Glaubst du, dass es Liebe war? - Alex Capus - E-Book

Glaubst du, dass es Liebe war? E-Book

Alex Capus

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Über das Buch

Die unvergesslich komische Geschichte eines geläuterten Sünders — des Lügners, Betrügers und Kleinstadt-Casanovas Harry Widmer junior, der sein vom Vater geerbtes Fahrradgeschäft eines Tages aufgibt und vor seinen Gläubigern und der schwangeren Geliebten nach Mexiko flieht.

Zwar richtet Harry es sich gemütlich ein am Pazifischen Ozean, lernt sogar die Landessprache und setzt mit den Jahren um die Hüften Speck an; aber das süße Nichtstun wird irgendwann fad, die monotone Gewalt der Tropen öde, die Unentrinnbarkeit der Erinnerungen quälend — und zu Hause sitzen, während all der Jahre, »die Sauhunde« am Stammtisch, wissen alles und machen Harry zum Protagonisten ihrer allabendlichen Gespräche. Bis, ja, bis es zu einer Serie von dramatisch-banalen Ereignissen kommt, die Harry zur Umkehr bewegen und ihn erkennen lassen, dass Abhauen gar nichts nützt.

Alex Capus

Glaubst du, daß es Liebe war?

Roman

Carl Hanser Verlag

Für Juri

Konkursite Fahrradhändler und stolze Kleinstädter aller Länder, bitte herhören: Ihr seid nicht gemeint. Diese Geschichte hat sich vor vielen Jahrhunderten auf einem fernen Planeten abgespielt. Sie ist frei erfunden und entbehrt jeder Grundlage.

Ähnlichkeiten mit wirklichen Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Ehrenwort.

A. C.

Erster Teil

1

Laßt mich erzählen, wie mein Fahrradmechaniker Harry Widmer junior ein ziemlich guter Mensch wurde — er, der stets ein Prachtkerl von einem Schweinehund gewesen war, ein Lügner, Betrüger und Schläger von Kindesbeinen an, ein Faulenzer und Aufschneider und, spätestens ab dem sechzehnten Altersjahr, ein Wüstling.

Das nahm seinen Anfang an einem goldenen Frühsommernachmittag, als die Sonne ein langes Trapez durch die offenstehende Tür seiner Werkstatt warf. Harry war eben dabei, die Gangschaltung eines sündhaft teuren Mountainbikes einzustellen, das er einem junggebliebenen Amtsgerichtspräsidenten angedreht hatte — da hörte er draußen auf dem Gehsteig Schritte. Den hellen Klang kurzer, schneller Schritte auf hohen Absätzen. Er ließ den Schraubenzieher sinken, horchte und schaute durch die Tür hinaus ins Sonnenlicht.

Harry Widmer junior hatte das Geschäft drei Jahre zuvor von seinem Vater, dem verwitweten Harry Widmer senior, übernommen. Was heißt übernommen — erobert hatte er es, und zwar in einem jahrelangen, zermürbenden Abnützungskampf. Harry junior war gleich nach den obligatorischen neun Schuljahren in die väterliche Werkstatt eingetreten; das nicht unbedingt zur Freude des Seniors, der seinen Sohn schließlich kannte. Tatsächlich machte sich Harry junior während der gesamten dreijährigen Lehrzeit kaum je die Finger schmutzig. Denn schwarz verkrustete Kettenkränze, verrostete Schrauben, löchrige Schläuche und ausgeleierte »Sturmey-Archer«-Dreigangschaltungen — das war nichts für ihn. Solche Dinge überließ er lieber dem Vater. Was ihn viel mehr interessierte, waren die hübschen Dinge des Lebens: blondbezopften Radsportlerinnen rosa Wildlederhandschuhe verkaufen; Vertreter empfangen und diese saumäßig schlecht behandeln, zuletzt aber unglaubliche Mengen aus dem ganzen Sortiment bestellen; nachmittagelang versonnen in wohlriechenden Hochglanzprospekten blättern; mit Kreditkarten hantieren und die Registrierkasse bedienen. Wenn's denn unbedingt etwas Mechanisches sein mußte, so bitte allenfalls die Feineinstellung hydraulischer Bremsen an fabrikneuen Mountainbikes, oder die Montage pneumatischer Stoßdämpfer unter veloursbezogenen Damensätteln. Die meiste Zeit aber stand er draußen auf dem Gehsteig und rauchte Zigaretten. Das war das einzige, was der Vater vom Sohn unerbittlich forderte: daß er zum Rauchen ins Freie ging.

