Gezählte Tage - Martin Häusler - E-Book

Gezählte Tage E-Book

Martin Häusler

0,0

Beschreibung

John Lennons Weg zum Superstar ist gespickt mit Andeutungen auf einen faustischen Pakt. Tragische Ereignisse, mehrdeutige Songtexte, vergessene Interviews sowie Wegbegleiter, die von Lennons ständigen Todesahnungen berichten, nähren die Legende, dass Lennon für den Erfolg der Band seine Seele verkauft hat. Was, wenn der gigantische Erfolg der Beatles tatsächlich einem faustischen Deal mit dunklen Dimensionen zu verdanken ist? Was, wenn der Tag im Dezember 1980, an dem Lennon erschossen wurde, der Zahltag gewesen ist? Was, wenn die Wandlung zum Friedensapostel der Versuch war, seine knapp bemessene Lebenszeit mit Sinn zu füllen? Was, wenn die Hinwendung zu Gott am Ende seines Lebens ein Flehen war, ihn aus der teuflischen Verstrickung zu befreien? Der bekennende Beatlesfan Martin Häusler wagt in diesem Roman ein Gedankenexperiment und erzählt Lennons turbulente Jahre zwischen 1960 und 1980 unter der Annahme, dass es den diabolischen Deal tatsächlich gegeben hat. Seine äußerst unterhaltsame Geschichte verwebt er mit einer zweiten Erzählebene, in der die zahlreichen Indizien enthalten sind – und die selbst die größten Beatlesfans ins Grübeln kommen lassen …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 430

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ich glaube an alles,bevor es nicht widerlegt ist.Ich glaube an die Märchen,an die Mythen, an die Drachen.Das alles existiert.Selbst wenn es nur indeinem Kopf ist.Wer sagt uns denn,dass Träume und Albträumenicht genauso real sindwie das Hier und Jetzt?

John Lennon

MARTIN HÄUSLER

GEZÄHLTE TAGE

Ausriss aus »POP mit Melody Maker«, Ausgabe 23/1976,

Seite 11

ALS JOHN LENNON SEINE SEELE VERKAUFTE

Well, I tried so hard to stay alive,but the angel of destructionkeeps on hounding me all around.

»Help Me To Help Myself«John Lennon, 1980

für den wunderbarenJohn Henry

1. eBook-Ausgabe 2023

© 2023 Golkonda in der Europa Verlage GmbH München

Umschlaggestaltung: Romina Birzer

Lektorat: Angela Hermann-Heene

Illustrationen: Romina Birzer

Layout & Satz: Anna Moritzen

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-96509-068-2

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

Golkonda-Newsletter: Mehr zu unseren Büchern und Autoren kostenlos per E-Mail!

www.golkonda-verlag.com

Prolog im Himmel

I. Der Pakt

II. Der Anfang

III. Der Gipfelsturm

IV. Der Höhenkoller

V. Das Licht

VI. Die Wendung

VII. Der Absprung

VIII. Der Gegenangriff

IX. Der Rückfall

X. Der Neubeginn

XI. Das Großreinemachen

XII. Das Endspiel

Epilog im Himmel

XIII. Das Nachspiel

Prolog im Himmel

»Siehst du den Punkt? Siehst du den Punkt dort hinten?« – »Welchen von den vielen, Vater?« – »Links die Sonne, die wirst du nicht übersehen können.« – »Ja.« – »Strecke deinen Arm aus und nimm deine Hand, halte sie so. Der kleine Finger am rechten Rand der Sonne, der Daumen auf der anderen Seite abgewinkelt nach rechts, und jetzt, genau an der Spitze deines Daumens, siehst du diesen kleinen blauen Punkt.« – »Ja, jetzt sehe ich ihn.« – »Das ist die Erde.« – »Das ist die Erde?« – »Ja, du erinnerst dich sicher.« – »Lange her, aber natürlich erinnere ich mich.« – »Es hat sich viel getan dort unten, und gleichzeitig auch nichts.« – »Was meinst du?« – »Wir sind jetzt 1930 Jahre weg gewesen, seit du die Liebe unter die Menschen gebracht hast.« – »So lange?« – »Dein Gefühl von Raum und Zeit war auch mal besser, Junge.« – »Entschuldige, Vater, erzähle weiter.« – »Seitdem hat die Menschheit einen sagenhaften Aufschwung genommen. Die Menschen wohnen in immer höheren Häusern. Sie sind in den Tiefen ihrer Meere unterwegs und im Orbit ihres Planeten. In neun Jahren werden sie zum Mond fliegen.« – »Wow!« – »Ja, das klingt nach wow, aber das ist es nicht. Wir können nicht zufrieden sein. Diese Entwicklung wurde begleitet von Kriegen und Aggression, von Hass, Neid und Gier, unglaublicher Gier, Hunderte Millionen Opfer, der Draht zu uns funktioniert kaum noch, wobei viele gar nicht wissen, dass es ihn je gab.« – »Sie sind vom Weg abgekommen?« – »Die dunkle Seite hat die Führung übernommen. Sie hat den Menschen die Liebe ausgetrieben und sie ersetzt durch ein Glücksgefühl, das ausgelöst wird von den Verführungen der materiellen Welt.« – »Oh nein, das ist wirklich, wirklich …« – »Und es wird noch schlimmer werden, viel schlimmer. Ich habe von einem Plan erfahren. Die Regenten der dunklen Seite wollen wieder runter. Sie haben sich einen Menschen ausgesucht, eine Seele, die wir vor Jahrtausenden dort abgesetzt haben. Sie wollen sie nutzen, um etwas über die Menschheit zu bringen, das aussieht wie die Liebe, aber es ist keine Liebe, es fühlt sich im ersten Moment nur so an.« – »Ich ahne, ich muss auch wieder runter, nicht wahr?« – »Nein, das dürfen wir nicht, das weißt du, die Menschen müssen es bis zu einem bestimmten Punkt alleine schaffen, aber …« – »Aber was?« – »Es könnte sein, dass wir diesem einen Individuum Impulse senden müssen, wenn es hart auf hart kommt.« – »Wer ist dieser Mensch?« – »Ich kann ihn dir kurz zeigen, wenn du noch ein bisschen Zeit hast.« – »Für dich immer, Vater.« – »Ich navigiere uns etwas näher ran. Jetzt siehst du dort diese Landmasse, Europa heißt sie heute, da oben, kurz vor dem Meer, ist doch diese riesige Mündung, klar?« – »Ja, sehe ich.« – »Wenn du von dort landeinwärts gehst, siehst du die Lichter einer großen Stadt, das ist Hamburg. Da lebt er gerade und versucht sich als Musiker.« – »Und verrätst du mir seinen Namen?« – »Sein Name ist John Lennon.«

I.

DER PAKT

Rememberwhen you we’re younghow the herowas never hung

John Lennon – »Remember«

Legt an! Feuer! Ich hielt meine Gitarre im Anschlag und zielte auf den miesesten dieser Besoffskis. Bam! Bam! Bam! Es hat einfach ungeheuren Spaß gebracht, die Deutschen zu provozieren. Die meisten waren so dicht, dass sie keine Kraft mehr hatten aufzustehen, um mir eine reinzuhauen. Wobei ich bezweifele, dass sie mich überhaupt verstanden haben. Nicht wahr, mein Herrrrrrr! Sie hingen da unten, gerade so von der Stuhllehne gehalten, oft mit einer Nutte auf dem Schoß oder auch zweien, auf dem Tischchen ihr Bier und ihr Schnaps, die Deutschen sagten »Herrengedeck« dazu. Das waren keine Leute, die unseren Rock ’n’ Roll suchten, das waren vom Krieg gezeichnete Arbeiter oder Metzgerssöhnchen, verkrüppelte Freier, ehemalige Flakhelfer oder Kampfflieger, die vielleicht in genau der Nacht ihre Scheißbomben auf Liverpool abgeworfen haben, als ich meiner Mutter aus dem Leib kroch. Und jetzt, exakt zwanzig Jahre später, saßen sie da, glotzten zu Paul, George, Stuart, Pete und mir hoch auf diese brüchige Bühne und grölten irgendeinen Schwachsinn, den auch ich nur fetzenweise verstand. Hat da einer »Lauter!« geschrien?

