Giulia und der Wolf - Luisa Bove - E-Book

Giulia und der Wolf E-Book

Luisa Bove

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Beschreibung

Die Wunden des Missbrauchs heilen langsam. Das Drama von Giulia und ihr langer Weg der Befreiung. Im Mailand der 1980er-Jahre findet Giulia in der Jugendgruppe Halt und Anerkennung, gerät aber in die Abhängigkeit des Priesters, der das Zentrum leitet. Sieben Jahre lang missbrauchte der "Wolf" (so bezeichnete Papst Franziskus pädophile Priester) das Mädchen. Giulia, die Soziologie studierte und in einen Orden eintrat, verdrängte viele Jahre diese Erfahrungen, obwohl sich physische und psychische Probleme einstellten, bis sie die Kraft und den Mut fand, darüber zu reden.

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LUISA BOVE

GIULIA

und der

WOLF

Die Geschichteeines sexuellenMissbrauchsin der Kirche

Mit einem Vorwort vonHANS ZOLLNER SJ

Aus dem Italienischen übersetzt vonGabriele Stein

Titel der italienischen Originalausgabe:

Giulia e il Lupo. Storia di un abuso sessuale nella Chiesa

© Àncora Editrice – Milano 2016

Für die Texte im Anhang:

© Libreria Editrice Vaticana

Nachhaltige Produktion ist uns ein Anliegen; wir möchten die Belastung unserer Mitwelt so gering wie möglich halten. Über unsere Druckereien garantieren wir ein hohes Maß an Umweltverträglichkeit: Wir lassen ausschließlich auf FSC®-Papieren aus verantwortungsvollen Quellen drucken, verwenden Farben auf Pflanzenölbasis und Klebestoffe ohne Lösungsmittel. Wir produzieren in Österreich und im nahen europäischen Ausland, auf Produktionen in Fernost verzichten wir ganz.

Mitglied der Verlagsgruppe »engagement«

2020

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung, Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag

unter Verwendung eines Bildes von Adobe Stock © neirfy

Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien

ISBN: 978-3-7022-3834-6 (gedrucktes Buch)

ISBN: 978-3-7022-3835-3 (E-Book)

E-Mail: [email protected]

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Allen Frauen gewidmet,die Opfer von Missbrauch geworden sind,die allein sind und keine Stimme haben,dass sie den Mut finden,ihren Kopf zu hebenund die verlorene Freiheit zurückzugewinnen.

INHALT

Vorwort

Ein Zeugnis der Hoffnung (Anna Deodato)

Einleitung. Die Opfer müssen gehört werden (Hans Zollner SJ)

Giulia und der Wolf

1.Meine Wurzeln: Licht und Schatten

2.Aufwachsen zwischen Vertrauen und Verrat

3.Verletzte und zerstörte Intimität

4.Im Strudel der Abhängigkeit

5.In Scham und Schuld gefangen – das Aufbegehren des Körpers

6.»Der Herr kann tun, was er will«

7.Der Kuss bei der Kreuzverehrung

8.»Hilf mir! Tröste mich, Herr! Berühre mich mit deiner Zärtlichkeit!«

9.Aus den Trümmern auferstehen

10.Werde ich immer ein Opfer bleiben?

An der Seite der Opfer gehen(Anna Deodato)

Giulia und ihr Mut

Lässt sich dieser Schmerz umwandeln?

»Vergeben heißt nicht ignorieren, sondern verwandeln«

Ein dringender Appell an die Kirche

Ein Wort an den Wolf

Ein Wort an jeden und jede von uns

Danksagung

AnhangÄußerungen von Papst Franziskus zusexuellem Missbrauch in der Kirche

Hl. Messe in der Kapelle des vatik. Gästehauses Domus Sanctae Marthae mit Opfern sexuellen Missbrauchs durch Mitglieder des Klerus. Predigt des Heiligen Vaters (7. Juli 2014)

Ansprache an die Mitglieder der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen (21. September 2017)

Schreiben an das Volk Gottes (20. August 2018)

Treffen »Der Schutz von Minderjährigen in der Kirche«. Ansprache am Ende der eucharistischen Konzelebration (24. Februar 2019)

Apostolisches Schreiben in Form eines Motu proprio »Vos estis lux mundi« (7. Mai 2019)

Schreiben an die Priester zum 160. Todestag des Pfarrers von Ars (4. August 2019)

VORWORT

Die Entscheidung, mein Schweigen zu brechen und der Journalistin Luisa Bove meine Missbrauchsgeschichte zu erzählen, ist mir nicht leichtgefallen. Doch am Ende habe ich mich dazu durchgerungen, und es ist mir ein Anliegen, die Gründe, die mich dazu bewogen haben, der Reihe nach aufzuzählen.

