Goethes Labyrinth - Sissy Scheible - E-Book

Goethes Labyrinth E-Book

Sissy Scheible

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Beschreibung

Caroline ist Anfang dreißig und Single aus Überzeugung. Daran können auch die vielen Verkupplungsversuche ihrer Freundin Birte nichts ändern. Ihre Grundsätze geraten jedoch ins Wanken, als sie bei einer Wanderung im Luisenburg-Felsenlabyrinth auf einen Mann stößt, der sich am Kopf verletzt hat. Nun glaubt dieser, er sei niemand Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe. Caroline nimmt den offensichtlich Verwirrten mit zu sich nach Hause und will abwarten, bis es ihm besser geht. Doch je mehr Zeit sie mit ihm verbringt und sein Erstaunen angesichts der Errungenschaften der Neuzeit beobachtet, desto mehr glaubt sie, es könnte sich bei diesem seltsam sympathischen Typen tatsächlich um Goethe handeln. Als sie sich ineinander verlieben, muss Caroline sich die Gretchenfrage stellen: Liebt sie einen Verrückten oder einen Zeitreisenden?

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Inhalte

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Sissy Scheible
Goethes Labyrinth
„Nie war Natur und ihr lebendiges Fließen
auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen.
Sie bildet regelnd jegliche Gestalt,
 und selbst im Großen ist es nicht Gewalt.
(Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil)
03.07.1785
Ein unheilvolles Grollen hallte durch das Felsenmeer. Erschrocken sah Johann Wolfgang von Goethe von seinem Zeichenpapier auf. Er war dabei, die ungewöhnlich in sich zusammengestürzten und aufgetürmten Felsmassen auf der Luxburg im Fichtelgebirge zu skizzieren. Dann fing es an, zu regnen. Die Tropfen liefen über sein soeben gemaltes Bild und ließen den Felsen darauf aussehen, als ob er schmelzen würde. Wie ärgerlich. Ob er das Bild noch retten konnte?
Es blitzte wieder und der Donner folgte nun unmittelbar danach. Das Gewitter war schon hier. Er beeilte sich, um einen Unterstand zu finden, bevor der Himmel sich vollends ergoss. Schnell packte er seine Federn und sämtliche Zeichnungen in seinen Rucksack und hastete den Berg hinab.
Jetzt ärgerte sich Goethe, dass er seine beiden Begleiter zur Herberge zurückgeschickt hatte. Doch die angenehme Ruhe und Abgeschiedenheit hier ließ sich am besten alleine genießen.
Die ungeheuer großen Granitmassen wirkten sehr eindrucksvoll auf ihn. Sie schienen ohne jede Spur von Ordnung oder Richtung übereinandergestürzt zu sein. Das konnte er aber nur auf sich wirken lassen, wenn niemand laut und pausenlos plapperte.
Selbst die Vögel hatten geschwiegen, solange seine Mitreisenden da waren. Erst, als sie sich verabschiedet hatten, sangen die Amseln, Rotkehlchen und Blaumeisen wieder die schönsten Lieder. Goethe meinte sogar, er hätte eine Nachtigall gehört, obwohl es noch längst nicht ihre Stunde war.
Jetzt waren die Vögel erneut verstummt. Sie hatten sicherlich alle schon einen Unterschlupf gefunden, im Gegensatz zu ihm.
Was war er doch für ein Narr. Da wollte er ein großer Naturforscher sein und dachte nicht an die elementarsten Dinge für solch eine Exkursion. Nicht einmal einen Regenschirm hatte er sich geben lassen, und das nur, weil es als weibisch galt, einen solchen zu benutzen.
Jetzt suchte er auf sich alleine gestellt nach dem Rückweg durch diese labyrinthische Landschaft, während der Schauer immer stärker wurde. Immerhin hatte er seinen Hut dabei, so dass ihm das Wasser wenigstens nicht über das Gesicht lief. Doch seine Kleider waren trotz des hochwertigen Leders bereits so durchnässt, dass Goethe fröstelte.
Das Wetter hatte Goethe schon den gestrigen Tag vermiest. Dabei war ihm die Idee, seine Reise zur Kur in Karlsbad für einen Abstecher nach Wunsiedel zu nutzen, vielversprechend vorgekommen. Er hatte ja nicht ahnen können, was für ein Wetter hier im Sommer herrschte.
In Jena hatte ihm ein Reisender begeistert von den wunderlichen Granitformationen im Fichtelgebirge erzählt. Zudem sollte es dort eine einzigartige Pflanzenwelt geben. Der Naturwissenschaftler in Goethe konnte nicht anders, als die so gelobte Gegend selbst zu erkunden. Er wusste auch nicht, was genau er sich davon versprochen hatte. Für einen Forschungsaufenthalt reichte ihm die Zeit nicht, bis er nach Karlsbad weitermusste. Dennoch wollte er die Granitfelsen mit eigenen Augen sehen.
Am 30. Juni war er mit seinen Reisegefährten, dem Botaniker Karl Ludwig von Knebel und seinem Bediensteten Friedrich Gottlieb Dietrich, in Wunsiedel eingetroffen. Am selben Tag hatten sie dort den Katharinenberg besucht, der zur Gänze aus Glimmerschiefer, auch Phyllit genannt, bestand. Ein höchst interessantes Forschungsobjekt. Die Kirche auf dem Berg, der wohl vielmehr ein Hügel war, sei einst ein Wallfahrtsort gewesen, wurde Goethe berichtet. Nun war es nur noch eine Ruine.
Danach hatten er und seine Begleiter sich das schöne Alexandersbad angesehen, das nur ein paar Kilometer von Wunsiedel entfernt lag. Es war zwar ein recht kleiner Ort, wohl kaum mit seinem Zielort Karlsbad zu vergleichen, aber dennoch ganz ansehnlich.
Am Tag darauf legten sie eine lange Wanderstrecke zurück und fanden die seltene Pflanze namens Sonnentau. Goethe hatte sich sehr für deren mit Klebedrüsen besetzte Blätter fasziniert. Ein paar wenige Exemplare davon hatte er sich für seine Sammlung mitgenommen. Er freute sich schon darauf, Proben unter seinem Mikroskop zu untersuchen. 
Zu weiteren Entdeckungen kam es aber nicht, da es seither ohne Unterlass regnete. Dabei war es schon Juli. Die Herbergsmutter meinte, das hufeisenförmige Gebirge würde die Wolken aus Richtung Osten einfangen und festhalten. Dauerregen und Nebel gehörten dadurch zum typischen Sommerwetter der Region. Es schien somit der perfekte Ort für einen Urlaub zu sein, wenn es überall sonst zu heiß war.
Wegen des Regens verbrachten Goethe und seine Begleiter gestern den ganzen Tag zwangsweise im beschaulichen Wunsiedel, wo ihre Herberge war. Zum Glück gab es ab und an kleine Regenpausen, so dass sie Gelegenheit zu einer Stadtführung hatten.
Doch wirklich viel gab es da leider nicht zu sehen. Es existierten dort eine Seiden- und Baumwollfärberei, ein paar Strumpfwirkereien und Nagelschmieden. Ansonsten schien es eher eine Ämterstadt zu sein. Dabei war der Ort früher einmal für seinen Blechzinnhandel berühmt, bevor Brände und der Krieg diese Zunft hier zerstörten.
Goethe bekleidete in Weimar das Amt des Wege- und Bergbaudirektors. Als solchem fiel seinem geschulten Auge sofort ein zusätzliches Problem für die Wunsiedler Stadtentwicklung auf. Die mangelhafte Straßenanbindung verhinderte, dass sich neue Gewerke dort ansiedelten. Zudem wanderten bestehende Betriebe deshalb ab. Die Stadt würde regelrecht ausbluten, wenn sich daran nicht bald etwas änderte. Es musste ein Anschluss an die Landstraße entstehen, das war die einzige Möglichkeit, die Gewerbe hier zu retten.
Er hielt sich jedoch damit zurück, den hiesigen Bürgern seine Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Zum einen, weil ihn schlicht und einfach niemand gefragt hatte. Der andere Grund war, dass er sich im Urlaub von allen Amtsgeschäften befand. Dieser Ort fiel ja nicht einmal in seinen Zuständigkeitsbereich.
 Was das Wetter anging, so hatte es heute Morgen zumindest so ausgesehen, als würde es ein schöner, sonniger Tag werden. Es war lange trocken geblieben, so dass sie die Luxburg, so hieß der Berg mit dem Labyrinth aus Granitfelsen, besuchten.
Sie hatten weitere seltene Pflanzen entdeckt, die Goethe und Knebel in wahrstes Entzücken versetzten. Von den eindrucksvollen Felsformationen ganz zu schweigen. Etwas so Imposantes hatten sie noch nie gesehen. Es ließ sich allenfalls mit dem Eindruck vergleichen, den die Berge auf Goethe bei seiner Reise durch die Schweiz gemacht hatten. Nur dass diese wie langsam emporgewachsen aussahen. Die Anordnung der Felsen hier wirkte hingegen absolut unnatürlich, wie übereinandergewürfelt.
Es blitzte und donnerte nun immer häufiger. Goethe geriet in Eile. Er achtete nicht mehr darauf, seine Kleidung sauber zu halten, sondern kroch durch matschige Felsspalten und hastete über die mit jedem Tropfen glitschiger werdenden Steine.