»Shut up, you fucking Nazi, sauf dein Zeug und halt die Fresse!«

Bruno Koschmider, ein Zirkusartist außer Dienst und nun Kiezklubbetreiber, zahlte jedem von uns 30 Mark die Nacht. Sechs Stunden am Stück. Vollgas. Das war für den Anfang nicht schlecht, aber dieses derangierte Publikum. Koschmider stachelte uns an, keine einzige Sekunde Langeweile aufkommen zu lassen, die Leute sollten so ausgedehnt wie möglich bleiben, um ihr Geld in Alkohol umzutauschen. Der Deutsche trinkt viel, wenn er Zeit hat. Und wenn er keine Zeit hat, trinkt er auch viel, nur schneller. So oder so, wir spielten vor den Jahrgangsbesten eines Säuferheims. Kurz nachdem wir dank des Liverpooler Bandpromoters Allan Williams im August 1960 per VW-Bus – vollgestopft mit Instrumenten, grässlichen fliederfarbenen Bühnenjacketts und einer Kiste frisch gebackener Scones – das erste Mal nach Hamburg gekommen waren und unseren ersten Vertrag im verstunkenen Indra fast erfüllt hatten, erfuhren wir, dass Koschmider einen zweiten Laden besaß, den Kaiserkeller, nur ein paar Meter die Große Freiheit runter, etwas größer, etwas schicker, etwas teurer und deshalb mit einem etwas anderen Publikum. Und wenn ich »etwas« sage, dann war es auch nur »etwas« besser. Aber immerhin.

»Wieso lässt du uns nicht da spielen, Bruno?«

»Zeigt mir erst mal, was ihr noch so drauf habt, und dann sehen wir weiter.«

Wir zeigten es ihm mit einer Wucht, die er noch nie erlebt hatte, eine Wucht, die wir auf Dauer nur mit Prellis, so kleinen Aufputschpillen, durchhielten, die die Klofrauen uns zusteckten. Wohl auch, weil sich die Nachbarn wegen der Lautstärke anfingen zu beschweren, erlöste uns Koschmider, den zweiten Vertrag gab er uns für den Kaiserkeller. Wir handelten ein bisschen mehr aus, 40 Mark pro Nacht und Nase, trotzdem konnten wir uns weiterhin nur dieses kleine fensterlose Zimmer im Bambi-Kino leisten, das auch Koschmider gehörte. Nichts weiter als ein umfunktionierter Abstellraum war das, kahl und kalt, jeder Russenknast war gemütlicher. Wenn Hamburg ein Arschloch haben sollte, es lag genau dort. Dieses Loch befand sich passenderweise direkt neben den Toiletten, und wenn wir uns mal die Zähne putzen wollten, mussten wir das dort tun, wo auch die Besucher des Bambi-Kinos sich ihre Flossen wuschen. Bambi, das klingt putzig, nach Kulleraugen, Streichelzoo, Rotkäppchen und diesem Zeug, aber das war es nicht. Im Bambi liefen ausschließlich Sexfilmchen. Natürlich hatte diese verruchte Suppe auch etwas Aufregendes für uns Liverpooler Jungs, ich mit zwanzig der Älteste, George mit siebzehn der Kleinste, aber im Rückblick war es einfach von vorne bis hinten widerlich. Ich holte mir schnell den Tripper, den mir ein Hurendoktor aber genauso schnell wieder wegspritzte.

Nun also dirty Kaiserkeller. Dort spielten wir weiter wie die Bekloppten. Den Herbst durch. So viel besser waren die Leute da wirklich nicht. Aber zumindest kamen mehr von ihnen wegen der Musik. Und wir trafen auf Landsleute. Vor allem Rory Storm muss ich da erwähnen, den armen Kerl. Er war eine große Nummer, in der Heimat und hier in Hamburg. Und doch konnte er nie einen Plattenvertrag ergattern. Zusammen mit seiner Mutter brachte er sich ein paar Jahre später um. Uns war es vergönnt, mit ihm und seinen Hurricanes im Wechsel aufzutreten. So lernten wir Ringo kennen. Er war der Drummer bei Rory, und wir waren, als wir ihn das erste Mal beobachteten, ziemlich beeindruckt. Da saß kein normaler Trommler. Er war ein Typ, ein Typ mit Identität, mit Charisma und mit der Gabe, sofort einzusteigen, in welchen Song, in welchen Takt auch immer, und dann bis zum Ende den Steady Beat zu halten. Natürlich ahnten wir am 4. Oktober 1960 nicht, dass Ringo nur zwei Jahre später zu den Beatles gehören und Pete ersetzen würde.

Mit Bruno Koschmider wurden wir nie warm und auch die Hurricanes nicht. Das führte dazu, dass wir den Sklaventreiber unablässig provozierten. In einem internen Wettbewerb, wer wohl am ehesten die Bühnenbretter zerlegt, gewann Rory. Seine Version von Blue Suede Shoes beendete er mit einem beherzten Sprung, der ihn etwa einen halben Meter in der Bühne versinken ließ.

»Was willst du, Bruno, wir sollten doch Schau machen, oder etwa nicht?«

Koschmider behielt die Gage ein, und wir brachten Rory die nächsten Wochen über die Runden. Es war nur ein vorläufiger Höhepunkt einer Zweckgemeinschaft, die Ende November mit großem Tamtam in die Brüche ging. Wir hatten unsere Fühler zum Top Ten Club ausgestreckt, der auf der Reeperbahn in einem schmalen verhutzelten Fachwerkhäuschen eröffnet worden war. Es war offensichtlich, dass er weit besser gemanagt wurde als der Kaiserkeller, und auch der Siff-Faktor war viel geringer. Im Top Ten stank es nicht nach Bier und Pisse. Es roch nach Sekt, Leder und Parfüm von anständigen Mädchen. Dass wir eines Abends fremdgingen und nach unserem Gig im Kaiserkeller auch im Top Ten auftraten, wurde Koschmider sofort gesteckt. Seine Rache ließ nicht lange auf sich warten. Es traf unseren George, der wie gesagt erst siebzehn war und damit laut deutschem Gesetz nicht nach zehn durchs Nachtleben spuken durfte, was er allerdings auch schon ungestraft im Indra getan hatte. Jetzt benutzte fucking Koschmider diese offene Flanke, um uns loszuwerden. Er quatschte mit dem Quartiersbullen seines Vertrauens und zeigte George an. Und dann ging es ruckzuck. Ganz offensichtlich hatten die Deutschen auch nach Kriegsende nichts von ihrer kompromisslos durchexerzierten Unbarmherzigkeit verloren. So wie das heute mit Flüchtlingen üblich ist, wurde auch Little George am 21. November 1960 ausgewiesen. Unser bester Gitarrist war weg. Aber es kam noch schlimmer. Stu und ich waren gerade mit Astrid und Jürgen unterwegs – zwei Schöngeistern, Fotografen, die wir im Kaiserkeller kennengelernt hatten und die uns das Gefühl gaben, dass es auch immer noch gute Deutsche gibt –, als Paul und Pete im Bambi-Kino unsere Sachen zusammenpackten, um die letzten Drähte zu Koschmider zu kappen. Es war scheißdunkel in dieser Kammer, weshalb Paul drei Kondome an die drei rostigen Nägel hängte, an denen wir uns so oft unsere Birnen blutig gestoßen hatten, und sie anzündete. Er wollte da nichts abfackeln, mein Gott, er brauchte Licht. Aber Koschmider, dem auch diese Episode blitzartig hochdenunziert wurde, packte die Chance beim Schopf und rief die Bullen, die Paul und Pete gleich für eine Nacht in eine Zelle in der Davidwache steckten, wo sonst nur irgendwelche Brutalos ausnüchterten. Fast logisch, dass auch sie tags darauf unvermittelt das Land verlassen mussten. Wer übrig blieb, war ich. Denn Stuart hatte nur Augen für Astrid, in die er sich blitzartig, also wirklich innerhalb weniger Sekunden, verliebt hatte und für die er, wie er schnell meinte, auch die Musik an den Nagel hängen würde. Ja, es tut mir leid, dass ich ihm dafür eine geschmiert habe. Rock ’n’ Roll und Frauen schließen einander nicht aus. Aber, was soll’s.