Ich habe es für mich getan: weil das Erzählen mir hilft, mich zwingt, mich daran zu erinnern und vor allem es auszudrücken, auszustoßen, auszusprechen, zu ordnen: Ereignisse, Gedanken, Empfindungen, Gefühle …

Für uns beide, für mich und für Martina oder, besser, für den Weg, den wir gemeinsam gehen. Ich kann mir meine Befreiung nur auf der Grundlage der Gespräche mit Martina vorstellen, die mich die Schwere dessen, was vorgefallen ist, hat erkennen lassen.

Für andere Frauen, Verwundete wie ich selbst, die noch nicht darüber sprechen können oder nicht wissen, an wen sie sich wenden oder wo sie anfangen sollen.

Für die Institution Kirche und für alle Priester: damit die Kirchenleitung und die Geistlichen wissen, dass gewisse Dinge (und zwar häufiger, als man meint) auch in Italien, in Mailand, geschehen. Man muss nur den Mut haben, es auszusprechen, und den Anstand, zuzuhören.

Für die Menschen guten Willens: für alle, die, ob glaubend oder nichtglaubend, die Herausforderung annehmen, den Deckel zu lüften und dunkle und traurige Geschichten von Gewalt und Missbrauch ans Licht zu bringen.

Heute hoffe ich, dass dieses Buch von vielen gelesen wird und dass viele sich provozieren und in Frage stellen lassen. Vor allem aber hoffe ich, dass diese Seiten – in ihrer tragischen und leidvollen Wahrhaftigkeit – andere Frauen, die wie ich Opfer des Missbrauchs geworden sind, ermutigen, sich helfen zu lassen und aus dem Schatten zu treten, auch wenn der Weg lang und schmerzhaft sein wird. Es ist der Preis der Freiheit und der Loslösung, aber das ist es wert.

Giulia

EIN ZEUGNIS DER HOFFNUNG

Anna Deodato

Giulias1 Bericht erzählt in der ersten Person von einem jahrelangen Leiden, zunächst im Dunkel der Unmöglichkeit, sich von einem pädophilen Priester (dem Wolf) zu befreien, der sie manipulierte und an sich band, und sodann im Dunkel von Scham und Schuld, die sie daran hinderten, sich selbst als das Opfer eines Missbrauchs zu erkennen. Erst nach vielen Jahren sind in ihr und in ihrem Umfeld so günstige Bedingungen entstanden, dass ihr Schmerz und die Wahrheit ans Licht kommen konnten. Und so ist Giulias Leben heute ein Zeugnis der Hoffnung, weil sie den Mut gefunden hat, das, was geschehen ist, offenzulegen. Auf den folgenden Seiten werden Sie die ungeschönte Darstellung der Fakten und die Entwicklungsgeschichte jener tiefgreifenden Fragen lesen, die Giulia sich nach wie vor stellt: Ihr innerer Weg ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Und dass sie den Weg weitergeht, ist nach so schwerwiegenden Geschehnissen durchaus nicht selbstverständlich. Möge ihre Beharrlichkeit für uns alle ein Ansporn sein, in dem Bewusstsein zu wachsen, dass die Plage des sexuellen Missbrauchs ebenso mutig wie aufrichtig und nach bestem Gewissen bekämpft werden muss.

Es scheint mir wichtig, sofort klarzustellen, was man unter »sexuellem Missbrauch« versteht. Dieser Begriff bezieht sich auf all jene Handlungen mit sexuellem Hintergrund, die die Grenzen der Person überschreiten und eine vom anderen nicht gewollte Beteiligung herbeiführen. Es handelt sich um eine Verletzung der Intimsphäre, die unangemessene Berührungen zu sexuellen Zwecken beinhaltet. Der sexuelle Missbrauch umfasst, wie es im geltenden italienischen Strafgesetzbuch heißt, nicht unbedingt den vollständigen Geschlechtsakt mit oder ohne Penetration.

Wie ich weiter unten schreibe, habe ich Giulia über den vorliegenden Bericht kennengelernt, auf dessen Seiten ich Schritt für Schritt die Wegspuren vieler anderer Menschen wiedererkannt habe, die durch Machtmissbrauch, Gewissensmissbrauch, sexuellen Missbrauch oder – häufig unterschätzt und unerkannt – durch spirituellen Missbrauch verletzt worden sind. Vom Moment seiner Erstveröffentlichung an hat dieses Buch in den letzten Jahren viele verwundete Herzen und viele Geschichten von Personen berührt, die nach Gründen und nach der Kraft suchen, in ihrem Leben neu anzufangen. Giulia hat den Mut gefunden, das, was sie durchgemacht hat, zu bezeugen, und damit anderen Schwestern und Brüdern, die noch immer um ihre Befreiung ringen, zu ihrem Recht verholfen und ihnen neues Licht geschenkt.

