Der Geschmack der Freiheit - Ute Cohen - E-Book

Der Geschmack der Freiheit E-Book

Ute Cohen

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Beschreibung

Die Freiheit geht durch den Magen Mit der Erfindung des Restaurants wandelte sich das Kochen vom bloßen Sattmachen zu einer Kunst – ausgerechnet im Umfeld der Französischen Revolution begannen experimentierfreudige Köpfe, um die hungrigen Gäste zu wetteifern und einander mit köstlichen Kreationen zu übertreffen. Das Essengehen ist aus unserer heutigen Welt nicht mehr wegzudenken und hat uns immer neue Formen der Zubereitung und auch der sinnlichen Wahrnehmung gelehrt – von der Opulenz des 18. Jahrhunderts bis zur Molekularküche.

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Seitenzahl: 321

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ute Cohen

Der Geschmack der Freiheit

Eine Geschichte der Kulinarik

Reclam

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: Marzufell0/Shutterstock.com; Doremi/Shutterstock.com

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962278-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011479-7

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

Eine kulinarische Revolution. Freiheit geht durch den Magen

Pikante Allianzen. Goldene Löffel auf Reisen, im Exil

À la carte!. Freiheit auf dem Silbertablett serviert

Gens de lettres. Schonkost für den empfindsamen Geist

Restaurants als Hotspots. In aller Munde sein

Restaurantkritik und kulinarische Gesprächskultur. Die Worte auf der Zunge zergehen lassen

Der Boom der bürgerlichen Küche. Varenne, Carême und Escoffier

Herzhafte und deftige Regionalküche. Zurück zu den Wurzeln!

Nouvelle Cuisine. Mit Leichtigkeit

Schaumschläger und Küchengötter. Metamorphosen in der Molekularküche

Kulinarische Ästhetik. Kirschen auf der Sahnetorte

Kulinarik und Erotik. Die Geschmacksknospen öffnen

Küchenkarrieren, Küchentragödien. Der Griff nach den Sternen

Der Geschmack der Kindheit. Märchenhafte Süße

Kulinarische Utopien. Umami, eine Sehnsucht

Schlusswort

Einleitung

Die herbe Süße eines Quittengelees, der erdige Geschmack einer Morchel oder die Klarheit einer Quellforelle – wer Freiheit kosten will, sollte sie sich nicht nur um die Nase wehen, sondern auch auf der Zunge zergehen lassen.

Die Geschmacksknospen zu öffnen und die Sinne zu befreien von gesellschaftlichen Zwängen, gelingt ganz formidabel in Paris. Der französischen Hauptstadt werden nicht nur amouröse Tändeleien angedichtet. Paris verzückt auch die Papillen. Nicht der Blick geleitet die Flaneurin durch die Stadt, die Nasenflügel weisen den Weg, weiten sich für Gerüche und Aromen, die aus den zahlreichen Bäckereien und Rotisserien dringen. Unwillkürlich wendet man den Kopf den Schaufenstern zu, wo mit delikater Schokolade umhüllte Törtchen zum Verzehr locken, Fruchtspiegel aus Passionsfrucht und Himbeere auf Zuckergebäck in den Auslagen leuchten. Zu süß? Zu üppig? Ein Macaron, mit Jasmintee, Rosenblüten und Zitrusfrüchten aromatisiert, hat weder Marie-Antoinette noch der Flaneurin geschadet. Wenn man einmal davon absieht, dass die Nascherei die Gattin Ludwigs XVI. letztlich den Kopf kostete, etwas verkürzt formuliert freilich.

Dass Gourmandise, hierzulande auch als Schlemmerei bekannt, Gefahr bedeuten kann für Leib und Leben, macht auch ihren Reiz aus. Die Exzesse der Herrschenden, das Darben der Armen und puritanische Verzichtspredigten befinden sich in einem Spannungsverhältnis, das die Gesellschaft auf eine Zerreißprobe stellen kann. Hinzu kommt die penible Vermessung jedweder körperlicher Reaktion. Bodymonitoring erfasst nicht nur den Puls, sondern vermisst auch Gefühle. Sensorarmbänder verzeichnen Hautleitfähigkeit und -temperatur, woraus Rückschlüsse auf den Gefühlshaushalt des Probanden gezogen werden können. Die Angst ist ein schlechter Ratgeber intensiven Fühlens. Schneller, als einem lieb ist, unterjocht man sich Zahlen und Ziffern und lässt sich schurigeln von Kontroll-Gadgets. Freude, Neugier, Genuss und Entspannung sollen im Rahmen bleiben, jeder Ausschlag nach oben oder unten tunlichst vermieden werden. Experimentelle Gelüste und ästhetische Spielereien drohen dabei auf der Strecke zu bleiben.

Was aber sind das Experiment und die Erforschung von Ich und Umwelt anderes als das Begehr nach Freiheit? Diese Freiheit, seit der Französischen Revolution Grundthema bürgerlicher Gesellschaften, ist schon zahlreichen Philosophen auf den Magen geschlagen, denn Revolutionen sind nicht nur politische Ereignisse. Sie vermögen auch die Welt, und mit ihr unser gesamtes Denken, Handeln und Genießen, aus den Angeln zu heben. Eine Rückkehr in die Unfreiheit scheint ausgeschlossen, und doch schwebt über Libertas stets ein Damoklesschwert, denn, das wusste bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel, eine freie Gesellschaft führt immer in die extreme Ungleichheit, wenn sich Freiheit nicht auf ihre historische Einbettung besinnt. Gleiches gilt für die Kulinarik. Zwischen Luxusrestaurants und Fast-Food-Buden kämpfen Mittelstandsgastronomen um ihre Existenz, da sie sich finanziell kaum mehr über Wasser zu halten vermögen. Inflation, Personalmangel, Mieterhöhungen – die Gastronomie ist kein Zuckerschlecken. Eine Rückbesinnung auf die historische Bedeutung der Restaurants als Kulturgüter, als Orte des gesellschaftlichen Austausches und des utopischen Denkens, könnte auch den Wirtschaftsbereich Kulinarik neu beleben und wachsende Unfreiheit ökonomischer Art verhindern.

