Goethe – Leben und Werk - Karl Otto Conrady - E-Book

Goethe – Leben und Werk E-Book

Karl Otto Conrady

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Beschreibung

Karl Otto Conrady zeichnet in seiner Biographie alle wichtigen Stationen des Goetheschen Lebens auf dem Hintergrund der von Kriegen und der Französischen Revolution bestimmten Epoche nach. Seine Darstellung, die von einer genauen Kenntnis der Briefe und Tagebücher Goethes und seiner Zeitgenossen zeugt sowie zahlreiche Ergebnisse der Goethe-Forschung aufarbeitet, vermittelt ein differenziertes Bild dieser für ihre Zeit exemplarischen Persönlichkeit. Sie bietet darüber hinaus einen Einblick in das umfangreiche dichterische Werk, seine naturwissenschaftlichen Studien und seine politische Tätigkeit am Hof von Weimar. Der zweite Teil der Biographie umfaßt die Zeit von 1789–1832, von der Französischen Revolution über die Zusammenarbeit mit Schiller bis zu Goethes Tod. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Karl Otto Conrady

Goethe – Leben und Werk

Zweiter Teil: Summe des Lebens

FISCHER E-Books

Inhalt

Im Schatten der großen RevolutionFranzösische ZuständeDeutsche ReflexeDer Geheime Rat, kein Freund der RevolutionDichterische Antworten. Epigramme und RevolutionsdramenDer Glaube an den dritten WegKünstler, Forscher, Kriegsbeobachter. Frühe neunziger JahreZum zweiten Mal in ItalienIm schlesischen FeldlagerErnst und Spiel. Intendant des HoftheatersIm Feldzug 1792Über Pempelfort und Münster zurück nach WeimarVor Mainz 1793Die Allianz mit SchillerDas glückliche EreignisBriefe aus der literarischen WerkstattBefreiung aus der IsolationUnterhaltungen deutscher AusgewandertenWie entsteht ein klassischer Nationalautor?Kein Tag ohne Epigramm. Der Xenien-KampfAm Anfang des FriedensjahrzehntsEin Schüler, der kein Meister wurde. Wilhelm Meisters LehrjahreVon Editionen und VerlegernEin gescheiterter Theaterroman. Der UrmeisterSuche nach LebensverwirklichungMetamorphosen des LebensEin Roman der ZeitEpos, Balladen, erotische LyrikHermann und Dorothea. Eine deutsche Idylle?Balladen. Experimente mit dem erzählenden GedichtErotische PhantasienDritte Schweizer Reise 1797Hohe Zeit der Weimarer KlassikEin Programm für bildende Künste. Die PropyläenVom Schönen und von der Wahl des GegenstandsKunsterziehung durch PreisausschreibenKlassik und klassisch. Bedenkliche BegriffeKlassizistisches CredoLandschaftliche Grille OberroßlaWeiterhin im öffentlichen DienstSorgen um JenaWeimarer BildungstheaterZu Gast in LauchstädtEin Dramenfragment der Klassik. Die natürliche TochterIn literarischen KonstellationenZwischen antikem Vorbild und modernen EntwürfenEin Mittwochszirkel und gesellige LiederEin Fremder in der NäheNeues in WeimarNach Schillers TodTod und VerklärungZelter, Freund der AltersjahreProduktive RegenerationFaust. Der Tragödie erster TeilNapoleonische JahreKriegsnot 1806. Heirat mit ChristianeDas Faszinosum NapoleonEin Strom entrauscht umwölktem Felsensaale. SonetteFremde Welt Kleistscher DramatikAuf eigene Tätigkeit vertrauendExperimentelles Probespiel. Die WahlverwandtschaftenTaten und Leiden des Lichts. Die FarbenlehreAuf neuen und alten WegenBekanntschaft mit Boisserée. Aufmerksamkeit für MittelalterlichesAutobiographische ArbeitBesonnenheit statt Begeisterung. Während der BefreiungskriegeZwiesprache mit Hafis und Reise in die RheingegendenHatem und SuleikaEin Abstecher nach Nassau und KölnWest-östlicher DivanÜber symbolisches SprechenEs bleibt Idee und Liebe. Die Jahre von 1815 bis 1823Staatsminister im Großherzogtum Sachsen-Weimar-EisenachKunst und Altertum in den Rhein- und MaingegendenEin Volksfest am RheinPreßfreiheit oder Preßfrechheit?Christianes Tod. Neues Leben im Haus am FrauenplanAbwehr von IrritationenDer letzte FestzugGott und Natur. Weltanschauliche GedichteNaturkundliches gesammeltDrei Sommer in MarienbadPerspektiven des AltersDer Zirkel der VertrautenEine Summe von EinsichtenDistanzierter Beobachter von ZeittendenzenDer Wunsch nach WeltliteraturEin halbes Jahrhundert in WeimarEine unerhörte BegebenheitZwei große SpätwerkeWilhelm Meisters Wanderjahre oder Die EntsagendenFaust. Der Tragödie zweiter TeilLetzte JahreEinsiedler im unteren Garten und in DornburgEin später naturwissenschaftlicher DiskussionsbeitragPrüfungen erwarte bis zuletztHinweise zum ersten und zweiten TeilAbkürzungen

Im Schatten der großen Revolution

Französische Zustände

Was die Zeitgenossen seit dem Herbst 1789 die „Revolution in Frankreich“ nannten und die Geschichtsschreiber als Französische Revolution bezeichnen, war kein welthistorisches Ereignis, das sich auf ein bestimmtes Datum festlegen ließe. Vielmehr zog sich die revolutionäre Umwälzung der alten politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse Frankreichs über Jahre hin. Der 14. Juli 1789, der Tag der Erstürmung der Bastille, hat sich nur als ein besonders markanter Termin der Erinnerung eingeprägt. Schon zuvor erschütterten spektakuläre Vorgänge den morschen Bau des Ancien régime, und nach 1789 setzte sich das revolutionäre Geschehen in zahlreichen Schüben fort, vorangetrieben von den Interessen und Machtansprüchen unterschiedlicher Gruppen, die sich verbündeten und bekämpften.

Bereits die aristokratische Revolte der Jahre 1787–1788 dokumentierte die Krise der absolutistischen Monarchie in Frankreich. Riesengroß war die Verschuldung des Landes geworden, woran die Verschwendung des Hofes, der Minister und des Hochadels ein gerüttelt Maß Schuld trug. Auch die Teilnahme am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hatte hohe Summen verschlungen. 1788 machte allein die Zinslast mehr als 50 % des gesamten Staatshaushalts aus. Da an eine weitere Erhöhung der Steuern nicht zu denken war, bot sich als eine Lösungsmöglichkeit an, die Steuerbefreiungen für Klerus und Adel, die beiden höchsten Stände, zu beseitigen und damit die Steuergleichheit einzuführen. Doch scheiterten verschiedene Versuche des Königs und seiner Finanzminister, eine Reform durchzusetzen; die Privilegierten wollten auf ihre Vorrechte nicht verzichten. Schließlich erklärten sich ihre Institutionen als gar nicht zuständig, sondern forderten die Einberufung der Generalstände, die allein über Steuern beschließen könnten. Seit 1614 war diese beratende Versammlung nicht mehr eingeladen worden. Unverändert sollte sie jetzt am 1. Mai 1789 zusammentreten: getrennt nach den drei Ständen, dem Klerus, dem Adel und dem Tiers état, wie seit Ende des 15. Jahrhunderts der dritte Stand bezeichnet wurde. Wieder sollte jeder Stand nur über eine Stimme verfügen, so daß die Privilegierten jederzeit den Tiers hätten überstimmen können. Diese Regelung war für den wirtschaftlich mehr und mehr erstarkten und längst zur geistigen Führung gelangten dritten Stand nicht mehr akzeptabel. Bereits im Dezember 1788 konnte er sich mit seiner Forderung durchsetzen, so viele Abgeordnete stellen zu dürfen wie Klerus und Adel zusammen.

Während der Wahlkampf lief, publizierte im Januar 1789 Emmanuel Joseph Sieyès seine Flugschrift Qu’est-ce que le tiers état? „Was ist der dritte Stand? Alles. Was ist er bis jetzt gewesen? Nichts. Was verlangt er? Etwas zu werden.“ Wenn man seine besondere Funktion berücksichtige, müsse man zu dem Ergebnis kommen, der Tiers sei die ganze Nation. Der Adel verschlinge „den besten Teil der Produktion, ohne auch nur das geringste zu ihrer Entstehung beigesteuert zu haben. […] Mit Sicherheit ist eine solche Klasse des Müßiggangs der Nation fremd.“

Die ‚patriotische Partei‘ propagierte den Kampf gegen die Privilegien. Gleichheit der Bürger vor Gericht und Fiskus wurde gefordert, Grundfreiheitsrechte sollten verbürgt sein und eine Repräsentativregierung amtieren. Diese Gedanken fanden Anhänger auch in den oberen Ständen, so daß als Ergebnis der komplizierten Wahlen eine Versammlung der Generalstände zustande kam, in der die Reformwilligen stattlich vertreten waren. Als am 5. Mai 1789 die Eröffnungssitzung begann, war jedoch noch nicht entschieden, ob nach Köpfen abgestimmt werden sollte, was dem dritten Stand Vorteile bringen würde. Aber König und Hof weigerten sich, über die Verdopplung der Abgeordnetenzahl des Tiers état hinaus weitere Zugeständnisse zu machen.

Einen Monat lang debattierte man über dieses zentrale Problem, bis sich am 17. Juni der Tiers allein als Nationalversammlung konstituierte und sich das Recht zusprach, Steuern zu genehmigen. Denn sie, die Abgeordneten dieses Standes, verträten unzweifelhaft mehr als neunzig Prozent der Nation. Der Widerstand des Königs bewirkte nichts mehr; er konnte schließlich nur noch sanktionieren, was geschehen war, und auch Delegierte der beiden anderen Stände schlossen sich der Assemblée nationale an. Am 9. Juli ernannte sie sich zur Verfassunggebenden Nationalversammlung (Assemblée constituante).