In den letzten Jahren ist der Prozess der Bewusstmachung dessen, was ein Missbrauch in der betroffenen Person, in ihrer Familie, in den Gemeinschaften und in der gesamten Gesellschaft anrichtet, zum Glück weiter vorangeschritten und hat die Entschlossenheit zugenommen, diese Wunde, die im Herzen der Kirche blutet, zu bekämpfen. Papst Franziskus hat in seiner Ansprache zum Abschluss der Sonderkonferenz »Treffen zum Schutz Minderjähriger in der Kirche« »die erforderliche Einheit der Bischöfe bei der Anwendung der Parameter, die als Normen und nicht bloß als Orientierungen gelten müssen, neu bekräftigen« wollen, damit kein einziger Missbrauch jemals mehr vertuscht und unterschätzt wird. Auch die Italienische Bischofskonferenz hat neue Richtlinien gegen den Missbrauch von Minderjährigen und Schutzbedürftigen verabschiedet (Rom, 24. Juni 2019) und vor allem darauf hingewiesen, dass man den betroffenen Personen zuhören, sich ihrer annehmen und sie begleiten muss. »Der Schutz der Minderjährigen und die Sorge um die Schutzbedürftigen« – so heißt es in dem besagten Dokument – »stellen einen unabdingbaren Bezugspunkt und ein maßgebliches Kriterium der getroffenen Entscheidungen dar. Schutz und Sorge sind ein wesentlicher Bestandteil der Sendung der Kirche beim Aufbau des Reiches Gottes«.

Einige Schritte sind getan, andere warten noch darauf, dass wir sie umsetzen. Der Weg ist weit, die Verpflichtung sehr ernst, und die Beteiligung und Mitwirkung aller ist gefragt. Information, Prävention und Bildung müssen nun in Tätigkeit einmünden, in konkrete Initiativen, die sich an alle richten, und in größere Gewissenhaftigkeit bei der Beurteilung der Mitglieder des Klerus und der Institute geweihten Lebens. Wir alle, ausnahmslos alle, müssen uns in die Pflicht gerufen fühlen, damit in unseren Gemeinschaften und in unserem Umfeld die Rechte der Wehrlosesten immer gewahrt und gefördert werden. Andere Herausforderungen, die noch auf uns warten, betreffen die Gerechtigkeit, die Entschädigung und jedwede Form der therapeutischen, moralischen und spirituellen Hilfe.

Bei der Lektüre von Giulias mutigem Zeugnis werden uns viele andere Opfer begegnen. Ich wünsche mir, dass dieses Buch nicht aus Neugier, sondern in dem Wunsch gelesen wird, dass unser Herz sich beunruhigen und verwunden lässt, um ihre Kämpfe und ihre Sehnsucht nach Befreiung, ihre Lebenslust und die Kraft ihrer Hoffnung mit ihr gemeinsam zu durchleben. Denn nur verwundete Herzen können ihrerseits zu Zeugen eines Schmerzes werden, der ans Licht gebracht, aufgenommen, geheilt werden muss, damit wir die Beweggründe und die Kraft finden, alles dafür zu tun, dass diese »abscheulichen Verbrechen« vom Antlitz der Erde getilgt werden, wie Papst Franziskus in seiner Abschlussansprache auf dem Treffen zum Schutz der Minderjährigen in der Kirche am 24. Februar 2019 gesagt hat.

Anna Deodato

Diözesanhelferin (derzeit am Zentrum für Berufungsbegleitung des Bistums Mailand) und Mitglied des Nationalen Dienstes zum Schutz Minderjähriger der Italienischen Bischofskonferenz

1Sämtliche Namen im Buch sind frei erfunden. Der Priester, der in die Angelegenheit verwickelt war, ist inzwischen verstorben.

EINLEITUNG

DIE OPFER MÜSSEN GEHÖRT WERDEN

Hans Zollner SJ

Dieses Buch fordert heraus. Es sind der Inhalt und vor allem die Intensität, wie die persönliche Erfahrung von Missbrauch beschrieben wird, die eine Herausforderung darstellen.

Wollen wir glauben, dass all dies geschehen ist? Wollen wir glauben, dass ein Seelsorger und Verkünder der Frohen Botschaft eine junge Frau über so viele Jahre hinweg misshandelt und missbraucht hat?

