Gewässer im Ziplock - Dana Vowinckel - E-Book
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Gewässer im Ziplock E-Book

Dana Vowinckel

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Beschreibung

Von großen und kleinen Lügen, Glücksmomenten und Enttäuschungen, von Zuneigung und Schmerz erzählt Dana Vowinckel in ihrem Debütroman. Gewässer im Ziplock ist eine mitreißende Familiengeschichte zwischen jüdischer Tradition und deutschem »Gedächtnistheater«. Eine Geschichte voller Leben und Menschlichkeit.

»Dana Vowinckels Roman ist von tiefer Weisheit, er kennt das Wanken, die Sehnsüchte und Zerrissenheit des Weltenwanderns.« Julia Franck, Autorin von Die Mittagsfrau

Ein Sommer zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem. Wie jedes Jahr verbringt die fünfzehnjährige Margarita ihre Ferien bei den Großeltern in den USA. Viel lieber will sie aber zurück nach Deutschland, zu ihren Freunden und ihrem Vater, der in einer Synagoge die Gebete leitet. Die Mutter hat die beiden verlassen, als Margarita noch in den Kindergarten ging. Höchste Zeit, beschließt der Familienrat, dass sie einander besser kennenlernen. Und so wird Margarita in ein Flugzeug nach Israel gesetzt, wo ihr Vater aufgewachsen ist und ihre Mutter seit Kurzem lebt. Gleich nach der Ankunft geht alles schief, die gemeinsame Reise von Mutter und Tochter durchs Heilige Land reißt alte und neue Wunden auf, Konflikte eskalieren, während der Vater in Berlin seine Rolle überdenkt. Da müssen sie schon wieder die Koffer packen und zurück nach Chicago, wo sich alle um das Krankenbett der Großmutter versammeln und Margarita eine folgenreiche Entscheidung treffen muss.

»Dana Vowinckel soll bitte weiter und immer weiter erzählen. Ich möchte noch hundert Bücher von ihr lesen.« Daniela Dröscher, Autorin von Lügen über meine Mutter

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Seitenzahl: 502

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Cover

Titel

Dana Vowinckel

Gewässer im Ziplock

Roman

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5360.

Originalausgabe © Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung: Wolfgang Tillmans, Tag/Nacht, 2009, Courtesy Galerie Buchholz

eISBN 978-3-518-77764-0

www.suhrkamp.de

Widmung

Norman Golb sel. A.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Einmal war er

Glossar

Zitatnachweis

Dank

Informationen zum Buch

Gewässer im Ziplock

Einmal war er noch für Kiddusch geblieben, ein großes Abendessen nach dem Gebet am Freitagabend. Sie hatten ihn überreden müssen. Er hatte am Kopfende gesessen, der Raum war völlig überfüllt, kaum genug Stühle für alle. Er hatte gesagt, dann wäre es wohl besser, gleich zu gehen, aber sie wollten, dass er blieb und am Kopfende saß, bei den Gabbaim. Sie hatten ihn beobachtet, dabei, wie er beim ersten angebotenen Wodka nickte, danach aber dankend ablehnte, wie er sorgfältig mit dem Plastikmesser und der Plastikgabel das Essen zerschnitt. Er sah ein bisschen zu groß aus für den Stuhl, auf dem er saß.

Es hatte drei Gänge gegeben: Hummus und Salat, dann etwas mit Curry, dann Kuchen, alles vom koscheren Catering. Das Gemüse schien ihm besonders gut zu schmecken, er nahm sich zweimal.

Er hatte höflich gelacht, wenn jemand etwas Lustiges sagte, und Fragen nicht ein-, aber auch nicht vielsilbig beantwortet. Sie wussten nun, er wohnte in Prenzlauer Berg, schon lange in derselben Wohnung, deswegen war sie weiterhin günstig, ja, es war schlimm mit den Mietpreisen in Berlin, er hatte Glück gehabt. Sie fragten ihn, wo er vorher gewohnt habe, und er antwortete Hannover, dabei wussten sie doch um seinen Akzent.

Sie hatten versucht, mit ihm über den Zentralrat zu lästern, aber er hatte anscheinend keine Probleme mit dem Zentralrat.

Von Nahem sah er müde aus.

Er ging noch vor dem Tischgebet, verabschiedete, bedankte sich, nickte nochmal allen zu, wünschte einen friedlichen Schabbes.

Danach waren sie sich einig, dass er spannend war, der Kantor, freundlich, und die schönste Stimme von allen hatte er.

Sie fragten sich, ob er einsam war, dort, wohin er zurückging. Ob dort jemand wartete. Er trug keinen Ring, aber was bedeutete das schon, es trugen weniger Leute Ringe, als es Leute gab, die einsam waren.

*

Am lautesten war es immer direkt vor dem Gebet. Um 19:03 Uhr begann es im Sommer, 18:03 Uhr im Winter, manchmal 19:07 Uhr, 18:07 Uhr. Auf die Minute genau fünf Minuten vor der vollen Stunde trat er durch die Sicherheitsschleuse, die Kerzen mussten noch gezündet werden, das machte eine Frau, die nicht auf die Uhr schauen musste, ob es Zeit war, sie wusste es, sobald er hereinkam. Er nickte dann höflich und trat an die Bima, lauschte den Nachrichten von Kindern, die geboren wurden, von Partnern, die mitgebracht wurden, von Belanglosem und Belangvollem, von Rezepten, von Tod und von Leben. Das Gerede wurde immer lauter, je später nach der vollen Stunde, desto lauter wurden die Leute, als gelte es, das Gebet, für das sie gekommen waren, zu verhindern. In Ausnahmefällen musste gewartet werden, dass es genug Männer gab. Zehn brauchte man, um ein Gebet zu halten. Während der Pandemie kamen wenige, aus Angst, aus Respekt, die, die kamen, mussten Masken tragen und sich in Listen einschreiben. Es wurde viel gestritten, ob man nicht auch die Frauen zählen sollte, besonders in diesen Zeiten, aber bis heute setzten sich ein paar der Alten durch, der Männer, die wollten, dass die Dinge blieben, wie sie waren, und so machte er es mit und mischte sich nicht ein. Er wurde bezahlt für seine Stimme, für das Aufbrechen des Geschnatters, für das Leiten des Gesangs, nicht für seine Meinung zu kleinpolitischen Fragen. Vielleicht auch zu großpolitischen.

Wenn er das erste Mal an diesem Schabbat tief Luft holte, dann würde es noch keiner hören können, auch er selbst nicht. Die ersten Worte des ersten Liedes würden noch untergehen, und dann, stellte er sich vor, würden hinter seinem Rücken ein paar Besucher langsamer atmen und denken: Jetzt ist Ruhe, jetzt ist Pause. Die erste Strophe sang er noch allein, ab der zweiten gemeinsam mit den Sopranen in den Frauenreihen, die sich Mühe gaben. Wenn er sich zu ihnen umdrehte, könnte er ein schüchternes Lächeln sehen, und jemand würde schief miteinstimmen, weil es so schön war. »Jedid Nefesch«, sang er, »Geliebter meiner Seele, barmherziger Vater, ziehe Deinen Diener zu Deinem Willen, dass er zu Dir hinlaufe wie die Gazelle, niederfallend angesichts Deiner Pracht, Deine Freundschaft sei ihm angenehmer als Honig und alle Köstlichkeiten.« Sein Verhältnis zu Gott war nie so friedlich wie dann, wenn er an ihn dachte als Freund, als Begleiter seiner Stimme, ruhig und sanft. Während er sang, tröpfelten weiter die Beter herein, suchten sich ihre Reihen aus, neben ihren Freunden, ihren Eltern und Geliebten, nickten und blinzelten, signalisierten so: Es ist Schabbat. Er sang ihnen die Ruhe herbei. Es war sein liebster Moment, wenn auch nicht die schönste Melodie oder die poetischste Pijut. Man stellte die Schuhe ab nach einem langen Spaziergang und hielt die Hände an ein Glas warme Milch mit Honig. Am Ende des Liedes waren alle ganz still. Das Gebet konnte beginnen.

*

Im Joghurt schwammen kleine Stückchen von etwas, das mal eine Kirsche gewesen sein sollte. Sie hasste das. Zuhause musste sie nie essen, was ihr nicht schmeckte. Fast alles schmeckte ihr, aber die Stückchen im Joghurt hasste sie. Ihre Wangen wurden wieder heiß vor Heimweh, vor Sehnsucht nach einem Ort, an dem ihr so etwas nie aufgetischt würde, an dem es morgens mal Pfeffermakrele gab, mal den besten, cremigsten Feta vom Markt, mal Müsli mit vielen Nüssen. Rohe Zwiebeln auf Lachs und Frischkäse am Wochenende.

Erwartungsvoll schauten sie ein Paar Augen an. Sie zwang ihr Gesicht zu einem Lächeln. »Thank you«, hörte sie sich sagen, »yummy.« »Yummy« war ein Wort für Kinder, aber ihre Großmutter dachte schließlich, Margarita wäre eins. Sie trug bereits ihre Uniform: eine weiße, gestärkte Bluse mit Perlenknöpfen und eine Leggins, die am Hintern herunterhing, die Haushose, in der sie auch zum Bäcker und zum Fleischer ging, nicht aber zum Supermarkt und ins Restaurant, dafür war die Draußenhose da, eine schwarze Stoffhose.