War etwas weiter vorne nicht eine Stelle, an welcher drei Granitbrocken so übereinandergestapelt waren, dass sie eine kleine Höhle bildeten? Die war mit Sicherheit perfekt dazu geeignet, sich unterzustellen.
Er verstand gut, warum einige Leute sich einbildeten, dies alles hier sei durch einen gewaltigen Vulkanausbruch entstanden. Die Brocken und Felsen waren in teils grotesk wirkenden Formationen aufeinandergestapelt. Es sah fast so aus, als hätte das Kind zweier Titanen versucht, damit einen Turm zu bauen, der dann eingestürzt war. Doch wenn man wie Goethe die Natur beobachtete und erforschte, so wusste man, dass sie nicht spontan und eruptiv vorging, sondern langsam und bedächtig arbeitete.
Hier war das mit Sicherheit auch der Fall. Als er seine Zeichnungen angefertigt hatte, kam ihm der Gedanke, dass es sich um ein Zusammenspiel von Auswaschungen und Verwitterungen weicheren Gesteins handeln musste. Nur der festere Granitfelsen blieb übrig, und das in solch willkürlich wirkenden Anordnungen. Doch wenn er mit dieser Erkenntnis wissenschaftliche Erfolge feiern wollte, galt es, sich zunächst einmal vor dem Gewitter zu retten.
Er bibberte. Die Nässe kroch ihm langsam bis auf die Knochen. Er beeilte sich so sehr, dass er schon zwei Mal beinahe ausgerutscht wäre. Goethe musste vorsichtiger sein.
Als er durch den Regenschleier hindurch in etwa 20 Metern Entfernung die ersehnte Höhle entdeckte, rannte er los, wie wenn nur ein paar Regentropfen mehr auf seiner Haut ihn das Leben kosten könnten. Vor seinem geistigen Auge sah er sich schon mit einer Lungenentzündung wochenlang das Bett hüten. Doch eine solche wäre wohl das kleinere Übel gewesen im Vergleich zu dem, was ihn stattdessen erwartete.
Als er im Spurt mit seinem Stiefel auf einem nassen, mit Moos bewachsenen Felsen aufkam, rutschte er weg, fiel in voller Länge nach hinten und knallte mit dem Hinterkopf auf einen Stein. Alles, was er im Fallen wahrnahm, war, dass sein Hut vom Kopf rutschte und ihm sein Rucksack aus der Hand glitt. Dann durchfuhr ein heftiger Schmerz wie ein Blitz seine Schläfen und breitete sich über sämtliche Glieder aus, ehe ihm schwarz vor Augen wurde und er das Bewusstsein verlor.
*****
15.06.2024
Die Luft roch herrlich nach Rinde und Moos. Ein leichter Wind streichelte Carolines Gesicht und ihre Arme und kühlte sie angenehm ab. Es war ein heißer Sommertag. Eigentlich zu heiß, um zu wandern, aber hier oben im Felsenlabyrinth war es gut auszuhalten.
Die Bäume spendeten genug Schatten, und wenn man über die Granitblöcke oder durch Felsspalten hindurch kletterte, gaben diese eine schöne Frische ab, fast wie natürliche Kühlschränke, nur nicht ganz so kalt. Selbst die wenigen Abschnitte, bei denen man doch direkter Sonnenbestrahlung ausgesetzt war, waren der Mühe wert, denn der Ausblick, den man hier auf das Fichtelgebirge hatte, war wie immer sensationell. Neben verschiedenen kleinen Orten sah Caroline viele Felder und Wiesen. Am Himmel kreisten majestätische Greifvögel, die hungrig nach Beute Ausschau hielten.
Caroline war jetzt auch hungrig und setzte sich auf einen breiten, leicht abschüssigen Felsen, auf dem sie als Kind immer mit ihren Eltern zusammen Rast gemacht hatte. Von hier aus sah sie bereits den Weg, der sie beim Abstieg erwartete. Sie packte ihr mitgebrachtes Brötchen aus und biss hinein. Es schmeckte trocken. Sie hatte keine Butter mehr gehabt, um es damit zu bestreichen, weshalb es jetzt nur mit Wurst belegt war. Schnell nahm sie einen Schluck Wasser aus einer kleinen Flasche und spülte die Semmel hinunter.
Als Kind erschien ihr das Felsenlabyrinth wie der abenteuerlichste Ort auf der Welt. Die vielen Höhlen und Schluchten, die steinernen Aufgänge und natürlich die unzähligen kleinen Verstecke hatten ihr als junges Mädchen Riesenspaß gemacht. Ihrer Mutter hatte das alles weniger Freude bereitet. Sie sorgte sich, Caroline könnte ausrutschen oder irgendwo hinunterfallen, weshalb sie sie ständig zur Vorsicht mahnte. Wenn sie sich dann zu allem Übel zwischen den Felsen versteckte, war die Geduld ihrer Mutter vorbei und sie rief panisch nach ihr.
Caroline sah noch genau den erleichterten Blick ihrer Mama vor sich, als sie an einem schönen Sommertag wieder aus einer Felsspalte gekrochen kam. Diese war exakt so groß gewesen, dass sie gut hineinklettern und sich dort verstecken konnte. Sie hatte ihre Mama sehr lange suchen lassen, ehe sie freiwillig herauskam. Ihr war nicht klar gewesen, welche Ängste ihre Mutter wegen ihr ausgestanden hatte. Diese nahm sie in die Arme und drückte sie so fest, dass Caroline sich nur noch keuchend darüber beschweren konnte. Damals war sie zum letzten Mal mit ihren Eltern hier. Wie sehr sie die beiden vermisste.
Sie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und zwang sich, tief durchzuatmen. Es war unglaublich, dass sie das immer noch so mitnahm. Wieso kam sie überhaupt hierher, wenn sie die Erinnerungen so aus der Fassung brachten? Vermutlich deshalb, weil dies der Ort war, an dem sie sich den glücklichen Tagen ihrer Kindheit besonders nah fühlte.
In dem Haus, in dem sie früher mit ihren Eltern gewohnt hatte, lebte schon lange eine andere Familie. In dem Garten, in dem ein riesiger Kletterbaum stand, spielten heute bereits die Enkelkinder der neuen Besitzer. Selbst das Baumhaus, das ihr Vater ihr in die Baumkrone gebaut hatte, musste sie damals zurücklassen. Aber das Labyrinth konnte ihr keiner nehmen. Deshalb kam sie mindestens zwei Mal im Monat hierher, außer natürlich im Winter.
Liebe Güte, wie man mit 33 Jahren immer noch seiner Kindheit hinterhertrauern konnte. Das wurde langsam echt peinlich. Caroline nahm sich vor, sich zusammenzureißen und auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Sie biss erneut in das trockene Wurstbrötchen, ließ die Beine vom Rand des Felsens baumeln und wanderte mit dem Blick umher.
Einige der Bäume hatten definitiv schon bessere Tage erlebt. Die vielen Dürreperioden hatten ihnen nicht nur die Farbe, sondern zudem die Kraft genommen. Diese eine Tanne da zum Beispiel, die war zwar in die Höhe gewachsen, hatte aber nur an der Spitze Äste und Zweige und selbst diese waren sehr dürftig mit Nadeln ausgestattet. Sie sah ein bisschen aus wie ein stacheliger Maibaum, nur ohne die Dekorationen.
Es war nicht mehr die richtige Gegend für Nadelhölzer. Die Laubbäume schienen sich wohler zu fühlen. Wenn es nicht bald regnete, würden aber auch sie leiden. Immerhin konnte das Wetter den Granitfelsen hier nichts anhaben.
Caroline versuchte, nicht länger an das Waldsterben zu denken, denn sonst würde sie nur schlechte Laune bekommen. Sie ließ ihren Blick wieder umherschweifen.
Etwas weiter unten sah sie drei Felsen, die so aneinandergeneigt waren, dass sie eine Art Vordach zu einer kleinen Höhle bildeten. Caroline erinnerte sich, dass es dort einen Durchgang gab, hinter dem ein paar steinerne Stufen hinabführten, beziehungsweise hinauf, je nachdem, ob man beim Auf- oder Abstieg war. Aber was lag denn da vor den Felsen? Irgendein seltsamer Haufen.
Caroline konnte es nicht genau erkennen und holte deshalb ihren Feldstecher aus ihrem quietschgelben Rucksack. Zunächst sah sie alles unscharf. Das alte Teil hatte sich mal wieder komplett verstellt. Sie drehte an dem kleinen Rädchen, bis das Bild deutlich wurde, und schrie laut auf vor Schreck. Da lag eine menschliche Gestalt auf dem Boden und rührte sich nicht. Schlief die Person, oder war sie verletzt?
Caroline blickte auf und sah sich um, ob vor ihr jemand im Felsenlabyrinth unterwegs war, der die Stelle eher als sie erreichen würde. Sie sah niemanden. Dabei wanderten hier doch sonst immer unzählige Touristen. Warum nur jetzt nicht? Wo waren die, wenn man sie mal brauchte?