Es lässt sich nur erahnen, wie viel Mut und seelische Qualen es die Autorin gekostet haben muss, all das niederzuschreiben, was sie durchlebt hat. Und zugleich kommt darin in bewundernswerter Weise ihre große innere Stärke zum Ausdruck, sich all dem zu stellen.

Von Zeit zu Zeit verspüren wir den Impuls, das Buch zur Seite zu legen und mit dem Lesen aufhören zu wollen. Denn es braucht nicht nur Ausdauer, die geschilderte Realität zu erfassen, um damit in Kontakt zu bleiben, sondern auch die Fähigkeit, mit den Gefühlen wie Unbehagen und aufkeimendem Widerstreben umzugehen – damit wir nicht Gefahr laufen, wie der Priester und der Levit im Gleichnis vom barmherzigen Samariter daran vorüberzugehen.

Das Lesen dieser wahren Geschichte ist eine körperlich fast schmerzhafte Übung; eine große psychologische und spirituelle Herausforderung, bis zur letzten Seite durchzuhalten. Aber es ist notwendig und schließlich auch heilsam, sich dieser Prüfung zu stellen!

Notwendig, weil wir angehalten sind, dem Beispiel Jesu zu folgen, der sich zu den Schwächsten, Kranken und Wehrlosen beugt und ihnen mit Empathie und ehrlichem Verstehen begegnet. Nur wenn wir uns selbst im Herzen berühren lassen, sind wir imstande, die Verantwortung zu übernehmen, um all jenen gerecht zu werden, die so viel Ungerechtigkeit erlitten haben und seelisch so schwer verwundet wurden.

Heilsam, weil es zwar schmerzhaft, aber auch ehrlich und lehrreich ist, sich manchmal fassungslos den Fragen zu stellen, wie all das mitten unter uns scheinbar unbemerkt geschehen konnte, und warum wir in der Kirche weggeschaut, verharmlost und zugelassen haben, statt alles dafür zu tun, um jegliche Form von Missbrauch zu verhindern. Heilsam auch, weil uns die Augen geöffnet werden für unseren wahren menschlichen und spirituellen Zustand. Dazu gehören Versagen, Verleugnen und Untätigkeit im Angesicht von Sünden und Verbrechen. Es ist für viele kaum zu ertragen, dass Jesus jenen, die ehrlich bereuen und bekennen, die aufrichtig um Vergebung bitten und alles für eine Wiedergutmachung einsetzen, Vergebung und Erlösung in Aussicht stellt.

Erst der nüchterne und offene Blick auf den Missbrauch von Macht und das aufrichtige Bestreben aller Verantwortlichen, gezielt dagegen anzugehen, lässt die Hoffnung und den Mut aufkommen, dem »Leben wieder neu zu trauen, weil Gott es mit uns lebt« (vgl. Alfred Delp). Diese radikale Umkehr ist gleichsam ein Exodus »aus der sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise« (1 Petr 1,18).

Dieser wahrhaft christliche Weg wurde von den jüngsten Päpsten mit einzigartiger Autorität eingeschlagen und trotz aller Schwierigkeiten und Widerstände intensiviert. Benedikt XVI. hat auf seinen Reisen seit 2008 mehrfach Missbrauchsopfer getroffen und die Leitlinie »An erster Stelle die Opfer« ausgegeben: Betroffene müssen gehört und beschützt, ihnen muss geglaubt und geholfen werden. Gerade, wenn der sexuelle Missbrauch von einem Geistlichen begangen wird, wird die Fähigkeit zu beten und an einen Gott zu glauben, der uns vor allem Unheil beschützt, radikal in Zweifel gezogen.

Papst Franziskus hat den eingeleiteten Veränderungsprozess seines Vorgängers trotz deutlicher Vermeidungsstrategien und Gegenbewegungen vertieft und erweitert. Er tat dies mit einer starken und prophetischen Geste, als er 2014 erstmals Opfer sexueller Gewalt in den Vatikan – zu sich nach Hause, nach St. Marta – einlud und sich von ihren, das Leben prägenden, schmerzvollen Erlebnissen und Erfahrungen erzählen ließ. Im Gespräch mit jedem einzelnen wollte er ihren Verletzungen, ihrem Zorn, ihrer Enttäuschung, ihren Wunden, ihrer oft tiefen Einsamkeit wie auch ihrer Stärke und ihren Hoffnungen direkt begegnen.

Seither empfängt Papst Franziskus regelmäßig Frauen und Männer, die durch Priester und Ordensleute sexuell missbraucht wurden. Diejenigen, für die dies möglich war, sehen sich als Stellvertreterinnen und Stellvertreter all jener, denen sich diese Gelegenheit nicht eröffnen wird. In diesen – wie er selbst sagt – kostbaren, erschütternden und intensiven Momenten lerne auch er stets dazu – bei jeder neuen Begegnung, bei jedem weiteren Gespräch. Damit ist Papst Franziskus ein Vorbild für die Bischöfe und alle Mitglieder der Kirche, die aufgerufen sind, dem Schmerz von Betroffenen und ihrer Sehnsucht nach Heilung von Missbrauch aufrichtig und mit dem Herzen zu begegnen.