Die Lehrabschlußprüfung bestand er mit Ach und Krach und nur, weil der Prüfungsexperte ein alter Dienstkamerad von Harry Widmer senior war. Kaum aber hatte der Junior sein Diplom in der Tasche und war volljährig, wollte er auch schon Chef werden. Er begann den Alten zu bearbeiten. Zuerst warf er ihm kurze, vorsichtige Bemerkungen hin während der Kaffeepause über drei Fahrräder hinweg; bald aber hielt er dem Vater abends endlose Referate in der gemeinsamen Wohnung über der Werkstatt. Am Eßtisch sprach er von Wertschöpfung und Zielgruppen und Gewinnmargen, vor dem Fernseher von Cash-flow und Pay-back und Turnaround, beim Zähneputzen von Lifestyle und Lustgewinn und Lagerkostenminimierung. Der Senior nickte zu alldem. Während der Junior redete, kochte er und trug das Geschirr ab und holte aus dem Kühlschrank Bier; denn er war es, der den Haushalt besorgte, seit die Frau nicht mehr da war.

Früher hatte sie sich um alles gekümmert, geschäftig von früh bis spät und immer leise bemüht, ihren zwei Männern nicht in die Quere zu kommen bei der Arbeit oder beim Biertrinken oder Fernsehen. Sie hatte kein Alter gehabt und kein Geschlecht und keine Haarfarbe, und ihre Hände waren rot gewesen wie gesottene Hummer von den scharfen Putzmitteln, mit denen sie tagein, tagaus die Böden schrubbte. Eines Sonntags aber zog sie die Schublade des Küchentischs auf und nahm einen der unbenutzten Wahl- und Abstimmungszettel hervor, auf denen sie gewöhnlich ihre Einkäufe notierte. Sie legte den Zettel auf den Tisch, nahm einen Bleistiftstummel aus der Schublade und schrieb auf die Rückseite: »Falls mich jemand sucht: Ich hänge im Buchenwald über der Hasenweid. Hundertundzwölf Schritte hinter der Picknickstelle. Vielen Dank.« Es war der Senior, der sie Stunden später fand, wie sie an einem Ast hing mit violettem Gesicht und beschmutzten Strümpfen. Er hatte kein Messer bei sich, mit dem er das Seil hätte durchschneiden können, und so mußte er sie mit einem Arm hochheben, um mit der anderen Hand den festgezogenen Knoten in ihrem Nacken zu lösen. Als ihm das endlich gelang, verlor er das Gleichgewicht und fiel mit der Frau ins Laub vom vorigen Jahr.

In der Folge hatten sich Vater und Sohn ans zweisame Zusammenleben gewöhnt. Der Senior versuchte dem Sohn die Mutter zu ersetzen, so gut er es verstand. Als der gewissenhafte Handwerker, der er war, verordnete er sich eine Anlehre in Hauswirtschaft. Nach wenigen Wochen hatte er den Haushalt auf seine männlich-mechanische Art im Griff und war in der Lage, vierzehn verschiedene Mahlzeiten zuzubereiten — zwei für jeden Wochentag, und immer streng nach Kochbuch. Am Samstag wurde gewaschen, am Sonntag gebügelt. Nur das Reinemachen überstieg seine Kräfte. Dafür stellte er eine Witwe aus der Nachbarschaft ein.

Der Junior hingegen — war einfach der Junior. Er richtete es sich gemütlich ein in der kostenlos kuschligen Wärme väterlicher Schuldgefühle, und weil das Preis-Leistungs-Verhältnis optimal war, blieb er. Während die jungen Leute seines Jahrgangs flügge wurden und Weltreisen unternahmen, in die nächste Universitätsstadt zogen oder Militärdienst leisteten, blieb Harry junior seinem Bubenzimmer treu. Daß auch bei ihm die Jahre vergingen, erkannte man nur an den wechselnden Postern über seinem Schreibtisch: Auf das Dick-und-Doof-Poster, das noch seine Mutter aufgehängt hatte, folgte Muhammad Ali, dann Nastassja Kinski, Kiss, die Raumfähre Columbia und schließlich Bo Derek.