Vermutlich war das da unten einer von ihnen. Die Touris kamen hier oft mit total unpassendem Schuhwerk und ungeeigneter Wanderkleidung her. Caroline hätte bei dieser Hitze selbst gerne Shorts getragen und ein paar Sandalen. Sie wollte jedoch nicht ausrutschen und, wenn doch, sich dabei wenigstens nicht ernsthaft verletzen. Deshalb trug sie ihre Turnschuhe und lange Jeans. Nur das Top hatte sie sich nicht verkneifen können. Für etwas Langärmliges war es einfach zu heiß. Die Touristen hingegen wanderten oft mit Sommerkleidchen und hohen Absätzen. Die Person, die dort unten lag, wirkte aber nicht wie eine Stöckelschuhträgerin. Egal wer das war, sie musste schnellstens dorthin, falls es sich um einen Verletzten handelte.
Caroline packte hastig ihre Sachen zusammen. Sie überlegte. Hatte sie die Nummer der Bergwacht in ihrem Handy eingespeichert? Hoffentlich gab es hier überhaupt Netz, falls sie Hilfe rufen musste. An dieser Stelle würde es sicherlich einen Helikopter brauchen, um einen Verletzten zu transportieren. Ein Krankenwagen kam hier unmöglich her.
Schnell, aber dennoch vorsichtig spurtete Caroline den Weg nach unten. In so einem Tempo hatte sie die Strecke noch nie zurückgelegt. Sie passte gut auf, wohin sie trat, damit es nicht bald zwei Verletzte geben würde. Ihr Herz raste wie verrückt.
Sie wünschte, dass sie sich ein wenig besser an ihren Erste-Hilfe-Kurs erinnern könnte. Hatte sie dort überhaupt gelernt, was bei Kopfverletzungen und Knochenbrüchen zu tun war? Und was, wenn die Person tot war? Sie wollte keine Leiche sehen. Es durfte bitte, bitte keine Leiche sein!
Als sie näher kam, beruhigte sie sich etwas. Der menschliche Haufen vor dem Felsendurchgang war ein Mann, schätzungsweise ein bisschen älter als sie. Zum Glück atmete er noch.
Aber was um alles in der Welt hatte er da an? Er trug eine gelbe Lederweste und eine Lederhose. Dazu hatte er eine Art blauen Frack mit gelben Knöpfen an. Statt Turnschuhen hatte er braune Stiefel mit Stulpen. Doch am irritierendsten war, dass die merkwürdige Kleidung des Mannes so vor Nässe triefte, als ob er damit unter der Dusche gestanden hätte.
Caroline näherte sich. Die braunen, längeren Haare des Unbekannten waren zwar auch leicht nass, jedoch nicht so sehr wie seine Kleidung. Er lag auf dem Rücken. Die merklich große, aber auffallend gerade Nase wies Richtung Himmel. Auf den ersten Blick konnte sie keine größere Verletzung an ihm feststellen. Schlief er nur?
Sie erschrak, als der Mann leise stöhnte. Er fasste sich mit der Hand an den Hinterkopf. Erst da bemerkte Caroline, dass er blutete. Er war also doch gestürzt.
Noch immer mit geschlossenen Augen bewegte er den Kopf langsam zu beiden Seiten. Als er sie dann endlich öffnete, starrte er zunächst lange die Felsen an, bevor er schließlich zu Caroline sah.
Sie fühlte sich einen Moment wie versteinert und konnte nichts weiter tun, als den Blick des Mannes zu erwidern. Sie wusste nicht, warum, aber sie hatte das Gefühl, als wäre dies ein sehr wichtiger Augenblick in ihrem Leben. Bestimmt nur, weil es jetzt galt, einem Verletzten Hilfe zu leisten. Caroline musste nun wirklich über sich hinauswachsen, denn das Blut anderer Leute konnte sie noch nie sehen, ohne dass ihr übel wurde. Dennoch zögerte sie nicht weiter und reichte dem Fremden die Hand.
Bekanntschaften, wenn sie sich auch gleichgültig ankündigen,
haben oft die wichtigsten Folgen.“
                                               (Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre)
Kapitel 1
Donnerte es immer noch oder war das nur sein Schädel, der so brummte? Das würde eine fette Beule geben, wenn er sich nicht sogar schlimmer verletzt hatte. Hoffentlich war er jetzt kein Krüppel. Er spürte einen leichten Anfall von Hypochondrie in sich aufsteigen. Konnte er sich überhaupt noch bewegen?
Goethe öffnete die Augen und schloss sie sogleich wieder. Der Regen schien sich schnell verzogen zu haben. Die grelle Sonne blendete ihn. Vorsichtig hob er seine Hand in Richtung Kopf. War das Klebrige, was er dort spürte, etwa Blut? Hoffentlich holte er sich hier keine Blutvergiftung. Mal sehen, ob er den Kopf leicht bewegen konnte. Langsam rollte er ihn erst nach rechts, dann nach links. Immerhin, da war nichts gebrochen, schlimmstenfalls ein wenig geprellt.
Noch immer nach links blickend, versuchte er wieder die Augen zu öffnen. So blendete ihn die Sonne wenigstens nicht. Er bemerkte die riesigen Granitfelsen, bei denen er sich unterstellen wollte, vor seinem Sturz. Seltsam, das war ihm bei dem Regen gar nicht aufgefallen, da waren ja Stufen in den Fels geschlagen. Hatte man ihm nicht gesagt, dass das Labyrinth aus Felsen bisher unerschlossen war?
Der Ort war so schlecht begehbar wie kein anderer, den er kannte. Er selbst hatte sich nur dank seiner guten Kletterstiefel hier durchschlagen können. Bei der allgemeinen Bevölkerung galt die Luxburg sogar als verrufen. Wichtel und Kobolde würden sich dort herumtreiben, hatte ihm eine alte Witwe noch kurz vor seinem Aufbruch hierher gesagt. Welchen Nutzen hatten also Stufen an einem Ort, der von niemandem besucht wurde?
Oder war er etwa nicht der einzige Naturforscher, der sich für den Granit interessierte? Sicherlich hatte sich die Besonderheit der Felsformationen schon weit herumgesprochen. Er sollte lieber schnell aufstehen, bevor ihn ein ehrwürdiger Forscherkollege am Boden liegen sah. Als er den Kopf wieder nach vorne richtete, war er erstaunt. Durch das gleißende Sonnenlicht hindurch erkannte er die Umrisse einer Person. Diese schien ihn anzustarren, zumindest soweit er es bei dem Gegenlicht sehen konnte. Nun wurde ihm eine Hand entgegengestreckt.
Gott sei Dank, der junge Dietrich war zurückgekommen und wollte ihm aufhelfen. Da dieser in seinen Diensten stand, würde er bestimmt niemandem etwas von dieser mehr als peinlichen Situation verraten. Erleichtert gab Goethe ihm die Hand und stutzte.
Du meine Güte, hatte der junge Kerl aber weiche Haut. Wie machte er das nur? Zudem packte er zu wie ein Weibsbild. Dabei war er doch gar nicht so zart gebaut.
Als er es endlich bewerkstelligt hatte, leicht schwankend aufzustehen, blickte Goethe seinen Retter an, nur um festzustellen, dass es sich um eine Retterin handelte. Wie um alles in der Welt hatte es eine Frau hier durch diese menschenunfreundliche Gegend geschafft?
Goethe sah sie verwirrt an. Noch nie hatte er eine Dame in solch einem Aufzug gesehen. Sie trug eine kurze, sehr eng anliegende, schwarze Oberbekleidung, welche die nackten Arme kaum verhüllte und auch sonst einen großzügigen Einblick gewährte. Sie hatte offensichtlich kein Korsett an. Statt eines Kleides oder eines Rockes trug sie doch tatsächlich Hosen. Diese waren von einem dunklen Blau, ebenfalls sehr eng, und ließen dadurch viel von ihren langen, schlanken Beinen erahnen. An den Füßen hatte sie weiße Schuhe aus einem Material, das kein Leder zu sein schien, aber doch recht ähnlich wirkte. Außerdem auffällig daran waren drei knallrote Streifen, kombiniert mit ebenso roten Schnürsenkeln.
Langsam blickte Goethe von den Füßen der Dame wieder nach oben. Er atmete tief durch. Der Anblick von so viel nackter Haut ließ ihn als Mann nicht kalt. Er fühlte sich fast so, als wäre er einem zwar sehr erotischen, jedoch auch unkonventionell gekleideten Nymphenwesen begegnet. Schnell suchte er ihre Augen, um ihr nicht weiter in den Ausschnitt und auf ihre wohlgeformten Kurven zu starren. Doch das wohlig warme Gefühl, das sich in ihm ausbreitete, wurde dadurch nur verstärkt.
Johann Wolfgang von Goethe blickte in die sommergrünsten Augen, die er je gesehen hatte. Die kleine Nase, die vollen Lippen und die wallenden, dunkel gewellten Locken, die das Gesicht der Fremden umrahmten, machten ihn sicher, einer Frau begegnet zu sein, die nicht von dieser Welt war. Zudem schien sie für ein Weibsbild sehr groß zu sein, wohl nur zwei, drei Zentimeter kleiner als er.