Selbst die exklusivsten Restaurants vermögen inzwischen dem Druck kaum mehr standzuhalten. Der dänische Gourmettempel Noma schloss seine Türen, nicht ohne bitteren Nachgeschmack: Der Ausbeutung von Mitarbeitern wurde erst ein Ende gesetzt, als die Öffentlichkeit von dem Skandal erfuhr. Da Rentabilität ohne Sklavenmoral im Sektor der Haute Cuisine wohl kaum mehr gewährleistet werden kann, entschieden sich die Gastronomen für eine strategische Neuausrichtung: Schluss mit Küchenrevolutionen ausgetragen auf dem Rücken billiger Suppenknechte, ad acta die hochtrabenden kulinarischen Manifeste. Langfristiger gastronomischer Erfolg kann im Zeitalter der Nachhaltigkeit und sozialen Verantwortlichkeit nicht mit Ausbeutung des Personals und sinnentleerten Firmenpolicies erzielt werden. Hochpreisige Restaurants wie das Noma stehen daher künftig als weniger personalintensive kulinarische Labore in den Diensten gastronomischer Innovation. Der spanische Starkoch Ferran Adrià hatte bereits 2011 den Weg gewiesen und die Türen seines legendären Restaurants El Bulli geschlossen. Die großen kulinarischen Avantgardisten sind aufgrund des ökonomischen Drucks und des unersättlichen Hungers nach Neuerungen gezwungen, sich dem schwindelerregenden Wandel in der Gastronomiebranche zu entziehen, um nicht unterzugehen. Die Revolution frisst ihre Kinder. Unappetitlich, aber wahr.

Was aber bleibt von unserem kulinarischen Erbe, wenn Gastlichkeit und Geselligkeit, Miteinander und Genuss zersplittern in utopische Forschung und schnöde Massensättigung? Was passiert mit dem Paris der Flaneure und der Freiheit? Gibt es eine Resistenz und Resilienz kulinarischer Gelüste?

Saint-Germain-des-Prés strahlt noch den Glanz aus, den wir mit den ruhmreichen Zeiten der Hauptstadt verbinden. Man hört die Stimmen junger Amerikanerinnen, die den Trip nach Europa in ihren Lebensplan einbauen. An den Tischen des Restaurants La Closerie des Lilas sind die Namen französischer Kulturgranden eingraviert: Louis Aragon, Paul Éluard, André Gide. Meeresfrüchteplatten mit bretonischen Austern, Taschenkrebs und Langustinen locken die Gäste ebenso wie klassische, mit Grand Marnier flambierte Crêpes Suzette.

Unerschütterlich scheint Paris Nomadentum und Vergänglichkeit zu trotzen, dem Kratzen am kulinarischen Nationalstolz zu widerstehen. Mühsam allerdings und nicht immer erfolgreich: Die Bistros befinden sich in einer Krise. Die Lust an sündiger Geselligkeit schwindet, das Rauchverbot wurde eingeführt, die Blutwurst wird verschmäht und der Blick des anderen als unerträglich empfunden. Corona brachte diese Orte französischer Lebensart schließlich in eine solche Bedrängnis, dass das Boulevardblatt Le Parisien zur Rettung und finanziellen Unterstützung der Bistros aufrief. Immerhin besteht Hoffnung! Die Gastronomie scheint die größte Widerständigkeit gegen den Verfall des Savoir-vivre zu zeigen. Liegt es an der Schulung des Gaumens schon im Kindesalter? In der ›Woche des Geschmacks‹ verkosten schon Grundschüler französische Spezialitäten und lernen den kulinarischen Reichtum des Hexagons kennen. Spielerisch werden die Sinne stimuliert mit Blindverkostungen salziger und süßer Speisen. Die kleinen Bürger werden mit alten Apfelsorten vertraut gemacht und sollen das Verkosten genauso erlernen wie das Lesen und Schreiben. Die Kulinarik ist in Frankreich eine Kulturtechnik, eine ernste Angelegenheit, obschon oder gerade weil der Genuss an erster Stelle steht.

Nicht ohne Grund nahmen die islamistischen Attentäter 2015 auch ein Bistro ins Visier. Denn dort wird geschwatzt und parliert, vor diesem Tresen, in den Cafés und Cabarets, die Honoré de Balzac das »Parlament des Volkes« nannte. Wer dort zuschlägt, trifft das Herz Frankreichs. Der öffentliche Raum leert sich und schrumpft hinein in eine furchtsame Privatheit.

Saint-Germain-des-Prés glänzt, doch morgens um sieben sind die Straßen verwaist. Verlässt man das Herz der Stadt, dann stumpft nicht nur der Glanz ab, und Rimbauds gescholtene Schönheit ergreift die Flucht. Auch der Geruch der Stadt ändert sich, die Straßen sind übersät mit Müll, und die Polizei macht einen großen Bogen um die Elendsviertel, aus denen sie womöglich nicht mehr heil herausfinden würde. Der Regisseur Ladj Ly legte in seinem Film Die Wütenden (2019) den Finger auf die schwelende soziale Wunde einer Gesellschaft, die exemplarisch ist für eine immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Er zeigte, auf welch tönernen Füßen Menschlichkeit steht, wenn Existenzen auf dem Spiel stehen und jede Hoffnung flöten geht. Wenn Bistros attackiert werden, was bleibt dann noch von diesem Geist der Freiheit? »Rauch, Träumerei von Feuer«, wie der Schriftsteller Jules Renard wohl gesagt hätte. Die Flamme der Freiheit muss sorgsam gehegt werden, um weder zu erlöschen noch rasende Feuer zu entfachen.

Oder birgt das Chaos auch Chancen? Versagt die Vernunft und droht eine diskursive Sackgasse, gilt es Wege abseits eingefahrener Bahnen zu entdecken und auf andere Sinne zu vertrauen. In der Geschichte der Kulinarik liegt ein Verwandlungspotential, das auch gesellschaftlich entfaltet werden will. Das Verbindende im Genuss zu entdecken und persönliche Vorlieben zu erproben, verspricht eine Stimmung zu schaffen, die auch dem versöhnlichen Gespräch förderlich ist. Die kulinarische Verheißung einer von gesellschaftlichen Vorgaben losgelösten Gesellschaft klingt verlockend. Ist es ein allzu gewagter Gedanke, sich auf das Sinnliche zu besinnen, dem traditionellen Schmaus, dem exotischen Genuss, dem herrlichen Mischmasch eine utopische Kraft zuzusprechen?

Denkt man an Burger, Porridge und Bowls, wirkt der Gedanke abwegig. Aufgetischt wird, was fix verzehrt und leicht verdaulich ist. Wenn Gastronomie Indikator gesellschaftlichen Wandels ist, dann möchte man beim Blick auf das Verschwinden gastronomischer Vielfalt Prost Mahlzeit! rufen. Kein Grund jedoch, sauertöpfisch zu werden! Ein Blick in die Historie beweist: Die Lust am Denken wächst mit der Vielzahl an Genüssen. Wer sich mit der Zubereitung eines luftigen Soufflés befasst, Saucen zu montieren weiß und Getreidebrei durch bekömmliche Bouillons ersetzt, verfeinert auch den Sinn für raffinierte Gedankengänge.