Zudem unterstützt der Papst eine Vielzahl von Initiativen, die sich engagiert mit dem Thema Missbrauch befassen. Während des Kinderschutz-Treffens der versammelten Kirchenleitung aus aller Welt im Vatikan im Februar 2019 machte er es möglich, dass Betroffene den Teilnehmern und ihm selbst, auch in der persönlichen Begegnung, über ihren Lebensweg und die Folgen des Missbrauchs berichten konnten. Damit setzt Papst Franziskus ein deutliches Signal für die Kirche und für die Gesellschaft: Die Betroffenen haben über ihre Leidensgeschichte hinaus eine prophetische Botschaft.

Wer Giulia zuhört spürt, dass Betroffene mit unserer Aufmerksamkeit, Solidarität und mit unserem Einsatz für ihre Ermächtigung rechnen.

Diese beispielgebenden Begegnungen mit Papst Franziskus wie auch mit Bischöfen, Ordensoberen und offenen, zugewandten Repräsentanten der Kirche haben viele Betroffene tief bewegt. Für sie hat sich endlich eine Tür geöffnet, die viel zu lange fest verschlossen war. Ihre Ängste, ihre Wut und ihr tiefer Schmerz lassen allmählich nach, weil all dies offengelegt, gehört, anerkannt wird, und so diese Last endlich nicht mehr alleine getragen werden muss. Wo lange Zeit Nacht war, beginnt ein Licht der Hoffnung zu leuchten. Der Prozess der Heilung und vielleicht auch der Versöhnung ist möglich. Daran kann, soll und muss die ganze Kirche – »einfache« Kirchgänger, Ehrenamtliche und alle hauptamtlichen Verantwortlichen – mitwirken. Das geschieht dort, wo ein offener Raum und eine Erzählkultur geschaffen werden, in der Betroffene, Mitbetroffene und Nichtbetroffene einander offen und ehrlich begegnen, um zu hören und zu unterscheiden suchen, »was der Geist den Gemeinden sagt« (Offb 3,13).

Die Biografien von Menschen, die zu Opfern von sexuellem Missbrauch wurden, sind sehr individuell. Die sozialen und existenziellen Auswirkungen ihrer Leidensgeschichten führen nicht selten zu erheblichen Belastungen und Einschränkungen in der Bewältigung des alltäglichen Lebens. Das kann dazu führen, dass einige versuchen, Suizid zu begehen, um so ein unerträgliches Leben zu beenden. Andere vertrauen zeitlebens niemandem mehr und bleiben isoliert. Wieder andere zeigen sich unerbittlich und hart und tragen ihre anhaltende, oftmals sehr verständliche Wut in die Medien. Manche engagieren sich in kirchenunabhängigen Betroffeneninitiativen und ermutigen so Mitbetroffene, ihr Schweigen zu brechen. Manche verlieren in ihrem oft einsamen »Kampf« den Glauben und verlassen die Kirche tief enttäuscht und verletzt, weil sie nicht gehört wurden, niemals Unterstützung erfahren haben oder ihnen nicht geglaubt wurde. Sie haben jegliches Vertrauen in eine so handelnde Kirche verloren. Sie alle fordern uns heraus, auf persönlicher, gemeinschaftlicher und systemischer Ebene die Wurzeln des Übels auszugraben, damit eine Kultur der Achtung und Verantwortung wächst, die jegliche Form von Missbrauch verhindert.

Es gibt aber auch Betroffene – wir wissen nicht wirklich, wie viele es sind –, die durch »Zufall«, »Glück« oder durch »Vorsehung« den »richtigen Menschen« zur »richtigen Zeit« begegnen (Therapeuten, Ehe- und Lebenspartner, Freunde usw.), so dass sich in ihrem Leben plötzlich unerwartete Wege öffnen. Sie treffen auf Umstände, die es ihnen ermöglichen, in verlässlicher und heilender Begleitung eine Reise der Trauer und des Verstehens in den Abgrund der eigenen dunklen Vergangenheit anzutreten. Sie beginnen in kleinsten Schritten ihr Leben und ihre Gegenwart auf tragfähigem Boden neu auszurichten. Das braucht Mut, leise wachsendes Vertrauen und die Bereitschaft, sich trotz Blick auf die leidvolle Vergangenheit dem Leben zu stellen und sich darauf einzulassen. Diese Menschen können so hoffend in eine heilere Zukunft gehen. Zuweilen erfahren sie das Geschenk der Versöhnung. Manchmal werden diese Menschen sogar Zeugen jener Wahrheit des Evangeliums, die besagt, dass Wundmale in eine kleine Öffnung verwandelt werden können, in die Heilung fließt, und dass der Tod zu neuem Leben führt.