Gab es in dieser Gegend eine Art Waldstamm? Menschen, die unentdeckt von seiner eigenen Zivilisation hier lebten? Das würde auch erklären, warum sie sich so völlig unbesorgt in diesen Gefilden bewegen konnte. Aber wie kämen Wilde an solch seltsame Stoffe wie die, aus denen ihre Kleidung gemacht war? Wenn sie aus einer anderen Kultur stammte, welche Sprache sprach sie dann? Konnte sie überhaupt reden?
Die Fremde blickte ihm tief in die Augen, fast so, als wolle sie sichergehen, dass er ihrem Blick auch standhalten konnte. Dann legte sie ihm einen Arm auf die Schulter, hielt den Kopf etwas schief und sagte mit besorgter Stimme:
„Geht es Ihnen gut?“
Sprechen konnte die Frau also, und sogar Deutsch, wenn auch die Aussprache etwas seltsam war. Aber vielleicht war das hier in der Gegend so üblich. Hatte seine Herbergsmutter nicht so ähnlich gesprochen? Goethe versuchte, sich zu erinnern. Da er nicht antwortete, fragte die Frau nochmal:
„Ist alles okay mit Ihnen? Haben Sie Schmerzen?“
Goethe besann sich. Auch wenn er mit dem Wort okay nicht viel anfangen konnte, war doch klar, dass die Frau um sein Wohl besorgt war.
„Es geht mir gut, vielen Dank“, sagte er daher mit etwas zittriger Stimme. „Ich wurde vom Gewitter überrascht. Als ich hierhin eilte, um mich unterzustellen, bin ich auf dem nassen Fels ausgerutscht und gestürzt. Bis auf eine kleine Wunde am Kopf ist mir aber wohl nichts Schlimmeres passiert“, meinte er mit einem Blick auf seine blutige Hand.
„Gewitter? Was für ein Gewitter? Wie lange sind Sie denn schon hier gelegen?“, entgegnete die Frau verwirrt.
Goethe blickte sich um. Tatsächlich sah hier nichts danach aus, als ob es vor kurzem geregnet hätte. Die Felsen und der Waldboden waren trocken. An den Bäumen war keinerlei Nässe zu sehen. Die Luft roch auch nicht mehr nach Regen. Zudem war es viel wärmer geworden, fast schon heiß. Trotzdem bibberte er etwas wegen seiner nassen Kleidung.
Moment mal, die Kleidung, die war nass. Wieso war sie nicht auch getrocknet? So lange konnte er hier also noch gar nicht liegen. Und wo war eigentlich sein Hut? Er blickte sich suchend um.
„Haben Sie meinen Hut gesehen? Hier müsste irgendwo mein Hut liegen.“
„Nein, leider nicht, tut mir leid. Aber der findet sich bestimmt wieder.“
Die junge Frau hatte inzwischen etwas von ihrem Rücken genommen, das wie ein Rucksack aussah. Nur, dass auch dieser aus einem sehr merkwürdigen Material bestand. Es war kein Leder und kein Stoff, den er kannte. Die Farbe war das leuchtendste Gelb, das er je an einem Textil gesehen hatte.
Goethe sah fasziniert zu, wie seine neue Bekanntschaft an einer Art metallenem Klipp zog. Sie bewegte ihn entlang lauter winzig kleiner, ineinandergreifender Zähnchen. Diese öffneten sich dadurch wie von Zauberhand und gaben den Inhalt des Rucksacks preis.
Die Fremde holte ein knallrotes Kästchen hervor. Darauf war ein Kreuz gemalt. Sie öffnete es und zum Vorschein kam etwas, das sie Pflaster nannte. Als sie sich damit seinem Kopf näherte, wich er erschrocken zurück.
„Was wollen Sie tun?“
„Na, Sie verarzten, was sonst? Oder wollen Sie, dass das Blut weiter auf Ihr schönes Kostüm tropft?“, fragte sie.
Er selbst hätte seine Reisekleidung jetzt nicht unbedingt als Kostüm bezeichnet. Da die Frau mit gängiger Bekleidung jedoch offensichtlich nicht vertraut war, wollte er darüber lieber keine Diskussion anfangen. Er blieb zwar skeptisch, ließ aber seine Wunde versorgen.
Es brannte nur kurz, als sie mit ihren zarten Händen und einer Art Watte etwas auf die blutende Stelle tupfte, das sie Desinfektion nannte. Dann befestigte sie das Pflaster an seinem Kopf. Es schien ein selbstklebender Verband zu sein.
Irgendwie gefiel es ihm, von dieser schönen Nymphe verarztet zu werden. Goethe konnte sich durchaus vorstellen, sich öfter von ihr berühren zu lassen. Nur die Frau selbst war bei der ganzen Prozedur ein wenig blass geworden. Warum nur?
„Können Sie selbst laufen oder soll ich Hilfe rufen?“, fragte das Fräulein und wedelte dabei mit einer Art schwarzem Glas in der Hand herum.
Was war das nun schon wieder? Wie sollte man damit um Hilfe rufen? Die Frau schien ihm etwas verwirrt zu sein. War sie auch auf den Kopf gefallen?
„Ich kann selbst laufen, ich erfreue mich bester Gesundheit, danke“, meinte er und wollte ihr das damit demonstrieren, dass er lustig vor ihr hin und her hüpfte. Leider kam dabei wieder der stechende Schmerz in seinem Kopf und er zuckte peinvoll zusammen.
„Ich glaube, ich begleite Sie lieber noch bis ans Ende des Labyrinths. Nicht dass Sie mir unterwegs zusammenklappen oder so. Wir sind ja ohnehin fast unten“, stellte die Frau nüchtern fest.
Sie wanderten ein paar Meter schweigend nebeneinanderher. Als Dichter war er eigentlich ein redseliger Mensch. Die Kopfschmerzen und die ungewöhnliche Situation mit der fremden Frau sorgten jedoch dafür, dass Goethe zum ersten Mal in seinem Leben eine Kommunikation scheute und lieber schweigen wollte. Doch der jungen Dame schien die Stille nicht zu gefallen und sie sah sich wohl dazu genötigt, ein Gespräch anzufangen. Wie unschicklich von ihr, einfach so das Wort zu ergreifen.
„Sie sind vom Theater, oder?“, fragte sie unsicher.
Sie hatte ihn also erkannt. Wie peinlich. Sie würde sicher überall herumerzählen, dass der große Dichter Johann Wolfgang von Goethe, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Entstehung dieser Welt anhand des Granits zu ergründen, auf ebendiesem ausgerutscht war und sich den Kopf angeschlagen hatte. Vorausgesetzt natürlich, dass sie überhaupt aus dem Ort stammte.
Seine Waldstammtheorie kam ihm erneut in den Sinn, auch wenn sie ihm jetzt, da er wieder klarer denken konnte, eher unwahrscheinlich erschien. Es musste eine andere Erklärung für die ungewöhnliche Kleidung und die Utensilien der Frau geben.
„Es freut mich, dass Sie mich erkannt haben, wertes ... Entschuldigen Sie bitte, sind Sie ein Fräulein oder eine Frau?“
Aus irgendeinem Grund musste die Fremde laut lachen, als er das fragte.
„Ach herrje, Sie sind wohl noch von der ganz alten Schule. Fräulein sagt man doch schon seit einer Ewigkeit nicht mehr. Nein, ich muss gestehen, dass ich Sie nicht erkannt habe, aber war ja irgendwie klar, wegen des Kostüms. Ich bringe Sie zum Theater, dort wird sich sicherlich jemand finden, der sich um Sie kümmern kann.“
Wieso um alles in der Welt wollte sie ihn zum Theater bringen? Nun gut, er hatte das eine oder andere Mal schon selbst eine Rolle gespielt, zuletzt die des Orest in seinem Stück Iphigenie auf Tauris. Er war noch überhaupt nicht zufrieden mit dem Werk. Irgendwie war es nicht richtig rund. Er musste es noch einmal überarbeiten. Aber seine Gedanken schweiften schon wieder ab. Er wollte nicht, dass die Frau ihn zurück nach Weimar brachte, sondern lieber seine Kurreise fortsetzen.
„Verehrtes Fr... äh, verehrte Dame. Sie müssen mich doch nicht zum Theater bringen, das ist doch viel zu weit weg. Wenn Sie mich einfach nur aus diesem Labyrinth herausführen, bin ich Ihnen schon sehr dankbar. Seien Sie mein Ariadnefaden.“ Er lächelte sie charmant an in der Hoffnung, sie mit etwas Mythologie beeindrucken zu können.
Doch sie ließ das scheinbar kalt. „Zu weit weg?“, sie blickte ihn wieder besorgt an. „Ach egal. Erzählen Sie lieber, wie Ihre Kleidung so nass geworden ist. War das irgendeine Challenge, in dem Kostüm vollkommen nass durch das Felsenlabyrinth zu laufen? Oder ist das eine Kunstaktion? Wollten Sie so Spenden sammeln oder irgendetwas in der Art?“
„Wie gesagt, ich bin in das Gewitter geraten.“
„Es gab schon seit Wochen kein Gewitter mehr“, entgegnete sie ihm.
Goethe blieb kurz stehen und starrte sie an. Seit Wochen kein Gewitter mehr? Sprach sie die Wahrheit? Aber seine nasse Kleidung bewies ihm doch das Gegenteil. War dies vielleicht wirklich ein verwunschener Wald?
