Glamour - Ute Cohen - E-Book

Glamour E-Book

Ute Cohen

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Beschreibung

Glamour entsteht, wo sich Schönheit und Eleganz öffentlich inszenieren und in den bewundernden Blicken der Zuschauer spiegeln. Opulent und doch prekär, ganz präsent und doch kaum nahbar, ist die glamouröse Erscheinung eigens für den Moment geschaffen und beansprucht doch Dauer. Seine hohe Zeit hatte Glamour in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Aura der Leinwandstars das Kinopublikum in Bann zu schlagen vermochte. Er braucht das Rampenlicht, setzt Eigensinn und Risikobereitschaft voraus, ist verschwenderische Lust an der Selbstinszenierung. Glamour entfaltet seine Wirkung fast schockartig, verschlägt den Atem, macht sprachlos. Wer ihm begegnet, verlässt die Niederungen des Alltags. Obwohl wir heute im öffentlichen Raum fast ausschließlich von ästhetischer Tristesse umgeben sind, scheint das Verlangen nach solchen glanzvollen Auftritten zaghaft wiederaufzuleben. Ute Cohen jedenfalls erkennt in unserer Gegenwart ermutigende Anzeichen dafür, dass der Glamour seine bezwingende Strahlkraft nicht verloren hat.

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Seitenzahl: 159

Veröffentlichungsjahr: 2025

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UTE COHEN

Glamour

Über das Wagnis, sich kunstvoll zu inszenieren

Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Ute Cohen studierte Linguistik und Geschichte in Erlangen und Florenz. Nach ihrer Promotion lebte sie mehrere Jahre in Paris, wo sie für Unternehmensberatungen und eine internationale Organisation tätig war. Seit ihrer Rückkehr nach Deutschland schreibt sie regelmäßig für Zeitungen und Zeitschriften und hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter drei Romane, einen Gesprächsband sowie eine Kulturgeschichte der Kulinarik.

Inhalt

Cover

Titel

Einleitung

I put a spell on you

Die Angst vor dem Zauber

Authentizitätskult

Wahrheit oder Spiel

Spieglein, Spieglein

Liebe Echo, böser Narziss

Moralexhibitionismus

Glanzlose Tugendwüter

Save the Rich! Eat the Rich!

Die Crux mit dem Mammon

Vamps und Femmes fatales

Der Nimbus des Bös-Glamourösen

Blitzlichtgewitter

Das Verblassen der Glamour-Photographie

Licht aus, Spot an?

Die Einverleibung des öffentlichen Raums

Ch-ch-changes

Die Lust an der Verwandlung

Welch eine Erscheinung!

Ästhetik und Charakter

Glamouröse Rebellion

Je dunkler die Nacht, desto heller der Stern

Impressum

Einleitung

»She can’t act. She can’t talk. She’s terrific. Sign her«, schrieb der Studiochef Louis B. Mayer an seinen Kollegen, der ihm Probeaufnahmen einer jungen Schauspielerin mit smaragdgrünen Augen, dunkel gewelltem Haar und einem verführerischen Grübchen am Kinn geschickt hatte. Für ihre schauspielerische und sprecherische Unfähigkeit belohnt wurde die Dame mit einem Sieben-Jahres-Vertrag bei Metro-Goldwyn-Mayer, Auftakt zu einer grandiosen Hollywood-Karriere. Jahre später bekannte die Schauspielerin selbst in einem Interview: »Ich bin kein Filmstar. Und ganz sicher bin ich keine gute Schauspielerin. Sollte ich eine sein wollen, müsste ich an mir arbeiten, nicht wahr? Aber ich habe es nie getan.« So nonchalant mit der eigenen Fehlerhaftigkeit und den nicht gerade schmeichelhaften Äußerungen eines künftigen Chefs kann nur umgehen, wer es geschafft hat auf die großen Bühnen, wem die Begeisterung des Publikums und unverbrüchlicher Ruhm gewiss sind.