Eine Dienstleistung aber verweigerte der Senior: Er folgte den betriebswirtschaftlichen Vorträgen des Juniors nicht mehr. Denn er hatte längst verstanden, was der Junge ihm beizubringen versuchte: daß man in ihrer Branche richtiges Geld nicht mit dem Flicken klappriger Damenfahrräder verdient, sondern einzig mit dem Verkauf schicker Bikes und teurer Accessoires.

Zuweilen merkte Harry junior, daß ihm der Vater nur mit einem Ohr zuhörte, oder gar nicht. Dann fing er an zu brüllen, zerdrückte rohe Kartoffeln in der Faust und verlangte, daß man ihn verdammt noch mal ernst nehmen solle, worauf der Senior dem Frieden zuliebe sich die einzig mögliche Antwort verkniff. Das wiederum erbitterte den Junior derart, daß er seine Bierflasche gegen die Wand schmeißen und türenschlagend aus der Wohnung stapfen mußte, um sich zu besaufen und morgens um vier stinkend, schwankend und Obszönitäten gurgelnd wieder heimzukommen.

2

Eines Abends am Eßtisch aber legte der Senior sachte Messer und Gabel auf den Teller, lehnte sich im Stuhl zurück und legte das Kinn in die rechte Hand.

»Weißt du was, mein Sohn? Du hängst mir zum Hals raus.« Er lachte überrascht, als ob ihm das eben gerade eingefallen wäre. Dabei hatte er diese Worte jahrelang schweigend wiedergekäut, mit der Zunge von einer Wangentasche in die andere geschoben hatte er sie, und immer wieder hinuntergeschluckt. Jetzt waren sie ihm entwischt, und er empfand große Erleichterung. Um das Wohlgefühl auszukosten, redete er weiter.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr du mir zum Hals raushängst. Wenn ich morgens deine Visage sehe, möchte ich dir in die Eier treten. Wenn ich höre, wie rücksichtslos laut du deinen Kaffee schlürfst, könnte ich dich mit einem Zwölfzoll-Rennreifen erwürgen. Und wenn du mit deinem Busineß-Gequassel anfängst, verspüre ich den dringenden Wunsch, dir mit dem Fünfundzwanziger-Schlüssel die Fresse einzuschlagen.«

»Also hör mal, Papa …«

»Nein, jetzt hörst du mir mal zu. Ich ertrage es nicht länger, daß du mit deinen Bierfürzen meine Atemluft verpestest. Ich will mich nicht mehr für deine Lümmeleien schämen vor der weiblichen Kundschaft. Und weißt du was? Ich will mich mit dir nicht mehr übers Geschäft streiten. Du kannst alles haben. Ich bin schon weg. Morgen ziehe ich aus.«

Sprach's und tat's und überschrieb das Geschäft, das er sechsundvierzig Jahre zuvor im Alter von neunzehn Jahren übernommen hatte, als sein Vater in den Krieg mußte, dem Junior. Er zog aus der gemeinsamen Wohnung aus und richtete sich den Lebensabend gemütlich ein in einer Seniorenresidenz, die am Waldrand stand und »Alpenblick« hieß.

Harry junior seinerseits machte sich umgehend ans Werk. Als erstes räumte er die Werkstatt aus. Die Werkzeuge und das Ersatzteillager des Vaters — die über Jahrzehnte angehäuften Millionen von Schrauben, Muttern, Zahnrädern und Kabeln, die unzähligen Räder, Rahmen, Reifen und Schläuche —, das alles verschwand in einem Schuppen hinter dem Haus. Harry nahm bei der Handelsbank einen hohen Kredit auf — einen sehr hohen, wie der Vater fand — und kaufte die nebenan leerstehende Pferdemetzgerei Hauri hinzu. Er ließ die Trennwand niederreißen, die so entstandene Halle weiß verputzen und elegant mit kleinen Halogenlampen ausleuchten. Zur schwarzledernen Sitzecke mit den Prospekten und Fachzeitschriften gehörte unbedingt eine italienische Espressomaschine, ins Schaufenster die Nachbildung eines hundertjährigen Hochrads sowie eine vierzigjährige türkisfarbene Vespa und aufs Vordach eine schicke Leuchtreklame, die ihm nachts rot ins Schlafzimmer schien. Von da an war das Geschäft keine Fahrradwerkstatt mehr, sondern HARRY'S CRAZY BIKE-CORNER.