Die Entwicklung blieb nicht in den relativ friedlichen Bahnen verfassungsrechtlicher Auseinandersetzungen und Änderungen. Auf der einen Seite suchten Ludwig XVI. und seine Anhänger die nur widerstrebend gebilligten Entscheidungen zu revidieren, was nur durch einen militärischen Gewaltstreich hätte geschehen können; Truppen um Paris und Versailles standen bereit. Auf der andern Seite hatten die niederen Volksklassen direkt noch nicht in die Vorgänge eingegriffen, verfolgten aber aufmerksam die Geschehnisse und hielten zu denen, die das Privilegienunwesen beseitigen und Grundrechte für alle erkämpfen wollten. Allerdings saßen in der gewählten Vertretung des Tiers nur Angehörige der Bourgeoisie, kein einziger Bauer und kein Mitglied jener sozialen Schichten, die sich erst während des 19. Jahrhunderts als vierter Stand konsolidieren sollten.

Die Lage spitzte sich zu. Es gab Zusammenstöße; das Volk versuchte sich zu bewaffnen. Am 12./13. Juli beschlossen die Wahlmänner der Hauptstadt Paris, angesichts der wehr- und waffenlosen Nationalversammlung, eine Bürgergarde aufzustellen, die freilich nicht nur vor königlichen Truppen schützen, sondern auch mögliche Unruhen der Unterschichten eindämmen sollte. Längst hatte sich der Argwohn vor einem Komplott der Aristokratie ausgebreitet; Mangel an Lebensmitteln und Teuerung schürten den Verdruß in der Bevölkerung; Aufruhr griff um sich, die Menge wollte Waffen, die Revolte nahm ihren Lauf. Am 14. Juli 1789 erbeutete man zunächst 32000 Gewehre, stürmte dann die Bastille, das alte Staatsgefängnis. Einen Tag später gab der König nach. Er erschien in der Nationalversammlung und versprach, seine Truppen zurückzuziehen. Nicht nur das, er kam am 17. Juli nach Paris und begab sich ins Rathaus, wo aus dem „Ständigen Ausschuß“ die „Kommune“ von Paris mit gewähltem Bürgermeister geworden war, der ihm die Kokarde mit den blauen und roten Farben der Stadt Paris und dem Weiß des Königsbanners zum Zeichen der unauflöslichen Allianz zwischen Monarchen und Volk überreichte. Die Aristokraten waren über die Kapitulation ihres Königs verwirrt und bestürzt. Träger bekannter adliger Namen wählten schon jetzt den Weg ins Ausland, und ihnen folgten im Lauf der Jahre zahlreiche Emigranten, die um ihre Vorrechte und Güter, dann auch um Leib und Leben fürchten mußten.

Was in Paris geschah, griff auf das ganze Land über. In vielen Städten der Provinz bildeten sich neue Magistrate; auf dem Land rebellierten die Bauern und wollten die Abschaffung quälender feudaler Rechte. Unter dem Eindruck des Aufruhrs faßte die Nationalversammlung im August 1789 weitreichende Beschlüsse: Die Leibeigenschaft wurde aufgehoben, auf dem Boden ruhende Herrenrechte konnten durch Geldentschädigung abgelöst werden, die grundherrschaftliche Gerichtsbarkeit und Frondienste wurden beseitigt, Steuerprivilegien und Vorrechte der Stände, Provinzen und Städte annulliert. Theoretisch besaßen nun alle Franzosen gleiche Rechte und gleiche Pflichten. Am 26. August 1789 folgte die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Das Ancien régime war, dem Wortlaut der Beschlüsse und Erklärungen nach, ausgelöscht. Doch immer noch war der König als Mitagierender vorgesehen. Zwar sträubte er sich, stimmte den August-Beschlüssen nicht zu, sammelte Truppen, schien Gegenmaßnahmen vorzubereiten. Aber als sich wieder einmal, nach einem peinlichen Zwischenfall (beim Bankett der Offiziere der Leibwache war ein provozierendes Lied erklungen und die dreifarbige Kokarde zertreten worden), Volksmassen mobilisierten und zu vielen Tausenden mit der Nationalgarde am 5. Oktober aufbegehrend nach Versailles zogen, lenkte Ludwig XVI. erneut ein und akzeptierte die Erlasse des August. Mehr noch: er beugte sich dem Druck und zog nach Paris, um dort, in der revolutionären Hauptstadt, zu residieren. Die Nationalversammlung folgte nach.

Radikale Änderungen beschränkten auch die traditionelle Macht der Kirche. Ihre Güter wurden eingezogen und dienten als Nationalgüter zum Pfand für eine höchst fragwürdige Papierwährung (die „Assignaten“), die Pfarrer sollten von den Bürgern der Gemeinde gewählt und vom Staat besoldet werden, sie hatten einen Eid auf die Verfassung abzulegen (was mehr als die Hälfte der Priester verweigerte).

Das alles weckte auch Widerstand und gegenrevolutionäre Aktivitäten. Doch machtvoll konnten die „Föderierten“, wie sich die überall im Land nach dem Muster von Paris gebildeten Nationalgarden nannten, am 14. Juli 1790 die revolutionäre Einheit Frankeichs demonstrieren: Talleyrand feierte auf dem Pariser Marsfeld vor 300000 Teilnehmern die heilige Messe am Altar des Vaterlandes. Und wie die Abgesandten aus den Departements den Eid auf den König und die Verfassung leisteten, so schwor der König seinerseits der Nation und dem Gesetz die Treue. Noch war die Revolution nichts anderes, aber auch nicht weniger als die Umwandlung des Staats in eine konstitutionelle Monarchie, mit einem König freilich, der nicht einmal halbherzig bei der Sache war.

Auch das Volk war als ganzes, in allen seinen Schichten bis hinab zu den Ärmsten, keineswegs der Inhaber der neuen Rechte. In der Erklärung der Menschenrechte wurden Gleichheit und Freiheit als unveräußerliche Rechte sofort im ersten Artikel genannt: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“ Ein Satz von ungeheurer Sprengkraft für die überkommenen absolutistischen Ordnungen des 18. Jahrhunderts, wenn wirklich alle in ihm angelegten Konsequenzen auch gezogen wurden. Aber nur die Gleichheit vor dem Gesetz und der Steuer war gemeint und zugesichert. Die Ungleichheit, die aus Besitz und Reichtum herrührt, wurde nicht angetastet. Wenn das Eigentum in Artikel 2 zum natürlichen und unverjährbaren Menschenrecht erklärt wurde, blieb die Frage, wie es der riesigen Masse der Besitzlosen gelingen sollte, die verbrieften Rechte auch für sich zu verwirklichen. Was die Konstituante beschloß, entsprach den Interessen der Besitzenden des dritten Standes, und es war nur konsequent, daß im Gesetz vom 22. Dezember 1789 strikt zwischen Aktivbürgern und Passivbürgern unterschieden wurde. Passivbürger hatten kein Eigentum und waren deshalb vom Wahlrecht ausgeschlossen, und auch die Aktivbürger wurden nochmals nach der Höhe der geleisteten Steuern differenziert.

Freiheit, die gewonnen war, bedeutete vor allem Freiheit zu wirtschaftlichem Handeln ohne Zwang und zu öffentlicher und politischer Tätigkeit, die allerdings durch die Einteilung der Bürger nach ihren Besitzverhältnissen erheblich eingeschränkt war. Die Widersprüche, die in den Menschenrechtsartikeln und in der. Gesetzgebung der Nationalversammlung enthalten waren und daraus resultierten, daß – wie stets – eine aufsteigende, zur Macht drängende und gelangende Klasse ihre partikularen Interessen und Ansichten für die allgemeinen der Menschheit insgesamt hielt, mußten fortwährende Spannungen erzeugen. Die Entwürfe der aufgeklärten Geister des Jahrhunderts, die der Revolution in vielfältiger Weise vorgearbeitet hatten, waren leichter zu formulieren, als im Kampf der Interessen in adäquaten Gesetzesvorschriften zu konkretisieren.

So kodifizierte die Verfassung vom September 1791 nach den jahrelangen Debatten eine parlamentarische Monarchie mit strikt begrenzten Einspruchsrechten des Königs, Teilung der Gewalten, ein geordnetes Rechtsverfahren für jeden Bürger, aber auch ein nach dem Vermögen abgestuftes Wahlrecht. Streikrecht und Koalitionsfreiheit der Arbeitenden waren nicht vorgesehen. Es war abzusehen, daß der Versuch des Besitzbürgertums, die Privilegien der oberen Stände zu beseitigen und sich zugleich nach unten abzusichern, ständig neue Komplikationen hervorrufen mußte, zumal der König mit seinen Gefolgsleuten nicht untätig blieb und sich das Volk der Besitzlosen bereits in entscheidenden Phasen in die Entwicklung eingeschaltet hatte. Wiederholt griffen im Verlauf der Revolution hauptstädtische Volksmassen mit Direktaktionen in das Geschehen ein, doch erst ab 1793 mit ausgeprägtem Bewußtsein ihrer sozialen Klasse. Die Sansculotten, die Ohnehosen, die statt der culotte, der vornehmen Kniehose, lange und meist blau-weißrot gestreifte Hosen trugen, gehörten zum Kleinbürgertum, waren Händler und Handwerker, Manufakturarbeiter und Handwerksgesellen, insgesamt Angehörige ärmlicher Bevölkerungsschichten, die zu ihren Aktionen aus wirtschaftlicher Not getrieben oder durch zündende Argumente radikaler Jakobiner dazu hingerissen wurden. Ihre Journées, ihre Kampftage, setzten unübersehbare Akzente in der Revolutionszeit.