Die Rede ist von Ava Gardner, Leinwandlegende und Filmgöttin.

Inbegriff des Glamours ist sie, was zunächst erstaunen mag, bedenkt man die harsche Beschreibung ihrer Person und die ganz und gar uneitle Selbsteinschätzung. Die Charakterisierung ex negativo aber verrät mehr über die Wirkung der Schauspielerin als jedes Epitheton. Terrific ist diese Frau, großartig und auch Schrecken einflößend. Der MGM-Boss spürte etwas Bedeutsameres, Gewaltigeres, etwas, das schnöde Fertigkeiten überragte. Ava Gardner, die Ikone des Hollywood-Films, fiel aus der Rolle, da sie mit Erwartungshaltungen brach und dem amerikanischen Arbeitsethos mit Koketterie begegnete. Puritanischem Pflichtbewusstsein setzte sie rauschhaftes Begehren entgegen, filmischen Vorgaben einen eigenen, besonderen Glanz, ein geglücktes Zusammenwirken von Natur und Kunst.

Ihre mangelnde Lust, »an sich zu arbeiten«, mag befremdlich wirken in einer Zeit, in der die Perfektionierung der eigenen Person zur obersten Devise erhoben wird und protestantische Sprödigkeit in alle Lebensbereiche Einzug zu halten droht. Ava Gardner aber war trotz ihres Faibles für eine gewisse Lässigkeit keine Anhängerin des Laissezfaire; ein öffentlicher Auftritt ohne schmeichlerische Garderobe und magnetisierendes Make-up wäre für sie kaum vorstellbar gewesen. Und doch war es das kleine unerwartete Detail, das ihre Verletzlichkeit, Natürlichkeit und Sinnlichkeit aufleuchten ließ. »Die barfüßige Gräfin«, eine ihrer Paraderollen, rebellierte im Glamour, auf eine glänzende Oberfläche und das Spiel mit der Maske lässt sich ihre Wirkung nicht reduzieren. Die subversive Ausstrahlung bedurfte freilich der Form: In den MGM-Studios wurde Gardner von den besten Visagisten und Lichtspezialisten ihrer Zeit in Szene gesetzt. Maksymilian Faktorowicz, Gründer der Kosmetikfirma Max Factor und Erfinder des Lipgloss, erfand für Ava Gardner ein ikonisches Make-up, das Geschichte schreiben sollte: ein makelloser Teint, Rouge aufgetragen unter den Wangenknochen, um dem Gesicht Kontur und Wärme zu verleihen, hoch geschwungene Augenbrauen und fedrige Wimpern, betont mit schwarzem Mascara, ein perfekter Lidstrich, der in einem sanften Bogen an den Außenwinkeln der Augen ausklingt. Ava Gardner bestand auf einem glänzenden burgunderroten Lippenstift, der dem Gesamtausdruck des Gesichts ihrem Empfinden nach mehr Eleganz verlieh als ein hellerer Rotton. Glamourlicht, weich, mit gezielten Schatten, fing das Leuchten ein und bannte es auf die Leinwand.

Nicht Attitüde war es, die das Publikum erwartete, keine affektierte Geste oder moralische Haltung, sondern attitude, eine innere und filmische Einstellung, die sich ästhetisch als etwas Flirrendes, Brillantes offenbarte. Glamour fasziniert und bannt, er zieht unsere Aufmerksamkeit an in Zeiten der Flüchtigkeit und schafft damit Ungeheures. Darin und in der Unfähigkeit, rational erfasst zu werden, liegt seine Magie. Glamour ist elegant und wild, entfaltet sich erst im Widerstreit. Er lässt sich nicht unter Begriffen subsumieren, ruft stets nach seinem Gegenteil – und stellt genau dadurch unsere Gewissheiten in Frage. Verunsicherung unserer Glaubenssätze und das Wagnis, sich dem Unbekannten auszusetzen, machen es dem Glamour heute schwer. Sich bescheiden mit dem Unscheinbaren scheint der gangbarere Weg.