»Rita«, sagte ihre Großmutter, »why haven’t you gotten dressed yet?«

Ihr Kopf wurde noch heißer. Die Großeltern lebten in einem Haus im Universitätsviertel auf der South Side von Chicago, das dreimal so groß war wie die Wohnung in Berlin und mindestens dreimal so still. Grandma biss jedes Mal, wenn sie Joghurt zum Mund führte, auf den Löffel. Man hörte nur das Surren des Deckenventilators und das Krachen von Zähnen auf dem Silber. Dass sie sich noch keine Ecke abgeschlagen hatte, in all den Jahren. Margarita fragte sich, ob sich auch ihre Mutter davor geekelt hatte, als sie als Fünfzehnjährige am selben Tisch und vom selben Besteck gegessen hatte. Oder ob sie es nicht wahrgenommen hatte, ob sie womöglich auch auf den Löffel biss, wenn sie Joghurt aß. Vielleicht hatte auch ihre Mutter das Eis, das es manchmal zum Nachtisch gab, gekaut, anstatt es zu schlecken, vielleicht konnte man, wenn sie ein Sandwich aß, das Innere ihres Mundes sehen. Sehen, wie sich der Salat mit dem Käse, dem Weißbrot, den sauren Gurken zu einem Brei vermischte.

Margarita löffelte schneller. Kratzte sorgfältig das Glasschälchen aus und sagte: »I need to go to the bathroom.« Das Bad war ihr Zufluchtsort in diesen Wochen. Meist duschte sie abends, bis das Heißwasser ausging, um sich vor dem Abendprogramm zu drücken und danach behaupten zu können, sie sei so furchtbar müde, sie müsse ins Bett. Sie nahm Bäder, obwohl draußen 35 Grad waren. Sie bekam Blasenentzündungen, weil sie so oft aufs Klo ging.

Nur wenn die Großeltern schon schliefen und sie leise nach Berlin telefonieren konnte, ging sie weniger häufig ins Bad. An schlechten Tagen bettelte sie ihren Vater an, sie nach Hause zu lassen, sie zu holen, drohte, wenn sie zurück in Berlin wäre, kein Wort mehr mit ihm zu sprechen, nie wieder. Er schwieg, manchmal summte er zur Beruhigung die immer gleichen Melodien.

Woher all der Schmerz kam, wusste er nicht. Er wusste um die Umstände, um das Heimweh, das ja, aber er wusste nichts von Nico. Von Nico wusste niemand außer Anna. Manchmal fragte sie sich, ob sie selbst um ihn wusste, wenn sie abends auf ihr Handy starrte, wenn sie, um einschlafen zu können, die Hand in die Unterhose schob und an das dachte, was passiert war. Jeden Morgen klopfte ihr Herz, bevor sie das Telefon anstellte, auf das grüne Symbol tippte, neue Nachrichten empfing, nie aber eine von ihm. Manchmal, wenn sie sich selbst richtig wehtun wollte, stellte sie sich vor, wie Anna ihn küsste. Obwohl sie wusste, dass das nie geschehen würde, weil Anna zu ihr hielt. Dennoch malte sie es sich immer wieder aus, während sie auf dem geschlossenen Toilettendeckel saß und die Zeit abwartete, die die Großmutter dafür brauchen würde, den Joghurt zu essen.

Sie dachte daran, was Nico bei ihrem letzten Treffen gesagt hatte. Margarita hatte mit ihrem Vater telefonieren müssen, weil der sich Sorgen machte, wenn sie unterwegs war. Danach hatte Nico sie gefragt, was das gerade für eine Sprache gewesen sei. »Hebräisch«, antwortete sie.

»Krass«, sagte er. »Aber du bist jetzt nicht so eine Zionistin, oder?«

Sie hatte noch nie darüber nachgedacht. Sie hatten in der Schule viel darüber gesprochen, wie unwahrscheinlich ihre eigene Existenz war, darüber, wie der Staat gegründet worden war und warum Israel nun ein Zufluchtsort war für Juden weltweit, hatten über die Palästinenser gesprochen und über Terrorismus.

»Mein Papa kommt von dort. Deswegen. Ist auch ganz cool, wie so eine Geheimsprache.«

»Trotzdem so ne Sache, Kolonialismus und die ganze Scheiße, ne«, hatte Nico geantwortet, und sie hatte genickt, weil sie nicht wusste, wie sie anderer Meinung sein sollte, wenn sie gar keine hatte. Dann hatten sie das Thema gewechselt. Es hatte sich ein bisschen angefühlt wie ein Verrat, doch sie wusste nicht, an wem. An ihrem Vater vielleicht, aber den verriet sie ohnehin, indem sie sich mit Nico traf und ihm nichts davon erzählte.

Grandma hatte ihren Joghurt aufgegessen, als Margarita sich zurück an den Esstisch setzte. Sie lächelte sie an, und Margarita schämte sich dafür, vorher einfach weggelaufen zu sein. Die brüllende Hitze des Vormittags fand langsam ihren Weg in die Küche. Margarita schob die Tür zur Terrasse zu und ließ die Jalousie herunter, damit die Klimaanlage funktionierte. Vor ein paar Wochen hatte sie sich bei Fridays for Future heiser gebrüllt. Jetzt machte sie nicht mal nachts die Kühlung in ihrem Zimmer aus. Stattdessen schlief sie unter einer dicken Decke, weil sie sonst fror.

*

Jedes Jahr nach Margaritas Abflug deckte er die Matratze auf dem Hochbett mit einem eigens dafür gekauften Tuch ab, wegen des Staubs. Dann schloss er die Tür zu ihrem Zimmer und ging nur hinein, wenn er abends mit ihr telefonierte, saß auf dem Sessel, in dem er ihr stundenlang vorgelesen hatte, hörte ihrer fernen Stimme beim Erzählen zu. Dabei starrte er auf das Regal gegenüber, liebevoll befüllt von ihm und seinen wenigen Freunden, die Margarita, als sie klein war, zu jeder Gelegenheit Bücher gebracht hatten. Sie alle wussten, wie stolz er darauf war, dass sie früh begonnen hatte mit dem Lesen. Bitterernst entzifferte sie Wort für Wort. Margarita, die kleine Erwachsene, hatte er sie immer genannt, wenn sie mit wichtigem Blick ganze Sätze las, weit bevor andere Kinder in ihrem Umfeld ihren Namen schreiben konnten. Er musste lächeln, wenn er daran dachte. Tage, an denen er sie nicht beschäftigen konnte, wenn nichts Interessantes passierte, hatte Margarita kaum ertragen. Einmal hatte er sie mit seinem Schlüsselbund und seinem Portemonnaie in der Hand, die kleinen Gummistiefel schon an den Füßen, im Flur gefunden. Sie hatte gesagt, sie würde sich einen Apfelsaft kaufen gehen, sie hätten keinen mehr. Den Supermarkt würde sie schon finden. Er hatte geantwortet, es sei aber Schabbat. Das leuchtete ihr ein.

Manchmal nahm er eines seiner liebsten Vorlesebücher heraus, mal die Geschichte von Findus und Pettersson und dem Feuerwerk, die ihr so gefallen hatte, mal das über den einsamen Bären auf dem Spielplatz, mit der didaktischen Botschaft, niemanden auszugrenzen. Die brauchte Margarita nie, lange war sie eher selbst ausgegrenzt worden, schulterte das schüchtern und las weiter, bis sie, nach dem Wechsel von der Grundschule um die Ecke auf das Jüdische Gymnasium, eine kleine Gruppe enger Freundinnen fand, die sie selten mit nach Hause brachte. Er wusste, dass es das Alter war, in dem man sich für alles schämte, aber trotzdem, manchmal wünschte er sich, sie würde sie öfter einladen. Er könnte ihnen Pizza zum selber Belegen hinstellen und sie vor den Fernseher setzen, sie kichern hören, er wäre Margarita peinlich, aber das wäre in Ordnung, weil sie trotzdem glücklich war.

Es beruhigte ihn, dass sie ihn so furchtbar vermisste. Die Wochen, die sie in Chicago war, verbrachte er in einem Zwiespalt, ob er sie beim Wort nehmen und ihr den nächsten Flug heimwärts buchen oder ob er sich selbst sagen sollte: Sie meint es nicht so, es geht vorbei.

In diesem Sommer war Berlin kalt, ein Juli voller diesiger Tage. Auf dem Weg zur Synagoge dachte er an die Hitze von Jerusalem, an die vielen Schuhe, deren Sohlen er dort durchgelaufen hatte. Die Strecke kam ihm kurz vor, wenn er an Israel dachte. Diese Woche war er für das Abendgebet eingeteilt, und an Tagen, an denen er Zeit hatte, ging er gern zu Fuß. Früher hatte er in den Minuten, bevor er aufbrach, alles auf die Warmhalteplatte gestellt, die den ganzen Schabbat lief, den Wasserkocher angemacht, hatte manchmal sogar Challah gebacken, damit alles bereitstand, wenn er nach Hause kam. Seit einigen Jahren konnte Margarita allein bleiben, während er singen ging. Nach seiner Rückkehr sang er noch einmal, diesmal für sie beide. Sobald sie es konnte, zündete Margarita mit einem Streichholz die Kerzen und sagte das Gebet. Nach dem Essen spielten sie Monopoly. Er verlor, weil er sein Geld zu schnell ausgab und alles pfänden musste, während Margarita still Miete von ihm einnahm. Sie war meist so müde von der Schulwoche, dass sie abends beinahe über dem Spielbrett einschlief.