In der Nationalversammlung hatten sich Gruppierungen gebildet, die der Interessenlage ihrer Mitglieder entsprachen. Monarchistisch gesinnte Abgeordnete waren ebenso vertreten wie Befürworter einer konstitutionellen Verfassung, die die Wünsche des Groß- und Besitzbürgertums befriedigte, und Anhänger republikanisch-demokratischer Prinzipien, die der Masse des Volks zu ihrem Recht verhelfen wollten und das allgemeine Wahlrecht forderten. Es waren lockere Zusammenschlüsse, keine Parteien im heutigen Sinn, und in den verschiedenen Nationalversammlungen, die in rascher Folge seit 1789 gewählt wurden, formierten sich politische Gruppierungen in wechselnder Stärke. Bezeichnend war jedoch, daß stets eine Mehrheit des Parlaments den von den jeweils führenden Gruppen gesteuerten Kurs billigte und damit eine Kontinuität der Revolution gewährleistete, in der die 1789 erreichten grundsätzlichen Änderungen unangestastet blieben.

Parallel zu den ‚Fraktionen‘ in der Nationalversammlung, aber auch unabhängig von ihnen entstanden nicht nur in Paris zahlreiche Klubs, die der politischen Meinungs- und Willensbildung dienten, etwa der Klub der „Freunde der monarchistischen Verfassung“, die „Gesellschaft der Verfassungsfreunde“, nach ihrem Versammlungsort, dem Dominikanerkloster St. Jakob in Paris, Jakobiner genannt, und die „Gesellschaft der Freunde der Menschenrechte“, die Cordeliers, ebenfalls nach einem Kloster tituliert und sich entschieden für die Belange des Volkes einsetzend.

Im Juni 1791 hatte der König incognito einen dilettantischen Fluchtversuch gewagt, war in Varennes in den Argonnen erkannt und nach Paris zurückgebracht worden. Von nun an stand die Frage Monarchie oder Republik auf der Tagesordnung. Noch gelang es der Konstituante, die laut werdenden Forderungen nach Bestrafung Ludwigs XVI. abzuwehren, und die Nationalgarde scheute sich nicht, am 17. Juli auf dem Marsfeld in die Menge protestierender Demonstranten zu schießen. Im September 1791 schwor der König ein weiteres Mal der Nation und der Verfassung die Treue. Die ‚patriotische Partei‘ jedoch zerbarst unter diesen politischen Spannungen: Die konservative Gruppe fand sich im Feuillantinerkloster zu einem neuen Klub zusammen, den Feuillants, während Robespierre, der auch einmal Monarchist war, mit den Demokraten in der Vereinigung des Jakobsklosters blieb und die jakobinischen Klubs im Lande zusammenzuhalten suchte.

Daß das Königshaus mit den Monarchen der anderen europäischen Mächte konspirierte, war offenes Geheimnis. Die Gefangennahme des flüchtenden Ludwig ließ die Herrscher aktiv werden, wenn auch die Verfahrensweise der Feuillants sie einigermaßen beruhigte. Am 27. August 1791 unterzeichnete Kaiser Leopold mit dem preußischen König die Erklärung von Pillnitz, in der den Revolutionären mit einer Intervention unter der einschränkenden Voraussetzung gedroht wurde, daß sich die übrigen Mächte zum Eingreifen entschlössen. Kein Wunder, daß solche Drohung in Frankreich als unerträgliche Einmischung aufgefaßt wurde und das Nationalbewußtsein nur zu kräftigen vermochte.

Am 1. Oktober traten die 745 Abgeordneten der (unter geringer Wahlbeteiligung und nach dem Zensuswahlrecht) neu gewählten Gesetzgebenden Versammlung (Assemblée legislative) zusammen, alles neue Abgeordnete, da kein Mitglied der Konstituante hatte wiedergewählt werden dürfen. 246 Abgeordnete zählten zur Rechten des Hauses, waren weder für das Ancien régime noch für die Demokratie und favorisierten als Feuillants eine beschränkte Monarchie. Zur Linken waren 136 Abgeordnete zu rechnen, zumeist Mitglieder des Jakobinerklubs. Delegierte aus dem Departement Gironde, die Girondisten, führten brillant das Wort; es waren Rechtsanwälte, Schriftsteller, Professoren, die dem mittleren Bürgertum nahestanden. Auf der äußersten Linken plädierten einige entschiedene Demokraten aber auch für das allgemeine Wahlrecht, während in Paris und der Provinz in den Klubs der Jakobiner das niedere Bürgertum und bei den Cordeliers auch Angehörige plebejischer Schichten ihre politischen Meinungen und Wünsche diskutierten. 345 Delegierte machten die unentschiedene ‚Mitte‘ des Parlaments aus. Leicht setzten die Girondisten Verordnungen gegen die eidverweigernden Priester und die Emigranten durch, deren Güter eingezogen werden sollten, falls sie nicht zurückkehrten. Ferner wurde Ludwig XVI. aufgefordert, er möge die Kurfürsten von Trier und Mainz und andere deutsche Reichsfürsten ersuchen, den Truppenansammlungen und Anwerbungen, die sie an den Grenzen duldeten, Einhalt zu gebieten. Dem Hof kam solches Ansinnen durchaus gelegen; denn nur in einer Zuspitzung der Lage zwischen dem revolutionären Frankreich und den monarchischen europäischen Nachbarn lag für ihn noch eine Chance: Allenfalls eine Niederlage Frankreichs im Krieg versprach die Wiederherstellung der absoluten Monarchie.

Auch den Girondisten paßte ein Krieg ins Konzept. Er konnte zur Festigung der bürgerlichen Nation im Sinne der Verfassung von 1791 dienen, sollte im Innern die Reste der Vergangenheit beseitigen helfen, außenpolitisch der Agitation der Emigranten ein Ende bereiten und unter dem Zeichen eines „Kreuzzugs für die allgemeine Freiheit“ (Brissot am 31. 12. 1791) geführt werden. Diese Aggressivität nach außen stand wie eh und je im Dienst einer innenpolitischen Stabilisierung. Nachdem Kaiser Franz II. – Leopold war am 1. März plötzlich gestorben – auf ein Ultimatum, alle gegen Frankreich gerichteten Abkommen zu annullieren (also auch die Pillnitzer Erklärung zurückzunehmen) nicht reagiert hatte, erklärte die Nationalversammlung auf Vorschlag Ludwigs XVI. am 20. April 1792 Österreich den Krieg, was den Konflikt mit Preußen nach sich zog.

Die anfänglichen militärischen Mißerfolge führten in Frankreich krisenhafte Zustände herbei. Argwohn gegen Machenschaften des Königs und seiner Umgebung breitete sich aus; auf Demütigungen seiner Person antworteten royalistische Demonstrationen im Land; am 11. Juli erklärte die Nationalversammlung „das Vaterland in Gefahr“; ein rachelüsternes Manifest des Oberbefehlshabers der Verbündeten, das die Wiedereinführung des Königtums als Ziel des österreichisch-preußischen Feldzuges proklamierte, schürte seit dem 25. Juli die brodelnde Stimmung; mehr und mehr schaltete sich das Volk, in den Sektionen von Paris organisiert, in das Geschehen ein und trieb es mit seinen Aktivitäten voran; am 10. August wurden die Tuilerien gestürmt; danach wurde der König interniert, das Königtum suspendiert. Die aufständische Kommune von Paris ließ nicht locker, sie sah Gefahr von innen und außen drohen, witterte Verbrechen von Konterrevolutionären, der Ruf nach Abrechnung wurde immer lauter, es kam zu Massenverhaftungen unter Justizminister Danton.

Ende August war Longwy gefallen; am 2. September hörte man in Paris, Verdun werde belagert; die Unruhe stieg zum Siedepunkt, überall vermutete man Verrat. In dieser Atmosphäre richteten Trupps von Kommunesoldaten, Handwerkern, kleinen Händlern und Nationalgardisten zwischen dem 2. und 5. September in Gefängnissen der Hauptstadt ein schreckliches Blutbad an: Weit über 1000 Gefangene wurden niedergemacht, darunter viele eidverweigernde Priester. Und doch gab es Stimmen aus dem Volk, die trotz hellen Entsetzens die Morde als eine „gerechte Tat“ ansahen. Vor allem diese Septembermorde, der wenig später beginnende Prozeß gegen Ludwig XVI. und dessen Hinrichtung am 21. Januar 1793 haben im Ausland den Abscheu gegen die revolutionären Vorgänge begründet oder erheblich verstärkt.

Nachdem zuvor das Zensuswahlrecht abgeschafft worden war, wurde zum September 1792 ein neues Parlament gewählt, der Nationalkonvent (Convention nationale). Wieder war die Wahlbeteiligung gering; nur etwa 10 Prozent der 5 Millionen Wahlbürger gaben ihre Stimme ab. Diese Tatsache zeigt deutlich, daß die Sansculotten ihre Interessen im Parlament und bei seinen Abgeordneten nicht zum besten aufgehoben wußten. Am 20. September trat der Konvent zum ersten Mal zusammen, beschloß am Tag darauf die Abschaffung des Königtums und führte am 22. September einen neuen Kalender ein. Gerade in diesen Tagen wendete sich das Kriegsgeschehen. Am 20. September brachte die Kanonade bei Valmy zwar keine Entscheidung, aber die Alliierten wurden nicht nur aufgehalten, sondern sogar zum Rückzug gezwungen. Was Österreicher und Preußen nicht erwartet hatten, geschah: Die Armeen des revolutionären Frankreich hielten stand und gingen zur Offensive über. Im September/Oktober 1792 besetzten französische Truppen Speyer, Worms, Mainz und Frankfurt.