Nicht selten werden Revolutionen bei Tisch angezettelt; Leidenschaften werden befeuert durch Piment und Pikanterien. Leibeswohl und Tischkultur zeugen auch vom herrschenden Geist, vom Mut der Veränderungswilligen und der Trägheit der Saturierten. Die Freiheit verströmt ein köstliches Aroma und tut es der Liebe gleich: Sie geht durch den Magen und braucht gelegentlich eine Prise Pfeffer.

Eine kulinarische Revolution Freiheit geht durch den Magen

Die Geschichte der Gastronomie ist auch eine Historie der Freiheit. Ihre Erzählung ist dabei so facettenreich wie die Freiheit selbst. In Éric Besnards Film À la carte – Freiheit geht durch den Magen (2021) wird die Entstehung des Restaurants als rebellischer, aus der Not geborener Akt dargestellt. Pierre Manceron, im vorrevolutionären Frankreich Chefkoch des Herzogs von Chamfort, verärgert seinen Arbeitgeber mit einer Kreation aus der schnöden, zur damaligen Zeit gar verpönten Kartoffel. Délicieux wird diese Köstlichkeit im Film genannt, eine Kartoffel-Trüffel-Praline, die endlich die lange gehegten Vorurteile gegenüber der von den spanischen Eroberern in Südamerika entdeckten Knolle beseitigen sollte. Der dahinterliegende Gedanke: Was der Zunge schmeichelt, muss auch dem Verstand schmecken. Magen und Hirn gehören zusammen, das wusste man bereits in der Antike.

Der Regisseur war gut beraten, mit den Chefköchen Thierry Charrier und Jean-Charles Karmann zwei auch historisch interessierte Meister ihres Fachs ins Team zu holen. Zubereitungsarten aus dem 18. Jahrhundert wurden recherchiert. Charrier und Karmann kochten mehr als ein Dutzend historisch verbriefte Gerichte nach, aus denen Besnard schließlich drei dem Szenario gemäße Speisen auswählte. Schließlich musste der historische Genuss auch bildlich vermittelt werden. Besnard ließ sich dabei von der damaligen Genremalerei inspirieren. Jean Siméon Chardin beeinflusste Besnard mit seiner appetitlichen Bildsprache und seinen meisterlichen Früchtestillleben, deren Anblick allein bereits erquickt. Das Besondere an Chardins Malerei war aber nicht nur das Farbgespür, mit dem er Zinnkrug und Pfirsiche in einen reizvollen Kontrast setzte, sondern die Durchbrechung des Statischen. Chardin zeigte Interesse an der Genese der dargestellten Dinge. Der schaffende Mensch findet sich ebenso auf seinen Gemälden wie die Früchte seiner Arbeit. Der Schriftsteller Marcel Proust, dessen in Tee getunkte Madeleine das Reich der Kindheit aufblühen lässt, würdigte Chardin 1895 in seinem Essay Chardin et Rembrandt. Von Chardin, so Proust, haben wir gelernt, dass eine Birne so lebendig ist wie eine Frau, eine gewöhnliche Keramik so schön wie ein Edelstein. Die göttliche Gleichheit aller Dinge habe er erkannt. Vorbei die Zeiten, in denen die Schönheit eine »schwächliche Gefangene einer Konvention oder eines falschen Geschmacks« war! In der Wirklichkeit erst könne sie sich offenbaren, frei, stark und universell.1

Die aufklärerische Idee der Befreiung von einem starren gesellschaftlichen Korsett findet sich auch in À la carte – Freiheit geht durch den Magen wieder. Als der Herzog die Délicieux-Praline verkostet, mundet sie ihm sehr, und doch äußert er sich despektierlich über die dargereichte Kreation, da die adlige Tischgesellschaft aus ihrer Verachtung keinen Hehl macht. Paraître plutôt qu’être nennen die Franzosen dieses Phänomen, die Deutschen kennen die Vorspiegelung falscher Tatsachen unter »Mehr Schein als Sein«. »Auch heute leben wir wieder in einer Gesellschaft, wo der Schein besonders wichtig geworden ist«, sagt Besnard dazu in einem Interview.2

Ganz im Sinne Prousts begibt sich der Regisseur daher auf die Suche nach der wirklichen Schönheit, die ohne den gesellschaftlichen Aufbruch, ohne Freiheit nicht denkbar ist. Ein romantischer, nach Trüffeln und Waldbeeren duftender Historienfilm, der geschichtlicher Wahrheit aber nicht entbehrt.

Manceron, der Koch, wird ob seiner kulinarischen Grenzüberschreitungen gefeuert, nutzt aber seine Chance und gründet, anstatt mit dem Schicksal zu hadern oder Trübsal zu blasen, zusammen mit einer verarmten Gräfin das erste Restaurant.

Wie das Leben so spielt, liegt die Geburtsstunde des Restaurants tatsächlich in der Zeit der Französischen Revolution, wenngleich es eine gastronomische Vorgeschichte gibt. Das Wort rührt vom lateinischen Verb restaurare her, was ›erneuern, wiederherstellen‹ bedeutet. Wieder zu Kräften gelangen und dem Körper Energie verschaffen kann man vielerorts, dafür braucht es weder Etikett noch Namensschild.

Zwar gab es bereits im antiken Rom Thermopolia, auch Tavernen, wo der Gast auf Reisen verköstigt wurde. In Pompeji legte man über 150 Garküchen und Gasthäuser frei, in denen Imbisse und Getränke serviert wurden. Diesen haftete allerdings oftmals ein lediglich passabler, wenn nicht gar schlechter Ruf an. Die Spreu schied sich vom Weizen: Die guten Köche, oftmals Sklaven, verwöhnten in Privathaushalten reiche Familien, Freigelassene dagegen versuchten ihr Glück in den Thermopolia und setzten den Gästen gegen ein paar Sesterzen nicht immer leicht Verdauliches vor. Meist standen Hülsenfrüchte auf dem Speiseplan, und der Wein wurde mit heißem Wasser vermischt. Thermopolien, Garküchen oder die etwas größeren Tavernen mit mehreren Sitzgelegenheiten galten als verruchte Örtlichkeiten, da sich über der Speiselokalität Räume zur Befriedigung weiterer leiblicher Bedürfnisse befanden. Die Kombination aus Wein, Weib und Gesang samt bequemem Aufstieg ins Bordell stieß auf regen Zuspruch, traf jedoch auf die Skepsis der Obrigkeit, die sich von den Vergnügungen des einfachen Volkes distanzierte.

Einerseits war die professionelle Verköstigung von Fremden aus der Gastfreundschaft, einer der ältesten Tugenden der Menschheit, entstanden, andererseits bot sie immer schon Gelegenheit zum Distinktionsgewinn. Nomadische Lebensweisen in dünnbesiedelten Gegenden erforderten eine wechselseitige Bewirtung und Beherbergung. Mit der Verstädterung kam Konkurrenz auf. Das gastronomische Angebot weitete sich aus, Raffinesse und Vielfalt charakterisierten nun die Speisen und Darreichungsformen. Der Stellenwert in der Gesellschaft bestimmte sich auch über kulinarische Gewandtheit und Kenntnisse. Das Gute und Schöne kristallisierten sich ebenso heraus wie das Abgründige.