Es ist beeindruckend, diese Menschen zu treffen. Sie verbreiten eine tiefe Menschlichkeit und besitzen eine hohe seelische Sensibilität, die sie offensichtlich näher an das Geheimnis des Gottessohnes bringt, der uns erlöst, indem er alles Menschliche in seinem Leben, Leiden und Auferstehen annimmt und wandelt.

Die Geschichte in diesem Buch lässt uns sehen, wie ein Mensch tiefste körperliche, mentale und spirituelle Verletzungen und Kämpfe nicht nur überlebt, sondern ein Beispiel für Hoffnung und Leben werden kann. All das fordert uns auf und erinnert uns daran, wie wichtig es ist, sich Betroffenen zu öffnen und ihnen zuzuhören. Denn nur der unmittelbare Kontakt zu ihrem Da-Sein, ihrer Offenheit, ihrer Stimme, ihrem Blick ermöglicht es uns zu verstehen, wie tief die Verletzung reicht, wie nachhaltig deren Folgen sind. Es ist wichtig, uns selbst in eine Berührbarkeit hineinzubegeben, um zu verstehen und Betroffenen glaubhaft das Vertrauen entgegenzubringen, über alles reden zu können, was für sie im Zusammenhang mit den Folgen des Missbrauchs bedeutsam ist und ihr Leben beeinträchtigt – von Depressionen über oftmals schwere Erkrankungen, existenzielle Nöte, Anklagen, Zorn bis hin zur Sehnsucht nach Sinn und Versöhnung. Außerdem ist es wichtig, glaubhaft vermitteln zu können und dafür Sorge zu tragen, dass das, was sie gesagt haben, »weiterwirken« und entsprechende Konsequenzen für das kirchliche Leben in all seinen Facetten nach sich ziehen wird, auch für die Täter und Vertuscher. Diese Betroffenen werden dann für uns zu Lebens- und manchmal auch zu Glaubenszeugen samt ihrem Ringen und Zweifeln, ihren kritischen Anfragen und Neuentdeckungen auf dem Weg zu sich und ihrer inneren Heimat.

Ich hoffe sehr, dass die Erzählung von Giulia – dieser einerseits erschütternden und traurigen, aber auch sehr tröstlichen Geschichte – alle Leser ermutigt, Mitverantwortung zu übernehmen und den Betroffenen von Missbrauch nicht nur zur Seite zu stehen, sondern sie auch ins alltägliche Geschehen und Gemeindeleben einzubinden. Wer sich fragen sollte, wann man denn aufhören könne, sich mit Fragen von Missbrauch und seiner Prävention zu beschäftigen, um sich endlich wieder den »eigentlichen« pastoralen Aufgaben zu widmen, der sollte erkennen: Dies – die Sorge für Betroffene von Missbrauch, ihre Einbindung in die regulären seelsorglichen Bereiche und das Aufnehmen von Anliegen Betroffener von Missbrauch – ist derzeit eine vorrangige pastorale Aufgabe und Verantwortung von kirchlichen Aktivitäten aller Art.

Betroffene von Missbrauch sind »Übersetzer« einer Wirklichkeit, die nur sie beschreiben können, weil sie diese erlitten und durchlitten haben. Die Vielzahl ihrer persönlichen und beruflichen Kompetenzen sind eine Bereicherung für unser Miteinander in vielen Lebensbereichen wie z. B. den Pfarreien, Diözesen und Schulen, durch ihr Mitwirken an Workshops, Tagungen, in den Beratungsstellen und in der Präventionsarbeit (um nur einige zu nennen) – Kompetenzen, über die jemand, der solch ein Trauma nicht erlebt hat, normalerweise nicht verfügt.

Wir können darauf vertrauen, dass wir uns dann sehr nahe am Herzen des Evangeliums befinden, weil wir dem Leiden eines Menschen, den Jesus Christus liebt, nahe waren und bleiben, und dass wir seinem Beispiel folgen, wenn er sagt: »Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn solchen wie ihnen gehört das Reich Gottes« (Mk 10,14).

Rom, 6. August 2019

Fest der Verklärung unseres Herrn

Hans Zollner SJ

Präsident des Centre for Child Protection (CCP) derPäpstlichen Universität Gregoriana, RomMitglied der Päpstlichen Kinderschutzkommission

NB: An der Verfassung dieses Vorwortes hat Agnes Wich, Betroffene von sexuellem Missbrauch durch einen Kleriker, mitgewirkt.