Lediglich zu festlichen Events wird das Verschwinden des Glamours beklagt: das nachlässige Outfit von Schauspielern auf dem roten Teppich, der fehlende Glanz im Festivalpalais. In der Mehrzahl aber sind die Verächter der Leuchtkraft. Glamour ist in Verruf geraten. Als gefährlich gilt er, da er – hergeleitet vom schottischen Wort für Blendwerk und Zauber – Macht ausübt über die Mitmenschen. Glamour wird mit dunkler Magie assoziiert, mit unreflektierter Weiblichkeit und fehlender Moral. Der glanzlose Auftritt simuliert eine moralisch makellose Geisteshaltung. Glam wird abgewertet als Maskerade, als Tand und Glitzer, in Vergessenheit gerät das Widerständige, die Fähigkeit, lustvoll mit Esprit zu experimentieren. Hier setze ich an, dorthin begebe ich mich mit diesem Essay: in das Reich des glänzenden Wandels und des rebellischen Glamours.

I put a spell on you

Die Angst vor dem Zauber

Die meisten hüten sich vor ihr, die wenigsten verspüren eine Faszination für sie, als lästiges Übel und verdammenswerte Pflicht wird sie empfunden. Die Rede ist von der Grammatik, die auf den ersten Blick nichts gemein zu haben scheint mit dem Glamour. Basierend auf einem Regelwerk, das Verständigung ermöglichen und erleichtern soll, erfordert sie einen vernunftbegabten Sprecher, der bereit ist, Regeln zu erlernen und diese im täglichen Gebrauch anzuwenden. Phonologie, Morphologie und Syntax sind ihre Hauptgebiete. Wie wird etwas geformt und gebaut, wie gestaltet sich eine sprachliche Architektur, fragen sich Linguisten. Deskriptive Grammatiken befassen sich mit der Beschreibung von Sprachstrukturen, normative hingegen fordern eine Regelkonformität des Sprachgebrauchs ein. Das Ziel der Sprachwissenschaftler ist es in beiden Fällen, das Unwägbare und Chaotische auszuschließen. Der Sprache soll ihr Mysterium genommen werden, ganz, als traute man ihr nicht über den Weg.

Ähnlich empfanden das wohl die Schotten, als sie im frühen 18. Jahrhundert das aus dem Griechischen stammende Wort grammar in glamer oder glamour verwandelten.1 Aus Grammatik war – Simsalabim! – der Zauberspruch geworden. In der Antike hatte sich bereits der Bedeutungswandel des Begriffs angedeutet, als man unter Grammatik das Studium der Sprache sowie der Literatur zu subsumieren begann. Im Mittelalter wurde unter Grammatik fortan das Lernen im allgemeinen verstanden. Ein Großteil der Bevölkerung war ungebildet und beherrschte die Sprachen der Wissensvermittlung nicht. Eine eigentümliche Mischung aus Ehrfurcht und Misstrauen schlug den Gelehrten entgegen. Waren nicht Magie und Astrologie, dubiose Wissenschaften Teil der grammatica? Wer die Sprache des anderen nicht beherrscht und sich ohnmächtig dem Spuk der Mächtigen ausgesetzt fühlt, neigt schnell zu Verdammnis und zur Verbannung ins Reich des Bösen.

Nachdem die Schotten grammar zu glamour verhext hatten, gab es im Zuge des aufklärerischen Denkens einen erneuten Sprachwandel. Dem Glamour wurde die magische Wirkung abgesprochen. Die Ratio durfte sich nicht so leicht verzaubern lassen, die Grammatik beschränkte sich auf Sprache. Dem Glamour wurde zwar immer noch eine unerklärliche Anziehungskraft zugesprochen, doch galt diese als verführerisch, faszinierend, vor allem aber illusorisch. Glamour gaukelte dem Verstand etwas vor, das es nicht gab. Glamour wurde der Sprache entzogen und ins glanzvolle Exil geschickt. Er wurde veräußerlicht, reduziert auf ein visuelles Vergnügen, einen gefahrlosen ästhetischen Thrill.

