freude und Lebendigkeit deutlich, die durch das Erlernen der Gewaltfreien Kommunikation entstehen können. Diese Fragen lassen uns hinschauen, welche Gefühle und Bedürfnisse bei uns und bei unserem Gegenüber gerade lebendig sind. Sie fragen uns, was wir tun können, um unser Leben schöner zu machen – aber nicht nur unser eigenes, sondern, bezogen auf die Arbeit, auch das Leben der Menschen mit Intelligenzminderung und das Leben unserer Kolleginnen.

Rosenberg orientierte sich vor allem an seinem Lehrer Carl Rogers (1902–1987), aber auch an Mahatma Gandhi (1869–1948). Sein Konzept baut auf die Klientenzentrierte Gesprächsführung von C. Rogers auf, umfasst jedoch mehr als den therapeutischen Bereich. Es geht um einen allgemein wertschätzenden Umgang miteinander. Er nannte die Gewaltfreie Kommunikation auch die „Sprache des Friedens“.

Es gibt neben den Begriffen Gewaltfreie Kommunikation und Sprache des Friedens weitere Bezeichnungen: Einfühlende oder Wertschätzende Kommunikation, Sprache des Herzens oder Giraffensprache. Die letzten zwei Begriffe stammen von Marshall B. Rosenberg selbst. In einem Vortrag in München berichtete er 2006, dass der Begriff Gewaltfreie Kommunikation eine formelle Bezeichnung sei und er sie informell „Giraffensprache“ nenne. In allen Seminaren und Vorträgen, die er geleitet und gegeben hat, arbeitete er mit zwei Handpuppen: einer Giraffe und einem Wolf. Er bezeichnete die gewaltvolle Sprache als Wolfssprache, während die Gewaltfreie Kommunikation die Giraffensprache war. Die Giraffe wählte er, weil sie das Landtier mit dem größten Herzen ist und damit ausgezeichnet für eine Herzenssprache stehen kann. Rosenberg betonte immer wieder, dass GFK eine Sprache des Herzens sei. „Sie hilft uns, uns mit unserem eigenen Herzen zu verbinden“, und gleichzeitig auch mit dem Herzen der anderen Menschen. (Rosenberg, 2007, Min. 13–15)

Auch ich mag Bezeichnungen wie „Sprache des Herzens“ oder „Wertschätzende Kommunikation“ sehr gerne und fast lieber als den Begriff „Gewaltfreie Kommunikation“. Der Begriff Gewaltfreie Kommunikation und vor allem die Abkürzung GFK machen ein Sprechen darüber aber einfacher und unkomplizierter. Der Begriff Giraffensprache schreckt einige schnell ab, weil sie damit etwas Kindisches und Albernes verbinden. Gleichzeitig zeigt die Erfahrung im Unterricht und in Seminaren, dass bei vielen Menschen die Giraffe und der Wolf als Symbole hängen bleiben. In diesem Buch wird die Bezeichnung Gewaltfreie Kommunikation oder die Abkürzung GFK verwendet, da dieser offizielle Begriff Klarheit bietet, um was es geht.

Gewaltfreie Kommunikation ist nicht nur ein Konzept, eine Methode oder eine Sprache, sondern eine Haltung. Marshall Rosenberg schreibt dazu: „Obwohl ich von der GFK als einen ‚Prozess der Kommunikation‘ oder einer ‚Sprache der Einfühlsamkeit‘ spreche, ist sie mehr als ein Prozess oder eine Sprache. Auf einer tieferen Ebene ist sie eine ständige Mahnung, unsere Aufmerksamkeit in eine Richtung zu lenken, in der die Wahrscheinlichkeit steigt, dass wir das bekommen, wonach wir suchen.“ (Rosenberg, 2016: 19)

Es geht also darum, in Kontakt zu kommen mit den eigenen Bedürfnissen und mit den Bedürfnissen anderer Menschen, sowie empathisch und wertschätzend uns selbst und unseren Mitmenschen zu begegnen. Mit Empathie beschreibt er nicht das, was häufig mit Sympathie verwechselt wird, sondern eine vollkommene Präsenz. Diese Präsenz charakterisierte er als „Essenz der Gewaltfreien Kommunikation. Wenn wir Einfühlung geben, dann geht es darum, einfach ganz und gar präsent zu sein, im Moment zu sein.“ (Rosenberg, 2012: 43).

Um diese Einfühlung, die Empathie und die Haltung hinter der Gewaltfreien Kommunikation zu lernen, entwickelte er vier Schritte, die helfen, in diese Haltung und in die Verbindung mit sich und den Mitmenschen zu kommen. Es ist also eine Idee, wie man die Haltung der Gewaltfreien Kommunikation üben und lernen kann, und nicht nur eine feste Methodik, die immer angewendet werden soll.