Derweil regierte der Konvent mit unnachsichtiger Härte. Die Gironde und die radikalen Jakobiner der Bergpartei, der Montagnards, bestimmten im sich zuspitzenden Gegeneinander den Ablauf des Geschehens mit Höhepunkten des Schreckens und der Grausamkeit, die zum immer wieder beschworenen Wohl der Allgemeinheit und zur Sicherung der revolutionären Errungenschaften inszeniert wurden. Ein Revolutionstribunal sprach seine Urteile, gegen die eine Berufung nicht möglich war; ein neunköpfiger Wohlfahrtsausschuß (Comité du salut public) handelte seit April 1793 als ein entscheidendes Exekutivorgan des Konvents; wirtschaftliche Nöte bedrängten besonders die unteren Schichten, und in der Vendée regte sich ein royalistischer Aufstand. Heftig attackierte Robespierre die Girondisten, die er der geheimen Komplizenschaft mit Königstreuen und der Konterrevolution beschuldigte; er appellierte ans Volk und rief es zur Rebellion auf. Die Sansculotten der Pariser Volksviertel wurden in dieser Phase zur ausschlaggebenden Macht. Am 2. Juni ließ der Konvent, umzingelt von bewaffneter Menge, überwunden durch eine sansculottische journée, die Führer der Gironde verhaften. Jetzt begann die Jakobinerherrschaft, in der die terreur, der Schrecken, als Mittel der Machtausübung bewußt eingesetzt wurde. Im Wohlfahrtsausschuß übernahm Robespierre den Vorsitz und amtierte ein Jahr lang mit diktatorischer Rücksichtslosigkeit. Angesichts der Gefahr von außen und der konterrevolutionären Aktionen im Innern beschloß der Konvent im August die Levée en masse, die allgemeine Dienstpflicht, und unter dem Druck der Volksbewegung wurde bisher Unantastbares in Frage gestellt: das bürgerliche Eigentum. Jetzt begann man es unter dem Aspekt seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit zu betrachten. Für die Jakobiner im Konvent war die Lage kompliziert. Denn von der Sansculotterie getragen und getrieben, nahmen sie deren Forderungen ernst und konnten doch im Gesamtkonzept der Revolution auch die Position und Funktion der bürgerlichen Eigentümer nicht aus den Augen verlieren.

Viel Aufsehen verursachte das Regiment des Schreckens, zu dem sich Konvent und Wohlfahrtsausschuß am 5. September 1793 ausdrücklich bekannten. Wer unter die „Verdächtigen“ fiel, konnte rasch auf der Guillotine hingerichtet werden. Unter den Jakobinern selbst forderten die Machtkämpfe ihren Tribut an Menschenleben; die Revolution verschlang ihre Kinder. Im März wurden die zur unumschränkten Volksherrschaft strebenden Enragés und Hébertisten ausgeschaltet und hingerichtet, am 16. Germinal (5. April) 1794 Danton und Desmoulins mit anderen Deputierten, die der Veruntreuung angeklagt waren, aufs Schafott gekarrt.

Im Sommer 1794 hatte aber auch Robespierre seinen Rückhalt in der Volksbewegung und im Parlament verloren, das im fortdauernden Terror keinen Sinn mehr erkannte. Der 9. Thermidor (27. Juli) 1794 brachte seinen Sturz und das Ende der Schreckensherrschaft. Mit Robespierre starben viele seiner Anhänger, und von den 141 Mitgliedern des Generalrats der Kommune von Paris wurden nicht weniger als 88 guillotiniert. Der Jakobinerklub wurde geschlossen, die überlebenden Girondisten kamen zurück, das Großbürgertum konnte sich erneut als herrschende Klasse absichern, und das Zensuswahlrecht wurde wieder eingeführt. Die „Thermidorianer“ schufen 1795 eine neue Verfassung, die eine Legislative mit zwei Kammern und die Regierung eines Direktoriums vorsah, für das sogleich fünf Konventsmitglieder bestimmt wurden, die seinerzeit der Hinrichtung des Königs zugestimmt hatten. Am 18. Brumaire (9. November) 1799 war es dann Napoléon Bonaparte, der das Direktorium stürzte und den von der Revolution bestimmten Jahren eine Militärdiktatur folgen ließ.

Diese Skizze soll nur an einige der Vorgänge erinnern, die damals Europa und die Welt in Atem hielten. Sie wirkten auf alle Beteiligten und Beobachter auch deshalb so außerordentlich, weil Revolution als Aktion einer unteren Schicht, die notfalls vor entschlossener Gewaltanwendung nicht zurückschreckt und auf eine völlige Umänderung der bisherigen Verfassung von Staat und Gesellschaft zielt, auf eine „Totalrevolution“ (nach einem Wort Friedrich von Gentz’), nicht einmal bei den gesellschaftskritischen Aufklärern vorgesehen war, die das Ancien régime scharf verurteilten. Auf revolutionären Umsturz ist in jener Zeit nicht systematisch hingearbeitet worden, wohl auf Veränderungen des schlechten Bestehenden. Gewaltsame Umwälzungen samt Tyrannenmord wurden allenfalls mit dem Hinweis auf das Recht zum Widerstand gegen unrechtmäßig erlangte und unmenschlich ausgeübte Macht gerechtfertigt, wie der Artikel Politische Autorität zeigt, den Diderot für die von ihm und D’Alembert herausgegebene Encyclopédie verfaßte. Verständlich, daß Argumentationen dieser Art, die eine lange Tradition haben, in den Jahren der Revolution aufgegriffen und zur Legitimierung des Handelns vorgetragen wurden. Was die kritischen Aufklärer anstrebten, war die oft beschworene Revolution der Geister. Sie würde, so hoffte man, mit der immer weiteren Ausbreitung der Vernunft auch eine gerechte, menschenwürdige Verfassung des gesamten gesellschaftlichen Systems herbeiführen.

Was wir mit dem Begriff Revolution in politischem Sinn verbinden: radikale, gegebenenfalls gewaltsame Umwandlung bestehender gesellschaftlich-politischer Ordnungen, ist erst durch die historische Erfahrung der Vorgänge in Frankreich zu einer vorauszudenkenden und zu entwerfenden geschichtlichen Möglichkeit geworden.

Deutsche Reflexe

Die Reaktion auf das ebenso aufsehenerregende wie verwirrende Geschehen war bei den Deutschen, die nur Beobachter waren, sehr unterschiedlich. Sie reichte von enthusiastischer Zustimmung bis zu prinzipieller Ablehnung. Dazwischen gab es das Für und Wider abwägende Meinungen, Versuche zu differenzierten Beurteilungen, Nachdenken über mögliche Konsequenzen für die bunte Vielfalt der deutschen Territorien, wo weder von gemeinsamer politischer Willensbildung eines kräftigen Bürgertums noch von der Fähigkeit zu geschlossenem Handeln die Rede sein konnte. Zudem ließ der Ablauf der Revolution mit den Septembermorden von 1792 und der Hinrichtung des Königs im Januar 1793 viele, die anfangs gejubelt hatten, zurückschrecken. So schrieb beispielsweise Klopstock 1789 das Gedicht Kennet euch selbst:

Frankreich schuf sich frei. Des Jahrhunderts edelste Tat hub

Da sich zu dem Olympus empor!

Bist du so eng begrenzt, daß du sie verkennest, umschwebet

Diese Dämmerung dir noch den Blick,

Diese Nacht: so durchwandre die Weltannalen und finde

Etwas darin, das dir ferne nur gleicht,

Wenn du kannst. O Schicksal! das sind sie also, das sind sie,

Unsere Brüder, die Franken; und wir?

Ach ich frag’ umsonst; ihr verstummet, Deutsche! Was zeiget

Euer Schweigen? bejahrter Geduld

Müden Kummer? Oder verkündet es nahe Verwandlung

Wie die schwüle Stille den Sturm,

Der vor sich her sie wirbelt, die Donnerwolken, bis Glut sie

Werden, und werden zerschmetterndes Eis?

Nach dem Wetter atmen sie kaum, die Lüfte, die Bäche

Rieseln, vom Laube träufelt es sanft,

Frische labet, Geruch’ umduften, die bläuliche Heitre

Lächelt, das Himmelsgemälde mit ihr;

Alles ist reg’ und ist Leben und freut sich! Die Nachtigall flötet

Hochzeit! Liebender singet die Braut!

Knaben umtanzen den Mann, den kein Despot mehr verachtet,

Mädchen das ruhige, säugende Weib!

Aber 1793 widerrief der vormals Begeisterte. Im Gedicht Mein Irrtum klagte er: „Ach, des goldenen Traums Wonn’ ist dahin, / Mich umschwebet nicht mehr sein Morgenglanz, / Und ein Kummer wie verschmähter / Liebe kümmert mein Herz.“

An Informationen aus dem revolutionären westlichen Nachbarland mangelte es in den deutschen Gebieten nicht. Zeitungen und Zeitschriften druckten Artikel über die Ereignisse bei den „Franken“, den „Neu-Franken“, wie sie bald hießen, und was in der Nationalversammlung verhandelt wurde, war nachzulesen, wenn auch verkürzt oder wegen der Zensur gefiltert. Paris war immer beliebtes Ziel mancher Reisender gewesen; jetzt waren die mündlichen und schriftlichen Berichte derer, die sich in diesen bedeutungsschweren Monaten und Jahren dort aufhielten oder aus der Hauptstadt zurückkamen, begehrt, wurden aber auch beargwöhnt von denen, die fürchteten, daß die Landsleute von revolutionären Gedanken angesteckt werden könnten. Tatsächlich flackerten ein paar Unruhen auf, in Sachsen, in Bayern, in Mecklenburg und Schlesien, aber sie blieben bedeutungslos; die Feudalherrschaft mit ihren Privilegien behielt die Oberhand. Erst als die Franzosen linksrheinische deutsche Gebiete eroberten, kam es dort zu ernsthaften Versuchen, ein demokratisch-republikanisches Gemeinwesen zu etablieren. Doch was unter dem Schutz und Druck einer fremden Besatzungsmacht errichtet wurde, war nicht von Wunsch und Willen der Mehrheit der Bevölkerung getragen.