Um sein persönliches Erscheinungsbild alldem anzupassen, gab Harry kurz vor der Eröffnung das Rauchen auf und kaute statt dessen Kaugummi. Er kaute Gummi mit Zimt-, Kaffee- oder Heidelbeeraroma. Am Abend vor der Eröffnung aber war er sehr aufgeregt, wogegen alle Kaugummis dieser Welt nichts halfen, eine kleine Zigarette aber wohl. Von da an rauchte Harry wieder wie zuvor — mit dem Unterschied, daß er sich jetzt zwischen zwei Zigaretten jeweils einen Kaugummi in den Mund schob.

Zur Eröffnung organisierte Harry junior ein Mountainbike-Rennen in der alten Kiesgrube. Das Rennen wurde ein voller Erfolg. Zum Start meldeten sich dreihundert Fahrer, an der Strecke postierten sich doppelt so viele Freunde und Angehörige. Im Start- und Zielraum stieß die Provinzprominenz mit Prosecco an, der Stadtpräsident hielt eine Rede. Nur Harry senior hielt sich vom Rennen fern, vielleicht in vorausschauender Scham über das Geschäftsgebaren des Sohns. Tatsächlich nötigte dieser alle Anwesenden zum Kauf von mindestens drei Losen für eine Lotterie, die er selbst organisiert hatte. Der Hauptpreis war imposant: ein Karbonrad mit Hydraulikbremsen und radial gespeichten Alufelgen, für das eine Kellnerin gut drei Monatslöhne hätte hergeben müssen. Nach dem Rennen gab es eine Siegerehrung für jede Geschlechts- und Altersklasse samt Pokalen und Medaillen und Siegerküßchen, und als die schlammverkrusteten Fahrer das Podest freigegeben hatten, stieg Harry junior hinauf und nahm vor aller Augen eigenhändig die Ziehung des Hauptgewinns vor. Der glückliche Gewinner hieß — Harry Widmer senior. Die Menge johlte. Keiner empörte sich gegen den offenkundigen Betrug, im Gegenteil: Die Kleinstädter waren glücklich, Augenzeugen zu sein bei der Geburt einer typischen Harry-junior-Anekdote mit langer Halbwertszeit, welche übrigens noch verlängert werden sollte durch die Tatsache, daß der Senior sein Karbonrad gar nie zu Gesicht bekam; denn der Junior verkaufte es wenige Tage nach dem Rennen an den übergewichtigen jüngsten Sohn des hiesigen Immobilienlöwen, der offenbar dem Glauben anhing, daß Radfahren um so schlanker mache, je mehr Geld man dafür ausgibt.

An jenem Tag also näherten sich Schritte dem Eingang zu HARRY'S CRAZY BIKE-CORNER. Dann tauchte in der offenstehenden Schiebetür eine Gestalt auf, zeichnete sich scharf gegen das Sonnenlicht ab, warf einen langen, grazilen Schatten hinein in den Laden — und war auch schon verschwunden. Harry junior drückte mit der Zunge seinen Kaugummi gegen den Gaumen. Was war das denn gewesen? Ihm war es vorgekommen, als ob die Gestalt keine direkte Berührung mit ihrem Schatten gehabt hätte, sondern eine Handbreit Abstand von ihm hielt. So etwas hatte er noch nie gesehen. Das war natürlich unmöglich. Das hätte ja bedeutet, daß der Gestalt die Sonne unter ihren winzigen Füßen durchgeschienen hätte — und das wiederum wäre nur möglich gewesen, wenn sie nicht eigentlich gelaufen, sondern vielmehr geschwebt wäre. Harry junior löste den Kaugummi vom Gaumen und eilte zur Tür, um ihr hinterherzusehen. Und das war etwas, was er noch nie getan hatte.

3

Harry junior war wohl ein Schweinehund, aber im Städtchen ziemlich beliebt. Zwar wußte jeder, daß er überall Geld borgte und niemals zurückzahlte und daß er Lieferanten und Handwerker prellte und sein Lebtag keinen Groschen Steuern bezahlt hatte; aber die Steuerbehörde, die Gewerbler, die Handelsbank, das Gas- und das Elektrizitätswerk — sie alle drückten seit je beide Augen zu und vertrauten darauf, daß ja immer noch Harry Widmer senior da sein würde, falls es einmal hart auf hart kommen sollte. Daß der Junior im » Rathskeller« großmäulige Reden schwang mit seinem Zürcher Dialekt, den er sich als Teenager angeeignet hatte, ohne je länger als einen Nachmittag in Zürich gewesen zu sein: Auch das verzieh man ihm. Er war halt der Harry junior. Schließlich zahlte er regelmäßig seine Runden Bier — nicht Tischrunden, sondern Lokalrunden.