In Petrons Satyricon (ca. 1. Jh.) gibt der ehemalige Sklave Trimalchio ein Gastmahl, das als Inbegriff der Prasserei in die Geschichte einging. Petrons Schilderungen des neureichen Gelages verursachen Sodbrennen allein schon bei der Lektüre. Erstaunt liest man sich durch die opulenten Gänge und applaudiert den römischen Köchen, die sich offenbar über sämtliche physikalische Gesetzmäßigkeiten hinwegzusetzen wussten: Ein Keiler mit Ferkeln aus Knusperteig wird aufgetischt, nach ausgiebiger Bewunderung wird das Wildschwein schließlich tranchiert, und – ach, grenzenloses Staunen! – aus dem Bauch flattern lebende Drosseln! Ein vulgärlateinischer Wortschwall von Hofschranzen und Schmarotzern ergießt sich über die Leser. Die Gesellschaft im Rom des 1. Jahrhunderts nach Christus entblößt sich in all ihrer sittlichen Verderbtheit. Der kulinarische Striptease entlarvt Trimalchio und seine Tischgenossen als oberflächliche Parvenüs, die den Henker herbeirufen, sobald der Koch einen Fauxpas begeht. Verschwendungssucht bestimmt die Tafel, luxuria lässt die Sinne abstumpfen: »Die Stadt des Mars verkommt im Wohlstandsrülpsen; / für deinen Gaumen mästet man im Käfig / den Pfau, im goldnen Federkleide Babels. / In deinem Kochtopf nistet Rebhuhn jetzt, / Kapaun aus Gallien, und der fromme Storch –«3

Immer ausgefallener müssen die Speisen sein, aus aller Herren Länder die Zutaten besorgt werden, um den ersehnten Gaumenkitzel zu garantieren. Roms Größe präsentiert sich auf dem Teller. Petron mokiert sich aber nicht nur über die sinnlichen Exzesse des freigelassenen Sklaven Trimalchio, sondern auch über den verantwortungslosen Umgang mit der plötzlichen Freiheit. Trimalchio kennt weder Maß noch Moral. Gefangen in Herrschaftsmustern, stets darauf bedacht, nicht erniedrigt zu werden, entwickelt er ein kurioses Verständnis vom Widerstand gegen Obrigkeiten: Die zügellose Befriedigung von Bedürfnissen bedeutet ihm Provokation und Aufbegehren. Ego nullum puto tam magnum tormentum esse quam continere4, schreibt Petron, ein Satz, der zeitgenössischer nicht sein könnte: ›Ich glaube, es gibt keine größere Qual, als es einzuhalten.‹ In der Literaturwissenschaft wird der Satz oft auf »zurückgehaltene Winde« bezogen, auf Gase, die bei der Verdauung in Magen und Darm entstehen. Das ist jedoch zu kurz gegriffen, denn Trimalchios Inkontinenz bezieht sich auch auf die Unfähigkeit, Regeln einzuhalten und auf seinen Drang nach immer neuen Lücken in der göttlichen oder gesellschaftlichen Ordnung Ausschau zu halten. Allein das fröhliche Gelärm bei Tisch vermöge Jupiter nicht zu verbieten! Trimalchios infantiles Gebaren ist eine Gegenreaktion auf die Beschränkungen des ehemaligen Sklavendaseins. Jedweden Mangel schließt er aus, verbaut sich dadurch aber auch die Chance auf Erfüllung, denn – das wussten bereits die Stoiker – Lust und Unlust sind unauflösbar miteinander verbunden. Wer sie trennt, ist zur Unfähigkeit des Begehrens verdammt.

Beneidenswert war die Situation eines reichen freigelassenen Sklaven trotz allen Überflusses nicht. Die manumissio, die Freilassung, war bereits in der späten Republik verbreitet, wurde unter Augustus jedoch zu einem Massenphänomen mit zahlreichen sozialen Folgen. Es gab unermesslich reiche liberti5, die ihren Einfluss geltend machten und ihre Macht ausspielten, dennoch aber unter einem Mangel an Sozialprestige litten, da sie von der Reichsaristokratie herablassend behandelt wurden.

Mit dem Untergang des Römischen Reiches veränderte sich auch die Bewirtungskultur. Die mittelalterliche Gastlichkeit entstand in Klosterschänken und war, man mag es so nonchalant formulieren, von Bier und Mönchskutten geprägt. Erst allmählich wurden wieder Herbergen an Hauptverkehrsadern gebaut, um die Reisenden zu verköstigen. Mit den zahlreichen Stadtgründungen im Spätmittelalter traten Zapfwirte auf den Plan. Meist waren es Metzger, Bäcker oder Bierbrauer, die sich mit dem Ausschank von Getränken und dem Verkauf einfacher Gerichte etwas dazuverdienten.

Erst im 17. Jahrhundert entstand das Berufsbild des vollerwerbstätigen Gastronomen. Auch gab es bald eine reiche Auswahl an Gasthäusern: Von der Kaschemme bis zur komfortablen, mit dem Wappen der Kundschaft geschmückten Unterkunft reichte das Spektrum.

Mit der Ausweitung des Angebots und einer immer stärkeren Ausdifferenzierung von Gaststätten und Herbergen wuchs auch der Regulierungsbedarf. Der Ausschank von Alkohol musste allein schon aus religiösen Gründen geregelt werden. In der frühen Neuzeit glaubte man den exzessiven Genuss von alkoholischen Getränken vom Zorn Gottes bedroht.6 Pest, Krankheit und Tod galten als Strafe des Herrn, weshalb »sündige« Orte wie die Wirtshäuser einer gesetzlichen Ordnung und Überwachung bedurften. Zahlreiche Gesetzestexte befassten sich mit der Unterscheidung von »Tafernen«, »Traiteuren«, »Trinck- oder Schenckstuben«, »Sudel- und Garküchen« und anderen Stätten professioneller Gastlichkeit.7

Wirtshausordnungen, Brau- und Ausschankmonopole sollten nicht nur die öffentliche Ordnung aufrechterhalten, sondern den Städten beispielsweise auch ein erkleckliches Einkommen garantieren. So beschränkten viele Städte den Handel und die Einfuhr von Bier und privilegierten städtische Brauhäuser aus steuerlichen Gründen.