Es war schrecklich, so jung und ganz allein in einem fremden Land zu sein. Alle wurden abgeschoben, ich blieb in Hamburg und spielte in einer anderen Band. Ich hatte das Geld immer so schnell ausgegeben, wie es reinkam, und hatte nichts mehr in der Tasche. Es war nicht schön, in Hamburg festzusitzen und nicht einmal etwas zu essen kaufen zu können, schon gar nicht zu Weihnachten. Ich hatte furchtbares Heimweh und versank in Selbstmitleid. Ich musste hart arbeiten, um das Geld für die Rückreise zu verdienen. Ich hatte ständig Angst, dass mir jemand den Verstärker wegnehmen würde, weil ich ihn noch nicht bezahlt hatte. Ich war mir sicher, dass ich es nie nach England zurückschaffen würde. Als ich endlich zu Hause ankam, war ich es so satt, dass ich einige Wochen lang keinen Kontakt zu den anderen aufgenommen habe.

John Lennon (»The Beatles Anthology«)

Ich fühlte mich nicht nur allein, ich war allein. Ich hatte meinen geliebten Onkel George verloren, meinen Ersatzvater, danach meine Mutter, die direkt vorm Haus von einem besoffenen Polizisten überfahren wurde, und mein leiblicher Vater, der als Seemann über die Meere tingelte, hatte sich nie für mich interessiert. Und vor alldem stand die kaputte Ehe meiner Eltern und ein Tauziehen um mich, das darin endete, dass ich weder hierhin noch dahin kam, sondern bei meiner Tante landete. Das war das verdammte Grundproblem meiner gesamten Existenz. Das Gefühl, nicht gewollt zu sein! Und nun waren meine Jungs, meine Ersatzfamilie, auch wieder weg. Genauso übrigens wie meine Arbeitsgenehmigung, die mir die Deutschen gleich mit entzogen. Ich galt als harter Hund, aber die Verzweiflung kroch wie eine dicht behaarte Spinne in mir hoch. Ich hatte keine Kohle, um den dreien, die ja ihre Heimreise vom deutschen Staat spendiert bekommen hatten, direkt hinterherzugondeln. Es ging auf Weihnachten zu, und spätestens dann wollte auch ich in Liverpool sein. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich illegal in anderen Bands als Musiker zu verdingen und mir das nötige Kleingeld für das Ticket zusammenzuspielen. Nachts, versteht sich, und damit es schneller ging auch tagsüber mit meinem Gitarrenverstärker auf der Reeperbahn. Es war würdelos. Es war zum Kotzen. Ich war ein Nichts, ein Niemand. Und dann kam jene Nacht, die alles veränderte …

Ich war in meinem Leben auf Gossenhöhe angekommen. 178 Mark hatte ich zusammen, und es fehlten immer noch 122 für Zug und Fähre. Das würde ich nie und nimmer schaffen in den verbleibenden Tagen. Schon während des Gigs im Top Ten mit irgendeiner mittelmäßigen Combo soff ich mir einen an, aber derart, dass ich ausfällig wurde, aus dem Klub flog und mir mein wirklich guter Verstärker hinterhergeworfen wurde. Hätte ich ihn nicht in Rückenlage im letzten Moment auffangen können, ich hätte die Schweine umgebracht. Der Verstärker war überhaupt meine Garantie, zurück nach Hause zu gelangen. Ich hielt ihn wie ein Baby im Arm, schleuderte einen deutschen Fluch heraus, raffte mich auf und ging mit dem Gerät ein paar Hundert Meter ziellos umher. Astrid! Da könnte ich hin. Sie würde sicher gerade mit Stuart im Bett liegen. Aber was soll’s. Das war nicht um die Ecke. Es knallte der Wind durch die Straßen, und ich stellte mir vor, dass es derselbe Wind ist, der wenige Stunden zuvor noch die Dächer Liverpools berührt hatte. Spontan drückte ich mich in die nächste Telefonzelle, um zumindest die Stimme von meiner Tante Mimi zu hören, bei der ich lebte, gelebt hatte, bevor ich in die Wohnung von Stuart zog. Mit ihm war ich nach der Schule auf die Kunstakademie gegangen. Ich fand einige Groschen in meinen Hosentaschen, viele Minuten würde das nicht hergeben. »Fasse dich kurz!« stand auf einem Schild. Ich mochte den deutschen Humor. Ich wählte also unsere Nummer, und Mimi nahm sofort ab, in England war es ja eine Stunde früher.

»Hallo, John, bist du’s?«

»Ja, Mimi, ich bin’s. Wie geht es dir? Und was macht die Katze?«

»Mir geht es gut und der Katze auch. Aber wie geht es dir? Habt ihr genug zu essen?«

»Ja, haben wir, habe ich. Ich … ich wollte eigentlich nur kurz deine Stimme hören.«

»Wie schön, John, danke. Hier ist alles wie immer. Du bist doch Weihnachten wieder hier?«

»Ja, natürlich. Ich muss Schluss machen, Mimi. Hier ist eine Riesenschlange vor der Telefonzelle. Grüße Cyn von mir!«

Ich hängte den Hörer zurück, nahm den Verstärker und drückte mich zurück ins Freie, wo natürlich niemand gewartet hatte, nicht mal eine Straßentaube. Cyn war Cynthia, die auch Kunst studierte, aber es anders als ich bis zum Abschluss schaffte. Sie war ein braves und fleißiges Mädchen. Während von mir schon die Lehrer in der Schule annahmen, dass Lennon, der Störenfried und Klassenclown, entweder auf der Straße landen oder es nach ganz oben schaffen würde. Gerade schlug das Pendel in die Richtung aus, die ich nie für möglich gehalten hätte. Cyn und ich hingen in einer Beziehung, die mal besser, mal schlechter lief. Das Klima hatte nicht selten mit meinen Gefühlsausbrüchen zu tun, die ich seit meiner verkorksten Kindheit hatte, wobei ich wirklich nicht alles darauf schieben will. Zur Hamburg-Zeit ging es ganz gut zwischen uns. Wir vermissten einander, und ich schrieb Cyn regelmäßig lodernde Briefe, die alles andere waren als jugendfrei.

Nun aber stand ich erst mal in einem hundeelenden Zustand vor dieser verdreckten Telefonzelle und setzte meinen Weg fort Richtung Astrid und Stuart. Allzu weit kam ich nicht. An der nächsten dunklen Ecke traf ich auf drei Typen, die mich blöd anmachten.

»Maul halten«, zischte ich ihnen auf Deutsch entgegen.

»Ah, das ist doch einer dieser Engländer, die mit ihrer Mucke unsere Mädels abziehen. Was trägst du denn da mit dir rum? Ist das dein Handtäschchen?«

Ein Tritt, und mein Verstärker verteilte sich auf dem nassen Pflaster. Das war zu viel. Ich wusste, dass ich kaum zu bändigen bin, wenn ich wütend werde. Aber es waren drei, wahrscheinlich auch noch drei übrig gebliebene Nazis, jedenfalls nach den Frisuren zu urteilen und nach dem Bein, das dem einen fehlte. Sie machten mich so was von fertig, dass es keine zehn Sekunden brauchte, ehe ich blutend zwischen den Einzelteilen des Verstärkers lag. Lachend zogen die Typen Leine. Das war’s für mich. Ich kroch durch den Rinnstein, sammelte den Elektroschrott zusammen und versuchte, ihn wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Natürlich gelang es nicht, und ich heulte los. Als ich mir vorstellte, dass jetzt nur noch ein Taxi durch die Pfütze fahren müsste, fuhr ein Taxi durch die Pfütze, und ich sah aus wie ein eingenässter Penner.

John erzählte mir, dass diese Zeit der reinste Horror für ihn war. Allein, ohne Schlafplatz, ohne Kontakt zum Rest der Gruppe. Er trieb sich meist am Hafen herum, übernachtete dort sogar in einem Boot und band den Verstärker mit einem Seil um seinen Körper, damit er nicht gestohlen werden konnte. Er hatte Angst, geschnappt zu werden, und wollte ebenfalls schnellstmöglich nach England zurück, hatte aber nicht genug Geld.