An den langen Sommertagen, an denen sie nicht da war, kehrte eine ungewohnte, aber angenehme Ruhe ein. Abseits der Ferien gab er einmal wöchentlich Bar-Mizwa-Unterricht, der in der Regel vor allem daraus bestand, die jungen Menschen auf das Lesen ihres Tora-Abschnitts und der Haftara vorzubereiten. Die angehenden Rabbiner und Rabbinerinnen, Kantoren und Kantorinnen, die er zusätzlich unterrichtete, waren jetzt alle auf Jeschiwot verteilt in Israel, um die Tora zu studieren. Also konnte er ausschlafen und weniger einkaufen, morgens die Zeitung lesen und lange Spaziergänge durch Berlin machen. Gleichzeitig waren diese Tage herb, wie eine Vorbereitung darauf, dass Margarita in ein paar Jahren überhaupt nicht mehr da wäre, dass sie, wenn es nach ihr ging, irgendwo in Süddeutschland Medizin studieren und ihn nur in den Semesterferien besuchen würde. Ihre Freundin Anna hatte sie im Frühling zu ihren Großeltern am Bodensee mitgenommen, und nun schien sie zu denken, es gäbe Orte, die im Winter nicht traurig waren. Das Tuch würde dann das ganze Jahr auf dem Bett liegen.

Auch er hatte Jeschiwa-Aufenthalte hinter sich. Der letzte war zwei Jahre vor Margaritas Geburt gewesen. Als Gemeindekantor sang er zudem bei Hochzeiten, Beerdigungen und Gedenktagen, doch die Menschen starben meistens im Winter, und auch die Gedenktage lagen im Dunkeln. Dazu musste man sich in jedem Berliner Straßenzug das Böse vorstellen können. Im Frühling und Sommer wurde niemandem aufgebürdet, das schöne Wetter an Traurigkeit zu verschwenden. Am 27. Mai wollte man lieber die ersten Bahnen im Prinzenbad ziehen, als Stolpersteine zu putzen. Und Hochzeiten hatte es in diesem Sommer keine gegeben. Nur Scheidungen, aber da wurde nicht gesungen.

Der von der Gemeinde beauftragte Sicherheitsmann, der jede Woche vor der Synagoge stand, neben den Polizisten, denen man seit Jom Kippur vor einigen Jahren nicht mehr traute, nickte ihm bereits von Weitem zu. Er gab seine Aktentasche im kleinen Sicherheitsraum ab. Darin befanden sich sein Organspendeausweis, sein Pass, eine Notfall-Kreditkarte, die er noch nie gebraucht hatte, sein Telefon und ein Foto von Margarita.

Es begann. Kerzenzünden, Jedid Nefesch, ein paar Psalmen. Während der Psalmen, die er leise, fast lautlos betete, gingen die Gespräche wieder los. Manchmal waren sie so wenige, dass kaum geflüstert wurde, sondern gelauscht, mitgebetet. Wenn es zu laut war, wenn das Kindergeschrei ihn doch ablenkte, dann hob er die Arme zu einer beschwichtigenden Geste. Aus irgendeinem Grund schienen ihn auch die Kinder zu respektieren, die durch die Reihen der Synagoge wackelten. Sie konnten es nicht sehen, denn er stand mit dem Rücken zu ihnen, doch er lächelte, wenn sie krakeelten. Es lenkte ihn zwar ab, aber es störte ihn nicht. Er mochte Kinder, und er wusste, dass es sie nicht ohne Lärm geben konnte.

Nach den Psalmen kam Lecha Dodi. Es gab sicherlich so viele Melodien wie Strophen des Lieds. Seine, die er am liebsten mochte, war schwungvoll und ein bisschen melancholisch. Sie klang am besten, wenn ein paar hohe Stimmen im Kanon mitmachten, wenn sie das lechah zogen, so lange sie konnten. »Auf, mein Freund, der Braut entgegen«, sangen sie, »auf, auf. Das Angesicht des Schabbats wollen wir empfangen. Auf, mein Freund, der Braut entgegen, die Königin des Schabbats wollen wir empfangen. Lechah Dodi, likrat kalah, pnei schabbat, nekabelah.«

Es gefiel ihm, dass der Schabbat zur Braut wurde, in deren Arme man floh, und dass das Lied erst durch Frauenstimmen besonders schön werden konnte.

Die Synagoge war voll für einen normalen Sommerabend. Durch das bunte Glas in den Fenstern fiel Sonnenlicht auf die Bima, und ein paar hellblaue Flecken tanzten auf den Seiten seines aufgeschlagenen Gebetbuches. Es roch nach Holzlack und klebrigen Kinderhänden.

Es waren viele Beter da, deren Stimmen er erkannte. In der letzten Strophe wurde er besonders laut, und sie fielen ein. Er fragte sich, ob man sie auf dem Bürgersteig hören konnte und was die Passanten sich dabei dachten.

*

Grandma schob einen Hackbraten in den Ofen. Sie war hässlich geworden, dachte Margarita, kaum Haare auf dem Kopf, nicht nur faltig, sondern fahl. Margarita war sich sicher, da war keine Liebe, sie liebte diese Frau nicht, sie mochte sie nicht, sie musste hier sein, weil sie fünfzehn war und sich nicht wehren konnte und man hoffte, sie wäre irgendwann dankbar »für die Zeit mit den Großeltern und für die Sprache«, wie Papa sagte. Heute würde sie Grandma zum Einkaufen begleiten müssen. Früher war sie gern mitgekommen. Jetzt fragte sie sich manchmal, ob sie mit Absicht alles hasste; ob die gemeinsamen Autofahrten zum Hyde Park Produce, wo es die besten Kirschen und Melonen gab, frischen Spinat und grünen Spargel aus Kalifornien, ihr in Wahrheit Spaß machten, ob sie es, wenn sie ehrlich mit sich wäre, vermissen würde. Im Moment wusste sie nicht, wie das ging, das Ehrlichsein. Sie hoffte, es würde sich irgendwann wieder leichter anfühlen.

Um Margarita die Zeit zu vertreiben, bezahlten die Großeltern ihr teure Ferienkurse an der High School der University of Chicago. Letzten Sommer hatte sie drei Wochen lang einen Kochkurs besucht, was äußerst praktisch gewesen war: Sie hatte dort immer so viel gegessen, dass sie beim Abendessen um 18 Uhr noch satt war. Meistens schlich sie dann später wieder in die Küche, um sich ein Brot zu schmieren oder ein Müsli zu holen. Natürlich hörte die Großmutter sie jedes Mal, sobald sie die Treppe hinunterging, und lief ihr, so schnell es das operierte Knie zuließ, hinterher. »Sweetheart, du hättest etwas sagen sollen! Ich hätte dir doch etwas Feines hingestellt! Ich kann dir Hühnchen aufwärmen oder etwas vom Kugel, den hab ich doch nur für dich gemacht.« Kugel, das waren Nudeln, in Milch im Ofen gekocht wie ein süßer Auflauf. Angeblich etwas ganz Jüdisches. Was genau daran so jüdisch sein sollte, begriff Margarita nicht. Ihr Vater hatte es auch nicht gewusst.

Dieses Jahr gab es den Kochkurs zwar wieder, aber ihre Großeltern fanden, dass einmal gereicht hatte, und so lernte Margarita mit den Töchtern reicher Eltern aus dem Universitätsquartier, Gedichte zu schreiben oder es zumindest zu versuchen. Sie hatte bis jetzt nur Kurzgeschichten hinbekommen und anschließend Zeilenumbrüche eingefügt, damit sie aussahen wie wahnsinnig lange Gedichte. Die anderen Mädchen fanden es »so interesting«, dass ihr Englisch fehlerhaft war.

Von der Haustür der Großeltern in der Blackstone Avenue bis zum Schulgelände waren es etwa zehn Minuten zu Fuß. Meistens aber ging sie einen Umweg über die 57th Street, in der sich eine Bäckerei befand, wo man eiskalte, köstliche Limonade kaufen konnte und Schokoladencroissants, groß wie ein halbes Baguette. Ihr Vater gab Margarita meist genügend Geld mit, dass sie sich jeden Tag eine Limonade oder ein Croissant leisten konnte. Und Bücher. Wenn sie es gut einteilte, sogar viele, bei 57th Street Books, wo es Neuerscheinungen gab, die aber teuer waren, oder bei Powell’s, einem Antiquariat am Ende der Straße, gleich beim gruseligen Bahnhof, der Hyde Park mit dem Rest der Stadt verknüpfte. Dort roch es nach einer Mischung aus fauligem Keller, frischer Wäsche und alten Bänden voll rauer Seiten, so rau, dass man das Gefühl hatte, sie würden sich in Staub verwandeln, wenn man sie zwischen den Fingerspitzen rieb. Hier war sie häufig mit ihrem Vater hingegangen, als sie noch nicht alleine fliegen durfte.