Suspekt waren den Obrigkeiten die Wirtshäuser ohnehin: Die Gastwirte mehrten mit dem zunehmenden Reiseaufkommen ihren Wohlstand und gewannen so auch an Einfluss. In den Stadträten waren sie neben Händlern und Kaufleuten am häufigsten vertreten. Die Horte der Gastlichkeit begannen eine gewisse Bedrohlichkeit zu verströmen, je mehr sich die Wirte als relevante Größen im gesellschaftlichen Gesamtgefüge etablierten. Martin Scheutz bezeichnet das Wirtshaus der frühen Neuzeit bereits als »Ort der öffentlichen Meinung« und als »Seismograph der Gesellschaft«.8 Ein rebellischer Esprit begann sich in den Wirtshausstuben herauszubilden: Protestanten zogen über den Papst vom Leder, die Täufer missionierten eifrig bierselige Gäste, »die da oben« kriegten allesamt ihr Fett weg. Da war es nicht erstaunlich, dass junge Wirtshausgänger vom Fleck weg als Soldaten rekrutiert wurden, ob nüchtern oder sturzbetrunken, spielte keine Rolle. Die Jugend sollte diesen Orten der Verführung und der Obrigkeitskritik entzogen werden. Allmählich, aber stetig begann sich das Wirtshausgeschwätz in einen herrschaftsgefährdenden Diskurs zu verwandeln, zumal das herausfordernde Gebaren nicht an den Stadt- und Landesgrenzen Halt machte und immer neue Stätten der Gastlichkeit die Türen öffneten.

Ende des 17. Jahrhunderts bildeten sich in Wien neue Orte der Gastlichkeit heraus: die Kaffeehäuser.9 Dem Armenier Johannes Theodat war 1685 erstmals eine Genehmigung zum Ausschank von Kaffee, Tee und Fruchtsäften erteilt worden. Zusammen mit dem polnischen Dolmetscher Georg Franz Kolschitzky gründete er eines der ersten Wiener Kaffeehäuser. Kolschitzky hatte nach der Niederlage der Osmanen im Jahre 1683 einige von den Belagerern zurückgelassene Säcke mit Kaffeebohnen vor der Vernichtung gerettet. Er wusste um den Wert des »Weins des Islams«. Die Wiener dagegen hielten die braunen Bohnen für Kamelfutter. Dementsprechend misstrauisch begegneten sie Kolschitzkys Trank. Der Kaffee mundete dem feinen Gaumen der Wiener nicht so recht. Zu bitter, zu sandig war das ungefilterte Gebräu. Zuspruch fand das anregende Getränk erst, als findige Kaffeesieder das Getränk abseihten und ihm mit Milch und Honig eine sanftere Note verliehen.10 So durfte der Kaffee seine doppelt erquickliche Wirkung entfalten: Er verscheuchte nicht nur die Müdigkeit, sondern schärfte und befeuerte auch das Denken.

Dass Genussmittel und Drogen Weltgeschichte schrieben, ist inzwischen bekannt. Norman Ohler beschrieb in seinem Buch Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich11 (2017) eindrücklich, welche Rolle psychoaktive Drogen in der militärischen und politischen Führungsriege Adolf Hitlers spielten. In den Berliner Temmler-Werken adelte der Chefpharmakologe Hauschild Chrystal Meth zur Reichspille Pervitin. Metamphetamin war der Stoff, aus dem der Endsieg gemacht werden sollte. »Hausfrauenschokolade«, mit Pervitin gepimpte Pralinen, sollten die Frauen kriegsfreundlicher stimmen. Die Soldaten in den Schützengräben und Kampfflieger waren genauso süchtig nach dem Aufputschmittel wie der »Führer« selbst.

Immer noch aber wird der physiologische Aspekt weltverändernder Ereignisse und Geschehnisse unterschätzt. Die Wirkung bestimmter Substanzen wird meist nur im Hinblick auf das Individuum erforscht oder – perspektivisch noch mehr verengt – auf gesundheitlichen Schaden oder Nutzen beschränkt.

Dabei ist es faszinierend, Geschichte nach Genussspuren zu durchleuchten und auf erstaunliche, Leib- und Landesgrenzen überschreitende Wirkungen zu stoßen. Ursprünglich stammte Kaffee aus Äthiopien. Eine entzückende Legende aus dem 7. Jahrhundert besagt, dass der Hirt Kaldi seine Ziegen beim Naschen der roten Beeren eines Strauches erwischte. Seltsam aufgedreht waren die Tiere nach dem Genuss der Früchte. Kaldi berichtete dem örtlichen Abt von den tanzenden Ziegen, woraufhin der Klosterbruder die Beeren genauer unter die Lupe nahm und ein anregendes Gebräu daraus fabrizierte, das im 15. Jahrhundert über das Rote Meer den Jemen erreichte. Ein Sufi-Meister erkannte dort bald die bewusstseinsschärfende, wachmachende, konzentrationsfördernde Wirkung des Kaffeegetränks. Für das nächtelange Durchtanzen und die ekstatischen Trance-Tänze der Derwische war das von erheblichem Vorteil. Als der Jemen 1538 von den Osmanen besetzt wurde, war der Siegeszug des Kaffees auch auf dem europäischen Kontinent absehbar.

In Mekka auf der arabischen Halbinsel waren bereits um 1500 Kaffeehäuser verbreitet, die früh schon den Unwillen des Gouverneurs hervorriefen, weil dort all das getan und geredet wurde, was in der Moschee untersagt war. Es wurde geraucht. Man gab sich homoerotischen Neigungen und zotigen Vergnügungen hin. Das Karagöz-Schattentheater war beliebt, kein harmloser Zeitvertreib, da die Obrigkeiten und der Glaube mit allen Mitteln der Kunst verspottet wurden. Karagöz ist ein Schelm, der das Zeug zum Volkshelden hat. Kein Wunder, dass die Kaffeehäuser der spätosmanischen Gesellschaft bald mit allerlei Verboten zu kämpfen hatten. Kaffee galt als teuflisches Getränk, das radikales Denken förderte. Kaffee wurde als haram erklärt. Sultan Murad IV. ließ im 17. Jahrhundert Kaffeehäuser überwachen oder sogar niederbrennen. Es wurden sogar Fatwas gegen das Getränk erlassen, »wegen Schädlichkeit aus politischen Gründen«.12

Was den Leib durchfließt und den Gaumen erfreut, ist Obrigkeiten oftmals nicht geheuer, ganz unabhängig von der geographischen Lage und vom politischen System. Was Lebenskraft verleiht und Lebendigkeit versprüht, stellt eine Gefahr für Recht und Gesetz dar, gibt die Genusslust doch den stärksten Impuls für Ausbruch und Grenzüberschreitung.

Wenn Sinnesfreuden und gedankliche Erleuchtung zusammentreffen, entsteht ein explosives Gemisch – womit wir in Frankreich wären.