Klaus Voormann (»Hamburg Stomping Ground«)

Dann, diese Schritte, ein schleichender Rhythmus, taktaktak, ich höre ihn noch heute. Ich schloss aus, dass es ein Stepptänzer nach Dienstschluss sein würde. Eher High Heels. High Heels auf Asphalt. Sie kamen näher, immer näher, stoppten, ich schaute hoch und blickte in die Augen einer Frau in einem offensichtlich sehr teuren Mantel. »Na komm schon«, sagte sie und reichte mir ihre Hand. Ich ließ mir helfen, wischte mir, bevor ich meine Wirbelsäule durchgedrückt hatte, das Blut und den Rotz vom Mund und sah dann das Gesicht etwas genauer, es war, nein, das konnte nicht sein, war das Brigitte Bardot? Ich vergötterte die Hollywoodschauspielerin damals, es gab für mich nichts Schöneres, aber was machte sie hier, in Hamburg, im tiefsten Rotlichtviertel? Ihr schien es überhaupt nichts auszumachen, mich, einen auf dem versifften Bürgersteig kriechenden Engländer, an der Hand zu halten.

»Kommst du mit?« Im nüchternen Zustand hätte mir auffallen müssen, dass diese Person wahrscheinlich nichts weiter sein konnte als eine Edelnutte.

»Sind Sie, bist du …«

»Ich bin, was du dir wünschst. Kommst du mit?«

Was sollte es, natürlich kam ich mit, es schien doch eh alles verloren, also konnte ich diesem rätselhaften Versprechen auch die 178 Mark in den Slip stecken. Zuerst das Geld, dann das Vergnügen, sagte sie, und ich folgte ihr völlig orientierungslos in den dritten Stock eines wuchtigen, aus Tausenden dunkelroter Backsteine zusammengesetzten Altbaus mit Bogen und Erkern und Türmchen und Zinnen.

»Willst du dich frisch machen, bitte.« Sie verpackte ihre Frage in einen sanften Befehl. Was wollte diese Fremde mir befehlen. Obwohl ich angetrunken war, gefiel mir das nicht.

»Da ist das Bad. Wenn du fertig bist, findest du mich am Ende des Ganges.«

»In Indien?«, fragte ich, und sie schien den uralten Witz nicht zu verstehen.

Ich blickte diesen Gang hinunter, nein, es war eher wie ein Tunnel, und er schien mir furchtbar lang, vielleicht dreißig Meter, eine Menge verschlossener Türen an den Seiten, deren Wände mit tiefgrüner Tapete und goldenen Ornamenten versehen waren, nur am hintersten Ende gab ein Spalt bernsteinfarbenes Licht frei.

»Ist gut, ich bin gleich bei dir.« Ich ging ins Bad, schaute in den Spiegel, drehte das Wasser auf und beseitigte den Unrat.

»Mensch, John, wo bist du nur gelandet. Fucking Germany. Was hat diese Granate mit mir vor? Aber den Zünder ziehe immer noch ich.«

Meine verdreckte Lederjacke legte ich beiseite, zumindest war das Hemd darunter sauber geblieben. In meiner Unterhose begannen die Erwartungen zu wachsen. Für 178 Mark würde man schon einiges verlangen können. Barfuß schwankte ich durch den Korridor, dem Licht entgegen, glaubend, sie würde dahinter auf einem riesigen Bett liegen. Mir kam es vor, eine Art Magnetismus zu spüren. Je näher ich dem Ende des Ganges kam, desto stärker zog es mich. Leise gab ich der Tür einen Schwung, und dann saß er da. Er, nicht sie. Er. In einem Lehnstuhl. Ein Mann in Schwarz, Anzug, Bürstenhaarschnitt, er blickte mich direkt an mit seinen, was?!, mit seinen gelben Augen, vielleicht vergleichbar mit denen eines Uhus.

»Well, wer bist du denn? Wo ist das Fraulein hin?« Kaum hatte ich das ausgesprochen, bemerkte ich, dass er ihre High Heels an den Füßen trug.

»What the hell hat das zu bedeuten, du blöde Schwuchtel?«

Die ersten Töne, die ich von diesem Wesen vernahm, waren vergleichbar mit denen, die meine Tante Mimi machte, wenn ich mal wieder geflucht hatte in ihrer Gegenwart. Sie drückte die Zunge an den Gaumen und erzeugte drei autoritäre Schnalzlaute des Bedauerns. Nein, nein, nein, so spricht man nicht! Dieses Wesen hier, und ich nenne es ganz bewusst »Wesen«, schnalzte ganze neun Mal und schüttelte in äußerster Langsamkeit seinen Kopf, ohne die Augen von mir zu lassen.

»Well, John, schön, dass du hier bist.«

»Bist du ein Perverser? Wo, verdammte Scheiße, ist das Fraulein?!«

Er begann leicht zu lächeln, und unvermittelt schien sein Gesicht für eine Millisekunde in das von Brigitte Bardot zu morphen. »Ich bin’s.« Der Schreck, der mir in die Knochen gefahren war, war brutaler als alles, was ich jemals zuvor erlebt hatte. Schlimmer als die Nachricht vom Unfalltod meiner Mutter. Schlimmer als der Herztod meines Onkels. Schlimmer als jeder Abschied meines fucking Vaters. Ich wollte weg, durch den Flur, zurück, aber es ging nicht, der Magnetismus hielt mich an Ort und Stelle. Ich versuchte, wenigstens den Blicken dieses Wesens auszuweichen.

»Mein Gott, wer bist du?«

»Danke, dass du mich so nennst, aber das wäre zu viel des Guten. Ich kenne dich, und du kennst mich. Ich bin das, was ihr Menschen den Teufel nennt, Satan, Luzifer, 666, du weißt schon.«

Das Wesen sprach langsam, überlegt und mit, ja, mit einem überbetont deutschen Akzent. Wenigstens das machte für mich Sinn, der Teufel, ein Deutscher? Wer sonst hätte so etwas wie Konzentrationslager erfinden können?

»Ist klar, ich gehe jetzt.«

»Ich habe dir ein Angebot zu machen, John Winston Lennon, geboren am 9. Oktober 1940 in einer Bombennacht in Liverpool. Mutter Julia Stanley, Großeltern mütterlicherseits Annie Jane Millward und George Ernest Stanley. Vater Alfred Lennon, Großeltern väterlicherseits Jack Lennon, Großmutter Mary Maguire. Geschwister …«

»Oh, shut up, you freak! Lass mich gehen.«

»Du bist frei zu gehen, jederzeit. Ich halte dich nicht. Ich richte mich nur nach deinen innersten Sehnsüchten, die du jetzt nicht zeigst, aber die ich intensiv wahrnehme.«

»Einen Scheißdreck nimmst du wahr.«

»Fühlst du dich denn gut gerade hier vor mir in deinen dreckigen Unterhosen, mit deinem aufgeschlagenen Kinn und dem alkoholischen Schwall, der zwischen deinen ungeputzten Zähnen emporsteigt?«

»Was willst du?«

»Wie gesagt, dir ein Angebot machen. Da auf dem Bett liegen erst einmal frische Sachen für dich, die aus dir wieder einen ansehnlichen Mann machen. Und wie du siehst, habe ich dir darauf 300 Mark gelegt, die du brauchst für deinen Flug zurück nach Liverpool, und obendrein …«

Das schwarze Wesen löste das erste Mal seine Blicke, stand auf, griff hinter den Sessel und zog mit seinen schwarzen – ähm, Affenfingern? – einen Gitarrenverstärker hervor.