Goethe blickte sich wieder genauer um an dem Ort, den die Frau so treffend Felsenlabyrinth genannt hatte. Die Bezeichnung hätte auch von ihm sein können.
Er stellte mit Entsetzen fest, dass dort plötzlich überall steinerne Stufen und sogar Treppen aus Metall waren. Es waren Wege angelegt, die mit in Felsen geritzten Pfeilen markiert waren. Wie war das möglich? Wie konnte ihm das alles auf seinem Hinweg entgangen sein? Oder gingen sie vielleicht einen ganz anderen Weg nach draußen? Überhaupt, was sollte das denn für ein Labyrinth sein, in dem man mit Pfeilen zeigte, welcher Weg der richtige war?
Die Fremde grüßte jemanden. An ihnen gingen ein Mann, eine Frau und zwei kleine Kinder vorbei. Sie waren alle ähnlich seltsam gekleidet wie seine Retterin. Blaue Hosen schienen an diesem Ort definitiv in Mode zu sein, selbst für Weibsbilder und Kinder.
Goethe drehte sich zu der Familie um, die den Weg nach oben ging.
„Entschuldigen Sie bitte, aber Sie wollen doch nicht wirklich mit den Kindern dort hinauf? Wissen Sie denn nicht, wie gefährlich das ist?“
Alle vier blieben stehen. Der Mann, der offensichtlich der Vater der zwei Kinder war, drehte sich zu ihm um. „Es ist nett, dass Sie sich Sorgen machen“, sagte er, „aber die Mädels sind den Weg mit uns schon letztes Jahr gelaufen und es gab keinerlei Probleme. Wir nehmen ja auch den leichteren Weg. Ist doch alles sehr kinderfreundlich hier.“ Er wandte sich wieder seiner Familie zu und sie gingen weiter.
Goethe verstand gar nichts mehr. Wie hatte er sich nur diesen Blödsinn von dem gefährlichen, unerschlossenen Felsenmeer auftischen lassen können? Offensichtlich konnten sich sogar Kinder hier spielend hindurchwagen. Wieso also war ihm und seinen Reisegefährten dann der Aufstieg so schwergefallen?
Hatte sie jemand veralbert und ihnen einen schwierigeren Weg durch sämtliche Dickichte angepriesen, um sich hinterher über sie lustig zu machen? Hatte dieser Jemand ihm am Ende auch irgendwie ein Gewitter vorgespielt oder war für diese ganze Farce mit den seltsamen Leuten verantwortlich? Was dachten sich die Menschen dieses Ortes nur, den Geheimrat, den Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe an der Nase herumführen zu wollen. Er wurde richtig wütend.
Die Frau schaute ihn wieder so an, als ob er gleich in Ohnmacht fallen könnte oder vorhätte, wild schreiend im Kreis umherzurennen. Aber nach Schreien war ihm wirklich, als sie das Ende des Felsenlabyrinths erreicht hatten und aus dem Wald heraustraten. Goethe wurde schwindelig und die Knie wurden ihm weich. Seine Begleiterin musste ihn für einen Moment stützen. Wie war das möglich? Er konnte einfach nicht glauben, was er sah. Was war hier passiert?
*****
Caroline hätte doch die Bergwacht rufen sollen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, jemanden, der am Kopf verletzt war, selbst den ganzen Weg nach unten laufen zu lassen. Der Mann war sichtlich verwirrt, er hatte bestimmt eine Gehirnerschütterung oder Schlimmeres. Was war ihm nur zugestoßen? Und was hatte es mit dem ominösen Gewitter auf sich? War er vielleicht Epileptiker und hatte einen Anfall gehabt? Das erklärte aber nicht, wie er an so einem heißen und trockenen Sommertag so nass werden konnte. Soweit sie wusste, gab es im Labyrinth keine größere Wasseransammlung, in der der Mann mal eben hätte baden können.
Vielleicht hatte es mit den Theaterproben zu tun? Doch sie glaubte kaum, dass die dort ein so tolles Kostüm so nass machen würden. Wenn das zur Aufführung gehörte, musste der arme Kerl sich auch in kalten Theaternächten dann durchweicht auf die Bühne stellen. Das wäre schon sehr verantwortungslos, denn hier oben konnte es trotz der Klimaerwärmung selbst in Sommernächten eisig werden.
Es war sehr leicht, ortsansässige Theaterbesucher von den weither angereisten zu unterscheiden. Die Einheimischen erkannte man daran, dass sie dicke Winterjacken trugen. Manchmal kamen sie sogar mit Schlafsäcken und mummelten sich darin ein. Menschen, die die Luisenburg-Festspiele zum ersten Mal besuchten, hatten schicke Ausgehkleidung an. Diese war bestenfalls mit einem Blazer oder einem dünnen Strickjäckchen ergänzt. Dadurch erkannte man die Touristen nicht nur optisch, sondern auch akustisch. Sie waren die, deren Zähne laut klapperten.
In solchen Nächten durchnässt auf der Bühne zu stehen, hätte unter Garantie eine Lungenentzündung zur Folge. Wobei die Schauspieler des Öfteren nass wurden. Dies geschah aber nicht mit Absicht, sondern wenn es, was früher noch häufiger passierte, anfing zu regnen. Immerhin war das ein Freilichttheater. Oder, wie die alteingesessenen Wunsiedler stolz sagten, Deutschlands traditionsreichste Freilichtbühne.
Caroline konnte gut verstehen, warum der Mann das Felsenlabyrinth für gefährlich hielt, schließlich war er dort böse auf den Kopf gefallen. Die Szene mit der Familie gerade war ihr aber doch etwas peinlich gewesen. Nur gut, dass sie schon fast aus dem Labyrinth raus waren und sie den komischen Kauz gleich beim Theater abliefern konnte.
Als sie aus dem Wald traten und auf dem Vorplatz des Theaterbaus ankamen, wurde ihr Begleiter mit einem Mal ganz blass im Gesicht und sank in die Knie. Sie eilte ihm schnell zur Seite, um ihn zu stützen. Er fing an, wie ein Verrückter zu brabbeln.
„Was ... wie ... wieso? Wie kann das sein? Was um alles in der Welt ist das?“
Er starrte zu dem Gebäude.
Ja gut, seit das Theater umgebaut worden war, war es nicht gerade hübscher geworden. Die graue, wellige Betonfassade sollte sich wohl farblich den umgebenden Granitfelsen anpassen, sah aber in Kombination mit dem Dach eher aus, als wäre dort ein Ufo gelandet. Wenn hier am Abend alles beleuchtet war, wirkte es besonders spacig.
Zudem war das Theater echt riesig. Immerhin kamen hierher pro Saison rund 140.000 Besucher. Die Frankenpost, eine nette kleine Regionalzeitung, berichtete meist groß und breit davon, wenn wieder ein neuer Besucherrekord aufgestellt wurde. Caroline wunderte sich dann stets, weil sie nicht wusste, wieso mehr und mehr Leute zu den Aufführungen kamen, obwohl die Eintrittspreise immer höher wurden. Vielleicht war ein Theater in den gebildeten Kreisen nur gefragt, wenn man für die Karten viel Geld hinlegen musste? Für ihr knappes Gehalt war so ein Theaterbesuch jedoch kaum mehr erschwinglich.
Dabei hatte sie sich früher immer alle Stücke der Saison angesehen, sogar das Kinderstück. Das war meist besonders liebevoll inszeniert. Sie lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie ihre Mutter sie zum ersten Mal zu den Luisenburg-Festspielen mitgenommen hatte. Sie hatten damals den Räuber Hotzenplotz gesehen. Es war herrlich gewesen, wie der dümmliche Räuber Kaspar und Seppel in die Falle gegangen war. Danach hatte sie immer davon geträumt, Polizistin zu werden. Als sie im Jahr darauf das Dschungelbuch gesehen hatte, wollte sie aber lieber Tropenforscherin werden, in der Hoffnung, auch einmal auf Tiere zu treffen, mit denen sie sich unterhalten konnte.
 Ihr Begleiter bekam langsam wieder festen Boden unter den Füßen. Er richtete sich auf, schien von dem Anblick des Theaters aber noch immer erschüttert zu sein. Dabei musste er diesen als Schauspieler bereits kennen. Schließlich wurde doch schon seit Wochen, wenn nicht sogar Monaten geprobt.
„Das ist das Theater“, versuchte sie ihn zu beruhigen. „Ich bringe Sie da jetzt rein und dann wird sich jemand um Sie kümmern. Sicher werden Sie längst vermisst.“
Der Mann sah zwar keineswegs beruhigt aus, ließ sich aber von ihr die Stufen zum Eingang hinaufführen.
„Hier war nur eine Felsplatte“, sagte er leise, „nur eine große Felsplatte.“
Als sie oben an der Treppe angekommen waren, blickte er sich staunend wie ein Kind um und meinte: „Es ist einfach auf die Felsen gebaut, wie eine Burg. Ist das ein Burgtheater?“
Du meine Güte, er erkannte das Theater nicht mehr. Jetzt war wirklich Eile geboten. Caroline war erleichtert, dass sie den Seiteneingang offen vorfand. Es wurde wohl gerade geprobt.