»[D]er Kaffee [wird] so zubereitet, daß er denen, die ihn trinken, Geist verleiht«, heißt es in Montesquieus Persischen Briefen.13 Vom Nutzen des Kaffees für die geistige Erleuchtung war der französische Philosoph und Historiker, der Begründer der politischen Theorie der horizontalen Gewaltenteilung, überzeugt. Dennoch klagte er über das infantile Verhalten seiner genussfreudigen Zeitgenossen: »Bei diesen Schöngeistern mißfällt mir aber, daß sie sich nicht ihrem Vaterland nützlich machen und ihre Fähigkeiten mit kindischen Dingen beschäftigen.«14 Montesquieu begrüßte die Cafés als Orte des Austausches und des angeregten Beisammenseins. Den Disput um des Disputes willen aber beklagte er. Von abgeschmackten Scherzen ist die Rede, von hitzköpfigen Streitigkeiten. Den Herausforderungen und Notwendigkeiten des Lebens sei man mit einer, wenn auch gefürchteten, Begabung für den Streit nicht gewachsen.

Das Café, diese neue kulturelle Errungenschaft, kann ihren gesellschaftlichen Zweck nur erfüllen, das darf man Montesquieus Briefen entnehmen, wenn es zu mehr als purem Hedonismus anregt. Montesquieus Persische Briefe, anonym erschienen 1721 in Amsterdam, sind ein Schlüsseltext der Aufklärung. Der Autor übt eine bissige Gesellschaftskritik, indem er die beiden fiktiven Briefkorrespondenten Usbek und Rica staunend über die französischen Verhältnisse berichten lässt. Dieses Staunen hat bei Montesquieu aber weder etwas Kindliches noch der Welt Abgewandtes. Es ist ein sinnliches, behagliches Staunen, das es dem Autor ermöglicht, über eine reine Persiflage der Verhältnisse und eine rationale politische Kritik hinauszugelangen. Die sinnliche Grundierung Montesquieus kommt in seiner Beschreibung der Weiblichkeit zum Ausdruck. Die Haremsdamen sind keineswegs Opfer ihres Gebieters, der sich im Übrigen als rechter Feigling erweist und freiwillig in die Verbannung begibt, sondern von einer selbstbewussten Frivolität, der auch Montesquieu im wirklichen Leben nicht abgeneigt war.15 Montesquieu war vielleicht kein homme à femmes, ein Frauentyp, gewiss aber ein coureur de jupons, ein Schürzenjäger. Die aphrodisischen Vergnügungen im Serail der Persischen Briefe beschrieb Montesquieu mit einer Raffinesse und Wollust, die ihm die Bewunderung des Hofes einbrachte: Das terrain d’entente, die Verständigungsbasis des Aufklärers und seiner politischen Gegner, war die Sinnlichkeit. Zuvörderst war dies möglich, da sich der Verkünder politischer Tugend nicht zum spröden Sittenwächter aufschwang. Auf dem Index librorum prohibitorum landeten die Persischen Briefe 1761 dennoch, ebenso wie zehn Jahre zuvor Montesquieus Hauptwerk Vom Geist der Gesetze. Schöngeist und Geist der Gesetze waren des Guten zu viel. Das lodernde Feuer der Freiheit aber war bereits entfacht – zu spät, es mit schnöden Verboten zu ersticken.

Den Magen zu besänftigen war eine andere Methode, den Volkszorn zu dämpfen. Während la grande famine, der großen Hungersnot im Jahre 1709, schnellten die Getreidepreise um mehr als das Zehnfache in die Höhe. Es kam zu Ausschreitungen, auf die das Königreich mit einer Vielzahl Verordnungen und strengen Strafen reagierte. Es war das letzte Aufbäumen eines zum Untergang verurteilten Ancien Régime. Den Historikern François Furet und Denis Richet16 ist es zu verdanken, dass die Französische Revolution nicht mehr als monolithischer Block betrachtet wird, sondern in ihrem Spannungsverhältnis zwischen Ideen- und Ereignisgeschichte ins Blickfeld rückte. Furet und Richet unterscheiden zwischen drei Revolutionen: der Revolution der Eliten, der Revolution der Bauern und der Revolution des einfachen städtischen Volkes.

Sie interessieren sich für die politische Leidenschaft, die bei Alexis de Tocqueville bereits als »Empfindung« Eingang fand in die Erklärung politischer Gesellschaften. 1853 schreibt Tocqueville in einem Brief: »Ich bin fest davon überzeugt, dass sich politische Gesellschaften nicht über die Gesetze erklären lassen, sondern über die Gefühle, den Glauben, die Ideen, die Gewohnheiten des Herzens und des Geistes der Menschen, darüber, wie Natur und Erziehung diese Menschen geformt haben.«17

Tocqueville weist mit diesem Ansatz sowohl über die revolutionäre Triebfeder des Individuums als auch über eine rein rechtsgeschichtliche oder institutionelle Erklärung der Revolution hinaus. Gefühle, Angst, Wut, Traurigkeit, Scham und Freude, um nur die fünf Grundgefühle zu nennen, haben eine geschichtsverändernde Kraft, weshalb kluge, nicht zuletzt auch verzweifelte Herrscher den Magen des Volkes zu füllen trachten. Ludwig XVI. forderte daher seine Botaniker auf, nach einem Ersatz für das durch Frost ruinierte Getreide zu suchen, um den Groll des hungrigen Volkes einzudämmen. Dem Botaniker und Pharmazeuten Antoine Parmentier stellte er eine Parzelle vor den Toren der Hauptstadt zur Verfügung, damit dieser seinen Forschungen zu einer nahrhaften, aber im Land noch weithin verpönten Knolle nachgehen könne. Bereits Anfang des 17. Jahrhunderts hatte Olivier de Serres, einer der Väter der französischen Agronomie, die Kartoffel von einer Reise nach Helvetien mitgebracht. Cartoufle nannte man sie damals. Ludwig XIII. verschmähte sie jedoch sogleich, zu herb, zu bitter, zu wässrig, so dass sie flugs wieder in Vergessenheit geriet. Pomme de terre nannte sie 1762 erstmals der Botaniker Henri Louis Duhamel du Monceau. Parmentier hatte an diesem Erdapfel nicht nur ein botanisches Interesse. Er verdankte der Kartoffel sein Leben. Als er Kriegsgefangener im Siebenjährigen Krieg gegen Preußen gewesen war, hatte ihn die nahrhafte Knolle vor dem Hungertod bewahrt.