»… eine Echolette Showstar aus deutscher Produktion, die eigentlich erst in zwei Jahren auf den Markt kommt. Nicht schlecht, was?«

»Das ist hier kein Kindergeburtstag, danke, nein.«

»Ach ja, und noch etwas habe ich für dich. Ich mache aus dir und deinen Beatles die größte Band der Welt, das Größte, was das Musikbusiness je erlebt hat und nach euch niemals mehr erleben wird.«

»Du bist größenwahnsinnig!«

»Wieso ich? Das ist doch dein Wunsch. Du erinnerst dich sicher …«

Das Wesen ließ über seine Augen ein Hologramm inmitten des Raumes erscheinen. Ich sah mich, Paul, George, Stuart und Pete in Liverpool, kurz bevor wir nach Hamburg gereist waren. Als würde ein Filmprojektor meine Vergangenheit in den Äther werfen, zeigte mir dieses Scheusal unser Ritual, das wir gewöhnlich vor jedem unserer Auftritte zelebrierten:

»Wo werden wir hingehen, Jungs?«

»Ganz nach oben, Johnny!«

»Und wo ist das, Jungs?«

»Bei den Allerhöchsten der Allerbesten!«

Das Hologramm erstarb, und ich war völlig von den durchlöcherten Socken.

»Soso, bei den Allerhöchsten der Allerbesten. Das lässt sich machen. Und jetzt zieh dich doch erst mal an, Lennon.«

Das Wesen deutete auf die Klamotten, und ich musste mich plötzlich so sehr erbrechen wie noch nie in meinem Leben, so wie kein Rausch es bisher hergegeben hatte. Ich holte tief Luft.

»Die größte Band der Welt?«

»Die größte Band der Welt.«

»Aber, weltberühmt wollten schon viele werden. Warum ich? Warum nicht jemand anderes? Warum nicht Rory? Warum nicht die beknackten Searchers?«

»Weil du das Potenzial hast und sie nicht.«

»Und woher willst du das wissen? Hast du’n Plattenschrank in der Hölle oder was?«

»Ich weiß es halt. Du bist etwas Besonderes, John. Etwas beneidenswert Besonderes. Dir wurde etwas in die Wiege gelegt, so sagt man es wohl bei euch.«

»Meinetwegen. Und, was …«

»Und was ich dafür will?«

»Du willst was? Hat nicht einer wie du schon alles?«

»Nein, nicht ganz.«

»Also?«

»Ihr habt in eurem England nie Goethe gelesen in der Schule, den Faust?«

»Wen?«

»Ach, John, was ich will, ist nichts weiter als deine Seele.«

»Okay, jetzt reicht’s. Ich bin weg. Behalt deine Sachen.«

Der Magnetismus schien zu schwinden. Ich konnte mich umdrehen und den Korridor hochlaufen zu meinen scheißdreckigen Cowboystiefeln, meiner Hose und der Lederjacke, die mir meine Mutter noch schenken konnte. »Überleg’s dir«, hörte ich eine Frauenstimme hinter mir sagen. Ich blickte über die Schulter und sah Brigitte Bardot im Türrahmen stehen, dieses Mal ohne Mantel, ohne alles, ohne verdammt noch mal alles. »What the fuck, so kriegst du mich nicht.« Keine Zeit zum Anziehen, die Sachen gekrallt und nichts wie weg, weg aus diesem Haus, diesem Viertel, dieser Stadt, diesem Land. Was für ein Irrsinn! Klar, ich hatte schon ein paar seltsame Phänomene erlebt in meiner Jugend, mal glaubte ich, einen Geist gesehen zu haben, nachdem meine Mutter gestorben war, und mehrfach erblickte ich ein paar Ufos über den Strawberry Fields. Aber so etwas? Dieser Typ, dieser Deal, und dann will er auch noch meine Seele! Was soll das überhaupt heißen?

Die 300 Mark für die Tickets nach England liehen mir am Ende Astrid und Stuart. Dafür brauchte ich keinen Teufel. Ich stieg auch bei Astrid in die Wanne, putzte mir dort die Zähne, und Stuart spendierte mir saubere Kleidung. Doch musikalisch blieb die Welt in Trümmern. Natürlich waren wir nach Hamburg gegangen, um berühmt zu werden. Aber wir waren gescheitert. Wie konnte es weitergehen? Zurück in Liverpool, verkroch ich mich zwei Wochen im Haus von Tante Mimi, die ganz erstaunt war, dass ich zum Stubenhocker wurde. Ich wollte niemanden sehen, packte auch die Gitarre kaum an. Stattdessen zeichnete ich und zeichnete ich. Hunderte von Illustrationen, Karikaturen, Fantasien, und ich geb’s zu, Brigitte Bardot war auch dabei und meine Erinnerung an das Antlitz des Teufels. War die Flucht ins Zeichnen ein Zeichen dafür, dass ich bildender Künstler werden sollte? Maler? So etwas wie Paul wollte ich jedenfalls überhaupt nicht machen. Mimi hatte mir erzählt, dass er bei der Post jobben würde. Ich war voller Zweifel. Selbstzweifel. Lebenszweifel. War meine Stimme einfach zu beschissen? Oder mein Gitarrenspiel so übel?

Zwischendurch traf ich mich mit Cynthia, um mich abzureagieren. Wir standen während unserer Hamburgphasen immer in Briefkontakt, und wenn wir uns zwischendurch begegneten, hatten wir vor allen Dingen Sex. Sie klingelte bei Mimi, und ich gab ihr dann durchs Fenster im ersten Stock zu verstehen, ob ich gerade bei Laune war oder eben nicht. War mir danach, fielen wir übereinander her, ohne an Verhütung oder sonst was zu denken. Dann ging Cynthia wieder, und irgendwie tat sie mir jedes Mal leid, als ich herunterwinkte und ihren leuchtenden Haaren hinterherschaute, die sie blondiert hatte, nur um mir zu gefallen. Eines Tages, lass es den zweiten Advent gewesen sein, standen Paul und George vor der Tür.

»Komm, John, geben wir den Beatles noch eine Chance.«

»Was für eine Chance?«

»Lass uns doch erst mal hier in der Gegend berühmt werden, in der Merseyside.«

Die Tür knallte vor ihren Nasen ins Schloss. Erst mal berühmt werden in der Merseyside? Mein Gott, wie klein war das denn!

Die beiden hörten nicht auf, mich zu nerven, irgendwann machte auch Pete mit bei diesem Terror. Dessen Mutter hatte im Keller ihres Hauses einen Musikladen eingerichtet, den Casbah Coffee Club. Und so ließ ich mich weichklopfen.

»Gut, eine Chance!«, gestand ich zu. »Wir üben zweimal im Casbah und dann versuchen wir’s am 27. Dezember in der Townhall in Litherland.«

Natürlich machte es Spaß, wieder mit den Jungs die ganzen Rock ’n’ Roll-Nummern rauszuballern, aber, was soll ich sagen, der Auftritt in Litherland war einfach furchtbar. Es kamen sage und schreibe achtzehn Leutchen. Neun Spießerpärchen mittleren Alters, die unsere Musik dazu missbrauchten, eine flotte Sohle aufs Parkett zu legen. Und als wir absichtlich das Tempo anzogen und dreckiger wurden als in Hamburg, verließen einige von ihnen empört den Saal. Okay, das sollte es nun gewesen sein, endgültig. Die Beatles waren tot, bevor sie angefangen haben zu leben. Als wir an diesem Abend den Heimweg antraten, war uns allen klar, dass sich unsere Wege wohl trennen würden. Vielleicht würden wir Freunde bleiben, nebenbei mal ein paar Liedchen spielen, aber jeder würde in seinem wie auch immer gearteten Job verschwinden und bis zur Unkenntlichkeit verschmelzen mit der Masse. Doch dann stand an der Ecke Menlove Avenue und Vale Road dieser englische Geschäftsmann, Melone auf dem Schädel, Trenchcoat, Aktentasche, Regenschirm. Er passte um diese Uhrzeit nun so gar nicht hier hin. Wir stahlen uns an ihm vorbei, als ich wieder diesen Magnetismus spürte.

»Na, John, hast du deine Meinung geändert?« Wir blieben stehen.

»Du kennst diesen Typen?«

»Nein.«

»Doch, John, wir kennen uns, aus Hamburg. Du erinnerst dich.« Der Mann nahm seinen Hut ab. »Verpiss dich, du Sack!«

Ohne erkennbaren Anlauf, quasi aus dem Stand, rammte ich den Typen in die Hecke. Aber er lachte nur.