Zunehmend harmlos geworden, ist Glamour das ideale Wort in Zeiten harscher Patriarchatskritik. Es ist ein wohlklingendes Verlegenheitswort, mit dem sich die Klippen des Sexismus geschickt umschiffen lassen. »Wirklich glamourös, dieser Auftritt«, so die denk- wie maulfaule Parole. Auch Headlines sind gespickt mit dem unverfänglichen, wohlklingenden Wort: Fans feiern eine Schauspielerin als »fresh und glamourös« (BUNTE), das dänische Königshaus gilt laut NDR als »beliebt, modern und glamourös«, glamourös feiern Stars ihren Geburtstag. Die »Neue Zürcher Zeitung« titelt: »Leihmutterschaft wird angesichts von Paris Hilton glamourös vermittelt«.

Auf Glamour zu rekurrieren, ist eine bequeme Vermeidungsstrategie, um nicht in die Fänge von auf allerlei Ismen geeichten Sprachkritikern zu geraten. Aufwendiger wäre es, die Kommunikationsstrategie zu analysieren, die zu einer positiven Wahrnehmung von Leihmutterschaft am Beispiel Paris Hiltons führt. Interessant wäre es auch, herauszufinden, ob »fresh« und »glamourös« Antonyme sind und damit einen reizvollen Widerspruch darstellen im Erscheinungsbild eines Menschen oder eine passende Ergänzung. Beim Durchblättern von Illustrierten gewinnt man zudem den Eindruck, dass das Adjektiv »glamourös« nicht auf Geheimnisvolles hindeutet, sondern dem Zauber vollständig den Garaus machen soll. Es dient als Verstärker für das ohnehin schon dem grellen Tages- oder Scheinwerferlicht ausgesetzte Objekt. Glamour blendet mehr, als er verzaubert in unserer Hochglanzsprache.

Ganz anders in der Musik, die es sich herausnimmt, der letzte Hort der Verzückten und Extravaganten zu sein. In der Musik ertönt der Herzschlag der Freiheit über Jahrzehnte hinweg, auch wenn längst Gleichklang für Unstimmigkeiten sorgt. Als der Godfather of Punk Iggy Pop und Catherine Ringer, Sängerin der Band Les Rita Mitsouko, 2009 im Duo den Screamin’ Jay Hawkings Song »I Put a Spell on You« interpretierten, zogen sie mit ihrer überspannten erotischen Exzentrik das Publikum in Bann. Das Setting der Darbietung ist klassisch, ein französisches Orchester, elegant gewandet, dezent amüsiert, spielt vor einer Leinwand, über die das erregte Gesicht einer Hollywood-Schönheit flimmert. Der Zuschauer wird in eine Atmosphäre versetzt, die er unweigerlich als glamourös empfindet. Eine spezielle Ästhetik zeigt sich, die einem kulturaffinen, cinephilen Publikum mit klassischen Attributen wie schimmerndem Pelz, funkelndem Schmuck und glänzendem Haar Strahlkraft vermittelt. Die Sinnlichkeit wird verstärkt durch einen berauschten Gesichtsausdruck und den unverkennbaren Hawkins-Sound, der Voodoo, dunkle Magie und loads of sex anklingen lässt. In diesem Ambiente bewegen sich nun zwei Menschen, die beide den Zenit von Normattraktivität überschritten haben und die den Code eines glanzvollen Auftritts und klassischer Verführung sprengen. Gerade durch dieses Spannungsverhältnis zwischen Darsteller und Bühnenbild aber faszinieren sie. Iggy trägt einen Anzug mit funkelndem Revers auf nackter Haut, Catherine dagegen wirkt fast bieder mit ihrer Flechtfrisur und dem blaugemusterten Wickelkleid. Die Rollenverteilung ist klar: Iggy ist der Meister der Magie, der sich Madame gefügig machen will. Catherine kokettiert im Spiel mit »Daddy«, lässt sich verzaubern und mutiert zur willenlos-verzückten Puppe. Sie gibt vor, dem Voodoo-Ritual zu unterliegen, und lässt das Sprachgift in sich hineinträufeln. »Because you’re mine, because you’re mine«, beharrt Iggy, bis Catherine den Spieß herumdreht, Iggy zu dominieren beginnt und mit kokettem Esprit die Dominanz-Unterwerfungsshow auflöst. Das Lied, dessen Lyrics die Frau zum willenlosen Opfer der Begierde zu machen scheinen, wird in der Interpretation der beiden Künstler zum ironischen Spielball zweier sinnlichkeitsverliebter Künstler. »I put a spell on you« ist auf dieser Bühne keine Hymne für machtbesessene Täter, sondern sprachlicher Kitzel. Catherine Ringer und Iggy Pop zeigen uns, dass der Zauber, der spell, bestenfalls ein wechselseitiger ist, und dass es der Reiz des Spiels ist, sich daraus befreien zu können.