Auch diesseits des Rheins bildeten sich Jakobinerzirkel. Erst neuere Forschungen haben das Wirken deutscher Jakobiner, das zur Vorgeschichte der Demokratie gehört, der Vergessenheit entrissen, mit der eine nationalkonservative und nationalistische Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert bestrafte, was nicht in ihr Konzept paßte. Allerdings bieten, was hier wenigstens beiläufig erwähnt sei, die Begriffe ‚Jakobinismus‘ und ‚Jakobiner‘ in Deutschland einige Schwierigkeiten. Manche Zeitgenossen stempelten in polemisch-diffamierender Absicht jeden zum Jakobiner, der Sympathien für gesellschaftliche Veränderungen bekundete und deshalb der Umwälzung in Frankreich nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstand. Dabei gab man, wie das in solchen Fällen immer zu geschehen pflegt, auf Differenzierungen wenig acht. Gleichgültig, ob jemand auf durchgreifende Reformen hoffte oder die vollständige Revolution herbeiwünschte, das Schimpfwort ‚Jakobiner‘ wurde jedem nachgerufen. Doch sind, will man der damaligen Wirklichkeit gerecht werden, Unterscheidungen angebracht. Reformistische Liberale fühlten sich anderen Verfahren der Veränderung verpflichtet als radikaldemokratische Theoretiker und Praktiker, die die volle, alle Bevölkerungsschichten beteiligende Volkssouveränität durchsetzen und das Bestehende gänzlich, auch unter Anwendung von Gewalt, beseitigen wollten. Zudem haben fast alle, die man den Jakobinern zuzählen kann, Entwicklungen durchlaufen, die einen Wandel der politischen Positionen bedeuteten. Darum erscheint es angebracht, von jakobinischen Lebensphasen und jakobinischen Schriften zu sprechen, die dadurch gekennzeichnet sind, daß in ihnen ein radikaler Demokratismus vertreten und die Revolution mit all ihren Konsequenzen als Mittel zur Veränderung nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sondern im Blick auf die französischen Ereignisse bewußt mit einkalkuliert wird. Was die Jakobiner publizierten, folgte deshalb einem anderen Prinzip, als es jener Satz aus den italienischen Kunsterfahrungen eines Karl Philipp Moritz und Goethe formulierte: „Es ist nämlich ein Vorrecht des Schönen, daß es nicht nützlich zu sein braucht“ (vgl. Bd. I 502). Ganz im Gegenteil bildeten jakobinische Autoren eine politisch-operative Literatur für die aktuelle Verwendung in der prosaischen Wirklichkeit aus, und zwar in vielfältigen Formen, vom Flugblatt bis zur Rede, vom Gedicht bis zum dramatischen Dialog, um nur dies zu nennen und die Zeitschriften ganz zu übergehen. Es war didaktische Literatur, die dem Volk klarmachen wollte, warum es arm war und wie dieser Zustand geändert werden könnte.

Allerdings bleibt zu bedenken, daß die Zahl aktiver Jakobiner in Deutschland klein war und fundierte Diskussionen über das epochemachende Geschehen in Frankreich nur in den Zirkeln derer stattfinden konnten, die über die strittigen politischen Probleme Bescheid wußten und ausgebildet genug waren, um lesend und womöglich schreibend an den geistigen und politischen Auseinandersetzungen der Zeit teilzunehmen. Das waren, verglichen mit der Gesamtzahl der Bevölkerung, nicht eben viele. Wieland etwa, der schon 1772 in seinem Roman Der Goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian das Thema der Erziehung zum guten Fürsten aufgegriffen, Fragen einer vernunftgerechten Staatsverfassung behandelt hatte (vgl. Bd. I 305) und weiterhin ‚politisch‘ zu nennende Dichtung schrieb, versorgte seine Leser und damit auch die Weimarer Kreise fortlaufend, besonders in seiner Zeitschrift Teutscher Merkur, mit Betrachtungen zur Französischen Revolution. Es waren skeptische Überlegungen, die er anstellte, und je weiter die Revolution fortschritt, desto größer wurden seine Zweifel, ob die revolutionären Änderungen und die dabei eingesetzten Mittel zum proklamierten Ziel einer besseren und wirklich menschenwürdigen Gesellschaft führen könnten. Unerschütterlich baute der Dichter des Goldnen Spiegel auf seine Hoffnungen, Reformen innerhalb des Bestehenden würden möglich sein und ausreichen. Den Schritt darüber hinaus mochte er nicht mitvollziehen. Zudem pochte er wie viele andere auf die Besonderheit der deutschen Verhältnisse, in denen ein revolutionärer Umsturz weder möglich noch sinnvoll sei.

Aber auch dort, wo die verfügbaren Informationen über Frankreich aufgenommen und das Nachdenken über die erwünschte oder abgelehnte Staats- und Gesellschaftsform intensiviert wurden, blieb vieles, was sich bei den Neu-Franken ereignete, unklar. Das lag nicht an einem Mangel an Nachrichten, sondern daran, daß so schwer zu durchschauen war, was wirklich vor sich ging. Die Schübe der Revolution mit ihren offenkundigen und verborgenen Antriebskräften, sozialen Spannungen und Widersprüchen, mit ihren wechselnden Führungsgruppen und teilweise schonungslosen Richtungskämpfen waren für die beobachtenden Zeitgenossen so schwierig zu erfassen und zu bewerten wie für die spätere Forschung. Aufs Grundsätzliche zielende theoretische Abhandlungen und Kampfschriften für und wider die Revolution begleiteten auch in Deutschland von früh an die aufsehenerregenden Vorgänge seit 1789. Schon 1790, also noch bevor die weitere Entwicklung zu erkennen war, legte der Engländer Edmund Burke seine Reflections on the Revolution in France vor, jene wirkungsvolle Grundschrift gegen eine revolutionäre Veränderung des Hergebrachten und Bestehenden, die Friedrich Gentz alsbald ins Deutsche übertrug (Betrachtungen über die französische Revolution). Aber im gleichen Jahr feierte Joachim Heinrich Campe in seinen Briefen aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben den Beginn einer neuen Zeit und drückte die Hoffnungen der Begeisterten aus:

Wir werden zum ersten Mal ein großes Reich sehen, worin das Eigentum eines jeden heilig, die Person eines jeden unverletztlich, die Gedanken zollfrei, das Glauben ungestempelt, die Äußerung desselben durch Worte, Schriften und Handlungen völlig frei und keinem menschlichen Richterspruch mehr unterworfen sein wird; ein Reich, worin keine privilegierten, keine gebornen Volksbedrücker, keine Aristokratie als die der Talente und der Tugenden, keine Hierarchie und kein Despotismus mehr stattfinden, wo vielmehr alle gleich, alle zu allen Ämtern, wozu ihre Verdienste sie fähig machen, fähig sein und nur Kenntnisse, Geschicklichkeiten und Tugenden einen Vorzug geben werden; ein Reich, wo Recht und Gerechtigkeit für alle auf gleiche Weise und ohne alles Ansehn der Person werden verwaltet, und zwar unentgeltlich verwaltet werden, und wo jeder, auch der armseligste Landmann nicht etwa nur dem Scheine nach wie in andern Ländern, sondern wirklich in der gesetzgebenden Versammlung repräsentiert wird, also jeder, auch der armseligste Landmann, Mitregent und Mitgesetzgeber seines Vaterlandes sein wird.

In den zahlreichen gesellschaftstheoretischen Schriften jener Jahre, die – wie die hier nur beispielsweise erwähnten – streng gegensätzliche Positionen bezogen oder auch einzelne Probleme differenziert und abwägend zu erfassen suchten, kehrten verständlicherweise zentrale Fragen immer wieder: Was war unter Freiheit, unter Gleichheit zu verstehen? Wie ließen sich die als leitende Forderung proklamierten Menschenrechte unwiderleglich begründen und inhaltlich konkretisieren? Wie weit konnte und durfte die Volkssouveränität reichen? Mußten vor ihrem Anspruch alle durch Herkommen und überliefertes Recht gefestigten Privilegien abdanken? Wie war es um die Legitimität der Anwendung von Gewalt im revolutionären Prozeß bestellt, und wie war der Einsatz von Gewalt mit dem verkündeten neuen „Reich, wo Recht und Gerechtigkeit für alle auf gleiche Weise und ohne alles Ansehn der Person“ verwaltet werden (Campe), zu vereinbaren? Nach den Septembermorden von 1792, nach der Hinrichtung des Königs 1793, nach dem Tod von Tausenden unter dem Fallbeil der Guillotine mußten diese blutigen Konsequenzen der Revolution verstören und Dispute herausfordern. Wie immer bei geschichtlichen Ereignissen, wenn sie unweigerlich mit dem Töten und dem Opfer von Menschen verbunden sind, steht nicht weniger zur Debatte als die historische Notwendigkeit bestimmter Vorgänge, die das Schreckliche und Grausame vielleicht rechtfertigen könnte. Georg Forster, der in der politischen Situation seiner Zeit vom Liberalen zum handelnden Jakobiner wurde und nie von Skrupeln frei war, beharrte auf der Erkenntnis, daß es der Despotismus des absolutistischen Regimes sei, der für die Rücksichtslosigkeit der revolutionären Gegenkräfte verantwortlich zeichne. In den Parisischen Umrissen schrieb er 1793:

Die Erscheinungen unter dem Joche des Despotismus können denen, die sich während einer republikanischen Revolution ereignen, sehr ähnlich sehen und die letzteren sogar einen Anstrich von Fühllosigkeit und Grausamkeit haben, den man dort wohl hinter einer sanfteren Larve zu verbergen weiß; doch sind sie schon um deswillen himmelweit verschieden, weil sie durch ganz verschiedenartige Kräfte bewirkt werden und von der öffentlichen Meinung selbst einen ganz verschiedenen Stempel erhalten. Eine Ungerechtigkeit verliert ihr Empörendes, ihr Gewalttätiges, ihr Willkürliches, wenn die öffentliche Volksmeinung, die als Schiedsrichterin unumschränkt in letzter Instanz entscheidet, dem Gesetze der Notwendigkeit huldigt, das jene Handlung oder Verordnung oder Maßregel hervorrief.

So problematisch die Aufrechnung von Gefallenen und Gemordeten unter dem Hinweis auf „ganz verschiedenartige Kräfte“ ist, so bleibt allerdings wahr, daß es die Redlichkeit forderte und fordert, nicht nur anklagend auf die Opfer der Revolution zu verweisen, sondern zugleich auch auf die des Feudalismus. Ein auf kritische Unterscheidung dringender Kopf wie Johann Gottfried Seume notierte 1806/07 in seinen Apokryphen lakonisch: „Man lärmt so viel über die französische Revolution und ihre Greuel. Sulla hat bei seinem Einzug in Rom in einem Tage mehr gewütet, als in der ganzen Revolution geschehen ist.“ Und daß er bei Sulla nicht an die Antike dachte, ist offenkundig.