GIULIAund derWOLF

1

MEINE WURZELN: LICHT UND SCHATTEN

Ich hatte es mir geschworen: Dieses Geheimnis würde ich mit ins Grab nehmen. Wen ging es etwas an, dass ich von einem Priester missbraucht worden war? Wem hätte ich davon erzählen sollen? Und dass es passiert war, war ganz allein meine Schuld. Es war mir vielleicht nicht bewusst gewesen, aber ich hatte mir das selbst eingebrockt! Diese und ähnliche Gedanken haben mich jahrelang gefangen gehalten. Das erste Mal liegt inzwischen über 35 Jahre zurück. Und jetzt sitze ich hier und schreibe und versuche die unbequemen, hemmenden, demütigenden Erinnerungen in meinem Kopf und in meinem Herzen neu zu sortieren. Erinnerungen, die wie Felsblöcke auf mir lasten und die ich erst nach Jahrzehnten wieder an die Oberfläche habe kommen lassen, damit ich sie endlich bewältigen und weitergehen kann. Doch während ich dies schreibe, kann ich nicht behaupten, dass mir dies bereits gelungen wäre.

Natürlich habe ich das alles nicht alleine geschafft. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dieses Geheimnis, wie schon gesagt, mit ins Grab genommen. Ich verdanke es Martina, die es verstanden hat, geduldig und feinfühlig auf mein Unbehagen einzugehen und meine unsortierten und unsicheren Schritte zu begleiten. Doch es ist ihr auch gelungen, mir begreiflich zu machen, was wirklich geschehen ist. Denn wenn man mit nur 15 Jahren und womöglich über längere Zeit immer wieder missbraucht wird, dann verschwimmen nicht nur die Umrisse, sondern auch das Wissen um die Schwere dessen, was vorgefallen ist. Genauso war es bei mir!

Ich vermag heute nicht zu sagen, ob der Missbrauch und alles, was geschehen ist, vorhersehbar war, ob es Gefahrensignale gegeben hat, die ich unterschätzt habe, ob ich mich selbst in Schwierigkeiten gebracht habe … Ich halte mich für einen »normalen« Menschen, weder besonders kapriziös noch besonders eitel. Dennoch ist es passiert. Und zwar mir.

Ich bin in einer kinderreichen Familie in Mailand geboren und aufgewachsen. Als das jüngste von fünf Kindern war ich, anders als man es vielleicht erwarten würde, nicht sonderlich verwöhnt oder so eine Art Hausmaskottchen. Genau genommen wurde ich gar nicht groß beachtet. Mein Vater war immer sehr fleißig: Er hat 40 Jahre lang als Angestellter bei einer Versicherungsgesellschaft gearbeitet. Meine Mutter arbeitete Teilzeit als Buchhalterin bei einer kleinen Firma. Zwei Jahre nach ihrer Hochzeit kam Paola, die Erstgeborene, zur Welt. Sie ist 15 Jahre älter als ich und war für mich so eine Art Ersatzmutter: nicht, weil meine Mutter nicht dagewesen wäre, sondern weil sie schon mit dem Rest der Familie alle Hände voll zu tun hatte und, als ich dann zur Welt kam, schon zu erschöpft war, um sich auch noch um mich zu kümmern. Ich bin sicher, dass meine Mutter mich gerngehabt hat, auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, dass sie mich oft gestreichelt oder in den Arm genommen hätte – nicht aus Bosheit, sondern schlicht aus Zeitmangel. Oder vielleicht, weil es ihr gar nicht in den Sinn kam, dass solche Liebesbeweise wichtig oder schön sein konnten.

Nach Paola kam Filippo: ernst, perfekt und ein wenig nervtötend; dann Luca, immer schlagfertig, dabei klug und nachdenklich; dann kam Matteo, der ein Jahr älter ist als ich und an dem ich immer sehr gehangen habe. Und schließlich ich, die sensible und zielstrebige Giulia. Ich weiß nicht, ob ich ein Wunschkind war – meine Eltern hatten ja schon vier Kinder –, aber als gute Katholiken haben sie das Leben immer als ein Geschenk Gottes betrachtet, und folglich musste auch ich ein solches Gottesgeschenk sein.