»John, was ist los, willst du uns einander nicht vorstellen?«

Ich wusste nicht, wie ich mit dieser unverwüstlichen Art umgehen sollte, und ich schrie:

»Ja, gut, dann stelle ich euch mal vor: Das sind Paul, George und Pete! Und das da unten in der Hecke ist der verfickte Teufel!«

»Mach keinen Scheiß jetzt, John, was soll der Zirkus?«, ging Paul dazwischen. Diese Kreatur, das Wesen, mühte sich aufzustehen. »Nein, nein, ist schon gut, er hat recht, ich bin tatsächlich das Biest, mit dem es schon euer Jesus in der Wüste zu tun hatte. Matthäus-Evangelium, Kapitel vier, vielleicht habt ihr da mal reingeschaut.« Er legte eine kleine Kunstpause ein und klopfte sich den Mantel sauber.

»Nun, was der Zirkus soll, ja, ich biete euch an, die Beatles zur größten Band der Welt zu machen, mit allem, was dazugehört, mit allem, was ihr benötigt, so etwas wie Inspiration, Handwerk, Ruhm, Geld, Frauen, absolute Glückseligkeit. Ihr werdet Melodien für die Ewigkeit schaffen. Es wird eine wahre Hysterie um euch geben. Ihr werdet größer sein als Jesus!« Die Jungs zogen die Augenbrauen hoch.

»Genau, das hat er mir auch in Hamburg erzählt, als ihr mich da unten allein gelassen habt. Und wisst ihr was: Dafür will er nichts weiter als meine Seele haben! Der Typ ist verrückt.«

»Deine Seele?«, fragte George.

»Ja, meine Seele. Ach ja, liebes Teufelchen, was soll das überhaupt bedeuten, meine Seele. Kannst du das mal ein wenig ausführen …«

»Na ja, du wirst eines Tages sterben müssen.«

»Sterben müssen wir alle. Wo ist der Haken?«

Der Kerl lachte. »Wenn du das so siehst, John, dann gibt es keinen Haken.«

Pete wurde die Sache zu bizarr. Er zog uns an den Ärmeln. »Kommt, lasst uns weitergehen«, und schob uns drei ein paar Schritte nach vorn.

»Wenn ihr mir nicht glaubt, dass es klappen kann mit euch, also so richtig klappen kann, dann schlage ich vor, dass ihr euch einmalig von meiner Kunst überzeugen könnt, ohne irgendeine Gegenleistung. Am 5. Januar habt ihr den nächsten Auftritt in Litherland, nicht wahr?«

»Den haben wir vorhin abgesagt«, meinte Paul im Fortgehen.

»Dieser Auftritt wird anders sein als alles, was ihr jemals erlebt habt. Ich verspreche es euch.«

Wir gingen weiter. Zehn Meter. Zwanzig. Fünfzig. Blieben stehen. Stumm schauten wir uns an.

»Wenn es nichts kosten wird«, sagte Paul. »Lassen wir uns doch auf das Experiment ein. Entweder er ist wirklich ein Irrer oder …«

»Oder was?«, fragte ich.

Als wir neun Tage später zum Soundcheck in der Townhall von Litherland ankamen, bemerkten wir, dass die vernichtende Zahl von achtzehn Gästen vom letzten Mal schon jetzt weit in den Schatten gestellt wurde, hundert Teenager waren das bestimmt, und schließlich blickten wir von der Bühne in eine erwartungsvolle Menge, die die Lokalzeitung später offiziell mit 350 angeben würde. Was nach dem ersten Akkord passierte, kann man kaum mit Worten beschreiben. Es war pure Energie, die von uns überfloss auf die Mädchen und Jungs. Sie sahen aus wie elektrifiziert, zuckten und zappelten wie eine Reisegruppe von Epileptikern, und, ja, sie schrien sogar, manchmal so laut, dass wir einander auf der Bühne kaum mehr verstehen konnten. Natürlich kam uns das merkwürdig vor, aber wir genossen das, es machte einen unbändigen Spaß. Im Rückblick muss ich sagen, dass hier an diesem Abend in diesem abgeschmackten Vorort nördlich von Liverpool die Anfänge der Beatlemania lagen.

Plötzlich waren wir wow! Siebzig Prozent der Leute dachten, wir seien Deutsche, aber das war uns egal. Das war die Nacht, in der wir aus unserem Schneckenhaus gesprungen sind, danach ging’s los. Zum ersten Mal jubelten die Leute wirklich für uns.

John Lennon (»The Beatles Anthology«)

Vielleicht sahen wir deutsch aus, aber wir hoben uns vom Rest der Leute ab, denn wir hatten Lederjacken an. Und wir spielten plötzlich anders. Wir schlugen ein wie eine Bombe.

George Harrison (»The Beatles Anthology«)

Als sich die Halle geleert hatte und wir mit Cynthia und dem vom Sound völlig sedierten Veranstalter ein Bierchen zischten, war uns allen klar, dass höchstwahrscheinlich schon auf dem Nachhauseweg diese seltsame Kreatur auftauchen würde. Ich schickte Cynthia, die sich sicher vorgestellt hatte, die Nacht bei mir zu verbringen, vorsichtshalber nach Hause, aber es geschah nichts. Wir passierten extra die Stelle, an der wir den Typen neulich getroffen hatten, unzweifelhaft an der geplätteten Hecke zu erkennen, doch es blieb still. Wir verabschiedeten uns mit diesem gemeinsamen Erlebnis in den Knochen und der tiefen Überzeugung, dass wir genau so etwas immer gewollt hatten.

»Wenn du also den Teufel treffen solltest, John, unterschreib mal«, lachte Paul. »Jungs, wir sehen uns morgen.«

Leise drehte ich den Schlüssel und wurde in aller Totenstille von Tim begrüßt, unserem Kater, den ich vor vielen Jahren als Neugeborenes im Schnee gefunden und mit nach Hause gebracht hatte. Ich streichelte ihn und schlich mit ihm zusammen die Treppe hoch. Ich mied die zwei seit Ewigkeiten knarrenden Stufen, um Tante Mimi nicht zu wecken, und schob mich so in mein Zimmer, dass Tim nicht mit hineinhuschen konnte. Behutsam drückte ich die Tür hinter mir in den Rahmen und drehte am Lichtschalter.

»Guten Abend, John.«

Was für ein Irrsinn, die Kreatur, der Bürstenkopf, er saß auf meiner Bettkante und blickte mich mit seinen gelben Augen an. Jetzt hatte er genau das Aussehen, das ich aus Hamburg kannte, der einzige Unterschied waren seine Treter, die High Heels hatte er gegen merkwürdige, recht modische Gummistiefel getauscht, die den Aufdruck eines Walrosses zeigten.

»War das gut?«

»Scheiße, Mann, was machst du hier, ja, verdammt, es war sehr gut!«

»Hab ich’s euch doch gesagt. Und, habt ihr Lust auf mehr, auf viel mehr? Oder wollt ihr bei den Städtischen Busbetrieben eine Ausbildung machen, um in die Fußstapfen von Georgies Vater zu treten? Vielleicht wollt ihr auch mit Baumwolle handeln wie Pauls Vater. Oder ihr fahrt zur See wie deiner.«

»Halt die Luft an!«

Ich biss die Zähne aufeinander und schaute aus dem Fenster auf die düstere Straße. Die drei Jungs waren nicht mehr zu sehen.

»Ja, natürlich macht das Lust auf mehr. Es war einfach sensationell. Die Leute sind abgegangen.«

»Dann schau mal auf deinen Schreibtisch. Da liegt etwas für dich, John.«

Natürlich, ein Blatt Papier, ein Tintenfüller daneben. Ich las. Und dann las ich noch einmal und noch einmal.