Sobald sie in die Blackstone Avenue einbog, verlangsamten sich ihre Schritte. Manchmal musste sie sich am Geländer der kleinen Treppe vor der Haustür hochziehen wie ihre Großmutter, eine Minute auf die Klingel starren, ehe sie es schaffte, ihre Rufe zu ertragen: »I’m coming, I’m coming«, Sekunden, nachdem die Klingel schrillte, »just a minute now, I’m coming!«

Wenn es gewitterte, nach tagelanger drückender Hitze, lief sie zuerst in den Garten und ließ sich begießen, bis sie bis auf die Unterhose nass war, manchmal bis der Regen endete, der Geruch des Rasens und des breiten Pflasters auf den Bürgersteigen unersetzlich: nach Erde, frisch gewaschenem Stein, sorgsam gepflegten Vorgärten voller duftender Blumen. Ihr Vater hatte einmal gesagt: Es war der Geruch von Reichtum.

Doch heute war Sonntag, Margarita konnte nicht alleine herumlaufen wie nach der Summer School, und die Großmutter wollte am Nachmittag einkaufen gehen. In Chicago ging das nämlich, sonntags einkaufen. Samstags gingen die Großeltern meistens in die Synagoge, und Margarita musste mitkommen und sich in die Wangen kneifen lassen. Also wurde sonntags eingekauft, und Margarita half der Großmutter, Tüten zu tragen. Seit diesem Jahr musste sie ihr auch aus dem Auto heraushelfen.

Die Abläufe im Haus waren strikt: Es gab Frühstück um neun, eine Stunde später als unter der Woche. Dann las der Großvater stundenlang Zeitung, und die Großmutter bereitete das Abendessen vor. Währenddessen lag Margarita bäuchlings auf dem Bett und starrte auf ihr Handy, las ein Buch oder masturbierte, häufig der Reihe nach im 30-Minuten-Takt. Um halb zwei gab es Mittagessen. Nach dem Mittagessen wurde eingekauft: Erst ging es zum Hyde Park Produce, und dann zu Treasure Island. Alles, was sie besorgten, wurde in den folgenden Tagen verkocht: nicht nur verarbeitet, sondern zu weich gekocht. Die Großmutter schaffte es, die Pfannkuchen außen verbrennen zu lassen, und innen waren sie noch flüssig. Die Lasagneblätter fielen schon auseinander, bevor sie überhaupt in den Ofen kamen. Margaritas Prosagedicht über zu weiche Lasagne hatte im Kurs alle zum Lachen gebracht. Sie hatte sich vor allem für ihren deutschen Akzent geschämt. Dann, auf dem Fußweg nach Hause, hatte sie sich dafür geschämt, dass sie sich kaum für ihre Gemeinheit schämte.

Nun lag sie auf dem Bett und wartete darauf, dass es Mittagessen gab, damit eine weitere Mahlzeit vergehen konnte und ein weiterer Tag ein bisschen näher vor seinem Ende stand. Sie starrte auf eine leere Seite im Notizbuch, dann auf das schwarze Handydisplay, dann wieder auf die Seite, immer hin und her. Irgendwann schrieb sie Anna, ob sie noch wach war. Ihre beste Freundin konnte den ganzen Sommer mit Feiern verbringen, damit, sich zu betrinken, am Ufer des Landwehrkanals und im Weinbergspark. Ihr Vater sagte, es sei kalt in Berlin, aber Margarita stellte sich Anna trotzdem vor, wie sie mit nackten Beinen in hoch sitzenden Levi’s-Shorts rauchend auf dem Fahrrad durch die Nacht fuhr.

Anna war so hübsch, dass sie automatisch die beliebteste Person in ihrer Clique war. Sie waren sich im Bat-Mizwa-Kurs begegnet, in dem Anna die Einzige gewesen war, die niemanden kannte, die nicht das jüdische Gymnasium besuchte. Margarita war, auch in der Schule, immer die, die sich um die Neuen kümmerte. Um Anna hatte man sich allerdings nicht kümmern müssen. Sie hatte mühelos gelernt, wie man die Melodiepunkte deutete, und war schnell zur Favoritin der Lehrerin geworden, weil sie ihre Hausaufgaben immer machte.

Erst Monate später, auf einem ihrer langen Winterspaziergänge durch den Prenzlauer Berg, hatte Margarita verstanden, warum. Mit leiser Stimme erzählte Anna von ihrer Mutter, die nicht jüdisch war, und ihrem Vater, dessen Großeltern den Holocaust überlebt hatten. Sie erzählte davon, dass sie ihre Mutter überreden musste, sie übertreten zu lassen. Ihre Mutter hatte Angst, dass Anna sich zum Opfer machen lassen würde. Margarita hatte lachen müssen, als Anna das sagte, Anna, die nie zögerte, fremde Leute nach einem Feuerzeug zu fragen, Anna, schmerzhaft schön, mit ihren riesigen blauen Augen, den vollen Lippen und goldblonden Haaren. Wer so schön war, dem könnte niemand etwas antun wollen, dachte Margarita. Anna konnte sich aussuchen, mit wem sie knutschte. Auf der jüdischen Oberschule kannten sich alle schon ewig, es gab klare Fronten. Die Eltern sprachen sich ab. Anna hingegen durfte machen, was sie wollte, solange die Noten gut waren. In die Gebete am Samstag, die sie während der Vorbereitungszeit auf die Bat Mizwa besuchen mussten, kam sie allein, so wie Margarita. Das hatte sie verbunden. Alle anderen waren immer mit ihren Familien dort, aber Margaritas Vater sang woanders, und Annas Eltern hätte man, so sagte sie, nicht für Geld in die Synagoge bekommen.

Und so hatte Anna begonnen, Margarita samstags abzuholen, und sie liefen gemeinsam in die Oranienburger Straße, unterwegs über die Ereignisse der letzten zwei Tage redend, die seit dem Mittwoch, an dem sie Unterricht hatten, vergangen waren. Anna ging auch an Freitagabenden aus. Margarita musste zuhause sein. Der Schabbat war bei ihnen heilig, und sie akzeptierte es, aus Angst, dass ihr sonst die Samstagabend-Freiheit gestrichen würde, aber irgendwie auch, weil es für sie so stimmte.

Nach ihren Bat-Mizwa-Feiern hatten sie aufgehört, samstags in die Synagoge zu gehen, und saßen stattdessen quatschend auf dem Sofa oder kauften sich Falafel-Sandwiches und setzten sich damit in den Park. Oder sie halfen Annas Eltern beim Kochen. Im Gegensatz zu Margaritas Vater hatten die nämlich ständig Besuch, jedes Wochenende gingen sie in das schicke Delikatessengeschäft in der Rykestraße und kauften guten Wein, verschiedene Käsesorten, es gab Kürbissuppe und Lachs im Blätterteig im Winter, im Sommer Salat und Flammkuchen. Das ganze letzte Jahr hatte Margarita nach dem Abendessen, bei dem auch sie ein kleines Glas sprudelnden Sekt trinken durfte, bei Anna übernachtet. In den letzten Monaten hatten sie später noch Annas Freunde getroffen, im Park Bierball gespielt oder Partys in den Wohnungen fremder Eltern besucht. Kurz bevor Margarita in die USA fliegen musste, hatten auch ihre Freundinnen vom Jüdischen Gymnasium angefangen, sie zu begleiten. Sie waren schüchtern, und Margarita fand sie zu Beginn noch lästig. Sie fühlte sich seltsam erfahren, seitdem sie sich bei H&M Tangas kaufte und bei den Partys Tequila-Shots trank, aber sie hatte den Eindruck, sie schuldete es ihnen, sie mitzunehmen. Auch ein paar Jungs aus ihrer Klasse hatten so davon Wind bekommen, dass Margarita Leute außerhalb der eigenen Schule kannte. Ein paar von ihnen war sie einmal im Park begegnet, als sie mit Anna und Annas Freunden unterwegs gewesen war.

Gestern hatten sie in der Summer School die Aufgabe bekommen, sich ein Thema zu überlegen, an dem sie die ganze nächste Woche arbeiten sollten. Bis jetzt hatte sie sich nicht getraut, über ihr Leben in Berlin zu schreiben, aus Angst vor Heimweh und davor, nicht die richtigen Worte zu finden. Heute wollte sie es versuchen, doch in dem Moment, als sie das Notizbuch hervorgekramt hatte, brüllte die Großmutter »Rita! Lunch!« durchs Haus. Sie lief nach unten. Mittagessen gab es am runden Küchentisch, nicht an der langen Tafel im Esszimmer. Dort wurde nur Freitag-, Samstag- und Sonntagabend eingedeckt, und an Feiertagen. Am Küchentisch saßen sie näher beieinander, und so waren die Essgeräusche noch lauter.