Als sie den Bühnenraum betraten, fiel dem Mann im wahrsten Sinne des Wortes die Kinnlade herunter. Sein Blick ging über die tausende Sitzplätze und richtete sich dann auf die Bühne.
Dort jagte gerade ein Schauspieler im Katzenkostüm einem anderen im Hühnerkostüm hinterher. Ein scheinbar älterer Mann mit Hut schimpfte mit dem Kater, er solle das Huhn in Ruhe lassen. Dieser hörte nicht auf ihn, woraufhin nicht mehr nur der Kater dem Huhn, sondern auch noch der Mann dem Kater hinterherrannte, immer im Kreis. Das konnte nur Pettersson und Findus sein, das diesjährige Kinderstück. Das hatte schon bald Premiere.
„Eine Bühne aus Felsen!“, staunte ihr Begleiter. „Wie viele Spielebenen sind das, drei oder vier? Und die Verbindungen, hier die Treppen aus Fels, dort oben ein paar kleine Wege. Wie harmonisch sich alles in die natürliche Umgebung einfügt, unglaublich. Was man hier alles aufführen könnte! Es muss unbedingt der Sommernachtstraum gegeben werden, dieses Theater ist geradezu gemacht dafür. Nein, was rede ich, ganz eigene Stücke muss man hierfür schreiben! Ach was, ich mach das am besten gleich selbst. Und dieses Licht, dieses magische Licht. Wie funktioniert das nur? Sollte es sich dabei etwa um Elektrizität handeln?“
Der Schock, der den Fremden vorhin beim Anblick des Theaters überkommen hatte, war einer reinen Euphorie gewichen. Er lief vor der Bühne hin und her. Er schien mit den Händen Maß zu nehmen, joggte daraufhin entlang der Sitzreihen im Zuschauerraum bis oben hinauf und sogleich wieder herunter, dann nach links und nach rechts, als wollte er alle Blickwinkel testen. So wie er rannte, hatte er wohl doch keine Gehirnerschütterung. Zumindest war ihm nicht schwindelig.
Erst als er wieder bei Caroline ankam, schien der Fremde zu registrieren, was seine Schauspielerkollegen dort auf der Bühne trieben.
„Was um alles in der Welt tun sie da? Ein Huhn und eine Katze? Ist das ihr Ernst? Welcher Dichter soll das sein? Ich habe niemals von solch einem Werk gehört.“
„Das ist das Kinderstück!“, sagte Caroline leise, in der Hoffnung, ihn so auch dazu zu bringen, etwas ruhiger zu sprechen. Sie wollte die Probe nicht stören.
„Ein Kinderstück? Wie großartig, dass hier Kinder in den Genuss von Theater kommen dürfen. Aber mir erschließt sich nicht, welche Moral sie aus diesem Katz-und-Maus-... äh, Katz-und-Huhn-Spiel ziehen sollen. Was soll das Werk sie lehren?“
„Welche Lehre, hm, ja, also, gute Frage. Ich muss gestehen, ich kenne das Stück nicht wirklich. Ich habe nicht mal die Bücher dazu gelesen. Aber in Kinderbüchern gibt es ja immer irgendein Fazit nach dem Motto, höre besser auf deine Eltern, dann passiert dir nichts. Sei mutig, glaub an dich selbst ... irgendwie sowas wird es wohl schon als, wie sagten Sie, ach ja, als moralische Lehre haben.“
Eine Frau mit braunen kurzen Haaren und einer auffälligen schwarzen Brille kam auf sie zu. Caroline meinte sich zu erinnern, dass das die Intendantin der Festspiele war.
„Ich muss Sie leider bitten zu gehen, das ist hier keine öffentliche Probe“, sagte sie streng.
„Verzeihen Sie bitte“, antwortete Caroline. Sie legte die Hand auf den Rücken des fremden Mannes und schob ihn sachte nach vorne, in Richtung der Intendantin. „Ich habe einen Ihrer Schauspieler verletzt im Felsenlabyrinth gefunden. Ich habe ihn nur hierhin zurückbegleitet, um sicherzugehen, dass er heil ankommt. Er hat eine Wunde am Kopf und erscheint mir etwas verwirrt. Er hat nicht mal das Theater erkannt.“
Die Intendantin blickte Caroline an, als sei sie diejenige, die verwirrt war, und nicht der Mann in den Lederklamotten.
„Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, dass das einer unserer Schauspieler ist, ich kenne den Mann nicht.“ Sie wandte sich nun direkt an ihn. „Haben Sie behauptet, Sie wären hier Schauspieler?“
Er schüttelte den Kopf. Diesmal verriet nur ein leichtes Zucken an seinem Mundwinkel, dass ihm das Schmerzen bereitete.
„Schauspieler? Ich? Ich bin Dichter, nur ganz selten stehe ich auch mal selbst auf der Bühne. Sie müssen wissen, nicht jeder kann die Rollen so spielen, wie ich sie schreibe. Sie hätten sehen müssen, wie ich als Orest brilliert habe ...“
„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie unterbreche. Falls das hier eine Bewerbung oder sowas werden soll, ich habe da jetzt wirklich keine Zeit dafür. Wir sind mitten in der Probe, bald ist Premiere. Außerdem haben wir alle Rollen besetzt und ich brauche auch keine Autoren. Neue Stücke schreibe ich meist selbst“, fuhr die Intendantin Goethe dazwischen. Sie wandte sich wieder Caroline zu. „Ich kenne den Herren nicht, tut mir leid. Er trägt zwar ein sehr schönes Kostüm, aber von uns ist das nicht. Was soll das darstellen, den Werther? Ach egal, ich muss Sie jetzt wirklich bitten zu gehen.“
Die Intendantin machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder in Richtung Bühne, wo sie wild gestikulierend ein Gespräch mit dem Hühnchen begann. Wie es aussah, sollte der arme Kerl in dem warmen Kostüm etwas mehr flattern.
Caroline wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war sich sicher gewesen, das Problem mit dem Verletzten hier an jemand anderen loswerden zu können. Was machte sie nun mit ihm? Und wieso hatte er sie angelogen?
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich einander gar nicht vorgestellt hatten. Sie war so fixiert darauf gewesen, den Fremden schnellstmöglich zu versorgen, dass sie eine der wichtigsten Fragen aus dem Erste-Hilfe-Kurs bei der Ansprache Verletzter vergessen hatte: Wissen Sie, wie Sie heißen? Doch das konnte sie jetzt noch nachholen.
Der Mann hatte seinen Blick zwischenzeitlich wieder auf die Bühne gerichtet und lachte laut auf, als das Hühnchen wild flatternd vor der Katze über die Felsen Reißaus nahm. Er schien doch ein recht kindliches Gemüt zu haben. Sie riss ihn nur ungern aus seiner Begeisterung, aber sie musste jetzt wirklich wissen, woran sie war. Caroline räusperte sich.
„Entschuldigen Sie bitte.“
Er drehte sich zu ihr um. „Oh, verzeihen Sie, wertes Fr... äh, werte Dame. Ich war kurz abgelenkt.“ Er blickte nochmal dem Hühnchen hinterher, schmunzelte, wandte sich dann ihr zu und sah ihr tief in die Augen.
Ein warmes Kribbeln lief Caroline über die Haut. Was waren das für Augen und was für ein Blick? Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung nahm sie sich die Zeit, den Fremden näher anzusehen.
Eigentlich war er nicht allzu hübsch. Er hatte eine viel zu große Nase und ein sehr ausgeprägtes Kinn. Seine Haut war mit lauter kleinen Narben übersät. Ob er als Kind mal schwere Akne hatte? Er hatte eine hohe Stirn und etwas längere, platt an seinem Kopf hängende Haare. Die waren bei dem ominösen Gewitter wohl auch nass geworden. Seine Statur war hager und wirkte dennoch sportlich. Er schien in ihrem Alter zu sein, vielleicht ein bisschen älter.
Sie sah wieder in seine Augen. Obwohl sein rechtes Auge etwas tiefer hing als das linke, waren sie auffallend groß und von einem wunderschönen, dunklen Braun. Sein Blick war durchdringend, als könne er all ihre Fehler und Schwächen sehen, aber gleichzeitig auch sanft und mild. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, sie würde in die Seele dieses Mannes blicken.
„Was wollten Sie denn sagen?“, lächelte er sie jetzt an.
Auch das Lächeln traf Caroline tief ins Herz. Es war ein warmes, herzliches Lächeln. Sie musste kurz tief durchatmen und besann sich dann wieder auf das Wesentliche.
„Entschuldigen Sie bitte das Missverständnis mit dem Theater. Ich hätte wohl genauer nachfragen sollen. Mir ist aufgefallen, dass wir uns noch gar nicht vorgestellt haben. Mein Name ist Caroline Neumüller. Ich komme hier aus Wunsiedel. Darf ich fragen, wie Sie heißen?“
„Ich bin es, der sich entschuldigen muss“, sagte der Mann mit einer leichten Verneigung. „Natürlich hätte ich mich Ihnen sofort vorstellen müssen. Ich bin es nur nicht mehr gewohnt, dass mich jemand nicht erkennt. Zudem war ich etwas durcheinander wegen der Kopfverletzung.“
Was sollte das nun heißen? War er am Ende ein Promi oder sowas? Caroline mochte keinerlei der gängigen Klatsch- und Tratschmedien. Sie hatte schon genug mit ihrem eigenen Leben zu tun, wen interessierten da Promis. Na gut, den einen oder anderen Hollywoodstar hatte sie mal gegoogelt, aber deutsche Stars und Sternchen sagten ihr so gut wie nichts.