Zum bitteren Ernst wird Glamour erst, wenn man ihn beim Wort nimmt. Songtexte als schöpferischer Ausdruck und ästhetisches Motiv existieren zunächst in einem wertungsfreien Raum. Zuhörer wenden literatur- und musikgeschichtliche oder auch urpersönliche Kriterien zu ihrer Beurteilung an. Nicht zuletzt hängt es von der herrschenden Moral und dem geltenden Kodex einer Epoche ab, ob das Etikett »Kunst« oder »Literatur« verliehen wird. Sobald ein Text oder ein Motiv jedoch an einem neuralgischen Punkt der Gesellschaft oder des menschlichen Innenlebens rührt, droht das fragile Gleichgewicht zwischen Kunst und Wirklichkeit zu kippen. Wenn der Zuhörer einen über Kannibalismus, Mord- und Gewaltfantasien singenden Musiker nach strafrechtlichen Kriterien beurteilt, weil er Lyrics für das Leben hält, ist das natürlich absurd, und doch bewegen wir uns in diese Richtung, weil viele der Kunst keinen eigenen anarchischen Raum mehr zugestehen wollen. Auf der einen Seite bewegen sich Moralfanatiker, die bei jeder Liedzeile Paragraphen zücken und Zensur schreien, auf der anderen Seite libertäre Relativierer, die dem Sänger auch im realen Leben ein Dasein als Outlaw erlauben wollen. Wenn wir in diese polemische Falle tappen, ist Recht und Gesetz genauso wenig gedient wie der Kunst. Zensur ist eine Ultima Ratio, die beim künstlerischen Spiel mit dunklen Wünschen fehl am Platz ist. Kunst und Leben sind zwei verschiedene Wahrnehmungs- und Handlungsräume. Gefährlich kann es jedoch werden, wenn das Leben als Kunstwerk betrachtet wird und Individuen für das Spiel des Lebens instrumentalisiert werden, wie das beim österreichischen Aktionskünstler Otto Muehl beispielsweise der Fall war.

Unser Augenmerk sollten wir nicht auf Zensur richten, sondern auf Menschen, die Kunst zur Legitimation ihrer eigenen Bedürfnisse nutzen, für Taten, die klar gegen die Rechtsordnung verstoßen. Ästhetische Vorlieben sollte man als solche gelten lassen. Das erfordert freilich eine erwachsene Herangehensweise an die Dinge. Wer Lyrics für bare Münze nimmt, glaubt in kindlicher Manier auch daran, mit Haut und Haar verschlungen zu werden, wenn jemand sagt: »Ich hab’ dich zum Fressen gern!« Diese Kinderexegeten laufen auch Gefahr, »I Put a Spell on You« als wahre Bedrohung zu empfinden, als Metapher für Nötigung und Freiheitsberaubung. Selbst Debbie Harrys Song »One Way or Another« würden sie im zeitgenössischen Klima der Angst »One way, or another / I’m gonna find ya / I’m gonna get ya / get ya, get ya« als strafbare Stalker-Hymne interpretieren.