Bemerkenswerterweise warfen sich Gegner und Fürsprecher der Revolution in ihren staatstheoretischen und gesellschaftspolitischen Abhandlungen schon damals gegenseitig vor, sich bei ihrer Argumentation zu Unrecht auf das Naturrecht zu berufen. Wer für die Beibehaltung gewachsener Ordnungen mit ihren Bindungen und Abstufungen plädierte, glaubte dem Naturrecht ebenso zu gehorchen wie diejenigen, die für die neuen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit samt ihren Konsequenzen eintraten. Wir wissen inzwischen, daß naturrechtliche Begründungen für sehr verschiedene Ansprüche und Konzepte bemüht werden können und immer wieder angeführt worden sind. Was die Natur des Menschen sei, der gemäß Staat und Gesellschaft eingerichtet werden müßten, ist das Thema fortwährenden Nachdenkens und prinzipieller Auseinandersetzungen. Oft unterlaufen bei den Begründungsversuchen Zirkelschlüsse: Was sein soll, wird als Natur des Menschen und der Welt entsprechend deklariert, und aus der als so und nicht anders behaupteten natürlichen Ordnung werden Gebote abgeleitet. Diese Problematik naturrechtlicher Beweisführungen zu erkennen nimmt den Menschenrechten, wie sie im 18. Jahrhundert in Nordamerika und Frankreich verkündet worden sind, nichts von ihrer Würde, nichts von ihrer fortwirkenden Bedeutung. Es bewahrt nur vor dem Irrtum, diese Ideen, die verbindliche Wegweiser zum Besseren sein sollten, mit Letztbegründungen absichern zu können.

Der Geheime Rat, kein Freund der Revolution

Mancher Leser mag die vorangehenden Kapitel für eine überflüssige Abschweifung gehalten haben, die mit Goethes Leben und Werk wenig zu tun hat. Doch muß man so weit ausgreifen und sich wenigstens an einige wichtige Einzelheiten aus den unruhigen Jahren erinnern, wenn man dessen Äußerungen über die Französische Revolution und die nach seinen eigenen Worten „grenzenlose Bemühung dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen“ richtig einordnen und einschätzen will (Bedeutende Fördernis durch ein geistreiches Wort;13,39).

Sicherlich hat Goethe, nach wie vor Minister eines absolutistischen Staats, die Vorgänge in Frankreich aufmerksam verfolgt. Erstaunlicherweise aber waren sie in seinen zeitgenössischen Briefen – wenigstens in den erhaltenen – kein Thema, auf das er sich näher einließ. Ein einziger Satz in einem Brief vom 3. März 1790 an Fritz Jacobi: „Daß die Französische Revolution auch für mich eine Revolution war kannst du denken.“ Das heißt: Bisher Erkanntes und Gedachtes war über den Haufen geworfen. Was geschehen war, hatte er so nicht einkalkulieren können. Jetzt war er herausgefordert, das Unerhörte in seine Überlegungen einzubeziehen und in seinen Erklärungsversuchen von Mensch und Natur unterzubringen. Das war ein langer und schwieriger Prozeß.

In den Briefen an Carl August ist in den Jahren 1789 und 1790 nichts über die Revolution zu lesen, obwohl beide in ihrer Korrespondenz stets auch politische Fragen behandelten. Von vielerlei ist dort die Rede, vom Tasso und Faust-Fragment, vom Schloßbau und Weimarer Theater, von „Bergwercks Besorgnissen“ in Ilmenau und Wasserbauarbeiten bei Jena, von den eigenen naturwissenschaftlichen Studien und von dem drohenden Konflikt zwischen Preußen und Österreich. „So viel von privatis und privatissimis indessen Sie in publicis versiren“, schrieb Goethe am 6. Februar 1790 nach Berlin, wo sich Carl August zu Gesprächen wegen der heraufziehenden Kriegsgefahr aufhielt, und wünschte: „Vollenden Sie Ihre Geschäfte glücklich und bringen uns die Bestätigung des lieben Friedens mit. Denn da eigentlich der Zweck des Kriegs nur der Friede seyn kann; so geziemt es einem Krieger gar wohl wenn er ohne Krieg Friede machen und erhalten kann.“ Eine Bemerkung aus Venedig in einem Schreiben an Frau v.Kalb (30. 4. 1790) berührte nur leichthin, zudem mit ironischem Unterton, eine politische Grundsatzfrage der Zeit. Ihm sei der Aufenthalt in der Lagunenrepublik auch deshalb aufschlußreich, weil er, „da man jetzt immer von Konstitution“ spreche, die wunderlichste und komplizierteste Konstitution in der Nähe mit lebendigerem Interesse sehe.

Die Briefe, die Goethe zwischen Frühjahr 1792 und Anfang März 1797 an seinen Fürsten adressierte, sind mit Ausnahme ganz weniger rein amtlicher Schriften verloren. Viele Wochen in den Jahren 1792 und 1793 war ein brieflicher Gedankenaustausch ohnehin unnötig, da Goethe als Begleiter des Herzogs am Koalitionsfeldzug gegen das revolutionäre Frankreich und an der Belagerung von Mainz teilnahm. Man darf annehmen, daß er in den verlorenen Briefen etwas ausführlicher auf das aktuelle Zeitgeschehen eingegangen ist, trotz seiner Schreibfaulheit, über die Carl August manchmal zu klagen hatte und die Goethe selbst eingestand (18. 4. 1792), gelegentlich auch anderen gegenüber: er sei „ein höchstfauler Schreiber“ (13. 1. 1791), seine „Schreibescheue“ (17. 11. 1791) sei bekannt. (Wir heute dagegen staunen über die Fülle seiner Briefe, die in der „Weimarer Ausgabe“ allein 50 Bände beanspruchen.) Der Herzog jedenfalls erörterte immer wieder politische und militärische Fragen und nahm kein Blatt vor den Mund, wenn er auf Prinzipielles zu sprechen kam; schließlich war er ein absoluter Monarch und nicht gewillt, an dieser Herrschaftsordnung rütteln zu lassen. Und er war augenscheinlich überzeugt, daß sein Briefpartner seine Ansichten teilte. Wortwörtlich setzte er auf die „Bindekraft“ Goethes im Weimarer Kreis, wo „unser Häuflein sehr zwiespältig ist“, nämlich in den Meinungen über die Revolution (27. 12. 1792). Carl August wußte nur zu gut, daß Persönlichkeiten wie Herder und Knebel nicht verachtet hatten, was 1789 und in den folgenden Jahren geschehen war. Goethes Ankunft, so hoffte er, „wirckt auf unsere république, wie der Krieg auf die Fränckische. Siehe zu, was du bewircken kannst, und gieb mir zuweilen Nachricht davon.“ Seitenlang breitete Carl August, im Vorfeld der Belagerung von Mainz, am 24. März 1793 „ein weitläufiges Glaubensbekenntniß“ aus. In bekannter Manier der Herrschenden prangerte er die „Herrn Scribenten“ an, die als Unruhestifter viel Unverdautes und Unverdauliches in die Welt setzten. Dabei verstünden sie gar nichts von dem, was den Menschen nutze und fromme; denn sie hätten nicht die mindeste Kenntnis dessen, „was pracktisch außführbar gut ist“. Die Absichten der „Freyfrancken“ brachte er auf eine schlichte Formel: „Besitzern die Hosen außzuziehen, um die Unbehoßten damit zu bekleiden.“ Daß es um nichts anderes gehe, hätten jetzt auch frühere Sympathisanten eingesehen. Es sei wirklich so gewesen, „daß es in unsern Vaterlande weit hinein böse war, daß ein Feuer unter der Asche glimmte, daß am Ende Ausbrüche zu befürchten waren, welche schreckliche Mittel und viel entsetzlichere, als der jetzige Krieg ist, erfordert hätten“. Namentlich attackierte er Georg Forster, der, wie wir wissen, unter unglücklichen Bedingungen und ohne ausreichenden Rückhalt in der Bevölkerung im besetzten Mainz jene kurzlebige erste Republik auf deutschem Boden miterrichtet hatte, deren Abgeordnete am 17. März 1793 erstmals zusammentraten und schon vier Tage später den Anschluß an die französische Republik beschlossen (was noch heute gewisse Historiker dazu bringt, der „Mainzer Republik“ das deklassierende Etikett ‚separatistisch‘ anzuheften). „Forster und Consorten zu Mayntz beweisen“, so Carl August, „wie heftig jene Sympathie auf Leute ihres Gelichters wirckten, da diese anziehende Kraft sie zu denen Handlungen der schwärzesten Undanckbarkeit und der sinnlosesten Unternehmungen verleitete.“ Untertanen haben eben dankbar zu sein und nicht das Angemaßte und Drückende monarchischer Herrschaft zu entlarven. (Der Herausgeber des Carl August/Goethe-Briefwechsels warf 1915 dem um republikanische Freiheit kämpfenden Forster noch den diffamierenden Kommentar nach: „Übte […] im Rheinland einen großen verderblichen Einfluß aus“.) Der Weimarer Herzog, der die Expansionslust des revolutionären Frankreich für erwiesen ansah, hielt es nach allen früheren Bedenken nun für ein Glück, daß es zum Krieg gekommen war, und für ratsam, alle Mittel anzuwenden, um die Ausbreitung der Revolution beizeiten zu vereiteln. Aus dem Lager bei Marienborn vor Mainz bedankte er sich bei Herder für die zweite Sammlung der Briefe zur Beförderung der Humanität mit einer anzüglichen Bemerkung, ganz im sicheren Bewußtsein, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Die Briefe hätten ihn nicht „in der humansten Beschäftigung gefunden; indessen zweckt unser Bestreben ab, die fränkischen Unmenschlichkeiten vom deutschen Boden zu kehren. Und das ist ja auch wohl ein Beitrag zu Ihrem humanen Vorhaben, lieber Herder?“