„Ich bin ...“, setzte der Mann mit einem leicht überheblich wirkenden Blick an, „niemand Geringeres als der Dichter des Werthers, des Goetz von Berlichingen, des Clavigos. Vielleicht sagt Ihnen auch mein Torquato Tasso schon etwas? Ich weiß ja nicht so genau, wie lange es dauert, bis sich die Werke aus meiner Feder bis in die Provinz verbreiten.“
Du meine Güte, holte der weit aus. Konnte er sich nicht ganz normal vorstellen wie jeder andere auch? Aber bei der Nennung seiner Bücher, Gedichte oder was auch immer das sein sollte, klingelte durchaus etwas bei Caroline. Sie hatte einige der Namen definitiv schon einmal gehört.
„Falls Sie sich mit Gedichten auskennen, ich bin zum Beispiel auch sehr stolz auf eine von mir verfasste Ballade, die ich Erlkönig genannt habe.“
Moment mal, der Erlkönig? Den musste sie doch damals in der Schule auswendig lernen. Caroline schwante Übles. Wenn der Typ nicht über 250 Jahre alt war, konnte er unmöglich dessen Verfasser sein. Es sei denn, er hatte eine Neuauflage davon gemacht, aber wer schrieb heutzutage noch Balladen?
Der Mann in dem seltsamen Kostüm schien endlich zum Punkt zu kommen.
„Ich bin, wie Sie sich jetzt sicherlich bereits gedacht haben“, er holte zu einer tiefen Verbeugung aus, „Johann Wolfgang von Goethe.“
„Mir wird von alledem so dumm,
als ginge mir ein Mühlrad im Kopf herum.“
                                              (Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie)
Kapitel 2
Goethe saß auf einem großen Felsen am Rande eines Weges und starrte auf diesen. Er war links und rechts von Bäumen umgeben. Dennoch verlief hier mittendrin eine Straße, wie er sie noch nie gesehen hatte. Sie sah aus, als hätte man Stein geschmolzen und ihn dann großflächig und äußerst ebenmäßig aufgetragen. Doch wie sollte das gehen?
Er überlegte, dass es mit der richtigen Hitze bestimmt möglich sein müsste, ein solches Material herzustellen. Aber wie groß war wohl die Walze, die das Ganze dann hier so glatt verteilte? Entweder hatten sehr, sehr viele Menschen daran gearbeitet oder einige wenige äußerst lange. Man konnte nicht einmal erkennen, wo diese makellose Straße endete. Vielleicht gab es hier aber doch vulkanische Aktivität und er saß an einem getrockneten Lavastrom? Der wäre dann jedoch nicht so ebenmäßig und kerzengerade, oder?
Immer wieder kamen Leute in merkwürdiger Kleidung die Straße heraufspaziert. Viele davon starrten Goethe an. Einige sahen sich zu der Bemerkung hingerissen, er sei wohl ein Schauspieler. Ein paar andere nahmen von ihm gar keine Notiz, weil sie im Laufen in ein ebenso schwarzes Glas guckten, wie die seltsame Fremde es ihm vorhin gezeigt hatte.
Diese hatte ihn darum gebeten, sie Caroline zu nennen. Es hatte ihr wohl nicht gefallen, dass er sie ständig mit Fräulein Neumüller ansprach. Das Wort Frau ging ihm bei einer nicht verheirateten Dame einfach nicht über die Lippen, egal, was hier Sitte war. Wobei, hatte sie überhaupt gesagt, dass sie keinen Ehegatten hatte? Er musste sie das unbedingt nochmal genauer fragen.
Duzen wollte er sie eigentlich nicht. Das Du war für ihn nur Personen vorbehalten, mit denen er eine intime Beziehung hatte, oder aber Menschen, die ihm dienten. Unter diesem Aspekt hatte er sich schließlich doch dazu durchringen können, denn irgendwie war Caroline ihm in seiner Notsituation ja zu Diensten.
Auf ihre Frage hin, ob sie ihn Johann nennen sollte, hatte er aber ganz energisch nein gesagt. Sie hatte ihn bitte bis auf weiteres mit Herr von Goethe anzusprechen. Immerhin verlor man nicht Titel und Ansehen, nur weil man auf den Kopf gefallen und in einer gänzlich verändert scheinenden Welt aufgewacht war, oder?
Caroline hatte ohnehin schon sehr respektlos reagiert, als er sich ihr zu erkennen gegeben hatte. Sie wollte ihm nicht glauben, dass er er war, hatte das Ganze gar für einen schlechten Witz gehalten. Als ob er aussah wie ein Hochstapler oder ein Brausekopf.
Na gut, in Weimar hatte er sich zusammen mit dem Herzog schon einige Zeit lang wie ein echter Tunichtgut verhalten. Er musste grinsen, als er daran dachte, wie sie gemeinsam einer Bauersfrau eine tote Katze ins Butterfass gesteckt hatten. Oder als sie einer der Hofdamen mitten in der Nacht die Wohnungstür zugemauert hatten.
 Aber inzwischen war er mit all seinen Ämtern zu einem ehrbaren Mann gereift. Sich als jemand auszugeben, der er nicht war, wurde zwar manchmal nötig, um unerkannt reisen zu können. Er würde dies jedoch nicht tun, um sich mit dem Ruhm eines anderen zu schmücken. Wie konnte die Fremde nur so schlecht von ihm denken?
Als er lange genug insistiert hatte, dass er wirklich Johann Wolfgang von Goethe aus Weimar war, bestand Caroline vehement darauf, ihn in ein sogenanntes Krankenhaus zu bringen. Sie meinte damit wohl eine Art Hospital. Als er sich diesem Wunsch widerstandslos fügte, war sie sichtlich erleichtert. Ihm war ja selbst klar, dass sein Sturz auf den Kopf nicht folgenlos geblieben war. Irgendetwas in seinem Gehirn, das für die Wahrnehmung zuständig war, musste verletzt worden sein. Es war wirklich besser, wenn sich das ein Doctor Medicinae einmal näher anschaute.
Inzwischen war sich Goethe aber zumindest darüber klargeworden, warum er den kolossalen Theaterbau auf seinem Hinweg nicht wahrgenommen hatte. Er war von einer anderen Stelle aus in das Felsenmeer gegangen. Immerhin war ihm schon die Strecke beim Abstieg völlig unbekannt vorgekommen. Der Eingang mit der Felsplatte, wie er ihn in Erinnerung hatte, lag folglich auf der gegenüberliegenden Seite des Berges. Das war hier schließlich ein Labyrinth, es war somit nur folgerichtig, dass der Orientierung darin ein Streich gespielt wurde.
Nun saß er auf diesem Fels und wartete auf Caroline. Sie war die Straße hinabgerannt, um eiligst ihren Jundai zu holen, wie sie meinte. Ob das eine Art Landauer war? So ein seltsames Wort hatte er noch nie gehört. So wenig Stoff, wie die Fremde am Leib trug, wunderte er sich, dass sie sich überhaupt eine Kutsche leisten konnte. Hauptsache, das war nicht ihre Bezeichnung für einen Sackkarren oder dergleichen. Kopfverletzung hin oder her, so stillos würde er sich nicht transportieren lassen.
Auch wenn die Frau recht schnell gerannt war mit ihren merkwürdigen Schuhen, so würde es sicher noch eine Ewigkeit dauern, bis sie mit ihrem Gefährt wieder hier war. Sollte er wirklich so lange sitzen bleiben? Zumindest ging er kurz ins Gebüsch, um dort etwas Wasser zu lassen.
Er hätte bei der Wanderung nicht so viel Wein trinken sollen. Dies brachte ihn zu der Frage, was eigentlich mit seinem Rucksack passiert war. Darin war ja nicht nur seine Weinflasche, sondern zudem seine Zeichensachen. Ob er ihn dort verloren hatte, wo auch sein Hut lag? Den hatten sie gar nicht mehr gesucht. Er musste seine Retterin darum bitten, dass sie nochmal jemanden nach oben schickte, der nach seinen Sachen sah. Seine Skizzen und Notizen waren ihm sehr wichtig, er brauchte sie und der Wein war auch noch nicht leer gewesen.
Kaum dass er sich wieder auf den Felsen gesetzt hatte, meinte er etwas Kleines, Rotes, aber metallisch Schimmerndes auf der Straße zu sehen, das immer größer und größer wurde. Es dauerte einen Moment, bis sein Gehirn erkannte, dass dieses Etwas deshalb größer wurde, weil es sich auf ihn zubewegte.
Was um alles in der Welt war das? Jetzt vernahm er auch eine Art Brummen, das immer lauter wurde. Goethe wollte wegrennen, aber er war starr vor Schreck. Er konnte nur dabei zusehen, wie sich das Ungetüm näherte.