Es sind die fürchterliche Angst vor der eigenen Dunkelheit, vor Verletzung, und eine als Stärke propagierte Schwäche, die den Menschen den Genuss des Außergewöhnlichen verwehren. Dem infantilen Erwachsenen ist es unmöglich, den Thrill des Glamours im ursprünglichen Sinne zuzulassen, da er zwischen Wort und Wirklichkeit nicht mehr zu entscheiden vermag.

Ganz anders im 19. Jahrhundert, als Charles Baudelaire in den abgründigen Erzählungen des Amerikaners Edgar Allan Poe ein Pendant zu den eigenen finsteren Leidenschaften erkannte. Im Schweizer »Tagblatt«2 ist gar von »süßer Verzauberung« durch die Lektüre die Rede. Im Glamour einen köstlichen Lockreiz zu entdecken, setzt voraus, dass man die eigene Begierde kennt oder zumindest offen ist für neue Stimulantia, die per se nie ganz risikofrei sind. Der süße spell findet auch in Wirrnis und Selbstverlust einen Ausdruck. Bei Poe kapern der entfesselte Irrsinn und grausamste Todesarten die Wirklichkeit. Der tägliche Horror wird dadurch nicht nur grotesk überzogen, sondern auch erträglicher für den Leser. Krankhafter Wahn wird nicht auf seine pathologische Dimension beschränkt, sondern als Ursprung des Tiefen und Besonderen interpretiert.

Die einseitige extreme Stimulierung des menschlichen Gehirns wurde zu Baudelaires Zeiten zumindest nicht als Gefahr betrachtet, sondern als ästhetische Bereicherung des Daseins. Im Verwunschenen liegt köstliche Süße verborgen, sofern man sie zu erkennen wagt. Die Angst aber vor dem Undurchschaubaren, die menschliche Vernunft Überschreitenden führt auch bezüglich der Kunst zu Verunsicherung. Wir leben in Zeiten, in denen nach Herzenslust pathologisiert wird. Krankheitsmetaphern verbreiten sich viral in atemberaubender Geschwindigkeit. Neu ist das zwar nicht, bereits im Mittelalter verglich man Häretiker mit der Pest. Zuhauf tauchten Krankheitsmetaphern jedoch erst in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften auf. Der vereinzelte Mensch greift gern auf einfache Mechanismen zurück. Krank oder nicht krank heißt es dann. Die Krücke der Pathologisierung aber ist ein notdürftiger Behelf. Es ist, als triebe man den Teufel mit dem Beelzebub aus. Einerseits werden alle krank gemacht durch inflationäre Diagnosen, andererseits wächst die Angst vor dem Maladen, vor der Wirtschaftsdepression und der tödlichen Langweile, dem Broken-Heart-Syndrom und der Maladie d’amour, der Liebeskrankheit, wie es in einem französischen Lied heißt.

Der schottische Autor John Burnside hingegen lässt sich nicht anstecken von der sprachlichen Influenza. Er knüpft in seinem Buch »I Put a Spell on You«3 an die etymologischen Ursprünge des Glamours an, wenn er Liebe wieder mit dem Zauber, dem Rätsel, der Magie verbindet. Nicht nur die Liebe ist für Burnside eine magische Angelegenheit, sondern auch die Sprache und damit das Schaffen des Schriftstellers selbst. Zentral für sein Schreiben sei das alte schottische Wort »Glamourie«, sagt der Autor im Interview mit dem Deutschlandfunk.4 In zwei Richtungen weise das magische Wort, es deute auf eine Täuschung hin, eine verschleierte Gefahr, die sich hinter einer trügerisch schönen Oberfläche verberge. Zugleich aber fordere uns glamouring durch den Akt der Verfremdung dazu auf, genauer hinzuschauen. Glamourie, so Burnside, sei »wie Elektrizität, man kann sie einsetzen, um Licht anzumachen oder um einen elektrischen Stuhl zu bauen. Es ist wie ein Naturphänomen, und man kann sich seiner bedienen, um die dunkle Seite der Welt zu erfahren, oder ihre versteckte Schönheit. Und manchmal sind diese beiden auch miteinander verbunden! Glamourie verbindet sich in dieser Tradition mit dem Magischen, es ist zum Beispiel mit dem Wort ›Grimoire‹ verwandt, mit einem Zauberbuch, einem Book of Spells (…) Der spell, der Zauberspruch, hat ja zum Ziel, jemanden etwas glauben zu machen, ihn etwas sehen und erfahren zu lassen, was normalerweise außerhalb seiner Reichweite liegt. Manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechteren.«