Der Hackbraten, den Grandma vorher in den Ofen geschoben hatte, war für abends. Zum Mittagessen gab es Gazpacho aus der Flasche, weil es so heiß war und ihre Großmutter das schick fand. In der Gazpacho schwammen glibbrige Nudeln. »Wir haben das mal in Spanien gegessen, in diesem wunderbaren Hotel, remember, darling?«, schrie sie über den Tisch. Grandpa war schwerhörig. Margarita vermutete, dass er seine Hörgeräte absichtlich ausstellte. Jetzt nickte er freundlich und schlürfte seine Suppe weiter. »Und ich dachte«, brüllte Grandma, »das war so lecker, und wir haben uns totgeschwitzt, weißt du noch, diese Spaniards, die wissen wahrscheinlich immer noch nichts von der Existenz von Klimaanlagen.« An dieser Stelle lachte sie lauthals und etwas zu lang. Margarita wand sich vor Abscheu auf ihrem Stuhl. »Anyways, sweetheart, ich dachte, ich kaufe mal etwas Besonderes für unser Sonntagsessen. Aber weißt du, ich sehe ja immer, wie du dir diese kleinen Sandwiches machst, und dann dachte ich, du brauchst sicher noch ein paar Kohlenhydrate, also hab ich noch Volkornnudeln reingeworfen. Schmeckt es dir, apple of my eye?« Margarita wollte antworten, doch ihre Großmutter sprach bereits weiter. »Na ja, hun, wir gehen dann nach meinem Mittagsschlaf einkaufen.«

Hun war Grandpa. Rita war Sweetheart. We waren sie und Grandma. Die Großmutter lächelte sie an. An ihren Zähnen klebten Lippenstift und Gazpacho. Margarita hatte das Gefühl, vor Ekel und Einsamkeit ginge ein bodenloses Loch in ihr auf.

»Sure«, sagte sie, »ich mach mich während deinem Mittagsschlaf bereit.« Sie stand auf und ging nach oben, ohne ihre Schüssel in die Spülmaschine zu räumen. Die Tränen kamen, sobald sie ihre Tür geschlossen hatte. Sie weinte, bis ihre Großmutter nach ihr rief. Auf dem Weg nach unten starrte sie wütend das Kindheitsfoto ihrer Mutter, das im Flur hing, an und dachte: Du hast mir das eingebrockt. Du, und niemand anders.

*

Auf Lecha Dodi folgten erneut ein paar Psalmen, von denen er immer nur die ersten Worte sang, um der Gemeinde zu signalisieren, wo er sich befand. Dann war es still in der Synagoge. Es erheben Flüsse, betete er, Ewiger, es erheben Flüsse ihre Stimme, erheben Flüsse ihr Getöse. Mehr als die Stimmen großer Gewässer, mächtiger als die Meeresbrandung ist der Ewige mächtig in der Höhe. Er liebte seinen Beruf nicht nur, weil er anleiten konnte, das Heiligste in Worte fassen und jedem Einzelnen etwas mitgeben, sondern auch wegen der literarischen Fülle der Gebete. Etwas, was die Deutschen nie verstehen würden, egal wie oft sie sich durch die Synagogen des Landes führen ließen, die noch standen, die ihre Großeltern nicht abgebrannt hatten. Die Bedeutung, die es für ihn hatte, wenn er dreimal von den Strömen las, wie sie tosten, weil es so sein sollte, weil es so bestimmt war, dass sie schlugen und stürmten und Haschem sie übertrumpfte. Dass Haschem, der Große, größer sein musste als alles, kleiner sein als die Atome, aus denen das Wasser bestand, das rauschte, weil er alles war und in allem: in ihm, in den Betenden, in den Polizisten, die sie schützten, im Landwehrkanal und im grünen Jordan, im Lake Michigan.

Ausschließlich in der Literatur spürte er, manchmal, eine Nähe zum Gebet, die ihn verstummen ließ. Als würden die Sätze ihn ausfüllen, aus der Welt nehmen.

Es ging weiter mit dem Kaddisch der Trauernden, das er nicht mitsprach, da er nicht mehr trauerte. Seine Eltern waren vor acht Jahren kurz nacheinander gestorben, er und seine Schwester hatten ihre Wohnung auf der Allenby geerbt, die sie sofort verkauften, weil der Immobilienmarkt in Tel Aviv boomte. Das Geld hatte er beiseitegelegt, damit Margarita einmal studieren könnte. Hierhin drifteten seine Gedanken: zu dem Geruch der Wohnung, als sein Vater inkontinent geworden war. Ein Echo der Trauer der Ekel vor den eigenen Eltern, den er beinah vergessen hatte. Ein Echo auch der 93. Psalm: Verzweifelt, laut hatte er ihn gesprochen, immer wieder, nachdem beide gestorben waren. Das Kaddisch konnte man nicht allein sprechen, und so griff er zum Psalm, der ihm am nächsten kam.

Das war die einzige Zeit gewesen, in der er sich in der Synagoge nicht ganz im Griff hatte. Seine Stimme war beim Kaddisch gebrochen, und eine der jungen Frauen, die immer da war und Veranstaltungen organisierte, hatte ihn abgefangen und ihn gefragt, ob alles in Ordnung sei. Auf seine Antwort, dass sein Vater gestorben war, hatte sie ihm angeboten, mal spazieren zu gehen. Er hatte sich über das Angebot gefreut und war monatelang kurz davor gewesen, darauf zurückzukommen. Immer wieder hatte er sich selbst daran gehindert, weil er die Frau nicht langweilen wollte oder unprofessionell wirken. Margarita hatte ihn getröstet, wie immer. Als seine Schwester ihn anrief, um ihm zu sagen, dass auch die Mutter gestorben war, waren dicke Tränen auf das grüne Telefon getropft. Er hatte nicht gemerkt, dass es seine waren, bis Margarita mit einer Rolle Toilettenpapier auf seinen Schoß gekrochen war. Er hatte für die Bestattungen die Babysitterin für jeweils 48 Stunden kommen lassen und war nach Israel geflogen, hatte Margarita nicht mitnehmen wollen, er fand, sie sei zu klein für Beerdigungen. Die Zeit hatte gereicht, um die Begräbnisse zu besuchen, bürokratische Fragen zu klären und Bücher für Margarita zu kaufen.

Die Tefillin hatte er im Flugzeug anlegen müssen. Er hatte Israel nie vermisst, aber auf dieser Reise packte ihn das Heimweh und drehte ihn im Kreis, bis er sich nachts im Hotel auf dem Rothschild Boulevard die Seele aus dem Leib kotzte. Danach flüsterte er, die Wange auf dem kühlen Boden des Bads, Psalm 93. Immer wieder, sagte er sich, würden die Flüsse ihr Getöse erheben und Gott würde sie übertrumpfen, so viele Söhne hatten ihre Mutter verloren, so laut war das Getöse doch schon, und der Große konnte lauter sein.

Er hörte das Getöse, während die Trauernden das Kaddisch sagten. Danach erst kam der richtige Gottesdienst, das Abendgebet für Schabbat, alles andere war Vorbereitung.

Während der Amida konzentrierte er sich darauf, bei der Sprache zu bleiben, bei der Sprache und beim stillen Gebet. Seine Beziehung zu den Worten schien sich umzukehren. War es sonst er, der das Gebet der Gemeinde bestimmte, bestimmten nun die Worte auf Papier das seine: Die starken Verben nahmen ihn übers Knie und beugten ihn, die schwachen schauten zu. Die Leute wünschten sich und ihm einen friedlichen Schabbat. Manchmal schaute er in ihre Gesichter und sah eine Angst, die er aus der Zeit im Militär kannte und aus den Blicken seiner Eltern, wenn die Sirenen heulten.

*

Das Wochenende war vorbeigegangen, obwohl Margarita irgendwann daran gezweifelt hatte. Nach ihrem Mittagsschlaf hatte die Großmutter die Draußenhose angezogen und Margarita ihre Tasche in die Hand gedrückt. Dann liefen sie langsam durch die Gänge des Supermarkts. Sie hatte Grandma geholfen, die Einkäufe zu tragen, hatte geholfen, sie einzuräumen, hatte mit ihr Kuchen gebacken, den man als Nachtisch zum Hackbraten essen konnte, ohne Butter oder Milch, hatte die Schüssel auslecken dürfen und es lecker gefunden, aber nichts gesagt, hatte nur wenig vom trockenen Fleisch und den verkochten grünen Bohnen herunterbekommen, aber die Freude über den Schokoladenkuchen mit ihrem Großvater geteilt. Seine Augen funkelten sie über den Tisch hinweg an, als er erst ihr, dann sich ein zweites Stück auf den Teller legte.

Margarita erinnerte sich gut an die Zeit, als der Großvater mit ihr Zehen nachgezählt hatte oder einen ganzen Sommer lang hebräische Buchstaben zeichnete, immer wieder ihre Hand über das Papier führte. Sie hatte gern auf seinem Schoß gesessen, als Siebenjährige, und die Kringel gemalt. Damals hatte sie auch ihre Großmutter noch verehrt, die mit ihr zu Bloomingdale’s ging, um ihr teure Kleider zu kaufen und Grilled-Cheese-Sandwiches und Schokoladen-Minze-Eis zu essen. Sie hatte sich dagegen gewehrt, an jeder Ampel ihre Hand halten zu müssen, und sich davor geekelt, ihr einen Kuss auf den Mund zu geben, um sich zu bedanken. Aber die tiefe Abscheu, die sie nun verspürte, die kannte sie nicht.