Ich spreche lieber von vier Elementen, da die Bezeichnung „Schritte“ den Anschein erweckt, man formuliere in der Kommunikation mit dem Gegenüber alle vier Schritte. Um in Konfliktgesprächen Klarheit zu bekommen, sich selbst mit Empathie zu begegnen und sich in der Haltung zu üben, sind die vier Schritte in ihrer Abfolge sehr hilfreich. Im Klientinnen-Kontakt gibt es jedoch Schwierigkeiten, diese vier Elemente im Ganzen anzuwenden. So gibt es viele Klientinnen, bei denen hauptsächlich der letzte Satz hängen bleibt. Wenn wir vier Sätze formulieren, haben wir also wenig gewonnen.

Es geht darum, die GFK zu nutzen, um ein größeres Verständnis für unsere Klientinnen zu bekommen und mit uns selbst und dem Gegenüber in Verbindung zu treten. Ich kann die vier Elemente in ihrer Abfolge durchgehen, um mich mit mir und meinen Klientinnen zu verbinden, um dann nur die Elemente auszusprechen, die gerade notwendig sind. Das kann dann nur die Aussage „Ich brauche Ruhe“ sein. Auch in der Vorbereitung auf Konfliktgespräche mit Kolleginnen oder Angehörigen sind die vier Elemente in ihrem Ablauf hilfreich, um für sich selbst Klarheit zu schaffen.

Die vier Elemente helfen, Beobachtung von Bewertung zu trennen, sich mit Gefühlen auseinanderzusetzen, Bedürfnisse in den Fokus zu rücken und klare Bitten in den Alltag einzubauen.

Am allerwichtigsten ist es, die Haltung zu üben, zu erlernen und einzunehmen, die hinter der GFK steckt. Dabei können die vier Schritte wesentlich helfen. Es geht darum, authentisch und lebendig zu bleiben und die vier Elemente flexibel und intuitiv einsetzen zu können. Das A und O ist die eigene Haltung, das ehrliche Interesse an einer Verbindung mit sich und dem anderen sowie ein Wohlwollen und Wertschätzen sich selbst und der Umwelt gegenüber.

Schauen wir uns nun die Elemente gemeinsam an und welche Chancen sie jeweils bieten.

DIE VIER ELEMENTE

1. Beobachtung

In der ersten Komponente, der Beobachtung, geht es darum, den Blick darauf zu richten, was tatsächlich passiert ist: Was sind die Fakten? Was kann man sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen? Man beschreibt die Situation wie aus einer Kameraperspektive: Es wird das formuliert, was eine Kamera sieht.

Einige Beispiele für Beobachtungen

Hier stehen fünf Teller und vier Gläser im Spülbecken.Ich höre in meinem Zimmer die Musik von meinem Zimmernachbarn.Wir hatten vereinbart, dass wir uns um 17 Uhr treffen, du bist um 18 Uhr im Restaurant angekommen.Ich habe die letzten sieben Tage täglich einmal die Spülmaschine ausgeräumt.

Wenn wir durch diese Beobachtung eine gemeinsame Basis hergestellt haben, können wir in einem Konflikt weitersprechen, ohne dass direkt das Ansprechen der Situation zum Streit führt.

Wenn wir eine Beobachtung im Sinne der GFK formulieren, geht es darum, diese Beobachtung auf einen Zeitrahmen und einen bestimmten Zusammenhang zu beziehen und ganz konkret zu benennen, was man gesehen und gehört hat.

Ein Beispiel: „Ich habe nicht gesehen, dass du in der letzten Woche dein Zimmer aufgeräumt hast.“

Häufig wird im Alltag die Beobachtung mit einer Bewertung vermischt. Unter Bewertungen versteht die Gewaltfreie Kommunikation jegliche Form von Interpretationen, Urteilen, Gedanken, Analysen und Diagnosen.

Einige Beispiele für Bewertungen

Hier ist es ja chaotisch.Der kann das aufgrund seiner Behinderung nicht entscheiden.Immer muss ich die Spülmaschine ausräumen.Sie provoziert schon den ganzen Vormittag.Ich bekomme immer einen blöden Dienstplan.

Wenn wir Beobachtung und Bewertung nicht klar voneinander trennen, verringert sich die Chance, dass wir uns verständlich machen können. Unser Gegenüber hört vermutlich direkt eine Kritik und geht in eine Abwehrhaltung. Dadurch entsteht eine erste mögliche Konfliktquelle.

Um das zu verhindern und eine gemeinsame Basis zu schaffen, ist es hilfreich, mit dem Gegenüber eine übereinstimmende Vorstellung von einer Situation zu bekommen. Wenn ich also etwas ansprechen möchte, formuliere ich eine Beobachtung und schaue dabei, ob mein Gegenüber der Aussage zustimmen kann und wir uns einig werden über das, was passiert ist.