»Zwanzig Jahre? Ich hätte laut diesem Wisch hier dann nur noch zwanzig Jahre? Soll ich dir mein Banjo auf der Rübe zerschlagen?«

»Komm runter, John, das werden die wunderbarsten zwanzig Jahre, die ein Mensch erleben kann. Das reicht für zehn Leben. Und hier geht es ja nicht nur um die Egos von vier Individuen. Ihr werdet in die Weltgeschichte eingehen, für immer, unverrückbar, unerreicht. Alle, die nach euch kommen, werden sich an euch orientieren. Und, übrigens, John, da unten kannst du noch eintragen, wie ich dich am Ende unseres wunderbaren Deals holen lassen soll. Die Art der Ernte. Keine Angst. Völlig schmerzlos.«

Es zischte, und er kippte sich den Inhalt einer Dose Coca-Cola in den Rachen. Keine Ahnung, wo er die herhatte. Zwanzig Jahre, dann wäre mit vierzig Schluss für mich hier auf dem Planeten, das konnte doch nicht sein Ernst sein.

»Kann ich noch eine Nacht drüber schlafen?«

»Nein, John, der Zeitpunkt ist gekommen.«

»Dreißig Jahre!«

»Was meinst du?«

»Können wir den Deal auf dreißig Jahre verlängern.«

»Nein, John, das geht nicht, dann ist mir deine Seele zu alt. Ich brauche sie früher.«

»Wofür?«

»Ich ernähre mich davon.«

»Das ist ja widerlich. Und, wie schmecken Seelen?«

»Nein, du missverstehst. Ich esse sie nicht. Ihre Energien nähren mich. Die Seelen, die ich mir hole, wunderbare Seelen ausschließlich, will ich ja immer um mich herum haben.«

»Ach so, wie in einem Hofstaat, einem höllischen Hofstaat.«

»Nenn es, wie du willst, aber ich fürchte, mit menschlicher Vorstellung ist das nicht zu beschreiben. Unterschreibst du nun?«

»Wie schnell wird das gehen mit den Beatles? Von jetzt auf gleich?«

»Schnell, aber nicht zu schnell. Es muss alles glaubhaft wirken. Es wird Schritt für Schritt gehen. Zuerst versetzt ihr das örtliche Publikum weiter in Ekstase, das macht ihr im Cavern Club in der Matthew Street. Und dann unternehmt ihr noch ein paar Konzerttouren in meiner deutschen Heimat.

»Oh, nein, durch ganz fucking Naziland?«

»Nein, nur in Hamburg. Das reicht. Ich werde dort einen neuen Laden eröffnen lassen, den Star-Club. Er wird euren Ansprüchen gerecht. Und dann, so viel kann ich sagen, werdet ihr Ende 1962 bei einem der letzten Auftritte dort erfahren, dass eure erste Single in die britischen Charts eingestiegen ist.«

»Auf welchem Platz?«

»Platz 17.«

»Nur Platz 17?«

»Mit der zweiten Single landet ihr schon auf Platz 2. Danach geht es ab. Weltweit. Ihr werdet eine nie dagewesene Massenhysterie auslösen. Und es wird euch an rein gar nichts mangeln.«

»Und mit welchen Songs werden wir das schaffen?«

»Dir und Paul werden sie nur so aus den Köpfen fließen …«

Auf dem Flur waren Schritte zu hören, und die Zimmertür ging auf.

»Mit wem redest du, John?«, fragte Tante Mimi verschlafen.

»Mit mir selbst.«

»Hattet ihr ein schönes Konzert?«

»Hatten wir, Tantchen. Es war großartig.« Und ich nahm sie fest in den Arm.

»Du hast mich lange nicht mehr in den Arm genommen, John.«

»Wir werden berühmt werden, Mimi.«

»Du bist und bleibst ein Träumer. Mach was Ordentliches. Ich sag’s dir seit Jahren. Gute Nacht, mein Junge.« Mimi verschwand, und das Wesen materialisierte sich wieder auf meiner Bettkante.

»War das Liebe, John?«

»Was?«

»Diese Umarmung gerade.«

»Weiß nicht.«

»Unterschreibst du nun?«

»Ist gut, ich unterschreibe. Unter einer Bedingung …«

»Du weißt, dass man mit mir nicht verhandelt.«

»… dass du den Menschen, die mir nahestehen, nie ein Haar krümmen wirst.«

»Das … lässt sich machen.«

Der Kerl beobachtete jeden Schwung meiner Unterschrift, stand jetzt hinter mir. Der Magnetismus durchdrang meinen Brustkorb wie ein langsames Messer, das am schnellsten Schleifstein der Welt auf die Schärfe einer Rasierklinge gebracht wurde.

»Vergiss nicht, wie du sterben willst, John.«

»Knall mich ab, das geht am schnellsten, knall mich ab.«

»Ich mach das nicht selbst. Aber nun, schreib’s rein, mündlich reicht mir das nicht.«

Dann löste er sich auf, mitsamt Papier und Schreiber. In Hamburg, sagte er noch, würden wir uns wiedersehen. Überhaupt, Hamburg. Das hatten wir uns eigentlich abgeschminkt. Da musste man wirklich nicht häufiger hin als unbedingt notwendig. Ich schaute in den Spiegel, der neben meinem Kleiderschrank hing, und versenkte mich in meine Augen. War das alles real? Waren das Visitationen aus einer anderen Dimension? Was für einen Beweis hatte ich, um mich vergewissern zu können? Er hatte ja nicht mal einen Durchschlag dagelassen. Hatte sich vielleicht die Wirklichkeit aufgespalten in eine alte Zeitlinie und eine neue, parallel laufende Zeitlinie? Von so was hatte ich mal gelesen in so ’nem Science-Fiction-Roman. Oder bin ich schlicht gaga geworden, schizo? Immerhin fühlte ich mich, obwohl ich mich gerade an den Teufel prostituiert hatte und meiner Seele eine Existenz in der sprichwörtlichen Hölle bevorstand, federleicht, so leicht wie lange nicht. Hölle. Ich kannte das Wort aus drei Ecken. Aus dem Maul des Schulpfaffen, der uns immer ein schlechtes Gewissen einimpfen wollte. Aus dem des Chorleiters, der mir versicherte, dass meine Faxen Konsequenzen haben würden. Und aus dem meines Vaters, der meiner Mutter angedroht hatte, in die Hölle zu kommen, wenn ich nicht mit ihm nach Neuseeland würde auswandern können. Und jetzt sollte die Hölle mein Wohnsitz werden für Äonen? Ich schlich mich runter ins Wohnzimmer und schnappte mir die fette Kompaktausgabe der Britannica-Enzyklopädie. H wie Hölle. Mann, das war nicht wenig. Hier, Hölle, Christentum. Hinweis aufs Neue Testament, Markus 9, Vers 42 bis 50. Ich griff die Bibel, die nicht weit stand. Und ich stieß auf eine Ansage von Jesus an seine Jünger:

»Wenn dich dein Auge verführt, so wirf’s von dir! Es ist besser für dich, dass du einäugig in das Reich Gottes eingehst, als dass du zwei Augen hast und wirst in die Hölle geworfen, wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht verlöscht. Denn jeder wird mit Feuer gesalzen werden. Das Salz ist gut; wenn aber das Salz nicht mehr salzt, womit werdet ihr’s würzen? Habt Salz bei euch und habt Frieden untereinander!«

Die halbe Nacht zog ich mir das staubige Ding rein. Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass ich freiwillig hineinschaute. Ich wurde nicht fromm erzogen. Ich ging als Junge zwar zu den Anglikanern, in so eine Jugendgruppe der Sankt-Peters-Gemeinde im Stadtteil Woolton, und sang im Chor. Aber das war’s auch schon. Meine Urgroßeltern waren Katholiken aus der irischen Grafschaft Derry, der Bruder meines Großvaters arbeitete sogar als Priester. Es war die walisische Familie meiner Mutter, die anglikanisch tickte. Dass wir aber das ganze Glaubenszeug nicht so ernst nahmen, konnte man daran erkennen, dass ich mit elf aus dem Kirchenchor flog, weil ich nicht aufhörte, obszöne und pietätlose Texte in die Kirchenlieder hineinzuimprovisieren. Na ja, wer weiß, vielleicht hatte ich damals ja schon ein Teufelchen in der Tasche, und das, was ich gerade erlebte, wäre dann die schlüssige Fortsetzung.

… So be it, Lord; Thy throne shall never,

Like earth’s proud empires, pass away:

Thy kingdom stands, and grows forever,

Till all Thy creatures own Thy sway.