Einmal war sie über Pessach da gewesen, und die Großeltern hatten sie mit zu Freunden genommen, wo sie am Tisch eingeschlafen war, wegen des Jetlags und des riesigen Hungers, den man während der Erzählung vom Auszug aus Ägypten bekam. Man hatte sie in das Gästebett gelegt, bis ihr Großvater sie ins Auto trug. Sie hatte sich tragen lassen, wie sie es sonst nur bei ihrem Vater geduldet hätte. Wie seltsam, dass das derselbe Mensch gewesen sein sollte wie der, der nun jeden Abend beim Fernsehen einnickte, bis ihm die Spucke aufs Hemd lief. War ihm das damals schon passiert? Manchmal versuchte sie, ihre Großeltern freundlicher zu betrachten, doch es gelang ihr nicht.

*

Der Rückweg ging schneller als der Hinweg. Sein Telefon klingelte: Margaritas Mutter. Er antwortete nicht, denn es war Schabbat, und an Schabbat nutzte er das Telefon nur in Notfällen. Also wenn seine Tochter ihn anrief.

*

»Rita, dear, come and sit with me«, rief die Großmutter aus ihrem Schlafzimmer. Margarita ging hinüber und setzte sich auf die Bank am Ende des Bettes, das immer perfekt gemacht war. Grandma lächelte sie an. Sie lächelte zurück. Es fiel ihr heute nicht schwer, denn Anna hatte morgens erzählt, dass Nico nach ihr gefragt hatte. Bis sie ihre Großmutter sagen hörte: »Ich werde nun das Treffen mit deiner Mutter organisieren.«

Margaritas Herz sank. »Ich dachte, sie will mich nicht sehen.«

»Aber ich will, dass sie dich sieht. Wir sind so stolz auf diese junge Frau, zu der du wirst. Wir werden ja wohl etwas mit dir angeben dürfen!« Den letzten Satz schien sie unfassbar lustig zu finden und brach in ihr Schrei-Lachen aus.

Margarita fragte sich, ob es Sarkasmus war, ob sogar ihre Großmutter die Möglichkeit, mit ihr zu prahlen, absurd fand, und versuchte, mitzulachen.

»Anyways, Bubbale, da du ja nur noch zwei Wochen hier bist, dachte ich, ich versuche nochmal, sie zu erreichen. Wir haben sie erst vor einem Monat gesehen, sie hat einen Vortrag an der Uni gehalten, kaum zu glauben, oder?«

»No way«, sagte Margarita, regungslos. Sie hatte das Gefühl, Durchfall zu bekommen. Ihr Mund wurde trocken, so wie vor den Abenden, an denen sie wusste, dass Nico auch dabei sein würde, an denen sie sich ausmalte, wie sie später bei ihm im Bett liegen würden, sein Kopf in ihrem Schoß. Sie musste ein paarmal blinzeln, um sich zurück in das Schlafzimmer der Großeltern zu holen. Durch die Holzblenden fiel Sonnenlicht, in dem man den herumwirbelnden Staub sehen konnte.

»Rita?«, fragte ihre Großmutter. »Hast du zugehört?«

Margarita starrte sie an. »Sorry«, sagte sie, »ich bin weggedriftet.«

»Ich habe gesagt, ich rufe jetzt mal deine Mutter an und arrangiere etwas. Dein Grandpa und ich haben den Eindruck, es könnte dein letzter Sommer hier sein. Du scheinst dich nicht wirklich wohlzufühlen.« Das laute Lachen kam zurück.

Margarita sank das Herz noch tiefer. »Nein, Grandma, das wollte ich nicht – das ist nicht – das stimmt nicht«, sagte sie in ihrem strauchelnden Englisch. Es kam ihr vor, als wirbelte der Staub noch schneller im Licht herum.

Ihre Großmutter stand auf. »It’s fine, Rita«, sagte sie, »wir sind alte Leute. Wir haben schon Schlimmeres gesehen. We raised a daughter, remember?« Diesmal lachte sie nicht. »Now, go to your room and do whatever you do in there. Ich rufe sie jetzt an.«

Zurück in ihrem Zimmer hörte Margarita, wie ihre Großmutter die Tür zum Flur schloss. Hatte ihre Mutter sich früher auch so gefühlt, wenn sie sich hier versteckt hatte? Die Tür der Großmutter blieb lange geschlossen. Irgendwann hörte ihr Herz auf, so wahnsinnig schnell zu schlagen, und sie klappte das Buch auf, das sie gerade las.

Sie flohen voreinander, wie es nur ging, ihre Mutter und sie.

»Rita«, rief die Großmutter kurz darauf, »dein Vater möchte dich sprechen.« Ihre Stimme klang fröhlich. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

»Mein Vater?«, fragte Margarita, als hätte sie nicht genau verstanden, und setzte sich erneut neben sie. Ihre Großmutter nickte und lächelte sie an.

»Margarita«, sagte ihr Vater auf Hebräisch, »wie geht es dir? Besser als gestern?«

Natürlich hatte sie am Abend davor wieder am Telefon geweint. Sobald es wieder hell war, wollte sie die Nächte gern vergessen. Sie redete sich ein, dass es so war, das Erwachsenwerden: Man übte es tagsüber, nachts wurde man zum Kind. Noch immer schlief sie auf dem Sofa ein, wenn es im Bett nicht klappen sollte, während ihr Vater ihr leise vorsang. Noch immer rief sie ihn nachts an, wenn sie traurig war. Sie antwortete nicht auf seine Frage.

»Motek«, sagte er, »wir haben einen Vorschlag für dich.«

»Wer ist wir.« Sie wollte es nicht klingen lassen wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung: Ich merke, dass ihr gegen mich spielt.

»Deine Mutter, deine Großmutter und ich.«

Ihre Mutter spielte das Spiel also auch mit. Ihr Vater machte lange Pausen zwischen den Sätzen. Immer schon hatte seine Langsamkeit sie genervt, aber jetzt machte sie sie rasend. Ihre Großmutter saß neben ihr und schaute sie mit einem verrückten Grinsen an, als würden ihr gerade die besten Neuigkeiten ihres Lebens mitgeteilt. Sie wandte sich von ihr ab.

Ihr Vater begann wieder zu reden. »Also, Margarita«, sagte er, »du weißt, wie selten ich mit deiner Mutter spreche. Sie hat mich gestern angerufen und mich um einen Gefallen gebeten. Ich finde, das ist eine gute Idee. Und ich denke, dass es wichtig wäre, dass du sie besser kennenlernst. Für eure Beziehung zueinander.«

»Dein Monolog bringt gar nichts, wenn du mir nicht sagst, worum es geht.«

»Ich komme schon dazu, Motek. Also, deine Mutter hat mich angerufen –«

»Sie hätte auch mich anrufen können, wenn es schon um mich geht.«

»Margarita, lass mich ausreden.«

Sie war bereits jetzt so wütend, dass sie kaum wusste, wohin mit sich.

»Deine Mutter hat gefragt, ob du nicht zu ihr nach Jerusalem kommen möchtest.«

Bevor sie überhaupt nachdenken konnte, ob sie das vielleicht mochte, fing sie schon an, Gegenargumente zu formulieren. »Ich wusste nicht mal, dass sie da wohnt. Und warum sollte ich plötzlich zu ihr fliegen wollen, wenn ich nicht mal weiß, wo sie wohnt. Wenn ich nicht mal weiß, auf welchem Kontinent sich meine Mutter nicht um mich kümmern kann, warum sollte ich dann dahin fliegen? Warum?«

Die Großmutter legte ihr eine Hand aufs Knie, die sie wegschlug, und sagte: »Rita, dear, warum gibst du ihm nicht wenigstens eine Chance?«, während ihr Vater am Telefon seufzte.

»Rita, Rita, Rita«, äffte Margarita sie nach. »Du verstehst nicht einmal, was ich sage.«

Ihre Großmutter schaute sie verletzt an. Es stimmte, dass sie kein Hebräisch konnte, aber vermutlich, dachte Margarita, hatte sie das jetzt trotzdem verstanden, zog sich am Fenstersims hoch und verließ den Raum. Ihr Vater versuchte, sie milde zu stimmen, doch nichts half: Sie wollte von hier, diesem muffigen Haus, das sie bis vor wenigen Sekunden noch so verabscheut hatte, nicht weg. Sie hatte sich damit abgefunden, alles zu hassen, und sie wollte ihre Sommerpläne nicht mehr ändern müssen. Besonders nicht für eine Frau, die sie geboren hatte und kurz darauf weggelaufen war.

»Wie stellt sie sich das überhaupt vor?«, sagte sie. »Was soll ich denn da überhaupt machen?«

»Willst du ehrliche Antworten oder willst du mich anschreien?«, fragte ihr Vater ruhig.

Sie schwieg und merkte, dass ihre Unterlippe sich wie in einem schlechten Cartoon über die Oberlippe schob, und sie ärgerte sich über sich selbst, über das Kleinkind, das sie war. Dann hörte sie zu.