Spärlich also und wenig aufschlußreich Goethes Äußerungen über die Revolution in seinen überlieferten Briefen. Auch auf den Blättern, die er vom Feldzug 1792 und von der Mainzer Belagerung in die Heimat schickte, steht darüber kaum etwas Nennenswertes. Er brauchte seinen Adressaten nichts zu erklären; sie wußten, daß er kein Freund der Revolution war. Auch für ihn waren es die „Toll-Francken“, die gezähmt werden müßten (an F. Jacobi, 17. 4. 1793), und vor Mainz freute er sich, „daß man die leidigen Franzen […] wills Gott bald aus dem lieben Deutschen Vaterlande gänzlich ausschließt, wo sie doch ein vor alle mal nichts taugen weder ihr Wesen, noch ihre Waffen, noch ihre Gesinnungen“ (an Anna Amalia, 22. 6. 1793). Das alles besagt nicht, daß Goethe rundweg gutgeheißen hätte, was die monarchischen Mächte unternahmen und wie sie agierten. (Schade freilich, daß wir nicht wissen, wie er reagiert hat, als ihm der Herzog die Ungeheuerlichkeit mitteilte, die Verluste der Franzosen im Gefecht bei Mons/Belgien müßten schon deshalb größer gewesen sein als die der Verbündeten, „da ein Hauptgrundsatz bey den Kayserlichen obwaltet, keinen Frantzosen pardon zu geben“, 23. 3. 1793.) Offensichtlich schwieg sich der Beobachter Goethe über vieles aus. „Es ließ sich noch vieles sagen das nicht gut zu schreiben ist“ (an F. Jacobi, 5. 6. 1793): So oder ähnlich schirmte er sich mehrfach ab und behielt für sich, was ihn beschäftigte, vielleicht beunruhigte, vielleicht bedrängte und bedrückte.

Obwohl er ein Jahrzehnt lang in verantwortlicher Position wichtige Staatsgeschäfte besorgt hatte, verfaßte er keine theoretische Abhandlung und keinen gesellschaftspolitischen Essay über die Revolution, wie sie damals zahlreich erschienen. Auch wenn er, wie schon erwähnt, 1823 seine „grenzenlose Bemühung“ betonte, „dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen“ (13,39), so ist schon hier zu bezweifeln, ob er sich auf eine eingehende Analyse der geschichtlich-gesellschaftlichen Tatbestände wirklich eingelassen hat. Er gab sich mit der Annahme einiger Grundkonstellationen zufrieden, auf die er das Geschehene bezog und von denen er gewisse Ratschläge für eine wünschenswerte gesellschaftliche Ordnung ableitete. Fürsten und Untertanen, Adel und Bürger müßten zusammenfinden, gemeinsam das Gute wollen und in behutsamer Entwicklung, evolutionär, zeitgerechte Reformen innerhalb des Bestehenden verwirklichen.

Dies Konzept galt auf der realpolitischen Ebene. Damit hatte er die Revolution in den übergreifenden Zusammenhängen seiner Deutung von Welt und Geschichte noch nicht untergebracht. Dort setzte er sie, um es knapp vorwegzunehmen, Naturkatastrophen gleich, dem Chaos, dem Ausbruch der Elemente, wie er sie spät im Versuch einer Witterungslehre (1825) im Abschnitt „Bändigen und Entlassen der Elemente“ beschrieb: „Es ist offenbar, daß das, was wir Elemente nennen, seinen eigenen wilden wüsten Gang zu nehmen immerhin den Trieb hat. Insofern sich nun der Mensch den Besitz der Erde ergriffen und ihn zu erhalten Pflicht hat, muß er sich zum Widerstand bereiten und wachsam erhalten“ (13, 309). Zur Natur gehören die Elemente und das Chaotische, das sie bewirken, wenn sie entlassen sind. So auch Kriege und Revolutionen in der menschlichen Geschichte. Doch kann solche chaotische Phase immer auch zu neuer Gestaltung überleiten, die sich später vielleicht als fruchtbar erweist. Sogar für die Französische Revolution deuteten das Verse in Hermann und Dorothea an (IX264ff.):

Grundgesetze lösen sich auf der festesten Staaten,

Und es löst der Besitz sich los vom alten Besitzer,

Freund sich los von Freund: so löst sich Liebe von Liebe.

[…]

Gold und Silber schmilzt aus den alten heiligen Formen;

Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts

Lösen in Chaos und Nacht sich auf und neu sich gestalten.

Häufig benutzte Goethe nach 1789 sprachliche Bilder, die die geschichtlichen Konvulsionen der Zeit gleichnishaft als Naturvorgänge umschrieben. Erdbeben, Brand und Überschwemmung schien der Krieg in Italien zu sein (an Schiller, 14. 10. 1797), und in der Natürlichen Tochter (1803) erscheinen Naturmetaphern gehäuft, wenn die Schrecken der Revolution veranschaulicht werden sollen: Blitz, Feuer, Meeresflut, Wüten der Elemente. So eindrucksvoll solche Metaphorik ist, so bleibt doch zu bedenken, daß sie zwar in einer umfassenden Weltdeutung ihren wohlbegründeten Ort beanspruchen mag, aber zu einer Erkenntnis realpolitischer Zusammenhänge und Vorgänge in einem bestimmten historischen Zeitabschnitt wenig beiträgt.

Es war in Goethes Leben nicht vorgezeichnet, ein Gegner der Revolution zu sein, im Gegenteil. Von der Verherrlichung der regelfreien Schöpferkraft, vom Aufbegehren in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen, vom kräftigen, wenn auch vergeblichen Selbsthelfertum eines Götz, vom „Hier sitz ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde“, von der Adelsschelte im Werther: von dort wies der Weg nicht zwingend an die Seite der Bewahrer des Bestehenden und der allenfalls zu vorsichtigen Reformen Bereiten. Aber 1789 war Goethe nicht mehr der junge Mann des „Dreingreifen, packen ist das Wesen jeder Meisterschaft“. Krisen lagen hinter ihm, die ihn tief verunsichert hatten. Äußerlich war immer alles im Lot, nie hatte er Not leiden müssen, aber innerlich war ihm Lebensnot wohlvertraut. Mehr als einmal hatte ihn Verzweiflung heimgesucht, jahrelang war er schwankend, unsicher, auch ratlos gewesen, was denn aus ihm werden sollte. Fürs bloße Leben war gesorgt, die Lebensverwirklichung eine beständige Frage geblieben. Fluchten: aus der Frankfurter Krise in der Verwirrung um Lili Schönemann nach Weimar; nach dem Jahrzehnt des Ausprobierens politischer und administrativer Tätigkeit mit Auf- und Abschwüngen, Erfolgen und Enttäuschungen, Selbstdisziplinierung und Zweifeln, Geselligkeit und Einsamkeit, mit Nebenstunden für die Kunst und mit einer merkwürdigen Liebe, in der die Frau die Schwester blieb und der Sinnlichkeit ausgewichen wurde, – nach solchem Jahrzehnt Ausbruch nach Italien, Versuch der Selbstbesinnung, der Selbstfindung, verstärkte Suche nach Beständigem, Dauerndem, nach Grundgesetzlichkeiten, die er in zwei Bereichen zu finden glaubte: in Natur und Kunst. Ein Jahr war er wieder zurück in Thüringen, mit der Vollendung seiner Werkausgabe und mit den Naturstudien beschäftigt und endlich sicher und glücklich auch in sinnlicher Liebe geworden, als 1789 die aufregenden Nachrichten aus Paris eintrafen. Er hatte endgültig für Weimar votiert und es als seine Heimat angenommen.

Jetzt konnte er nicht preisgeben, was er sich als Antworten auf sein Fragen und Suchen angeeignet, die Arbeit nicht desavouieren, die er im ersten Weimarer Jahrzehnt als herzoglicher Minister auf sich genommen hatte, konnte nicht für die Revolution sein, die ihm den Boden entzogen hätte, auf dem sich einzurichten so mühsam gewesen war. Aber er konnte auch die reformerischen Hoffnungen nicht verraten, die er investiert hatte, in den ihm gezogenen und von ihm respektierten Grenzen. Zwischen Revolution und Reaktion, zwischen totalem Umsturz und borniertem Festhalten am Bestehenden war sein Platz. Er wollte, wie andere, den ‚dritten Weg‘ einschlagen, richtiger (da er im politischen Tagesgeschäft nicht engagiert, sondern Beobachter, höchstens Ratgeber war): er befürwortete ihn.

Schließlich und nicht zuletzt hielt er an Überzeugungen fest, die ihm Justus Möser vermittelt hatte. Was dieser unermüdlich gegen die Tendenzen des aufgeklärten Absolutismus vortrug, war auch auf Theorie und Praxis der Revolution zu beziehen: daß ein zentralistischer Rationalismus, der alles einem bestimmten theoretischen Prinzip unterwirft, die lebendige Vielfalt und Unterschiedlichkeit des in langer Zeit Gewordenen nivelliert, ja abtötet. Schon 1772 war in den Patriotischen Phantasien im Aufsatz Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen ist der gemeinen Freiheit gefährlich zu lesen, der Wunsch nach „allgemeinen Gesetzbüchern“ entspreche nicht „dem wahren Plan der Natur, die ihren Reichtum in der Mannigfaltigkeit“ zeige, sondern bahne „den Weg zum Despotismus, der alles nach wenigen Regeln zwingen will und darüber den Reichtum der Mannigfaltigkeit verliert“.

Die philosophischen Theorien untergraben alle ursprünglichen Kontrakte, alle Privilegien und Freiheiten, alle Bedingungen und Verjährungen, indem sie die Pflichten der Regenten und Untertanen und überhaupt alle gesellschaftlichen Rechte aus einem einzigen Grundsatze ableiten, und um sich Bahn zu machen, jede hergebrachte, verglichene und verjährte Einschränkung als so viel Hinderungen betrachten, die sie mit dem Fuße oder mit einem systematischen Schlusse aus ihrem Wege stoßen können.