Als das Monstrum schon fast bei ihm war, sah Goethe, dass es vier Räder hatte, die denen einer Kutsche jedoch nur marginal ähnelten. Auch die Form des Gefährts glich ein wenig einer Kutsche, aber ohne Kutschbock. Das Material schien ein Metall zu sein, das rot gefärbt war. Darin befanden sich mehrere Fenster aus Glas. Das laute Geräusch, das von dem Etwas ausging, musste wohl von einer Art Dampfmaschine kommen, die das Gefährt antrieb, denn er konnte erkennen, dass diesem hinten dunkler Dampf entwich.
Das Ding kam genau neben ihm zum Stehen und das laute Brummen erstarb. Dafür lag nun ein merkwürdiger Geruch in der Luft, vergleichbar mit dem einer Öllampe. Johann Wolfgang von Goethe zuckte vor Schreck zusammen, als sich an dem Gefährt eine Tür öffnete, aus der Caroline herauskam. Dieses laute, röhrende und stinkende Ding war also ihr Jundai.
Er revidierte sofort die Vermutung, die er über ihre finanzielle Situation gehabt hatte. Solch fortschrittliche Technik war ihm bislang nicht bekannt gewesen. Eine Kutsche ohne Pferde, die mit einer Dampfmaschine fuhr, das war sensationell. Caroline stammte definitiv aus sehr reichem Hause. War sie vielleicht sogar die Tochter des Erfinders dieses Wunderwerkes?
„Alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut? Ist Ihnen schwindlig oder schlecht?“, fragte Caroline ihn ängstlich.
„Nein, mir ist nicht schwindelig. Es ist alles in Ordnung, also, zumindest nicht schlimmer als vorher. Warum?“
„Sie sind schon wieder so blass geworden, als ob Sie einen Geist gesehen hätten.“
Einen Geist! War das vielleicht die Lösung des Ganzen? War er gestorben und das hier war der Himmel oder gar die Hölle? Die teufelsrote, stinkende Maschine sprach eher für Letzteres. Carolines durchaus hübscher Anblick kam hingegen dem eines Engels gleich. Die Freizügigkeit, mit der sie ihre nackte Haut zeigte, könnte jedoch für eine Art Verführungsdämonin sprechen. Wollte sie ihn mit diesem Gefährt wirklich in ein Hospital bringen oder direkt zu Lucifer?
Goethe schalt sich selbst einen Narren. Erst diese Waldstammgedanken und nun fing er schon an, an die Hölle zu glauben. Vielleicht sollte er dieses Faustthema endlich ad acta legen, er würde das Werk ja doch nie vollenden. Offensichtlich vernebelte es ihm das Gehirn. Er war ein aufgeklärter Mensch. Es musste eine andere Erklärung des Ganzen geben.
„Hallo? Können Sie mich hören?“ Caroline winkte mit ihrer Hand vor seinem Gesicht.
„Ich, also. Ich weiß nur nicht, was ich zu diesem Jundai sagen soll. Ich muss gestehen, ich bin sprachlos. Das ist ein Meisterwerk der Technik!“
Sie lächelte geschmeichelt. „Ja, das wäre es, wenn sich seine Ingenieure nicht so viel bei anderen Herstellern abgeguckt hätten“, zwinkerte sie ihm zu.
„Es gibt noch andere Hersteller von pferdelosen Kutschen?“
Das Lächeln wich wieder aus Carolines Gesicht. „Wissen Sie was, Herr von Goethe, vielleicht ist es ja besser, wenn Sie jetzt einsteigen.“
„In das Ding? Ist das denn sicher? Wie wird die Dampfmaschine eigentlich befeuert und wie machen Sie es, dass der Druck Ihnen das alles nicht in die Luft fliegen lässt? Also ich meine, ich kenne mich nur leidlich aus mit Dampfmaschinen, ich kenne sie vor allem aus dem Bergbau. Sie zum Bau solcher Jundais einzusetzen, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich wusste auch nicht, dass solch kleine Dampfmaschinen möglich sind.“
Er wollte gerade zu der Überlegung ausholen, was für Einsatzzwecke diese Maschinen noch haben könnten, als Caroline ihn an der Hand nahm, um das Gefährt herumzerrte, eine zweite Tür öffnete und ihn dort hineinschob.
„Wissen Sie, wie man sich anschnallt?“, fragte sie etwas barsch.
Sein Blick schien ihr alles zu sagen, denn sie beugte sich in das Auto und legte eine Art breites Seil um seinen Körper, welches sie seitlich von ihm fixierte. Dann schloss sie die Tür, ging um den Jundai herum und setzte sich auf die andere Seite. Ihre eigene Tür knallte sie regelrecht zu, schlang sich auch ein solches Seil um und drehte an irgendetwas Kleinem. Die merkwürdige Kutsche heulte auf, als ob sie nicht von Pferden, sondern von brummenden Bären angetrieben wurde.
Goethe wurde ängstlich zumute, doch das wollte er weder sich selbst noch der jungen Frau gegenüber eingestehen. Er versuchte, sich dadurch abzulenken, dass er mit dem Blick des Forschers das Fahrzeug betrachtete.
Vor Caroline befand sich ein rundes Rad, das scheinbar zum Lenken diente. Zumindest erinnerte es ihn an das Steuerrad eines Schiffes. Dahinter waren irgendwelche Anzeigen mit Zeigern und Nummern. Es gab allerlei Knöpfe und Rädchen und Dinge mit Schlitzen, die aus einem ähnlich merkwürdigen Material waren wie die seltsame Kiste, in der Caroline die Pflaster aufbewahrt hatte. In der Mitte zwischen ihnen war eine Art Hebel, von dem er keine Ahnung hatte, wozu der da war.
Seine Kutscherin bediente den Hebel jetzt und bewegte ihn in Richtung des Buchstabens R, der darauf graviert war. Das Gefährt fuhr tatsächlich los, aber rückwärts. Nun hielt er sich doch lieber an seinem Sitz fest.
„Ich muss nur kurz wenden, dann geht es los“, sagte Caroline mehr zu sich selbst als zu ihm.
Kaum hatte sie den Wagen so ausgerichtet, dass die große Frontfensterscheibe bergab zur Straße blickte, betätigte sie wieder den Hebel auf die Nummer eins. Jetzt fuhren sie geradeaus. Goethe entspannte sich etwas. So schlimm war das Jundaifahren ja gar nicht. Es war ein durchaus angenehmes Tempo. Und erst diese bequemen Sitze aus auffallend eng gewebtem Stoff. Doch Caroline benutzte den Hebel erneut und kurz darauf wieder und mit jedem Mal wurde die Höllenmaschine schneller. Johann Wolfgang von Goethe musste sich daran erinnern, zu atmen, so panisch wurde er jetzt.
„Keine Sorge, wir sind gleich auf der Bundesstraße, dann kommen wir schneller voran“, meinte seine Begleiterin in lässigem Tonfall.
Schneller? War das ihr Ernst? Er starb jetzt schon tausend Tode. Wie sollte man das Gefährt unter Kontrolle halten, wenn sie noch schneller fuhren? Das schnellste Pferd der Welt hätte im Galopp bereits Probleme, ihnen zu folgen.
Caroline stoppte kurz, als der glatte Weg eine viel größere Straße aus diesem geschmolzenen Stein kreuzte. Er nutzte den Moment, um durchzuatmen. Gut, dass er sich vorhin nochmals erleichtert hatte, sonst wäre ihm jetzt mit Sicherheit ein Missgeschick passiert.
Direkt vor ihnen fuhren in unglaublichem Tempo unzählige weitere Jundais vorbei. Es waren so viele und sie waren so schnell. Wie war es möglich, dass sie in Weimar noch nie davon gehört hatten? Gab es hier eine geheime Loge, die verhinderte, dass das Wissen über diese Dampfkutschen sich überall verbreitete? Jetzt wusste er aber wenigstens, warum die Straßen hier so anders waren, als er sie kannte. Diese rasenden Gefährte konnten auf herkömmlichen Wegen bestimmt nicht solche Geschwindigkeiten erreichen.
Vor ihnen fuhr nun kein weiterer Jundai mehr vorbei. Caroline bog auf die größere Straße ab. Und was dann passierte, das hätte sich Goethe in seinen schlimmsten Alpträumen nicht ausmalen können. Die metallische Kutsche raste so los, dass es ihn in den Sitz drückte. Seine Finger krallten sich in den weichen Stoff, als draußen an ihm die Bäume so schnell vorbeizischten, dass es unmöglich war, sie zu zählen.
Ihm wurde flau im Magen. Er war sich sicher, dass er sich jeden Moment übergeben musste. Caroline sah wohl, wie übel ihm war, denn als sie kurz zu ihm blickte, entwich ihr ein leises „Oh“. Doch anstatt langsamer zu werden, beschleunigte sie den Jundai noch mehr.
„Keine Sorge, ich drück aufs Gas, wir sind in Nullkommanix da!“
Alles, was Goethe jetzt noch tun konnte, war, die Augen zu schließen.
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Wie heftig musste man eigentlich auf den Kopf fallen, um sich für Johann Wolfgang von Goethe zu halten? Und wieso hatte ausgerechnet sie diesen Typen finden müssen? Das war so typisch. Caroline hatte schon beim Dating immer das Glück, nur auf Verrückte zu treffen. Nun also auch beim Wandern.