»Aufhören!!! Lennon!!! Hast du Till all Thy priesters lose Their weight gesungen?«

»Ja, Hochwürden!« Ich ging in die Hocke und versteckte mich vor dem vollgefressenen Pfaffen zwischen den Beinen der anderen Chorkinder.

»Wo bist du? Lennon!«

»Piep!« Ich kroch von links nach rechts. Kniff manchen Jungs in den Sack und schaute bei den Mädchen ganz besonders interessiert nach oben. »Piep!« Schon war ich auf der Gegenseite.

»Komm raus da! Es ist wirklich grauenhaft mit dir!«

»Hier spricht Jesus Christus!«, improvisierte ich. »Sei duldsam zu deinen Schutzbefohlenen!«

»Meine Geduld ist am Ende!« Fettsack setzte sich desillusioniert in die erste Bank und hielt sich sein Herz. »Bitte verlasse einfach die Kirche, Lennon, und lass uns weitersingen, bitte!«

Ich hatte ihn kleingekriegt, schob mich aus den Beinen heraus und zog mein weißes Hemd stramm.

»Okay, ich gehe. Aber eines lassen Sie sich gesagt sein: Jesus hätte es sicher komisch gefunden!«

»Hätte er nicht, bitte, geh.«

»Doch, er hatte Humor, und er verstand was vom Showgeschäft. Er ließ sich kreuzigen für die Leute und wusste genau, dass er heil davonkommen würde. Stimmt doch?« Und ich schaute nach oben zum Kruzifix.

II.

DER ANFANG

There’s room at the topthey are telling you stillbut first you must learnhow to smile as you kill

John Lennon – »Working Class Hero«

Der Wahnsinn, den wir in Litherland erlebt hatten, setzte sich tatsächlich fort. Der Cavern Club in Liverpool wurde zum Epizentrum. Die Teenagerschlangen davor wurden immer länger, und obwohl den meisten von ihnen klar war, dass sie niemals da unten Platz finden würden, blieben sie stehen in der Kälte und im Regen mit Gesichtern der Erwartung. Vielleicht, so erklärte ich mir das damals, funktionierten wir unter den steinernen Bogen des Gewölbekellers mit dem viel zu lauten Sound unserer elektrischen Gitarren wie eine Art Energiequelle, deren Strom sich über die Menschen ausbreitete und eben auch treppauf die Schlange entlangwanderte und auf die Straße hinaus bis zur letzten Person in der Reihe.

Natürlich hatte ich meinen Jungs von dem Deal berichtet, berichten müssen. Auch von den Konsequenzen, die ich zu erwarten habe. Vielleicht ist es aus psychologischer Sicht zu verstehen, dass wir nicht anders konnten, als das dicke Ende zu verdrängen. Möglicherweise gepaart mit der Hoffnung, dass sich noch irgendwann irgendein Ausweg auftun würde. Ich merkte schon damals, dass Pete die Sache nicht geheuer war. Er trommelte zwar fleißig mit, aber seine Zeit mit den Beatles näherte sich dem Ende. Auch mit Paul gab es noch eine Kleinigkeit zu klären, wenn auch eine völlig andere.

»Wir schreiben seit zwei Jahren Songs zusammen«, sagte er, während wir uns mit unseren Gitarren gegenübersaßen und ein wenig hin und her probierten. »Und wir werden auch in Zukunft vieles zusammen komponieren …«

»Ja, und?«

»Wie machen wir das mit dem, na ja, du weißt schon, lass uns doch jedes Mal Lennon/McCartney als Absender unter jeden Song schreiben.«

»Wie kommst du darauf … Ach, verstehe!«

»Ich, ich hätte den Pakt ja auch unterschrieben.«

»Mensch, Macca, hättest du einfach mal gewartet, was ich dir verfickt noch mal hätte erzählen können. Ja, ich bin zwar der Unterzeichner, aber du wirst laut Teufel genauso profitieren, ich meine den kreativen Output, und daher, ja, meinetwegen, können wir selbstverständlich uns beide drunter schreiben, solange wir die Beatles sind. Aber dass du darum bittest, das ist – verstehe mich nicht falsch – nicht sehr sym – pa – thisch. Es wird mich erwischen, nicht dich!«

»Is’ ja gut.«

»Und wenn du durch irgendeinen saublöden Zufall nicht selbst ums Leben kommst und über achtzig wirst, wirst du auch weit mehr von unserem Ruhm haben als ich.«

»Is’ ja gut, tut mir leid.«

»Das sollte es, Junge, mindestens.«

So war er immer schon gewesen, das Paulchen. Nennen wir es gutwillig: karrierebewusst. Natürlich waren wir Freunde, und natürlich waren wir durch den frühen Tod unserer Mütter Seelenverwandte, aber mit Paul befreundet zu sein, war wegen seines allürenhaften Ehrgeizes nicht immer leicht. In dem Song steckt aber mehr von mir drin, John! In dem da bestimmt 60 Prozent, und in dem da 75 Prozent! Bäbäbähh! Piss off, brother!

Nach Hamburg kehrten wir im Frühjahr 1961 zurück, George war inzwischen achtzehn, die Passkontrolle der guten alten deutschen Uniformträger durchlief ich selbst grimassierend ungestraft, und wir blieben für ganze drei Monate, konnten uns nun sogar eine kleine Pension leisten. Der Top Ten Club auf der Reeperbahn zahlte wieder etwas mehr als im Jahr zuvor, und in unser breites Repertoire mischten sich die ersten kleinen Juwelen aus eigener Herstellung. Während Paul sich an der ein oder anderen Schnulze versuchte oder bei den rockigeren Stücken ziemlich nach Elvis, Little Richard oder Buddy Holly klang, holte ich mit One After 909 eine Nummer aus dem Äther, die es zehn Jahre später bekanntlich noch aufs Let It Be-Album schaffte. Es ist meiner Meinung nach das erste Stück, das uns der Deal gebracht hatte. Erst dann kamen I Saw Her Standing There oder eben das ziemlich bescheuerte Love Me Do, für das ich Luzifer damals schon den Vogel zeigte. Aber er schwor darauf. »Wirst seh’n, John, wirst seh’n.«

Ich hatte anfangs keine Ahnung davon, wann und wo der Teufel auftauchen würde. Sicher, ich spürte es immer kurz davor an dem Magnetismus, aber ob er mir nun morgen oder übermorgen oder erst in einem Monat über den Weg laufen würde, ich wusste es nicht. So bekamen wir ihn im gesamten Jahr 1961 kein einziges Mal zu Gesicht, aber durch unseren langsam anwachsenden Erfolg war mir seine Präsenz immer bewusst. Den anderen dreien reichte das als Nachweis. Es galt ohnehin ein eisernes Schweigegelübde. Seine Unsichtbarkeit war da sicher hilfreich. Wir mussten die Schnauze halten. Unter Strafandrohung. Auch das hatte in dem Papier gestanden, unter das ich meinen Namen gesetzt hatte. Andererseits machten wir die Erfahrung, dass wir in den bierseligen Momenten, in denen uns unser besonderes Verhältnis mit dem Leibhaftigen herausrutschte, für durchgedreht – oder eben: besoffen – gehalten wurden. So war es bei Astrid, Stuart, Jürgen und Klaus. Und auch bei Tony Sheridan, den wir 1961 in Hamburg als Begleitband unterstützten. Ihm gegenüber passierte es eines Abends …

»Junge, ich habe meine verdammte Seele dem Teufel verkauft.«

Er schaute mich kritisch an – und brüllte dann los vor Lachen. Ich lachte mit, während es in mir ganz leise wurde. Ich bin mir relativ sicher, dass ihm dieser Satz während unseres rauschhaften Aufstiegs immer wieder in den Sinn gekommen ist und er mir nachträglich glaubte. Er plauderte sogar darüber, mit Freunden, mit Journalisten. Was aber aufgrund der völlig entspiritualisierten Gesellschaft zu keinerlei Nachfragen führte. Teufel? Seele? Das wurde sofort ins Reich der Legenden eingeordnet, weil es das ja gar nicht gibt.