»Also. Deine Mutter hat ein Fellowship an der Hebrew University bekommen. Sie dachte ursprünglich, es würde erst im Oktober beginnen, aber nun kann sie jetzt schon ihr Büro beziehen. Auf jeden Fall hat sie bis Herbst noch viel Freizeit und hat vorgeschlagen, dass du sie besuchst. Du hättest ein eigenes Zimmer. Und du könntest Hebräisch üben.«

»Ich kann Hebräisch.«

»Du weißt, was ich meine. Bitte, Margarita, denk darüber nach. Du warst noch nie dort. Und ich weiß, es ist nicht einfach mit ihr, aber sie sagt, sie würde sich sehr freuen. Sie sagt, ihr könntet gemeinsam ans Tote Meer fahren.«

Margarita schnaubte. Sie versuchte sich auszumalen, wie sie am Flughafen ankäme und ihre Mutter winkend bereitstünde. Nicht mal ihr Gesicht konnte sie sich vorstellen, so lange hatten sie sich nicht mehr gesehen. Hatte sie Falten? Sie musste Falten haben. Wie alt war sie eigentlich? »Wie alt ist sie eigentlich?«, fragte Margarita, weil ihr nichts anderes einfiel.

»Achtundvierzig«, antwortete ihr Vater.

»Ein bisschen alt, um noch um die ganze Welt zu tingeln, denkst du nicht?«

Das brachte ihn nun doch dazu, wütend zu werden. »Margarita, so nicht. Deine Mutter hat ihre Gründe. Ich habe nie so über sie geredet, und du sollst es auch nicht tun.«

»Dann hätte sie sich um mich kümmern sollen«, schluchzte Margarita ins Telefon. »Vergiss es. Ich fahre da nicht hin. Ich bin in drei Wochen zurück in Berlin, und du musst mich nicht vom Flughafen abholen. Ich nehme den Bus.«

»Motek –«, sagte ihr Vater noch, bevor sie auflegte.

Ihre Großmutter lehnte in der Tür und fasste sich ans Herz. Margarita stand auf und ging auf sie zu. Sie war so viel größer als ihre Großmutter, dass sie ihren Scheitel sehen konnte.

»Sweetheart«, sagte Grandma, »es ist schon gut, kein Grund, sich so aufzuregen!«

»You have no idea«, sagte Margarita und drückte sich an ihr vorbei, um zu ihrem Zimmer zu gelangen. Sie wollte es trocken klingen lassen, abgebrüht und kalt, doch sie hörte nur ihren deutschen Akzent. Sie schlug die Tür zu ihrem Zimmer so fest zu, dass sie wieder aufsprang. Nichts wollte klappen.

*

Er versuchte es mit Beten, aber er fühlte sich dumm dabei. Als könne man alles wegbeten, dachte er, wie ein Esel ohne Gefühle. Und doch legte er die Tefillin an und betete, sie möge sich beruhigen, vielleicht sogar der Reise zustimmen. Betete, sie würde es ihm nicht in ein paar Jahren zum Vorwurf machen, ob sie nun fuhr oder nicht. Betete, sie möge die richtige Entscheidung treffen. Sogar das Getöse des 93. Psalms, den er jedes Mal zusätzlich sprach, kam nicht an gegen das Schweigen seiner Tochter. Noch nie hatte sie so lang nicht mit ihm geredet. Drei Tage waren es nun. Ihre Großmutter rief ihn an und erzählte ihm, was Margarita tat, aber es klang, als würde sie von einem Zootier sprechen, das man nur dadurch erreichen konnte, dass man an die Scheibe klopfte, und nicht von seiner Tochter. Seine Tochter könnte gerade schon im Flugzeug nach Berlin sitzen, und ihre Großmutter würde es nicht merken. Es sähe Margarita ähnlich, einfach eine Hülle von sich in Amerika zu lassen, die alle halbe Stunde die Klospülung betätigte, und sich selbst irgendwie in einen Flieger zu manövrieren.

*

Im Taxi fragte sie sich, ob das wirklich der letzte Sommer bei ihren Großeltern gewesen war. Sie versuchte, sich den Geruch des Backsteinhauses zu merken, aber sie konnte ihn schon jetzt nicht mehr abrufen. Sie schnüffelte am nass geweinten Ärmel, der noch nach dem Wäschekeller roch, als könnte das etwas ändern. Nie wieder, beschloss sie, würde sie den Pullover waschen, den sie gerade trug, weil die Klimaanlage im Auto so kalt war, dass ihr die Zähne klapperten. Das Weinen half nicht, mit dem Klappern aufzuhören. Sie wusste nicht, dass noch Tränen in ihr drin waren, dachte, die wären alle weggeweint, aber sie flossen immer weiter. Mittlerweile war es anstrengender, nicht zu weinen, als einfach weiterzuweinen. Es war ihr nicht mal peinlich, obwohl der Taxifahrer sie schon gefragt hatte, ob er umkehren sollte. Alle Vorkehrungen waren in Windeseile getroffen worden. Die sonst monatelangen Planungen der Flugreisen nach Amerika schienen plötzlich lächerlich. Jetzt ging es in drei Tagen, sie ans andere Ende der Welt zu schicken. In ihrem Koffer war noch Dreckwäsche zwischen den Büchern, die sie hineingestopft hatte, kein einziges hatte sie zurücklassen können. Margarita fragte sich, wie die Wäsche in Jerusalem riechen würde.

Sie hatte irgendwann zugestimmt, einfach, weil sie erschöpft gewesen war und ein kleines bisschen neugierig, wie es wäre, auch dort alleine herumzulaufen, wie die Straßen aussähen, die Häuser, und wie man sie anschauen würde, ob es eindeutig wäre, dass sie nicht dort hingehörte, oder ob sie eine von ihnen wäre, ein jüdisches Kind in einem jüdischen Land. Sie wusste nicht, wie sie sich Jerusalem vorstellen sollte. Sie kannte die Stadt aus Erzählungen ihrer Kindheit, in denen sie bedrohlich geklungen hatte und als entspränge sie eher einem Märchen als der Erinnerung ihres Vaters. Jetzt dachte sie, sie hätte lieber noch hundert weitere Jahre die Langeweile ertragen, als in diesem Taxi zu sitzen.

Und doch, als sie am Flughafen ankam, spürte sie kurz etwas, das sie an Vorfreude erinnerte. »Flying home?«, fragte sie der Mann an der Passkontrolle, als er den Stempel hineindrückte. »No«, sagte sie, und er erwiderte: »Leaving home?« Sie wusste nicht, warum sie nickte. Sie verstand die Tränen nicht, die dann wieder flossen, die noch immer flossen, als die Frau sie abholte, die sie zum Terminal begleiten würde und sie fragte, ob sie etwas essen wolle. Margarita zeigte das Sandwich, die kleine Tüte mit Chips, die große Salzgurke im Ziplocktütchen, die Blaubeeren in einem zweiten, das Stück Kugel im dritten. Die Frau legte ihr eine vorsichtige Hand auf die Schulter, als sie sich am Terminal auf einen Stuhl setzte. Sie schob die Hand nicht weg, sondern lehnte sich nur einen Zentimeter nach vorne, und die Frau ließ sie in der Luft schweben, minutenlang, während Margarita ihre Blaubeeren aß.

*

Seit Jahren schon brauchte er keinen Wecker mehr zu stellen, sein Körper wusste, welcher Wochentag war, welche Uhrzeit an welchem Wochentag, er wusste, auch wenn es stockduster war, wie spät es war, meist auf die Viertelstunde genau. Heute aber hatte er verschlafen, und es blieb keine Zeit für Dusche oder Frühstück. Überhaupt, die letzten Tage hatte er viel geschlafen. Er war erschöpft gewesen wie nach einer langen Wanderung in der Sonne, wie nach den Nächten, in denen Margarita Fieber hatte, so hoch, dass er kein Auge zumachte, während er die kalten Lappen austauschte. Es regnete in Strömen an diesem Morgen, doch es half nichts, er musste für ein Planungstreffen in den Gemeindesitz. Er zog seinen Regenmantel an, fand einen rostigen Klappschirm im Regal im Flur und nahm die Tram für zwei Stationen, trotzdem kam er durchnässt an. Lange hatte es nicht mehr so stark gewittert in Berlin.

Margarita schwieg noch immer, und das, was er zuvor für Einsamkeit gehalten hatte, wurde ihm nun klar, war zufriedene Zeit allein gewesen. Wahre Einsamkeit, in der die Stille drohte, ihn aufzufressen, von der ihm der Appetit verging und die ihn erschöpfte, auslaugte, sodass er Mittagsschlaf machte, mit heißem Kopf aufwachte, die Gebete sprach, ein wenig die Straße auf- und ablief und wieder schlafen ging, diese Art der Einsamkeit hatte ihn erst jetzt gefunden. Zuletzt hatte er sich in den Monaten in Hannover so gefühlt, nachdem Marsha gegangen war, vor seinem Umzug nach Berlin mit Margarita, die gerade laufen gelernt hatte und wahrscheinlich gerne mit wackligen Beinen die ganze Stadt unsicher gemacht hätte, anstatt mit ihrem deprimierten Vater, der noch immer kaum ein deutsches Wort sprechen konnte, in einer Dachwohnung zu sitzen, die nur Fenster in den Himmel hatte und so nicht einmal die Beobachtung dessen zuließ, was auf der Straße passierte, Müllautos und Lastenfahrräder versteckt vor ihren Kinderaugen.