Mit letzterem aber haben viele Zeitgenossen ein Problem. Oberste Priorität genießt die Absicherung gegen Risiken aller Art. Vorbei die Zeiten, als es noch hieß »No risk, no fun«, als ein Ratespiel namens »Risiko« über die Mattscheibe flimmerte oder das Risiko noch namengebend für ein Gesellschaftsspiel war, das Eroberung zum Ziel hatte. Liegt unsere Risikoaversion daran, dass die Wirklichkeit das Spiel längst eingeholt hat und die Unwägbarkeiten so groß sind, dass sie kaum mehr beherrschbar scheinen, geschweige denn, dass man angesichts derer Vergnügen empfinden könnte? Die Wirklichkeit soll greifbar sein, gefahrlos erfahren werden können, vor allem aber soll sie eindeutig daherkommen. Glamour aber oszilliert zwischen Hell und Dunkel, Greifbarem und Unnahbarem; er gemahnt uns, dass hinter jeder Lichtgestalt auch das Böse lauern kann. Ambivalente Begriffe wie Glamour sind verpönt in einer Gesellschaft, in der wir uns freiwillig zu Gefangenen der Buchstaben machen, indem wir ihnen eine Macht zusprechen, die weit über jedes »Book of Spells« hinausgeht. Selbst das Wort spell reduzieren wir auf das Buchstabieren, indem wir ihm den Zauber nehmen. Dass wir gerade durch diese Buchstabengläubigkeit einer Sprachmagie verfallen, weil wir uns das Schillernd-Glamouröse der Wörter entgehen lassen, sollte uns jedoch zu denken geben. Zauberer, die ihr grimoire, ihr book of spells öffnen, wissen, dass es der Einbildungskraft bedarf, um die Magie wirken zu lassen. Wer jedoch Manifeste und Gesetzesvorlagen verfasst im Glauben an die wirklichkeitsschaffende Macht der Buchstaben, erliegt einem voraufklärerischen Selbstbetrug. Sprachkritik, die ihren Namen verdient, sollte sich daher wieder besinnen auf den uneindeutigen Zwischenraum, den Begriffe wie »Glamour« eröffnen, anstatt Bedeutungen zu zementieren.

Schauspielern ist dieser Zwischenraum und damit auch das Reich des Glamours weniger suspekt als Literaten, die sich auf das Wort beschränken. Wer den Raum durchschreitet, das Wort in der Bewegung erlebt und dadurch das Gesprochene selbst bewegt und wandelt, hat nicht nur einen geistigen, sondern auch einen körperlichen Zugang zur Sprache. Die Schauspielerin Sophie Rois, befragt nach dem Unaussprechlichen, dem Mystischen der Sprache, sagt im Interview:

»Es reicht nicht, auf die Bühne zu stolpern und schlaue Sätze zu sagen. Da passiert gar nix. Du musst dich in etwas verstricken, in einen Vorgang, durch den etwas sichtbar wird. Das ist aber nicht planbar. Es ist mehr eine Befragung, oder es findet statt in einem Verhältnis zwischen Gesprochenem und Handlung, in dem Zwischenraum, der sich da auftut. Das ist etwas, worauf man immer wieder stößt: Das Leben hält sich in den nicht benennbaren Zwischenräumen auf.«5