Es bedurfte allerdings eines Tricks, um dem Volk die Kartoffel schmackhaft zu machen. Den Bauern war das Gewächs nicht geheuer. Allenfalls den Schweinen würde man sie zum Fraß vorwerfen. In manchen Gegenden galt sie sogar als giftig. Parmentier aber wusste nicht nur um die Physiologie der Pflanzen, sondern auch um die Natur des Menschen. Er ließ sein Ackerstück von Soldaten bewachen und weckte somit die Neugier des Volkes. Die Bauern schlichen sich nachts an die Parzelle heran und sackten einen Teil der Kartoffeln ein. Dass dies mit dem Einverständnis der Kartoffelgarde geschah, war ihnen freilich nicht bewusst. Parmentiers Marketing-Coup war geglückt!

Auch von Friedrich dem Großen ist diese List überliefert.18 Die Legende besagt, dass die als widerborstig geltenden brandenburgischen Bauern der königlichen Order, Kartoffeln anzubauen, nicht Folge leisten wollten. Selbst geschenkte Kartoffelsamen samt Pflanzanweisung führten nicht zum erwünschten Ziel, die Kartoffel im Königreich zu verbreiten. Den Bauern war die Knolle suspekt. Als Hexenpflanze war das Nachtschattengewächs mit seinen giftigen Blüten verpönt. Schon Friedrichs Vater war daran gescheitert, seine Untertanen zu deren Anbau zu bewegen. Es galt also, das Projekt »Tartoffel«, so Friedrichs Bezeichnung für die Knolle, »begreiflich zu machen«. Er polierte daraufhin das Image der Kartoffel auf und pries sie als begehrenswerte Speise auf des Königs Tafel. Auch er soll der Legende nach durch Bewachung der Felder das Begehr der Bauern angestachelt haben. Ob Friedrich Parmentier inspiriert hat oder der Franzose die preußische Legende? Die Kartoffel umranken viele Mythen. Die Tartoffel ist ein tricky business.

Parmentier verfasste 1789 im Revolutionsjahr eine Abhandlung über den Anbau und die Verwendung von Kartoffeln, die der König mit einem weitsichtigen Kompliment würdigte: »Frankreich wird Ihnen dieses Brot der Armen eines Tages danken.«19

Die Revolutionskomitees konsultierten den Apotheker und Günstling des Königs, als das Ancien Régime längst passé und der Kopf des Königs unter der Guillotine gefallen war. Parmentier wurde nicht nur mit agrarwissenschaftlichen Fragestellungen betraut, sondern auch wieder einmal mit der Volksgesundheit und -ernährung. Im Schloss von Versailles hängt heute noch ein Porträt von François Dumont l’Aîné, das Parmentier mit seinen Schriften, dem Offizierskreuz der Ehrenlegion und einem Strauß aus Weizenähren, Maiskolben und Kartoffelblüten zeigt. Die Bouillie, die Potage, die Suppe, die er am Hofe des Königs servierte, ist nur eines der vielen Gerichte, die seinen Namen tragen. Das bekannteste unter ihnen: das Hachis Parmentier, ein Kartoffel-Hackfleisch-Auflauf, der zum Klassiker der französischen Hausmannskost wurde.

So ist Parmentiers Karriere allein Beweis für die These der Historiker Furet und Richet, dass die Französische Revolution durch Brüche und Kontinuität zugleich gekennzeichnet war.

Während der Großteil der Franzosen schlichtweg um das tägliche Brot flehte und kämpfte, waren die Eliten des Landes mit der genussvollen Befriedigung ihrer Gelüste befasst. Kein leichtes Unterfangen, sobald man sich außer Hauses begab, denn an den weitverbreiteten tables d’hôte war man gezwungen, sich mit Fremden an einen Tisch zu setzen sowie auf Geschmack und Tagesform des Wirtes zu vertrauen. Die Auswahl war sehr beschränkt, oftmals wurde nicht mehr als ein Gericht angeboten, und die Tischmanieren waren ohnehin nicht vom Feinsten, in französischen Landen zumindest.

Michel de Montaigne, der Begründer der Essayistik, konnte sein Erstaunen kaum verhehlen, als er während seiner Deutschlandreise Ende des 16. Jahrhunderts in Lindau am Bodensee im Gasthaus zur Krone einkehrte. In seinem Reisetagebuch ist er voll des Lobes über den Aufwand an Lebensmitteln und die Abwechslung der Suppen, Saucen und Salate. Mit dem Wohlgeschmack der Speisen könne selbst die Küche des französischen Adels kaum verglichen werden.20

In Frankreich dagegen zeigten sich die gesellschaftlichen Verwerfungen auch an Tisch und Herd. Findige Wirte erkannten das wachsende Bedürfnis nach neuen Formen des gesellschaftlichen Austausches im erstarkenden, auch mit zunehmendem politischen und kulturellen Selbstbewusstsein ausgestatteten Bürgertum. Das Restaurant sollte Quell und Hort der bürgerlichen Freiheit werden. Es war jedoch noch ein weiter Weg hin zu unserer heutigen Restaurantkultur, gespickt mit bürokratischen Hürden. War der Hindernisparcours einmal überwunden, sollten die Restaurants die gastronomische Landschaft zukunftsweisend verändern.

Es bedurfte neuer Örtlichkeiten, die dem revolutionären Gedanken gerecht werden und dem empfindlichen Magen der Denker genügen würden. Im berühmten Café Procope, dem Treffpunkt der kulturellen und politischen Wortführer der Aufklärung, noch heute ansässig in der Rue de l’Ancienne Comédie Nr. 13, nahmen zwar auch Revolutionäre Platz. Danton speiste dort und selbst Robespierre. Das Procope war jedoch ein klassisches Kaffeehaus.

Der Begriff und die Einrichtung Restaurant tauchten erstmals im 18. Jahrhundert auf. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts verstand man unter restaurant noch ein stärkendes, die Kräfte ›restaurierendes‹ Lebensmittel. Mitte des 17. Jahrhunderts bezeichnete es eine Brühe auf der Basis von Fleischsaftkonzentrat. Die Legende besagt, dass ein gewisser Boulanger Erfinder des Restaurants gewesen sei. Boulangers Spezialität war »Geflügel mit grobem Salz«. Damit zog er den Unwillen der Zünfte auf sich, die den französischen Speisemarkt klar aufgegliedert hatten. Brenzlig wurde es für Boulanger, als er Hammelfüße in weißer Sauce anbot, ein Privileg der Traiteure. Die Zünfte zerrten ihn vor Gericht, verloren jedoch den Prozess.

Boulanger fühlte sich bestärkt in seinem Konzept und wandte das ursprünglich eine Bouillon bezeichnende Wort auf die Lokalität selbst an: Über dem Portal seiner Gaststätte ließ er einen vom Matthäus-Evangelium inspirierten Spruch anbringen: Venite ad me omnes qui stomacho laboratis, et ego restaurabo vos.21 Das Motto ›Ich werde euch erquicken‹ (restaurabo) sollte namengebend werden. Bald schon war von Boulangers Restaurant die Rede. In seinem Restaurant wurde der Gast an Einzeltischen bedient, die Preise waren auf einer Tafel verzeichnet, und man servierte Gerichte, die speziell auf die Gelüste des Gastes abgestimmt waren.