Im gleichen Sinn hielt Möser, mit Burkes Kritik übereinstimmend, dann den Revolutionären vor, es sei zu einfach, alles nach einer einzigen Idee, und sei es die der Menschenrechte, auszurichten; Montesquieu behaupte „mit Recht, daß diese idées simples et uniques der helle Weg zum monarchischen (und so wohl auch zum demokratischen) Despotismus wären“ (Wann und wie mag eine Nation ihre Konstitution verändern?).

Dichterische Antworten. Epigramme und Revolutionsdramen

Goethe hat manches einseitige Urteil über die Französische Revolution gefällt. Seine fast penetrante Ehrerbietung, die er in Wort und Verhalten gegenüber Feudalherren und Leuten von Stand unbekümmert an den Tag legte, mußte kritischen Zeitgenossen auf die Nerven gehen und Spätere irritieren. Doch erweist sich andererseits das böse Wort vom „Fürstenknecht“ recht bald als leichtfertige Beschimpfung, über die sich zu erregen der alte Herr Grund hatte.

Er habe versucht, die Französische Revolution „dichterisch zu gewältigen“, schrieb er im Rückblick von 1823 und benutzte, um die Schwere der Aufgabe zu markieren, ein Verbum aus der Bergbausprache. („Dann ritt ich nach Ilmenau wo sie ernstlich beschäftigt sind die Wasser zu gewältigen“, an Carl August, 1. 10. 1788.) „Dichterisch zu gewältigen“: also nicht in theoretischer Abhandlung, sondern in einer Gestaltungsweise, die produktiv aufgreift, was (nach Meinung des Autors) „Ursachen und Folgen“ der Revolution ausmacht, um es in Bildern, Gestalten, dramatischen Handlungen sinnlich zu verkörpern. Aber der Versuch, im revolutionären Geschehen Grundmuster der geschichtlichen Bewegung und des Verhaltens der Menschen in ihr freizulegen und dichterisch anschaulich werden zu lassen, konnte der spannungsreichen, auch widersprüchlichen Vielschichtigkeit der historischen Situation(en) ebensowenig gerecht werden wie dem komplizierten Ablauf in der Zeit, zumal nicht aus solcher Nähe der Betrachtung und Beurteilung. Dort, wo Goethe von seinem Bemühen sprach, die Revolution „dichterisch zu gewältigen“, hatte er zuvor der Charakterisierung zugestimmt, daß sein Anschauen selbst ein Denken, sein Denken ein Anschauen sei (13, 37). Bei der Französischen Revolution wirkte sich das jedoch nicht günstig aus. Was er schaute und verallgemeinerte, war nicht scharf genug gesehen. Allerdings machte es die vordem so nicht gekannte durchgängige Politisierung der französischen Gesellschaft, also die Einbeziehung fast aller Lebensbereiche und Schichten der Bevölkerung mit ihren sich oft durchkreuzenden Interessen und Aversionen in den politischen Prozeß, auch außerordentlich schwer zu durchschauen, was vor sich ging.

Goethes grundsätzliches Urteil über die Französische Revolution ist unverändert geblieben, er hat sie nie befürwortet. Aber seine Äußerungen über sie stammen aus verschiedenen, weit auseinanderliegenden Zeiten seines Lebens. Wenn er nach Jahrzehnten niederschrieb oder diskutierte, was er 1789, beim Feldzug 1792 oder bei der Belagerung von Mainz 1793 erlebt, gedacht und erkannte habe, ist kaum nachzuprüfen, ob die Behauptungen stimmen oder sich Deutungen aus späterer Zeit eingemischt haben. Die Campagne in Frankreich entstand erst Anfang der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts, ebenso die Belagerung von Mainz. Auch die Annalen, die erstmals 1830 als Tag- und Jahreshefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse in der „Ausgabe letzter Hand“ gedruckt wurden, bilanzierten aus der Überschau des Alters.

Eine Woche nach jenem Brief vom 3. März 1790 mit der knappen Bemerkung über die Bedeutung der Revolution auch für ihn brach Goethe erneut nach dem Süden auf. Er hatte sich angeboten, Herzoginmutter Anna Amalia von ihrer Italienreise abzuholen. Fast zwei Monate, vom 31. März bis zum 22. Mai, mußte er, auf die Fürstin wartend, in Venedig zubringen, in schwankender Stimmung, anders als früher in seiner italienischen Zeit. Venetianische Epigramme entstanden, beobachtende, reflektierende, auch lebhaft kritisierende Gedichte, wiederum in Distichen wie die Erotica Romana. Einige dieser oft zu spruchhafter Prägnanz geformten Verse zielten auf die französischen Ereignisse. Kräftig akzentuierte der Epigrammatiker seine Abneigung gegen die Revolution und ihre Sympathisanten. „Freiheitsaposteln“ sei zu mißtrauen, weil doch nur der Eigennutz sie triebe; „Schwärmer“ verdrehten den Leuten die Köpfe, sie „prägen den Stempel des Geistes auf Unsinn und Lügen, / Wer den Probierstein nicht hat, hält sie für redliches Gold“. So und ähnlich verhöhnte man auch im Lager bedingungsloser Konterrevolutionäre diejenigen, die der alten Ordnung den Kampf angesagt hatten und deren Legitimität bestritten. Bemerkenswert, wie Goethe ein Epigramm erweiterte, nachdem „die Menge“ in Frankreich sich in einzelnen Aktionen als handelndes Subjekt eingeschaltet hatte. In der Fassung des Jahres 1790, wie sie in Schillers Musenalmanach für das Jahr 1796 erschien, lautete ein Zweizeiler:

Frankreich hat uns ein Beispiel gegeben, nicht daß wir es wünschten

Nachzuahmen, allein merkt und beherzigt es wohl.

Im Druck der Neuen Schriften1800 (Bd. 7) wurde daraus:

Frankreichs traurig Geschick, die Großen mögen’s bedenken!

Aber bedenken fürwahr sollen es Kleine noch mehr.

Große gingen zu Grunde: doch wer beschützte die Menge

Gegen die Menge? Da war Menge der Menge Tyrann.

Diese Kritik an der Menge war nicht nur ein Reflex auf aktuelles Geschehen. Prinzipiell bestritt Goethe, daß „die Menge“, jedenfalls in ihrem bisher erreichten Stand an Kenntnis, Bildung und Erfahrung, urteilsfähig genug sei, um Entscheidungen zu fällen, die das Wohl und Wehe eines Gemeinwesens betreffen. In seinen Augen waren ‚Herrschaftswissen‘ und die Ausübung der Regierung nur wenigen vorbehalten. Für die Forderung nach Volkssouveränität, wie sie die Demokraten erhoben, brachte er kein Verständnis auf, was zugleich bedeutete, daß er beim Fürsten und der herrschenden Schicht den Willen und die Fähigkeit zu kompetenter Führung einklagte. So verteilte er denn auch in den Epigrammen Kritik und Mahnung nach allen Seiten. Den Zeilen über die Schwärmer und ihre Lügen setzte er die Verse voran: „Fürsten prägen so oft auf kaum versilbertes Kupfer / Ihr bedeutendes Bild, lange betrügt sich das Volk.“ Goethe maß die Schuld am „schrecklichsten aller Ereignisse“ keineswegs nur den Revolutionären, geschweige der „Menge“ zu. „Die Großen“ sollten „Frankreichs traurig Geschick“ bedenken, weil ihr eigenes falsches Verhalten den Umsturz provozieren könne. Und wer „den Pöbel“ verachtete, weil er durch sein Verhalten nur beweise, daß er hoffnungslos manipulierbar sei, den ließ der Weimarer Minister nachdenken:

„Sage, tun wir nicht recht? Wir müssen den Pöbel betrügen,

Sieh, wie ungeschickt wild, sieh nur, wie dumm er sich zeigt!“

Ungeschickt scheint er und dumm, weil ihr ihn eben betrüget,

Seid nur redlich, und er – glaubt mir – ist menschlich und klug.

In den Venetianischen Epigrammen bot Goethe nicht mehr als spitz formulierte Bonmots. In einigen Schauspielen behandelte er in den nächsten Jahren das Thema Revolution aus seiner Sicht, was bedeutete: weiterhin Kritik an vermeintlichen Eiferern und Schwärmern und Appell an die Herrschenden, unablässig für die Untertanen zu sorgen. So könnten, war er überzeugt, auch in der hierarchischen Ordnung der Ständegesellschaft Revolutionen vermieden werden. Denn daß es die Korruptheit des Ancien régime war, die den eigenen Untergang heraufbeschworen hatte, stand für ihn fest. Jedenfalls betonte er später mehrfach, daß ihn schon 1785 die Halsbandaffäre schockiert und er sie als böses Vorzeichen angesehen habe. Unter der Jahreszahl 1789 trug er in seine Annalen ein:

Kaum war ich in das weimarische Leben und die dortigen Verhältnisse, bezüglich auf Geschäfte, Studien und literarische Arbeiten, wieder eingerichtet, als sich die Französische Revolution entwickelte und die Aufmerksamkeit in aller Welt auf sich zog. Schon im Jahr 1785 hatte die Halsbandgeschichte einen unaussprechlichen Eindruck auf mich gemacht. In dem unsittlichen Stadt-, Hof- und Staatsabgrunde, der sich hier eröffnete, erschienen mir die greulichsten Folgen gespensterhaft, deren Erscheinung ich geraume Zeit nicht los werden konnte; wobei ich mich so seltsam benahm, daß Freunde, unter denen ich mich eben auf dem Lande aufhielt, als die erste Nachricht hievon zu uns gelangte, mir nur spät, als die Revolution längst ausgebrochen war, gestanden, daß ich ihnen damals wie wahnsinnig vorgekommen sei (10, 433).

Ohne Frage ist das eine späte Deutung. Unter den Dokumenten des Jahres 1785 findet sich nichts, was sie bestätigen könnte. Erst nachdem die Revolution ausgebrochen war, bot sich eine so weitreichende Interpretation der Halsbandaffäre an. Allerdings hatte der Skandal seinerzeit großes Aufsehen erregt und die Spalten der Journale gefüllt: Ein Halsschmuck, von Pariser Juwelieren angefertigt, besaß den unerhörten Wert von 1600000