Ich muss sagen, dass meine Eltern es uns an nichts haben fehlen lassen. Mit ihren eineinhalb Einkommen gelang es ihnen, alles in Gang zu halten und dafür zu sorgen, dass wir immer ordentlich aussahen: Wir trugen Anziehsachen aus den großen Kaufhausketten (Markenklamotten gab es bei uns nicht), die ohne große Diskussionen von einem Kind ans nächste weitergegeben wurden. Keiner von uns war je in einem Sportverein oder ist ins Fitnessstudio gegangen, geschweige denn, dass wir Schwimm- oder Tanzkurse besucht hätten. Für solche Hobbys war kein Geld da, was wir aber eigentlich nicht als Mangel empfanden: Dieser bescheidene Lebensstil (ich spreche nicht von Armut) war für uns normal, und wir waren zufrieden mit dem, was wir hatten. Die Stimmung bei uns zuhause war eigentlich meistens recht unbeschwert, und wir Geschwister verstanden uns gut. Wir hatten viel Spaß miteinander und taten uns manchmal auch zusammen, wenn wir etwas Bestimmtes erreichen wollten.

Wir wohnten in einem Viertel am Stadtrand, das in den 70er Jahren erbaut worden war und wo viele junge Paare und Familien mit Kindern lebten. Im Kindergarten war ich nie allein: Matteo war immer im Raum nebenan und bereit, einzugreifen und mich zu verteidigen, wenn mich jemand ärgerte oder wenn ich diejenige war, die beim Spielen mit den anderen Kindern Streit anfing. Ich hatte meine kleinen Freundinnen und mein Bruder hatte seine Freunde, aber auf dem Flur oder im Speisesaal hielten wir oft Ausschau nacheinander: Es war für uns beide eine Beruhigung, den anderen in der Nähe zu wissen. Als ich (erst) in meinem dritten Kindergartenjahr herausfand, dass meine größeren Geschwister, die schon zur Schule gingen, zum Mittagessen nachhause kamen, erhob ich ein lautes Protestgeschrei: nicht, weil mir das Essen im Kindergarten nicht geschmeckt hätte, sondern weil es mir ungerecht und diskriminierend vorkam, dass ich im Kindergarten bleiben musste. Das war natürlich nicht zu ändern, und ich protestierte vergeblich. Am Ende des Jahres war ich froh, dass ich endlich in die Schule kam, wo ich zum Glück nur vormittags Unterricht hatte, sodass ich zuhause zu Mittag essen konnte!

Als ich mit sechs Jahren eingeschult wurde, fühlte ich mich beinahe schon erwachsen. Ich ging mit Matteo und den anderen Kindern aus unserem Viertel zur Schule. Ich war stolz auf meinen roten Schulranzen, auch wenn die Farben nicht so leuchtend waren wie bei den Ranzen der anderen Mädchen aus meiner Klasse (er hatte ganz sicher auch weniger gekostet). Beim Thema Pausenbrote und Federmäppchen fühlte ich mich schon eher benachteiligt. In den Pausen sah ich immer neidisch zu, wie die anderen Mädchen ihre Leckereien auspackten: noch warme Focacce, die sie am selben Morgen beim Bäcker oder gerade erst in der Schule beim Hausmeister gekauft hatten. Ich dagegen hatte ein Paket Cracker aus dem Supermarkt oder einen Apfel dabei (sic!). Und mein Mäppchen sah eigentlich genauso aus wie das von meinem Bruder, es war keines »für Mädchen« und nur mit dem Allernotwendigsten bestückt: einem schwarzen und einem roten Stift, einem Bleistift, einem Radiergummi (wie man sie früher oft hatte: halb blau, halb rot) und zwölf Buntstiften. Meine Klassenkameradinnen dagegen hatten riesige Federmäppchen mit 24 oder 36 Filzstiften in allen erdenklichen Farbschattierungen, Vielfarbenstiften, hübschen Duft-Radiergummis, Anspitzern mit integriertem Deckel, Bastelscheren mit abgerundeten Spitzen … und ich weiß nicht, was noch alles. Ich lernte schnell, keine Ansprüche zu stellen und mich mit dem zufriedenzugeben, was da war.

Die anderen Schüler mussten ja besser malen können als ich, und ihre Handschrift musste ja perfekt sein! Das glaubte ich zumindest. Wenn mich jemand fragte, wie es denn möglich sei, dass ich keine Schere oder keinen magentafarbenen Filzstift hätte, wusste ich nicht, was ich antworten sollte, und geriet in Verlegenheit. Ich erinnere mich aber noch, wie wir eines Sonntagnachmittags bei meiner Kusine zu Besuch waren und ich mich dort endlich austoben konnte, weil ich mich nach Herzenslust aus ihrer großen Vierzigerschachtel von Caran d’Ache (den berühmten Buntstiften aus der Schweiz in einer Metallausführung) bedienen durfte. Doch meine Bilder wurden davon auch nicht besser!