Er fragte sich selten, ob er sich doch hätte bemühen sollen, jemanden zu finden, der neben ihm schlafen, der seine Hand halten könnte, wenn das passierte, was ohnehin irgendwann passieren würde: dass Margarita ging. Dass sie sich schloss wie eine der Muscheln, die sie an der Ostsee gefunden und mit frechem Blick in ihren Mund geschoben hatte, um ihn dann zu fragen, ob Gott nun böse werden würde, da die Muschel ja nicht koscher war, oder ob es in Ordnung wäre, wenn sie sie wieder ausspuckte.

Das Treffen zog sich, es wurden Kleinigkeiten besprochen, privater Kram, der ihn nicht interessierte, Politisches, weswegen er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, aber gleichzeitig war er froh um den Nachmittag, an dem er sich nicht beschäftigen musste. Einen ganzen Tag hatte er danach noch, den er totschlagen musste, an dem er nicht fernsehen konnte, nicht lesen, nicht schreiben. Es würde also auf den klebrigen Schlaf hinauslaufen, der ihn auch die vergangene Woche über ständig eingeholt hatte.

Als er aus dem Gemeindezentrum trat, während alle anderen im Restaurant nebenan Mittagessen gingen, goss es noch immer, aber diesmal war es ihm egal, den Rest des Tages würde ihn niemand sehen. Er lief durch das Unwetter, ließ den Schirm in der Manteltasche und den Mantel offen, nur den leichten Schal, den er wegen der Stimmbänder immer trug, behielt er an. Er hatte vermutet, der Regen wäre kalt, doch er war ungewohnt warm. Erst auf der Hälfte der Strecke begann er zu frieren. Er hoffte, er würde sich nicht erkälten.

Margarita würde gerade sicher nicht frieren, eingewickelt in eine Decke im Flugzeug, morgen in der Hitze Jerusalems, wo sie vielleicht mit ihrer Mutter, der sie hoffentlich auch kurz angebunden begegnete, im Café einen frischen Orangensaft trinken und ein Buch lesen würde. Es machte ihn wütend, dass sie Marsha womöglich anders behandelte als ihn, der ihr manchmal noch immer einen Finger unter die Nase hielt, wenn sie schlief, um sicherzugehen, dass sie ruhig atmete. Er hatte ihr gestern noch Geld überwiesen, damit sie sich auch in Israel Bücher kaufen konnte, in der Buchhandlung auf der Emek Refaim, in der es englische und ein paar deutsche Bände gab, am liebsten hätte er sie sofort angerufen, um ihr zu sagen, wo sie Lesenachschub bekam, doch es regnete zu stark, er wollte das Telefon nicht kaputt machen, und so trottete er weiter, bis auch seine Socken nass waren, wohl auch seine Unterhose, die Haut darunter fühlte sich klamm an.

Zuhause nahm er ein Bad, lag in der Wanne, bis ihm schlecht wurde vor Hunger, trank, wie ein Tier, kaltes Wasser aus dem Hahn, duschte heiß und zog sich danach seine dicksten Socken an. Warm wurde ihm trotzdem nicht, er wurde nur noch müder. Im Hof schrie eine Frau ihr Kind an. Ein kalter Sommer, dachte er, war schlimmer als dunkle Wintertage, in die man sich hineinlegen konnte, für die es Dinge gab wie Tee und Strudel. Für kalte Sommertage gab es nichts. Auf dem Herd stand Suppe, von der er aß, sich den Rachen verbrannte beim Schlucken, dann betete er und legte sich hin. Im Schlaf sprach Margarita mit ihm am Esstisch, schrie ihn an, warf Sachen, kurz überlegte er, sie zu schlagen, schreckte auf, schlief weiter, traumlos.

*

Als das Boarding begann, hatte sie aufgehört zu weinen, nur plagten sie mittlerweile fürchterliche Kopfschmerzen. Laurie, die Frau, die sie begleitete, hatte gesagt, sie dürfe ihr keine Medikamente geben, das sei verboten, aber sie hatte sie zur Flughafenapotheke gebracht, wo Margarita sich eine Packung Tampons für zehn Dollar und Ibuprofen kaufte. Laurie hatte mit ihrem Handgepäck vor der Apotheke gewartet. Aus der Ferne dachten die Leute vielleicht, sie wären Mutter und Tochter, aber wenn sie näherkamen, konnten sie das Schild auf Lauries Blazer erkennen und dass sie eine Uniform trug. Und dann würden alle denken, dass Margarita eigentlich etwas zu alt war, um noch Hilfe beim Boarding zu brauchen. An Bord selbst würde eine Stewardess für sie zuständig sein. Laurie brachte sie nur zu ihrem Sitz und verließ das Flugzeug dann wieder.

Es war ein Direktflug, dreizehn Stunden durch die Nacht, immerhin mit einem kleinen Bildschirm in der Rückenlehne vor ihr. Außerdem hatten die Großeltern ihr einen Platz mit mehr Beinfreiheit gebucht, was sich ihr Vater nie hätte leisten können. Margarita schob ihren Rucksack unter den Sitz und steckte sich die Kopfhörer in die Ohren. Sie wusste, es würde noch etwas dauern, bis es losging, also schloss sie die Augen, um nicht weiter zu weinen, und hörte Musik, erst Reggae, den sie von Nico kannte, allerdings schnell leid war, dann Bachs Cellokonzerte, die sie liebte. Es kam ihr schon jetzt vor, als wäre es Tage her, dass sie im roten Backsteinhaus rastlos zwischen Bett und Bad hin- und hergelaufen war. Sie hatte Durchfall bekommen, kurz vor der Taxifahrt, hatte es ihrer Großmutter sagen und Imodium nehmen müssen, beschämt waren das die letzten Worte gewesen, die sie vor ihrer Abreise gewechselt hatten. Sie hatte nur das hebräische Wort für Durchfall gekannt, schilschul, und das hatte alles noch viel schlimmer gemacht. Dabei hatte ihre Großmutter es schnell erkannt und sich über den Bauch gestrichen, als hätte sie das Gleiche gern bei Margarita getan, sich aber nicht getraut.

Irgendwann tippte eine Stewardess sie an und stellte sich auf Englisch vor, mit einem Akzent, den Margarita nur von ihrem Vater kannte. Da sie nicht sofort sagte, dass sie auch Hebräisch sprach, blieben sie dabei. Margarita saß am Fenster, wie immer, wenn sie flog, weil alle dachten, Kinder müssten am Fenster sitzen. Als ihr Vater noch nach Chicago mitgekommen war, hatte sie ihre kurzen Beine auf seinem Schoß abgelegt und geschlafen, bis er sie bei guter Aussicht, einem Sonnenaufgang zum Beispiel oder wenn sie über Grönland schwebten, weckte. Die Stewardess erklärte ihr, dass sich der Abflug etwas verzögerte. Margarita nickte. Wie würde sie ihrer Mutter Bescheid sagen? »No problem«, antwortete sie, denn die Stewardess würde ihr ja auch nicht helfen können.

Neben ihr saß eine Frau mit einem riesigen silbernen Davidstern um den Hals, die nach schwerem Parfum roch. Sie lachte Margarita an und sagte: »Wir sind noch nicht mal in Israel, und schon hat alles Verspätung.«

Sie wusste nicht, dass in Israel immer alles zu spät war.

Die Luft in der Kabine roch schal, desinfiziert, irgendwie flach. Jemand rammte ihr die Knie in den Rücken. Sie wollte sich nicht umdrehen, um sich nicht noch mehr zu ärgern oder gar zu signalisieren, sie sei auf Streit aus. Also schloss sie wieder die Augen, bis das Flugzeug sich in Bewegung setzte. Es dämmerte in Chicago, und aus ihrem Fenster konnte sie die Skyline sehen: das Hancock Center, den Willis Tower. Sie blinkten, als würden sie nach ihr rufen, als würden sie morsen: All das und mehr lässt du dir entgehen. Ein letztes Mal hatte sie den Geruch der frisch gereinigten Straßen von Downtown in der Nase, von teuren Geschäften und sauberen Menschen, ein letztes Mal hörte sie die amerikanischen Sirenen. Dann hob der Flieger ab, und die Knie in ihrem Rücken wurden so spitz, dass sie nun doch einen Blick zurückwarf. Sie konnte sein Gesicht nicht deutlich erkennen, aber älter als zwanzig konnte er nicht sein. Über seinen Augen war eine Schlafmaske, und um seinen Hals trug er ein Reisekissen. Auf seinen Ohren saßen große Kopfhörer. Er hatte dunkelbraune Locken, dünne, schiefe Lippen und ein Kinn, das nicht aussah, als könnte ein Bart darauf wachsen. Der Junge hatte die Hände zu Fäusten geballt. Er saß weit nach hinten gelehnt. Margarita beschloss, ihn nicht zu stören, und schob sich die Decke, die auf ihrem Sitz gelegen hatte, in den Rücken. Unter ihnen das Gitter der Straßen, der dunkelblaue See, der einem Meer glich. Sie presste die Stirn an das Fenster.