Inzwischen ist jedoch erwiesen, dass Mathurin Roze de Chantoiseau der erste Pariser Restaurateur war. Als »Champ d’oiseau« (Vogelfeld), einem akustischen Missverständnis geschuldet, ging er in die Geschichte ein. 1766 eröffnete er eine Suppenküche, in der er allerlei Bouillons anbot und die er mit einem sich von Boulanger deutlich unterscheidenden Werbespruch anpries: Hic sapide titillant juscula blanda palatum / Hic datur effoetis pectoribus salus.22 Zu Deutsch: ›Hier kitzeln beruhigende Bouillons schmackhaft den Gaumen / Hier wird dem angestrengten Gemüt Heil geschenkt.‹23

Abgesehen von der gesundheitsfördernden Wirkung galten die Bouillons als bürgerlich. Die neue Flüssignahrung unterschied sich sowohl von der verpönten sämigen Kost des Adels als auch dem bäuerlichen Getreidebrei.

Bald schon wurde Chantoiseau von tout Paris als beste maison de santé (›Haus der Gesundheit‹) gerühmt, was nicht weiter verwunderlich war, da Chantoiseau auch Herausgeber des Pariser Almanach général war.24 Ein geschickter Schachzug, den eigenen Verlag zur Beförderung für andere Geschäftszweige zu nutzen! Wieder einmal erweist sich ein Gastronom als Vorreiter auch heute noch üblicher Geschäftspraktiken.

Die Konkurrenz ließ nicht auf sich warten. Zahlreiche in Adelshaushalten engagierte Köche waren mit der Revolution arbeitslos geworden und strömten auf den Markt. Die Selbständigkeit schien damals wie heute in konjunkturschwachen Zeiten goldenen Boden zu versprechen.

Antoine Beauvilliers, Koch des Prinzen von Condé, eröffnete in der Rue Richelieu Nr. 26 die Grande Taverne de Londres, das erste Grand Restaurant, wo er seinen Gästen wie in Versailles zu speisen versprach.

Eine anregende Mélange aus adliger Raffinesse, bürgerlicher Schlichtheit und bäuerlichem Bewusstsein für die guten Dinge der Natur bildete sich heraus. Ein delikates Gleichgewicht auch, das noch heute den Verlockungen der Einseitigkeit zu widerstehen hat. Jean-Jacques Rousseau war es, der eine frugale, ja spartanische Küche propagierte. Gesellschaftlichem Pomp und gastronomischer Ausschweifung setzte er in seinem Roman Émile (1762) Natürlichkeit und Einfachheit entgegen. Dementsprechend gilt er als Ahne und Avantgardist des ›grünen‹ Lebens, als Apologet der Authentizität, der jegliche Verfälschung und Verfremdung ablehnt. So reizvoll Rousseaus Naturverbundenheit aus der heutigen Sicht überreizter Städter auch sein mag, es liegt auch Strenge in ihr. Naturcalvinismus hat dem Gaumen noch nie ein Wohlbehagen beschert. Zunächst aber wirkte sich die Abkehr von sämigen, üppigen, überladenen Speisen als Vorteil für die Gastronomie aus. Fischsuppe, gebeizte Rebhühner, Spinat und Artischocken auf der Speisekarte lockten nicht nur Menschen mit empfindlichem Magen.25

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich im Restaurant eine Form von bürgerlicher Geselligkeit, die den sozialen Zusammenhalt stärkte und das freiheitliche Streben des Individuums beförderte. Und endlich waren Frauen wieder präsent in der Gastronomie, gelten sie doch als die eigentlichen Begründerinnen des Gastgewerbes. Bereits in Mesopotamien zwischen Euphrat und Tigris hatte es Bierlokale gegeben, die ihren Ruhm weiblicher Braukunst verdankten. Zu den französischen Restaurants hatten Frauen Zutritt, das Prinzip der Égalite, der Gleichheit, hielt Einzug in alle Bereiche des täglichen Lebens. Das mochte ausländische Besucher erstaunen, nicht aber die Franzosen: Bereits zu Beginn der Revolution hatten Frauen ihre politische Durchschlagskraft bewiesen. Olympe de Gouges forderte 1791 in ihrer Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin die Gleichstellung von Mann und Frau.26 Die poissardes, die Fischweiber, waren bereits zwei Jahre zuvor nach Versailles gezogen, begleitet von der aufständischen Nationalgarde. Legendär ist ihr Schlachtruf: »Versailles schlemmt, Paris hungert.«

Vor 1789, dem stürmischen Begehren nach Freiheit, hatte es keine hundert Restaurants in Paris gegeben, zehn Jahre später war deren Zahl bereits auf bis zu 600 angewachsen, wenige Jahre später waren es bereits Tausende. Nicht Herkunft und Stand entschieden nach der Französischen Revolution über den Zugang zu leiblichen Genüssen, sondern das Geld, der Zielpunkt bürgerlichen Strebens. Der Gastrosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin brachte es auf den Punkt: »Jeder, der über fünfzig bis zwanzig Franken zu verfügen in der Lage ist, kann sich an den Tisch eines erstklassigen Restaurants setzen und wird dort ebenso gut oder sogar besser verpflegt werden als an der Tafel eines Fürsten.«27

Pikante Allianzen Goldene Löffel auf Reisen, im Exil

Die Flucht der Adligen erwies sich als Segen für die deutsche Gastronomie. Auf den Markt strömten zahllose durch die Französische Revolution arbeitslos gewordene Köche und Diener. So landete der Koch der guillotinierten Königin Marie-Antoinette in Hamburg und eröffnete dort 1794, als Robespierre in Frankreich sein Unwesen trieb, das erste Restaurant namens Girard. Hamburg entwickelte sich zu einer der größten französischen Emigrantenkolonien Europas. Anhänger des Ancien Régime, Royalisten und republikanisch gesinnte Flüchtlinge trafen im liberalen Klima der Stadt aufeinander.

Auch der französische Offizier César Lubin Claude Rainville floh vor den Revolutionswirren 1794 in den Norden. In Altona, das damals zu Dänemark gehörte, herrschte eine freiheitliche Atmosphäre. Glücksritter wie Rainville nutzten die Handelsfreiheit und erprobten bisher unerkannte Talente. Der Offizier und Adjutant kehrte nach dem Ende der Revolution nicht nach Frankreich zurück, sondern erwarb das Hamburger Bürgerrecht. Er sattelte beruflich um und eröffnete 1799 ein Restaurant mit herrlichem Elbblick. Zeitweilig hatte er sogar wieder heimatlichen Boden unter den Füßen, denn Hamburg gehörte von 1811