Und die Damen? Was hielten die Damen von ihm, der wer weiß wie oft schon unaussprechliche Geschlechtskrankheiten im Bordell aufgelesen und unter den Töchtern des Städtchens verteilt hatte? Der schon mindestens zwei minderjährige Mädchen geschwängert und zum Abtreiben nach Holland chauffiert hatte? Der einmal mit einer hübschen, gescheiten und herzensguten Fabrikantentochter verlobt gewesen war, diese aber kurz vor der Hochzeit verließ, als ihr Vater Konkurs ging? Die Antwort lautet: Auch sie mochten ihn. Weshalb, ist schwer zu sagen. Wohl hatte Harry junior kräftige, quadratische Hände und dunkle Locken, die sich um so enger um seinen Schädel ringelten, je mehr er beim Radfahren ins Schwitzen geriet — aber so was hat mancher. Wohl hatte er eisblaue Augen unter pechschwarzen Brauen — aber wenn er sein Lächeln aufsetzte und seine viel zu weißen Zähne zeigte, konnte das auch die naivste Vierzehnjährige nicht anders als anzüglich empfinden. Vermutlich mochten die Damen ihn, gerade weil er ein Schweinehund war und nicht die geringste Anstrengung unternahm, das zu verheimlichen. Das war der Unterschied zwischen ihm und den anderen Männern: Von ihm wußten sie, daß er ein Schweinehund war, von allen anderen nahmen sie es nur an.

Jedenfalls gab es immer eine Anzahl Damen aller Altersklassen, die ihre Räder auffällig oft zur Reparatur in HARRY'S CRAZY BIKE-CORNER brachten. In den Nachmittagsstunden kamen die Dreizehn- und Vierzehnjährigen. Sie durften umsonst Cola aus dem Kühlschrank nehmen und ihm bei der Arbeit zuschauen, solange sie ihm nicht auf die Nerven gingen. Wenn ihm danach war, sprach er mit ihnen über Wildpferde und die Sommernächte in Norwegen. Wenn er sie loswerden wollte, machte er ihnen Komplimente über ihre dürren Beine oder fragte, ob sie schon mal einen Jungen geküßt hätten.

Die Teenager wußten, wann sie das Feld zu räumen hatten: nach Büroschluß, wenn die Volljährigen auftauchten. Die behandelte Harry junior mit betonter Gleichgültigkeit. Wenn eine ihr Rad in den Bike-Corner schob und ihn grüßte, so nickte er vielleicht stumm, ließ aber kein Auge von den Ketten und Zahnrädern, die er gerade in Arbeit hatte. Und wenn die Dame dann leicht verunsichert von den mechanischen Mängeln ihres Rads zu berichten anfing, tat er, als ob sie gar nicht da wäre, pfiff vielleicht leise zur Musik, die im Radio lief, während die Dame nur noch stockend redete und verstummte und nicht mehr wußte, wohin mit sich und ihren Händen. Dann konnte er sich plötzlich nach ihr umdrehen, sein Lächeln aufsetzen und sagen: »Wir sollten mal zusammen ausfahren, wir beide. Wir ganz allein, meine ich.«

Und wenn dann eine darauf hinwies, daß sie eine verheiratete Frau sei, sagte er: »Um so besser.«

Natürlich hatte solche Dreistheit wenig Aussicht auf Erfolg. Aber da statistisch gesehen auch die unwahrscheinlichsten Ereignisse mit einer gewissen Regelmäßigkeit eintreten, wenn man nur genug Versuche unternimmt, konnte er sich über einen Mangel an Ausfahrten nicht beklagen.

Harry junior hegte eine gleichgültige Zuneigung zum weiblichen Geschlecht. Wenn ihm eine gefiel, versuchte er sie zu kriegen. Wenn es nicht klappte — auch gut. Und wenn ihn eine nach zwei oder drei Ausfahrten unter Tränen beschwor, daß es so keinesfalls weitergehen könne, daß ihre Liebe keine Zukunft hätte, weil zu viel auf dem Spiel stehe, und daß er sie unbedingt vergessen müsse, auch wenn ihm das jetzt unmöglich scheine — so tat er das. Ohne Umstände. Wie man einen faden Film vergißt, sobald im Kino das Licht angeht.